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Mamma Carlotta engagiert sich als freiwillige Helferin beim alljährlichen Syltlauf, als ein junger Sportler plötzlich tot zusammenbricht. Dio mio! Schon vor dem Start soll der Siebzehnjährige angeschlagen gewirkt haben – war Doping im Spiel? Tatsächlich wird in seinem Blut ein Medikament nachgewiesen, doch das deutet auf Mord hin! Als Carlottas Schwiegersohn, Kriminalhauptkommissar Erik Wolf, im Umfeld des unscheinbaren Schülers ermittelt, kommt er einer tragischen Geschichte auf die Spur, die bald ein weiteres Opfer fordert … Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta! Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust – die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre. »Man muss sie einfach mögen, die italienische Miss Marple von Sylt.« Brigitte
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ISBN 978-3-492-97354-0
Mai 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Eisele Grafik·Design, München
Covermotiv: lakov Kalinin/Bigstock (Wiese); Veneratio/Bigstock (Sanddünen und Strand); Life on White/Bigstock (Kuh); titelio/Bigstock (Möwe); gualtiero boffi/Bigstock (Leuchturm)
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Er hatte einen guten Start in Hörnum. Breitbrüstig und mit ausgestellten Ellenbogen lief er los, und genauso würde er in Westerland an ihr vorbeiziehen. Er würde ihr zuwinken, ganz lässig, als machten ihm die 33,33 Kilometer nichts aus. Diesmal würde er durchhalten, dafür hatte er gesorgt. Niemand würde ihn Dicker nennen oder gar Schlappschwanz. Finisher würde er ab heute heißen. Hinterher wollte er ihr die Medaille zeigen, die man ihm in List um den Hals hängen würde.
Er wusste, dass sie in Westerland in der Nähe der Konzertmuschel stand. Vielleicht würde er kurz anhalten, vor ihr auf der Stelle traben und sie ansprechen. »Hey, lange nicht gesehen!« Und schon würde er mit dynamischen Schritten weiterlaufen und sie mit einer Menge Fragen zurücklassen ...
Er schaute in den Himmel. Ein grauer Schleier, dahinter ein heller Kreis. Die Sonne würde nicht hervorkommen, aber mit Regen war nicht zu rechnen. Zwei Grad über null. Das perfekte Laufwetter! Nur der Wind könnte Probleme bereiten. Er kam von vorn und sollte im Laufe des Tages auffrischen. Gegenwind war gefürchtet unter den Läufern.
Von Hörnum bis Westerland verlief die Strecke neben der Straße, auf dem breiten Fahrradweg. Dann kam der schönste Teil: über die Kurpromenade und an der Konzertmuschel vorbei. Auf den steinernen Bänken saß sonst das Publikum der Kurkonzerte. Nun standen dort die Zuschauer des Syltlaufs und bejubelten die vorbeiziehenden Teilnehmer. Bis zum Restaurant Seenot ging es ein Stück auf den sandüberwehten Holzplanken, wo man leicht ausrutschen konnte, und dann über den Fußweg auf Wenningstedt und Kampen zu. Dahinter kam die Einsamkeit – es würde gut sein, sich anderen Läufern anzuschließen. Und schließlich, auf der früheren Trasse der Inselbahn nach List, auf leicht ansteigender Strecke. Dieses letzte Stück würde das härteste sein.
Alles lief bestens. Morten Stöver hatte den Läufern geraten, bis Wenningstedt nicht an ihre Leistungsgrenze zu gehen, sonst würden sie später, wenn der Anstieg zum Ziel begann, keine Reserven mehr haben. Daran hielt er sich, obwohl er sich unbesiegbar fühlte. Stöver hatte ihnen auch eingeschärft, wegen des Windes in Gruppen zu laufen, aber diesen Rat beherzigte er nicht. Er war ein Einzelkämpfer, der sich allein durchbiss! In einer Gruppe würde sie ihn womöglich übersehen. Nur wenn er allein lief, konnte er sie auf sich aufmerksam machen.
Er hatte sich gut vorbereitet. Am Ende sollte niemand fragen: Wie kann ein Anfänger eine so gute Zeit laufen? Nein, er wusste, worauf es ankam. Er fand seinen optimalen Rhythmus und lief mit großen Schritten. Der richtige Rhythmus, darauf kam es an. Der Schweiß prickelte auf seiner Stirn, sein Atem ging schwer, aber das machte nichts. Er war ohne Angst, er hatte vorgesorgt, er war mächtig, auf seinen Willen kam es an. Einzig und allein auf seinen Willen!
Am Stadtrand von Westerland fühlte er sich immer noch gut, sein Plan schien aufzugehen. Der Himmel war heller geworden, die Kälte stach nicht mehr zu, sie strich nur noch sanft über die Haut. Doch inzwischen lief ihm der Schweiß in die Augen. Er wischte ihn weg und kam prompt aus dem Gleichgewicht. Im Rhythmus bleiben, immer schön im Rhythmus bleiben! Er fixierte das Hotel Miramar, das vor ihm erschien. Dahinter begann die Promenade und damit der wichtigste Kilometer seines Lebens.
Aber dann ... plötzlich kam der Wind von der Seite, vom Meer. Er hatte Schwierigkeiten, geradeaus zu laufen. Oder war das nur Einbildung? Er spürte den Wind doch auf der anderen Seite seiner Stirn. Gegenwind! Was also drängte ihn nach rechts, als würde er vom Miramar magisch angezogen? Die Konturen der Fenster verwischten, und sein Kraftspender, die dicht gedrängte Zuschauermenge auf der Uferpromenade, hatte auf ihn keine Wirkung mehr.
Die anderen dagegen zogen ihr Tempo an. Dort, wo die Presse stand und am lautesten gejubelt wurde, wollte jeder besonders dynamisch laufen, voller Zuversicht und Energie. Jeder wollte zeigen, dass er es schaffen würde. Auch er wollte das. Unbedingt! Vor allem, weil er dort mit ihr rechnen musste, mit der Frau, für die er dieses Rennen machte. Er würde lächeln und winken, vielleicht sogar einen kleinen übermütigen Hüpfer machen und sie zum Lachen bringen.
Aber als die Trinkstation vor der Konzertmuschel in Sicht kam, veränderte sich alles. Die Umrisse der Gebäude verschwammen vor seinen Augen, die lachenden Menschen rückten von ihm ab. Es war, als liefe er am äußersten Rand der Welt und könnte jeden Augenblick abstürzen ins Nichts. Was geschah mit ihm?
Noch liefen seine Füße wie von selbst, noch war sein Körper in Bewegung, aber bald wusste er nicht mehr, ob er sich das nur einbildete. Trat er in Wirklichkeit auf der Stelle? Bewegte er sich gar nicht mehr vorwärts? Er kniff die Augen zusammen, weil er das Schwanken der Welt nicht mehr ertragen konnte. Im selben Augenblick wurden die Geräusche schrill und so laut, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber er schaffte es nicht, die Hände zu heben. Er rang nach Atem und spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Musik hörte er nun, aufgeregte Stimmen und dann den Ruf einer Frau: »Avanti! Avanti!«
Diesen beiden Worten ließ er sich entgegenfallen. Sie klangen so, als könnten sie ihn halten und sogar wieder aufrichten. Avanti! Ein hoffnungsvolles Wort. Aber als dann dieselbe Stimme hervorstieß: »Madonna! Santa Madre in cielo!«, da wusste er auf einmal, dass es vorbei war. Madonna – das war ein Wort, das ihn im Jenseits begrüßte. Er fühlte zwei Arme, die ihn auffingen, und dachte an die Arme, in die er sich gern geschmiegt hätte. Als er zu Boden glitt, hoffte er, dass sie um ihn trauern würde ...
Für Sport hatte Carlotta Capella nichts übrig. Joggen, Nordic Walking, Bodyforming oder Spinning? Niemals! Sie kannte diese Begriffe, denn ihre Enkelkinder waren Mitglieder im Sportverein und klärten ihre Großmutter täglich darüber auf, wie man sich heutzutage in Form hielt. Dabei sparten sie nicht mit Vorwürfen, weil sie sich standhaft weigerte, an ihrer Fitness zu arbeiten.
»Muskelaufbau, Nonna! Das ist in deinem Alter sehr wichtig. Sport ist gut gegen Osteoporose! Du wirst bald sechzig. Wenn du keinen Sport treibst, bekommst du einen Witwenbuckel.«
Carolin schwärmte neuerdings für Zumba, Felix ging zweimal wöchentlich zum Gewichtheben und war fest entschlossen, die bevorstehenden Ferientage mit Frühsport am Strand zu beginnen. Aber Carlotta schüttelte über solche Aktivitäten nur den Kopf. Wenn Carolin Freude an Musik und Bewegung hatte, warum stellte sie dann nicht das Radio auf die Terrasse und tanzte durch den Garten? Und warum trug Felix nicht die Getränkekisten von Feinkost Meyer nach Hause, wenn er seine Muskeln stärken wollte, statt sie von seinem Vater mit dem Auto befördern zu lassen? Mamma Carlotta verstand nicht, dass diese Vorschläge bei ihren Enkeln auf Ablehnung stießen.
In ihrem Dorf in Umbrien wurde nur ein einziger Sport praktiziert: Fußball. Doch er wurde nicht Sport, sondern Spiel genannt. Ihre Söhne hatten Fußball gespielt, wie alle Jungen ihres Dorfes, und natürlich lief der Fernseher, wenn ein wichtiges Turnier übertragen wurde. Aber der Fußball war doch kein Sport, sondern ein Freizeitvergnügen – und dazu ein wichtiges Erziehungsmittel. Denn wenn die Jungs ins Flegelalter kamen, hatten sie viel überschüssige Kraft, die schließlich irgendwohin musste. Und da war Fußball ein besseres Ziel als zu frühe Erfahrungen in der Liebe oder Wettläufe mit der Polizei.
Fußball fand also durchaus Mamma Carlottas Zustimmung. Aber dass jemand Laufschuhe anzog, um vom Süden der Insel in den Norden zu laufen, und ständig auf seine Uhr starrte, um festzustellen, ob er gut in der Zeit lag und die Leistung vom Vorjahr steigern konnte, erschien ihr unsinnig. Sie war die Einzige, die die Teilnehmer des Syltlaufs kopfschüttelnd betrachtete, ohne das geringste Verständnis für ihren Ehrgeiz aufzubringen. Dennoch war sie bereit gewesen, sich für sie zu engagieren, weil ihre Enkel sie darum gebeten hatten. Mamma Carlotta war kein Mensch, der eine solche Bitte zurückwies.
»Alle Mitglieder des Sportvereins müssen mit anpacken, Nonna!«, hatte es geheißen. Und da jede Menge helfender Hände gebraucht wurden, hatte man auch die Angehörigen der Mitglieder rekrutiert. Etwa hundert ehrenamtliche Helfer waren erschienen, damit der Syltlauf so gut organisiert über die Bühne gehen konnte wie immer.
Mittlerweile machte ihr die Sache sogar Spaß. Zwar war es kalt, und sie fror trotz Eriks dicker Jacke, die er ihr immer zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt war, trotz der Wollmütze und der Handschuhe, die sie trug, aber die vielen erwartungsvollen Menschen um sie herum, die Spannung, die in der Luft lag, Gelächter, ausgelassene Rufe – all das gefiel ihr außerordentlich. Wie gut, dass viele Touristen an der Laufstrecke standen, die aus den Teilen Deutschlands stammten, wo man laut jubeln durfte, ohne dass man schief angesehen wurde. So wie es einer Italienerin passieren konnte, wenn sie allein unter Friesen war. Ein paar Rheinländer stimmten sogar Schunkellieder an, was ihnen allerdings den Unmut eines Husumer Ehepaares einbrachte, das sich redlich mühte, mit versteinerten Mienen den ungebührlichen Frohsinn zu tadeln. Aber Rheinländer waren anscheinend ganz ähnlich wie Italiener. Sie ließen sich nicht davon abhalten, ihre Umwelt wissen zu lassen, dass sie sich freuten.
Bevor die ersten Läufer an der Versorgungsstation Westerland erwartet wurden, wanderte Mamma Carlotta ein wenig umher, um ihre kalten Füße zu wärmen und Ausschau nach Bekannten zu halten, mit denen sie über die schreckliche Kälte schwatzen und denen sie erzählen konnte, dass in Umbrien längst der Frühling eingezogen war. Als sie zum ersten Mal im Winter auf Sylt gewesen war, hatte sie sich gefragt, wie ihre Tochter diese Kälte hatte ertragen können, inzwischen hatte sie längst die Erfahrung gemacht, dass der eisige Wind und die kalte Luft so belebend waren, wie es der laue Winter in Italien nie sein konnte.
Lucia hatte ihr oft erzählt, wie es war, durchgefroren vom Strand zurückzukehren, mit Fingerspitzen, die trotz dicker Handschuhe gefühllos geworden waren, mit Augen, die vom Wind tränten, und einer eiskalten Nasenspitze. Mamma Carlotta hatte sich trotzdem nicht vorstellen können, wie diese beißende Kälte eine Frau glücklich machen sollte, die an Sonne und Hitze gewöhnt war. Jetzt wusste sie es. Schade, dass sie es Lucia nicht mehr sagen konnte.
Gegenüber vom Strandaufgang zur Sylter Welle hatte Tove Griess seinen Stand aufgebaut. Unter dem Dach eines weißen Pavillonsgrillte er seine Bratwürste, die jetzt, kurz nach zehn, noch keinen reißenden Absatz fanden. Um diese Zeit deckten sich die Zuschauer des Syltlaufs lieber an der Crêperie ein, die unterhalb des Strandübergangs Friedrichstraße lag, wo es auch Heißgetränke gab. Aber in ein bis zwei Stunden würde Tove Griess viel zu tun haben. Der cholerische Wirt von Käptens Kajüte, der schmuddeligen Imbissstube am Hochkamp, war verblüfft gewesen, dass er diesmal tatsächlich die Konzession erhalten hatte, einen Stand auf der Kurpromenade aufzubauen. Bisher war sein Antrag Jahr für Jahr abschlägig beschieden worden, aber diesmal würde er endlich einmal mit voller Kasse nach Hause gehen. Auch deswegen, weil er auf Personal verzichtete und stattdessen den Strandwärter Fietje Tiensch angeheuert hatte, seinen einzigen Freund. Dabei bestritten beide vehement, mit dem anderen freundschaftlich verbunden zu sein. Nein, auf Nachfrage hätte jeder der beiden behauptet, den anderen nicht leiden zu können. Dass Fietje Tiensch dem Wirt von Käptens Kajüte an diesem Tag half, hatte angeblich nichts, aber rein gar nichts mit freundschaftlichen Gefühlen zu tun. Es ging nur darum, dass Tove Personalkosten einsparte und Fietje sein Bier umsonst bekam. Ihm, dem einzigen Stammgast in Käptens Kajüte, reichte die Bezahlung in Form von Freibier, er war mit dieser Regelung genauso zufrieden wie Tove selbst.
»Moin, Signora«, begrüßte der Wirt die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars. Er wendete die Bratwürste mit einem Eifer, den sie bei ihm noch nie erlebt hatte, und auch Fietje Tiensch gab sein Bestes und spülte die Gläser in einem Tempo, das er bisher für gesundheitsschädigend gehalten hätte. Tove musste ihm sehr viel Freibier versprochen haben. Gelegentlich rutschte Fietje vor lauter Eifer sogar die Bommelmütze vom Kopf, und sein dünner Bart flog im Wind und blieb an den feuchten Gläsern hängen.
»Wollen Sie eine Wurst?«, fragte Tove Griess und bleckte sein Gebiss, womit er ein Lächeln andeutete, das jedes zartbesaitete Kleinkind in die Arme seiner Mutter getrieben hätte. Das mochte daran liegen, dass die Kappe, die er heute trug, sein Gesicht mehr als sonst zusammendrückte, das ohnehin die Neigung hatte, sich in den negativen Gefühlen, die Tove Griess zu Hauf produzierte, zu zerknautschen. Seine Brauen schienen an diesem Tag noch dichter zusammenzustehen, seine Stirn wölbte sich noch weiter vor, die Augen waren unter dem Mützenschirm kaum zu erkennen. Bei dem Wirt von Käptens Kajüte konnte ein Lachen dieselbe optische Wirkung haben wie ein Wutausbruch.
Doch auf die Kappe war er stolz.
»Habe ich extra anfertigen lassen«, verkündete er und wies auf die Buchstaben, die über seiner Stirn prangten.
»Käpten Tove«, las Mamma Carlotta. »Waren Sie wirklich mal un capitano?«
»Aber so was von! Bis mein Kahn gesunken ist. Das war vor Gibraltar.«
Fietje Tiensch mischte sich ein. »Da hat er sich schwimmend an Land gerettet, während der Rest der Mannschaft abgesoffen ist. Das wissen Sie doch, Signora. Das hat er Ihnen schon hundertmal erzählt.« Er warf Tove einen geringschätzigen Blick zu. »Wahrer wird es davon aber auch nicht.«
»Willst du behaupten, ich hätte mir das nur ausgedacht?«
Fietje Tiensch mochte keine direkten Fragen, die direkte Antworten erforderten. Zum Glück kam in diesem Moment Kundschaft und nötigte ihm Höchstleistungen ab. Fietje Tiensch, der noch nie ein Feinmotoriker gewesen war, musste Tove einen Pappteller hinhalten, damit der eine Bratwurst dort platzierte. Nun war es Fietjes Aufgabe, eine Scheibe Brot danebenzulegen und sich bei dem Gast nach der gewünschten Beilage zu erkundigen. »Senf oder Ketchup?«
Senf sollte als anmutiger Klecks, Ketchup als Zickzackornament auf der Wurst serviert werden. So etwas erforderte äußerste Konzentration. Fietje konnte, während er diese Aufgabe erledigte, unmöglich noch kniffelige Fragen beantworten.
Tove betrachtete seine Anstrengungen mit misstrauischem Blick, was Fietjes Handhabung der Ketchupflasche nicht gerade optimierte. Mamma Carlotta beschloss daher, Tove Griess von den Bemühungen des Strandwärters abzulenken. »Haben Sie auch den Rotwein aus Montepulciano am Stand?«
»Sicher doch, Signora!« Tove griff in eine Kiste und hielt eine Flasche in die Höhe. »Der ist gut gegen die Kälte.«
Das ließ Mamma Carlotta sich gerne einreden, die für Alkoholgenuss am helllichten Tage immer einen guten Grund benötigte. Sie trank einen Schluck, fand, dass Tove recht hatte, fühlte sich umgehend angenehm erwärmt und trat einen Schritt zur Seite, damit ihr der Blick aufs Meer nicht verstellt war. Es war an diesem Tag so grau wie der feuchte Sand, nachdem eine auslaufende Welle sich zurückgezogen und eine Gischtspur hinterlassen hatte. Die Augen auf den Horizont gerichtet, erzählte sie Tove und Fietje, dass sie am Abend zuvor sogar bei der Nudelparty im Westerländer Congress Centrum als Helferin dabei gewesen war.
»Kohlenhydrate«, brachte sie mühsam heraus, stolz auf diese komplizierte Erweiterung ihres Sprachschatzes. »So was brauchen Sportler.«
Mit großem Enthusiasmus hatte sie die Tomatensoße auf die Nudeln gegeben und erzählte nun Tove Griess und Fietje Tiensch, dass sich sogar der Gewinner des vorjährigen Syltlaufs von ihr hatte bedienen lassen. Eigentlich wollte sie noch anfügen, dass die Tomatensoße, die in ihrer eigenen Küche entstand, um ein Vielfaches besser sei, da ertönten mit einem Mal laute Rufe.
»Dio mio! Der erste Läufer kommt!«
Mamma Carlotta kippte den Rotwein hinunter, vergaß das Bezahlen und hastete zur Versorgungsstation zurück, wo die großen Platten mit den Bananenstücken soeben durch winzige Schokoküsse erweitert worden waren. Wenn der Spitzenläufer erschienen war, würden bald weitere folgen, und dann musste sie zur Stelle sein.
Schon eine halbe Stunde später war aus dem Warten fröhlicher Trubel geworden. Jeder Läufer, der auf der Uferpromenade erschien, wurde mit Applaus und Anfeuerungsrufen begrüßt. Mamma Carlotta hielt ihnen Becher hin, die mit warmen und kalten isotonischen Getränken oder mit Wasser gefüllt waren, und wünschte jedem, der danach griff, mit großer Herzlichkeit Erfolg. Sie hatte gehört, was Fritz Nikkelsen, einer der Organisatoren des Syltlaufs, einem Sportler zugerufen hatte, und gab dessen Worte nun weiter, wo es ihr nötig erschien. »Langsam anfangen! Nicht zu früh die Kräfte verpulvern! Auf dem letzten Stück gibt es starken Gegenwind!«
Manchem Läufer mochte sie wie eine Expertin vorkommen. Tatsächlich war sie trotz ihrer fast sechzig Jahre noch flott auf den Beinen, nach eigener Einschätzung sogar flotter als mancher, der sich stöhnend an ihr vorbeischleppte, aber sie wäre niemals auf die Idee gekommen, bei diesem Sportevent mitzumachen, obwohl es ihr durchaus unterhaltsam erschien. Das hatte sie auch Fritz Nikkelsen erklärt, einem drahtigen Sechzigjährigen, der sich ihr immer wieder näherte, als wollte er sie für den Sport und speziell für den nächsten Syltlauf gewinnen. Er selbst war einmal ein guter und erfolgreicher Läufer gewesen, bis er nach einer Knieverletzung das Laufen an den Nagel gehängt hatte und seine Erfahrungen stattdessen für die Organisation des Syltlaufs nutzte.
Er neigte sich jedes Mal an Carlottas Ohr, wenn er mit ihr sprach, als müsste er sich gegen großen Lärm durchsetzen, sie aber hatte längst erkannt, dass es ihm um die körperliche Nähe zu ihr ging. Wenn sie auch längst aus dem Alter heraus war, in dem ein Flirt infrage kam, und viel zu früh geheiratet hatte, um Erfahrungen im Verliebtsein zu sammeln – als Italienerin merkte sie sofort, wenn Amore im Spiel war oder etwas, was so aussehen sollte wie Amore.
»Sie würden eine wunderbare Läuferin abgeben«, hatte Nikkelsen noch vor einer halben Stunde behauptet und ihr gezeigt, wie sehr ihm ihr helles Lachen gefiel.
Nein, Carlotta Capella lief nur aus einem einzigen Grund: um zu einem Ziel zu gelangen. Dann bummelte sie, wenn sie Zeit hatte, lief schnell, wenn sie dringend Mandeln fürs Dolce brauchte, oder rannte wie der Teufel, wenn sie den Doktor zu einem Kind holen musste, das vom Baum gefallen war. Laufen, weil es Sport genannt wurde und weil Sport angeblich gesund war und mit einem straffen Körper belohnt wurde? Darüber konnte sie nur lachen und erklärte Fritz Nikkelsen ausführlich ihre Abneigung gegen jede Art sportlicher Betätigung. In ihrem Dorf musste sie die Einkäufe eine steile Gasse hochtragen, das ersetzte jedes Krafttraining. Wenn sie Apfelkuchen backen wollte, musste sie vorher in den Baum steigen und sich für jedes Kraut, das sie in der Küche brauchte, tief über ein Beet beugen. Ausdauertraining hatte sie damit also auch. Ganz zu schweigen von der Jagd nach den Hühnern, wenn sie sich nicht schlachten lassen wollten, und nach den kleinen Enkelkindern, wenn sie Gefahr liefen, vor den Trecker des nächsten Weinbauern zu geraten. Wer wie sie den ganzen Tag in Bewegung war, der brauchte keinen Sport.
»Ciao, Sören!« Mamma Carlotta freute sich, als sie den Mitarbeiter ihres Schwiegersohns entdeckte, der ihr freundlich zuwinkte. Sie hätte ihn in seiner eng anliegenden Laufkleidung und mit dem Stirnband, das sein rundes Gesicht noch runder machte, kaum erkannt. »Buona fortuna! Viel Erfolg!«
Sören Kretschmer, der junge Kommissar vom Polizeirevier Westerland, dankte ihr mit einem Handzeichen und winkte auch Carlottas Enkelin Carolin zu, die mit ihrer Klassenkameradin Ida hundert Meter weiter stand.
Mamma Carlotta gefiel der Syltlauf immer besser. Es gab viele, die sie anfeuern konnte, weil sie mittlerweile auf Sylt gut bekannt war. »Avanti! Avanti!«
Der Bäcker von Wenningstedt, der schon jetzt einen roten Kopf hatte und stark schwitzte, dankte ihr mit einem verkrampften Lächeln, der Leiter der Obst- und Gemüseabteilung von Feinkost Meyer ließ sich durch ihren Ruf aus seiner Lauflethargie aufschrecken, die Apothekerin, die trotz ihrer Leibesfülle erstaunlich behände lief, winkte sogar zurück. Gerade hatte Mamma Carlotta dem jungen Mädchen einen Gruß zugerufen, das ihr am Tag zuvor auf dem Trödelmarkt vorm Westerländer Rathaus ein Spitzendeckchen verkauft hatte, da wurde sie auf den Jungen aufmerksam, der schwankend näher kam, von den anderen Läufern ignoriert oder sogar unwillig zur Seite geschoben, damit er überholt werden konnte. Seine Beine bewegten sich, als wären sie aufgezogen, den Kopf ließ er hängen, die Arme baumelten an der Seite. Er schien zu laufen, ohne zu wissen, was er tat. Schließlich stolperte er und fiel vornüber, ohne etwas zu tun, um den Sturz zu verhindern oder wenigstens abzufangen. Doch zum Glück fiel er weich. Direkt in Mamma Carlottas Arme ...
Erik Wolf genoss den dienstfreien Sonntag. Besonders deswegen genoss er ihn, weil die Kinder und seine Schwiegermutter an diesem Tag beschäftigt waren, schon früh das Haus verlassen hatten und so bald nicht zurückkehren würden. Er hatte ein paar Stunden Alleinsein vor sich. Ein wunderbarer Gedanke! Er konnte am Frühstückstisch sitzen, solange er wollte, und konnte lesen, ohne ständig gestört zu werden. Seine Schwiegermutter ertrug es ja nicht, wenn jemand in ihrer Gegenwart schwieg, und das eigene Schweigen war für sie reinste Folter. So fielen ihr immer irgendwelche Fragen ein, die sie ihm stellen konnte. Offenbar glaubte sie, dass eine Frage nicht weiter lästig fiel, wenn sie mit den Worten eingeleitet wurde: »Ich will dich ja nicht stören, aber ...« Und selbst wenn sie es geschafft hätte, ihn nicht alle zwei Minuten anzusprechen, hätten ihn ihre Selbstgespräche bald aus der Küche vertrieben.
Nichts dergleichen hatte er an diesem Morgen zu befürchten, nicht einmal der Lärm, den Felix mit seiner Gitarre machte und der angeblich unter den Oberbegriff Musik fiel, drang von oben herab, und von dem Getöse, das sein Sohn Gesang nannte, blieb Erik ebenfalls verschont. Nur Carolin hätte er jetzt gern an seiner Seite gehabt, sie war ja ganz ähnlich wie er selbst. Wenn sie zu Hause geblieben wäre, säße sie mit ihm am Tisch und läse ein Buch oder ginge in ihr Zimmer, wo es den ganzen Vormittag ruhig bliebe.
Erik gähnte, warf einen Blick in den grauen Tag vor dem Küchenfenster und lauschte den spitzen Schreien der Möwen, die sich übers Haus hinwegtreiben ließen Richtung Meer. Dann bedachte er die Mortadella mit einem trotzigen Blick, die ihn mit dunklen Wursträndern ermahnte, den Aufschnittteller endlich in den Kühlschrank zu stellen. Aber er ignorierte sie genauso wie den vor Fett glänzenden Käse, den kalten Rest seines Rühreis und die Butter, die allmählich aus der Form geriet. Vielleicht würde er später mit dem Fahrrad nach Westerland fahren und sich in der Nähe der Konzertmuschel ansehen, wie die Syltläufer vorbeizogen. Zwar hatte er eigentlich keine Lust auf dieses Spektakel, aber Felix hatte von den Organisatoren die Erlaubnis bekommen, mit seiner Band zur lautstarken Unterhaltung beizutragen, und trotz der herrlich gleichgültigen Stimmung, in der Erik sich gerade befand, fühlte er sich verpflichtet, das künstlerische Engagement seines Sohnes durch Anwesenheit zu würdigen. Aber das schmutzige Geschirr würde er auf dem Tisch stehen lassen und am Abend über das Schimpfen seiner Schwiegermutter nur lachen. Ein herrlicher Gedanke! Er passte so recht zu dem Wunsch, an diesem Sonntag einmal nur das zu tun, wonach ihm der Sinn stand.
Erik griff nach seiner Pfeife und blickte, bevor er mit der Zeremonie des Stopfens begann, auf die Uhr. Die Spitzenläufer mussten bald die Konzertmuschel erreichen. Erst nach einer Weile würde das breite Feld die Zuschauer passieren, die dort besonders dicht gedrängt standen. Später, zwischen den Ortschaften und erst recht hinter Kampen, wenn es auf List zuging, würden die Läufer schrecklich allein sein. Viele von denen, die auf der Kurpromenade den Ansporn und die Mut machenden Rufe noch genossen, würden vermutlich die Strecke gar nicht bis zum bitteren Ende bewältigen. Erst recht nicht bis vierzehn Uhr, wenn das Ziel in List geschlossen wurde. Wer danach noch dort ankam, hatte es zwar geschafft, blieb aber ohne Platzierung.
Als sein Handy klingelte, legte er die Pfeife zur Seite. Er lächelte, weil im Display der Name seiner Tochter erschien. Da sie weder zur Theatralik noch zu Übertreibungen neigte, musste er nicht befürchten, mit unwichtigen und lästigen Kleinigkeiten gestört zu werden. Zum Beispiel dass ein Läufer gestartet sei, dessen Vorfahren in demselben umbrischen Dorf gelebt hatten, in dem der Vater seiner Schwiegermutter aufgewachsen war, oder dass ein Bandmitglied der Toten Hosen gesichtet worden sei, das er verhaften sollte, damit Felix sich auf der Polizeistation in aller Ruhe ein Autogramm geben lassen konnte. So etwas war bei Carolin undenkbar.
Doch er hatte Pech. Nicht die leise Stimme seiner Tochter, sondern das sich überschlagende Organ seiner Schwiegermutter prallte an sein Ohr. »Enrico! Du musst sofort kommen! Subito! Es hat einen Toten gegeben!«
Der Schreck fuhr Erik durch sein ungewaschenes Sweatshirt direkt in die ausgeleierte Jogginghose. »Ein Mord?«
»No, no ... oder ...? Non lo so, ich weiß nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Die Stimme seiner Schwiegermutter wurde leiser und verlor einen Teil ihrer Aufregung. Das konnte nur bedeuten, dass ihr jetzt auffiel, was er ihr oft vorwarf: Sie hatte mal wieder die Reihenfolge des Nachdenkens und Handelns durcheinandergeworfen. »Er ist zusammengebrochen. Direkt in meine Arme gefallen. Dio mio! Es ist so schrecklich, Enrico! Ich hatte einen Toten in meinen Armen. Jetzt liegt er zu meinen Füßen. Madonna! Auf der kalten Erde! Ganz bleich ist er.«
»In so einem Fall ruft man nicht die Polizei, sondern einen Arzt. Habt ihr den Notarzt verständigt?«
»Sì. Oder ...? Sì, sì, ich sehe Fritz Nikkelsen telefonieren, einer der Organi... come si dice?« Sie wartete seine Erklärung gar nicht ab. »Das ist einer der wichtigen Leute hier. Molto importante. Ganz viele andere halten ihr Telefonino in der Hand. Wahrscheinlich rufen sie alle schon den Arzt an.«
»Bitte erkundige dich, ob wirklich jemand den Notarzt verständigt hat. Und frag, ob sich jemand mit der stabilen Seitenlage und Mund-zu-Mund-Beatmung auskennt.« Er musste tief durchatmen, um zu der Ruhe zurückzufinden, in der er sich sicher fühlte. »Und nun gib mir Carolin.« Seine Tochter würde in der Lage sein, einen Bericht zu liefern, der nicht emotional aufgebauscht war und mehr Vermutungen als Fakten enthielt. Sie würde ihm sagen können, ob der Mann wirklich tot war oder ob seine Schwiegermutter es lediglich für möglich hielt. Für die war ja jeder Mensch, der längere Zeit am Stück nichts sagte, eher tot als lebendig. Und da für sie das Schlimmste immer am interessantesten war, hielt sie sich mit dem Wahrscheinlichsten nicht lange auf.
Aber Mamma Carlotta lehnte seine Bitte ab. »Carolina ist mit dem Fahrrad losgefahren, um Sören einzuholen. Der ist gerade erst an uns vorbeigelaufen.«
Nun wechselte Eriks Überdruss in Verärgerung. »Sören trainiert seit Monaten für den Syltlauf. Und ihr macht ihm jetzt alles kaputt, weil jemand zusammenbricht, der vielleicht einfach nur ein gesundheitliches Problem hatte?«
»Woher willst du das wissen?«
»Das liegt auf der Hand.«
»Aber er könnte doch auch ...«
»... ermordet worden sein? Ja? Wurde er erstochen, erdrosselt, erschossen?« Nun klang seine Stimme tatsächlich ähnlich laut wie die seiner Schwiegermutter, und mit seiner Ruhe war es endgültig vorbei.
Am anderen Ende wurde es still. »No, Enrico.« Die ganze Telefonleitung war voll von Schuldbewusstsein und Reue.
»Schickt Sören gleich wieder auf die Strecke, wenn er bei euch aufgetaucht ist. Eine gute Zeit kann er dann zwar nicht mehr erreichen, aber immerhin hat er noch die Chance, Finisher zu werden.«
Wenig später stieg er zornig die Treppe hoch, um sich umzuziehen. Der arme Sören! Seit Jahren machte er beim Syltlauf mit und war jedes Mal stolz gewesen, die Strecke bewältigt zu haben. In diesem Jahr ging es ihm zum ersten Mal darum, nicht nur anzukommen, sondern seine Bestzeit vom vergangenen Jahr zu unterbieten. Und was tat seine Schwiegermutter? Sie holte ihn zurück, weil sie immer gleich an Mord und Totschlag dachte, wenn sich ein Todesfall auf Sylt ereignete. Nur weil sie zufällig die Schwiegermutter eines Kriminalhauptkommissars war! In Umbrien hätte sie in einem solchen Fall den Arzt und dann den Pfarrer verständigt, aber Sylt war für sie ein Ort, in dem alles Schreckliche möglich war, was sie in ihrer Heimat niemandem zutraute. Hier machte sie aus jedem Herzinfarkt gleich einen Mordfall.
Erik trat ans Fenster, um mit einem Blick in den Garten seinen Ärger zu vergessen. Aber was sonst funktionierte, gelang an diesem Sonntag nicht. Denn die schwarze Katze, die auf seiner Terrasse hockte, machte das Maß voll. Erik konnte Katzen nicht leiden. Er schützte sich mit heftiger Ablehnung vor ihrem Charme, ihrem weichen Fell und ihrer Anschmiegsamkeit, seit er als kleiner Junge vor dem Haus seiner Großeltern mitansehen musste, wie die geliebte Katze seiner Oma von einem Auto überfahren worden war.
Wütend riss er das Fenster auf. »Weg!«, schrie er und griff nach dem Nächstbesten, was er in die Hand bekam. Es war das Haargel seines Sohnes, das er nach der Katze warf.
Natürlich verfehlte er sie, aber immerhin hatte er sie von der Terrasse verjagt. Nun hockte sie in einem Gebüsch an der Grenze zum Nachbargrundstück und starrte zu ihm hoch. Während er das Fenster schloss, redete er sich ein, dass ihr Blick verschlagen und rachsüchtig war. »Mistvieh!«
Wütend kämmte er seinen Schnauzer und kürzte ihn an der rechten Seite um ein paar Millimeter. Für die Haare reichten ein paar Bürstenstriche. In seiner Lieblingskleidung, einer dunkelbraunen Breitcordhose, einem hellen Hemd und einem grob gestrickten Pullunder in der Farbe der Cordhose, ging er die Treppe hinunter und nahm noch einmal die Pfeife zur Hand. Als er sie angesteckt hatte, beschloss er, statt des Fahrrades das Auto zu nehmen. Er wollte so schnell wie möglich nach Westerland kommen, ehe seine Schwiegermutter noch weiteres Unheil anrichtete.
Der Krankenwagen stand zwischen dem Eingang des Hotels Miramar und dem Strandübergang, der Notarzt war die Treppe zur Uferpromenade hinabgelaufen, gefolgt von zwei Sanitätern, die eine Trage mit sich führten. Jene Läufer, die in diesem Augenblick unterhalb vom Miramar auftauchten, mit erwartungsvollen Mienen und die Arme schon erhoben, um sich für den Jubel zu bedanken, fielen aus ihrem Rhythmus, wurden langsamer, blickten umher und stellten fest, dass sie kaum Beachtung fanden. Man sah ihren Gesichtern die Enttäuschung an. Dann merkten sie, auf welche Stelle sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer richtete, aber niemand von ihnen konnte erkennen, was geschehen war. Ein schnell errichteter Sichtschutz sperrte alle neugierigen Blicke aus.
Der junge Mann lag noch dort, wo Mamma Carlotta ihn hatte zu Boden sinken lassen. Neben ihm kniete der Notarzt, ein dynamischer Endfünfziger, so hager und gut trainiert wie die Spitzenläufer. Die beiden Sanitäter hatten dafür gesorgt, dass die Neugierigen auf ihre Plätze zurückkehrten. Ganz allmählich, da man vergeblich auf Erkenntnisse wartete und Vermutungen auf die Dauer unbefriedigend waren, setzte sich im Publikum der Grundsatz durch, dass die Lebenden wichtiger waren als die Toten. Man wandte sich wieder den Sportlern zu: Der Erste empfing einen Läufer mit euphorischer Freude, der Nächste fiel ein und feuerte den zweiten Läufer an, daraufhin stieg die Stimmung wieder an, wenn sie auch nicht mehr ganz so ausgelassen war wie vorher. Noch immer gab es Zuschauer, die spürten, dass sich in ihrer Nähe ein Schicksal entschied. Alle anderen ahnten es auch, versuchten jedoch, sich nicht vom Flügelschlag des Todes berühren zu lassen.
Sören beugte sich zum Notarzt hinab. »Kommissar Kretschmer vom Polizeirevier Westerland. Halten Sie Tod durch Fremdeinwirkung für möglich?«
Der Notarzt sah überrascht auf. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Mamma Carlotta rechnete mit einem vielsagenden Blick von Sören, aber der antwortete nur: »Ist doch merkwürdig, dass ein junger Mann in diesem Alter mit einem Mal tot zusammenbricht.«
Der Notarzt schüttelte den Kopf. »So ungewöhnlich ist das gar nicht. Er hat sich vermutlich übernommen, ist untrainiert, hat sich nicht gut vorbereitet ...« Er nahm die Plane entgegen, die einer der Sanitäter ihm reichte, und deckte den Toten zu. »Übergewicht hat er auch. Diese jungen Kerle trinken sich manchmal sogar Mut an, ehe sie starten.«
Carlotta drängte sich an Sörens Seite. »Laufen Sie weiter, Sören! Enrico hat mir gesagt, Sie wollen eine gute Zeit schaffen. Madonna! Wie konnte ich Carolina bitten, Sie zurückzuholen! Das war dumm von mir. Molto stupido! Mi dispiace.«
Aber Sören winkte ab. »Schon gut, Signora.« Sein rundes Apfelgesicht mit den roten Wangen glänzte vor Schweiß. Er strich sich über die Oberarme, als fröre er.
Mamma Carlotta hatte noch immer die Hoffnung, sie könnte ihren Fehler wiedergutmachen. »Schnell, Sören! Avanti, avanti! Laufen Sie weiter! Madonna, es tut mir so leid.«
Er stoppte ihre Entschuldigungen. »Ich verstehe das, Signora. Wenn man plötzlich mit einem Toten im Arm dasteht, kann man nicht mehr logisch denken.« Er lächelte sie an, in seinem Gesicht war kein Vorwurf zu erkennen. »Dann braucht man jemanden, der sich mit Toten auskennt.«
»Sì, un commissario.« Mamma Carlotta seufzte dankbar, weil sie sich verstanden fühlte.
Friz Nikkelsen trat zu Sören und legte ihm eine Wärmefolie um, die im Ziel für alle Läufer zur Verfügung stand. »Sonst erkälten Sie sich noch.«
Der Notarzt betrachtete diese Maßnahme wohlwollend. »Ich tippe auf Herzinfarkt. Wir müssen jetzt sehen, dass wir den Toten ohne viel Aufheben wegbringen.«
Sörens Augen bahnten sich bereits eine Gasse durch die Zuschauer. »Ich werde dafür sorgen, dass niemand im Weg steht.«
Der Notarzt zückte sein Handy. »Aber erst muss ich den Bestatter verständigen. Ein Krankenwagen ist nicht für Tote da.«
Die Sanitäter klappten den Sichtschutz zusammen, und Sören drängte die Zuschauer zurück, sodass sich eine Gasse bildete. Mamma Carlotta hastete hinterher, weil sie noch viel Zeit und Gelegenheit haben wollte, Sören wissen zu lassen, wie groß ihr Schuldbewusstsein war und wie sehr sie es bedauerte, ihn um einen Sieg gebracht zu haben. Damit bewies sie Fritz Nikkelsen zugleich, dass sie ebenso gut trainiert war wie er, wenn nicht sogar besser, denn es fiel ihm nicht ganz leicht, mit ihr Schritt zu halten.
»Sören! Laufen Sie los! Sie können noch ... come si dice? ... Finisher werden. Das wollen Sie doch, è vero?«
Als sie am Krankenwagen angekommen waren, nickte er endlich, wenn auch zögernd. »Meinen Sie wirklich, Signora, dass Sie Ihren Schreck überwunden haben?«
Man sah ihm an, dass er beim geringsten Zweifel der Frau, die ihn täglich mit Antipasti, Primo Piatto, Secondo und Dolce verwöhnte, weiterhin zur Seite stehen und seinen Erfolg beim Syltlauf in den Wind schreiben würde.
»Naturalmente! Da sind mir schon ganz andere Schrecken in die Glieder gefahren. Wenn ich da an den Porsche denke, der plötzlich in meinem Küchengarten stand! Durch den Gartenzaun! Direkt in meinem Gemüsebeet! Alle Zucchini waren hin, und die meisten Tomaten auch.«
Der Notarzt unterbrach sie, als ahnte er, dass diese Geschichte sich noch eine Weile hinziehen könnte. »Gehen Sie ruhig wieder zur Trinkstation«, sagte er zu Mamma Carlotta und wandte sich an Sören. »Wenn Sie weiterlaufen wollen, dann jetzt. Noch sind Ihre Muskeln warm und geschmeidig.«
Aus der Dünenstraße, die hinter dem Miramar entlangführte, bog in diesem Augenblick ein alter Ford in die Friedrichstraße, die eigentlich den Fußgängern vorbehalten war. So etwas durften nur die Gäste des Miramar – oder aber ein Polizeibeamter in der Ausübung seiner Pflicht.
Mamma Carlotta griff nach Sörens Arm und drängte ihn zur Treppe. »Il dottore hat recht, Sie müssen weitermachen. Jetzt oder nie. Avanti!«
Erleichtert blickte sie Sören nach, der nun entschlossen die Treppe hinablief. »Madonna«, flüsterte sie vor sich hin. »Hoffentlich wird er wenigstens Finisher. Was tue ich, wenn er es nicht schafft, nur weil ich ihn zurückgeholt habe?« Durch ihren Kopf purzelten bereits die Namen aller Gerichte, die Sören besonders schätzte und die sie alle für ihn zubereiten wollte, bis sie sich sein Verzeihen erkocht hatte.
Der Notarzt wiederholte sehr laut und nachdrücklich: »Sie können sich getrost wieder um die Getränke und die Bananen für die Läufer kümmern, gute Frau.« Er gab Fritz Nikkelsen ein Zeichen, damit dieser dafür sorgte, dass er nicht mehr in der Ausübung seiner ärztlichen Pflicht gestört wurde.
Mamma Carlotta sah nervös zu, wie Erik aus dem Auto kletterte. Verärgert schüttelte sie Fritz Nikkelsen ab, der die Rolle des Trösters übernehmen wollte. Sie brauchte seinen Zuspruch nicht. Eigentlich hätte sie dem Notarzt gern in aller Ausführlichkeit auseinandergesetzt, wie grauenvoll es für sie gewesen war, in das Gesicht eines Toten zu blicken, seinen schlaffen Körper im Arm zu halten, sich auszumalen, mit welchen Hoffnungen er an den Start gegangen war, und sich vorzustellen, dass seine Mutter in List hinter der Ziellinie vergeblich auf ihn wartete. Bei dieser Gelegenheit hätte sie ihn auch gern darauf hingewiesen, dass einer Frau, deren Seele derart aufgerüttelt worden war, das Angebot eines medizinischen oder zumindest seelsorgerischen Beistands gemacht werden müsse. Zwar hätte sie beides natürlich abgelehnt, aber dass der Notarzt es nicht einmal für nötig hielt, sich mit ihrem Gemütszustand zu befassen, ärgerte sie.
Doch nun musste sie sich um Erik kümmern, der vielleicht noch immer zornig auf sie war. »Enrico! Gut, dass du kommst!«
»Hauptkommissar Wolf?« Der Notarzt begrüßte Erik kopfschüttelnd. »Was ist eigentlich los heute? Herrscht auf der Polizeistation Langeweile?«
Erik ließ ihn auf eine Antwort warten und wandte sich an seine Schwiegermutter. »Sören ist schon wieder auf der Strecke?«
»Sì, sì, schon lange!« Sie dehnte das A auf mindestens eine Viertelstunde und sorgte mit einer deftigen Handbewegung dafür, dass Fritz Nikkelsen nicht auf die Idee kam, ihre Behauptung zu korrigieren. Währenddessen warf sie einen Blick zur Uferpromenade und sah, wie Sören gerade die Wärmefolie abwarf und Carolin zuwinkte. Sie war froh, dass Erik der Laufstrecke den Rücken zukehrte und stattdessen zur Trage hinübersah, die noch neben dem Krankenwagen stand.
Der Notarzt vergewisserte sich, dass der Tote gut verhüllt war. »Hat der Bestatter zurückgerufen?«, fragte er den Sanitäter, der gerade sein Handy wegsteckte.
»Er kommt sofort. Ich habe ihm erklärt, dass der Tote direkt vorm Miramar liegt. Und dass es nicht lange dauern kann, bis der Portier erscheint und sich beschwert oder ein Hotelgast in Ohnmacht fällt, nachdem er über die Leiche gestolpert ist.«
Der Notarzt zuckte die Achseln. »Was sollen wir machen? Es ist verboten, einen Toten im Krankenwagen zu transportieren. Oder könnte man ihn vielleicht um die nächste Straßenecke ...?« Er unterbrach sich und starrte Erik fragend an.
Der nickte vorsichtig, sah sich um, blickte in viele neugierige Gesichter und nickte kräftiger. »Ja, bringen Sie ihn hier weg. Wer weiß, wann der Bestatter kommt. Wir können unmöglich einen Toten hier am Strandübergang liegen lassen.«
Der Notarzt schien erleichtert zu sein. »Ein Leichenwagen macht sich hier auch nicht besonders gut. Ganz zu schweigen von dem Wechsel des armen Kerls in den Sarg.«
»Auf keinen Fall hier«, entschied Erik. »Eine öffentliche Leiche muss sofort in die Rechtsmedizin.«
»Öffentliche Leiche?«, wiederholte Mamma Carlotta, die immer an neuen deutschen Begriffen interessiert war.
»Eine öffentliche Leiche liegt entweder auf öffentlichem Grund oder an einem Ort, der von der Öffentlichkeit eingesehen werden kann. Sie wird immer in die Rechtsmedizin gebracht.« Erik hatte automatisch geantwortet und schien sich nun darüber zu ärgern, dass er seine Schwiegermutter in die Geheimnisse seines Berufs einweihte. Unwirsch vollendete er, weil er wusste, dass sie sowieso nachfragen würde: »Nicht-öffentliche Leichen liegen demnach auf privatem Grund oder dort, wo sie von der Öffentlichkeit nicht gesehen werden können. Mit ihnen wird anders verfahren.«
Mamma Carlotta hätte gerne weitergefragt, aber Erik drehte ihr mit einer so heftigen Körperbewegung den Rücken zu, dass sie wusste, er würde keine Antwort mehr geben. Fritz Nikkelsens Hand, die nach ihrem Arm griff, schüttelte sie unwillig ab.
»Todesursache?«, fragte Erik den Notarzt.
»Könnte ein Herzinfarkt sein.« Der Notarzt gab den Sanitätern ein Zeichen, damit sie den Toten in den Krankenwagen schoben und diesen in die Dünenstraße fuhren, wo es ruhiger war. »Wollen Sie die Startnummer wissen? Dann können Sie die Angehörigen verständigen.«
»Ja, bitte.«
»859!«
Der Krankenwagen rollte gerade davon und bog langsam um die Ecke, als ein Mann neben Erik auftauchte. Er war Ende dreißig, ein schlanker, aber muskulöser Mann, mit kurzen blonden Haaren und hellen Augen. Seine Haut war gebräunt, als hätte er einen Urlaub im Süden hinter sich.
»Morten Stöver«, stellte Fritz Nikkelsen ihn vor. »Er gehört auch zu den Organisatoren des Syltlaufs.«
Der junge Mann nickte dem Älteren zu, dann fragte er: »Was ist geschehen?«
Erik informierte ihn kurz und bündig, dann nannte er Morten Stöver die Startnummer des Toten. »Können Sie mal nachgucken, wie der junge Mann heißt?«
Morten Stöver starrte ihn erschrocken an, dann drehte er sich um und bedeckte für eine Weile sein Gesicht. Mamma Carlotta begriff sofort, dass er den Toten gekannt haben musste. Sie trat einen Schritt vor, wollte eine Hand auf seinen Arm legen, etwas Tröstendes sagen, konnte sich aber im allerletzten Moment zurückhalten. Erik schien vergessen zu haben, dass seine Schwiegermutter noch in der Nähe war, daran wollte sie nichts ändern. Wenn sie nicht von ihm weggeschickt werden wollte, dann musste sie sich unauffällig verhalten. Zum Glück hatte Fritz Nikkelsen es aufgegeben, sich ihrer anzunehmen, und endlich eingesehen, dass sie nicht von ihm getröstet und betreut werden wollte. Stattdessen hatte er sich zurückgezogen, und sie warf seiner großen, hageren Gestalt einen erleichterten Blick hinterher.
»Ich brauche nicht nachzugucken.« Morten Stövers Stimme klang gepresst. Er schien alle Kraft aufbringen zu müssen, damit sie nicht zitterte. »Haymo Hesse aus Flensburg! Ich kenne ihn, er war mal ein Schüler von mir. Als ich noch in Flensburg unterrichtete ...« Kopfschüttelnd starrte er auf einen Punkt vor seinen Füßen. »Ich habe ihm gesagt, er soll nicht starten. Er war in schlechter Verfassung, das war auf den ersten Blick zu erkennen. Blass war er und nervös. Er griff sich häufig an den Magen und klagte über Kopfschmerzen. Ich habe ihm mehrmals gesagt, dass es gefährlich ist, in diesem Zustand an den Start zu gehen. Er treibt sonst wenig Sport. Aber er wollte nicht auf mich hören. Irgendwo an der Strecke steht ein Mädchen, dem er imponieren wollte. Er ließ sich einfach nicht zurückhalten.«
Der Notarzt nickte, als hörte er so etwas nicht zum ersten Mal. »Schlecht trainiert und dann noch schlecht vorbereitet. In diesem Alter hält man Gesundheit für selbstverständlich.«
Erik griff nach Morten Stövers Arm und zog ihn in die Dünenstraße, wo der Krankenwagen auf den Bestatter wartete. Dass seine Schwiegermutter ihnen folgte, fiel ihm zum Glück nicht auf.
»Was wissen Sie über die Kondition des Jungen?«, hörte sie ihn fragen.
»Er war nie ein guter Sportler. Es ist mir ein Rätsel, warum er unbedingt am Syltlauf teilnehmen wollte. Ich habe ihm geraten, das Mädchen stattdessen zum Essen einzuladen, aber er wollte nicht auf den Start verzichten.« Morten Stöver fuhr sich übers Gesicht, als könnte er seine tiefe Betroffenheit wegwischen. »Hätte ich nur darauf bestanden!«
Erik machte eine Geste, die zeigen sollte, dass Stöver keine Schuld traf. »Sie waren also dabei, als die Läufer in Hörnum starteten?«
Morten Stöver nickte. »Nachdem alle auf der Strecke waren, bin ich mit dem Fahrrad auf der Straße hinterher. Ich habe Haymo gesehen. Er lief gut, und ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht.«
In diesem Moment tauchte ein schwarzes Auto auf und bog in die Dünenstraße ein.Langsam und pietätvoll kam es näher. Der Wagen des Bestatters. Erik sah sich nervös um, weil er Zaungäste ausschließen wollte, dabei fiel sein Blick auf seine Schwiegermutter.
Natürlich war sie beleidigt. Ohne ein Wort hatte sie sich umgedreht, den Kopf nach hinten geworfen und war kerzengerade zur Treppe gegangen, die zur Uferpromenade hinabführte. Dort wartete Fritz Nikkelsen auf sie, der es immer noch nicht aufgegeben hatte, sie zu beeindrucken, und sich zu freuen schien, dass sie endlich seine Anteilnahme willkommen hieß.
Aber er hatte auch diesmal Pech. Mamma Carlotta ging, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zur Trinkstation zurück, wo sie sich unverzüglich wieder den Getränken, den Bananen und dem Aufmuntern der Läufer widmete. Mit eckigen, unwirschen Bewegungen, die ihre Kränkung verrieten. Nikkelsen wieselte hinter ihr her und redete auf sie ein.
»Dieser Schlawiner«, murmelte Erik.
Fritz Nikkelsen war dafür bekannt, dass er jedem Rock hinterherlief. Er hatte sich oft genug lächerlich gemacht, wenn er von jungen Frauen abgewiesen wurde, jetzt hatte er sich anscheinend auf das Hofieren reiferer Damen verlegt.
Im selben Moment verpuffte Eriks Ärger, und nichts als Schuldbewusstsein blieb zurück. Er hätte seiner Schwiegermutter nicht vorwerfen dürfen, dass sie neugierig sei, jedenfalls nicht vor den Augen und Ohren anderer. Und nicht nach diesem schrecklichen Erlebnis! Auf ihre Verteidigung, dass sie doch nur helfen wolle, hätte er auch nicht so rüde reagieren dürfen. »Lass mich in Ruhe, wenn ich arbeite!« Nein, das hätte er nicht sagen dürfen. Obwohl er ja recht hatte.
Nachdem er dem Wagen des Bestatters so lange hinterhergesehen hatte, bis er um die nächste Ecke verschwunden war, holte er seine Pfeife aus der Jackentasche, steckte sie an und stieg die Treppe zur Uferpromenade hinab, als wollte er sich den Zuschauern des Syltlaufs zugesellen. Dass er seine Schwiegermutter dabei im Auge behielt, bemerkte niemand. Er wollte die nächstbeste Gelegenheit nutzen, sich zu ihr zu stellen, etwas Belangloses, aber Freundliches zu sagen und sie so lange anzulächeln, bis sie ihren Ärger vergaß. Er wusste ja, dass sie niemals lange böse auf ihn sein konnte.
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