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Der Bankangestellte Frank Mayer wird unter dem Verdacht verhaftet, Drogenhändler als Kunden betreut zu haben. Zwei Tage später kommt er bei einem Brand in U-Haft ums Leben. Kommissar Weis, dem der Fall von offizieller Seite entzogen wird, ermittelt auf eigene Faust weiter. Mittlerweile nimmt sich Franks Bruder, ein Pariser Anwalt, der Sache ebenfalls an. Er will Aufklärung um jeden Preis. Eine Liebesaffäre erweist sich anfangs als recht nützlich, macht bald jedoch alle weiteren Schritte kompliziert. Inzwischen bekommt Weis Unterstützung von unbekannter Seite. Es scheinen noch mehr Leute am Tod von Frank Mayer interessiert zu sein. Doch warum? Die Ermittlungen führen in undurchsichtige Kreise, und der Kommissar erkennt, dass er nur vorankommt, wenn er selbst gesetzwidrig handelt. Während ein weiterer Mord Spuren verwischen soll, wird die Verfolgung der Verdächtigen immer gefährlicher und die Entdeckungen rätselhafter. Franks Bruder wird vor die schwierigste Entscheidung seines Lebens gestellt. Ein Fall, dessen Aufklärung gegen Ende eine abrupte Wendung nimmt und einen erschütternden Schluss birgt.
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Der Bankangestellte Frank Mayer wird unter dem Verdacht verhaftet, Drogenhändler als Kunden betreut zu haben. Zwei Tage später kommt er bei einem Brand in U-Haft ums Leben. Kommissar Weis, dem der Fall von offizieller Seite entoogen wird, ermittelt auf eigene Faust weiter.
Mittlerweile nimmt sich Franks Bruder, ein Pariser Anwalt, der Sache ebenfalls an. Er will Aufklärung um jeden Preis. Eine Liebesaffäre erweist sich anfangs als recht nützlich, macht bald jedoch alle weiteren Schritte kompliziert.
Inzwischen bekommt Weis Unterstützung von unbekannter Seite, Es scheinen noch mehr Leute am Tod von Frank Mayer interessiert zu sein. Doch warum?
Die Ermittlungen führen in undurchsichtige Kreise, und der Kommissar erkennt, dass er nur vorankommt, wenn er selbst gesetzwidrig handelt.
Während ein weiterer Mord Spuren verwischen soll, wird die Verfolgung der Verdächtigen immer gefährlicher und die Entdeckungen rätselhafter. Franks Bruder wird vor die schwierigste Entscheidung seines Lebens gestellt.
Ein Fall, dessen Aufklärung gegen Ende eine abrupte Wendung nimmt und einen erschütternden Schluss birgt.
Ich lege auch bei diesem Buch wieder ganz besonderen Wert darauf, mich bei allen Personen herzlich zu bedanken, die mich bei meiner Arbeit unterstützt und mir mit ihrer konstruktiven Kritik weitergeholfen haben.
Danke an meine Freunde und Bekannten. Oft habe ich aus unseren Gesprächen und Diskussionen wertvolles Material zusammentragen können, auch wenn euch das vielleicht nicht immer bewusst wurde.
Mein besonderer Dank geht an Georgette, Patrice, Isabelle und Sonja für das “Probelesen” sowie an all jene, die mir fortan geduldig zugehört haben und mir mit Anregungen zur Seite standen.
Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von der Autorin keineswegs beabsichtigt.
Rue Siggi vu Lëtzebuerg
Cookie
Hans
Das Schlieβfach
Lea
Alfonse
Julie
Dubai
Paris
Eduard
Monique
Maurice
Freitag, 6. Dezember
Der dunkelblaue Maserati mit französischem Kennzeichen erreichte soeben die Autobahnausfahrt Richtung Luxembourg- Centre. Am Steuer des sportlich-eleganten Wagens saß ein schwarzhaariger, schlanker Mann mit beigen Lederhandschuhen. Vor knapp vier Stunden hatte der attraktive einundvierzigjährige Staranwalt die Tür seiner Anwaltskanzlei in Paris abgeschlossen und war abgefahren. Als er den Fahrstuhl verlassen und hinaus auf die Straße getreten war, betrachtete er ein letztes Mal das große Schild an der Fassade des Gebäudes mit der Aufschrift: LEGILLE – MAYER – CLERMOND, avocats de la cour – Avenue des Champs-Élysées, 5éme étage.
Vor etwas mehr als zehn Jahren hatte der gebürtige Franzose Christophe Mayer diese Kanzlei zusammen mit seinen Partnern Georges Legille und Auguste Clermond gegründet, und im Laufe dieser Zeit hatte sich das Anwaltstrio zu einem der renommiertesten Häuser von Paris hochgearbeitet.
Christophe war Anwalt aus Leidenschaft, und bis vor einigen Monaten hätte er es noch für unmöglich gehalten, je irgendeinen seiner Fälle abzugeben, doch im Laufe der vergangenen Tage hatte er seinem Kollegen Georges kurzerhand seine sämtlichen laufenden Akten übergeben. Jetzt wollte er auf unbestimmte Zeit hierher nach Luxemburg ziehen. Unbezahlter Urlaub hatte er es selbst genannt. Ja, manchmal erzwingt das Leben Entscheidungen, die einen sehr überraschen können.
Während Chris den Straßenschildern folgte, drehte er die Lautstärke der Musik im Wagen höher. Seit seiner Abfahrt aus Paris hatte er dasselbe Lied wieder und wieder durchlaufen lassen. Sein deutscher Favorit Herbert Grönemeyer mit dem Titel „Mensch“. Trotz seiner französischen Nationalität beherrschte Maître Mayer die deutsche sowie die englische Sprache einwandfrei, denn zwei seiner Studienjahre hatte er jeweils in London und in München verbracht.
Der Text von Grönemeyer passte haarscharf auf seine Stimmung – und wie traurig und leer es ihn stimmte.
... weil er hofft und liebt ... weil er lacht, weil er lebt ... Du fehlst!
Soeben hatte der Maserati den Limpertsberg erreicht und fuhr jetzt die Rue de la Faïencerie hoch. Auf dem Beifahrersitz lagen zwei ausgeschnittene Artikel der lokalen Tageszeitung Luxemburgs vom vergangenen Oktober. Samstag, 17. Oktober. Unter der Rubrik LOKALES – FINANZWELT war zu lesen: Luxemburger Finanzplatz – Privatkontenverwalter einer ausländischen Bank in Untersuchungshaft. Der Privatkundenverwalter einer ausländischen Bank in Luxemburg, Frank Mayer, wurde gestern Morgen in der Bank verhaftet und in Untersuchungshaft gebracht. Mayer wird beschuldigt, wissentlich einen Kunden mit Drogengeldern in die Bank eingeschleust und dessen Gelder verwaltet zu haben. Die Justiz wird untersuchen, ob der Bankangestellte seine Pflichten und die Bankregeln vernachlässigt und sich somit strafbar gemacht hat, oder ob er unwissentlich gehandelt hat und somit der Beweis seiner Unschuld erbracht werden kann. Übermorgen, Montag, wird Mayer dem Untersuchungsrichter vorgeführt.
Alle Einzelheiten dieses Ereignisses waren in Großformat auf der Titelseite der lokalen und internationalen Presse gedruckt. Frank Mayer wurde an jenem Tag zum Thema Nummer eins, und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Dies forderte natürlich auch eine Stellungnahme vonseiten der Bankeninspektion, die nur sehr beschränkt Auskunft geben wollte. Sie bestätigte lediglich, dass der Fall gründlich untersucht und jede erforderliche Maßnahme in die Wege geleitet werde, um Aufklärung und Transparenz zu schaffen. Die Bank selbst verweigerte jeglichen Kommentar.
Der zweite Artikel, den Christophe Mayer ausgeschnitten hatte, lautete wie folgt:
Montag, 19. Oktober: Zellenbrand in Schrassig – Frank Mayer kommt in den Flammen um
In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist kurz nach Mitternacht ein Feuer in einer Gefängniszelle ausgebrochen. Leider waren die Hilfskräfte zu spät an Ort und Stelle. Nach Polizeiangaben war der Zelleninsasse bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und konnte nur noch tot geborgen werden. Die Brandursache bleibt nach wie vor ungeklärt. Ein technischer Defekt wird aber ausgeschlossen, hieß es vonseiten der Polizei. Möglich ist, dass der Insasse das Feuer selbst gelegt hat oder mit einer Zigarette eingeschlafen ist. Als Brandherd gilt eine Matratze. Insassen aus den Nachbarzellen alarmierten die Beamten. Mitarbeiter der Haftanstalt versuchten erfolglos, den Insassen aus dem brennenden Raum zu bergen. Die Feuerwehr mit 60 Mann löschte schließlich die Flammen. Der Raum wurde völlig zerstört.
Bei dem Toten handelte es sich um den am Freitag inhaftierten Privatkundenverwalter Frank Mayer, der verdächtigt wurde, das Kapital eines mit Drogengeldern in Verbindung stehenden Kunden verwaltet zu haben.
Kurz nach 15.00 Uhr bog Chris Mayer in die Rue Siggy vu Lëtzebuerg ein und parkte vor einem Wohngebäude. Die Lage dieser Straße war schon exquisit. Kein Durchgangsverkehr, nahe dem Stadtzentrum, und wer eine Wohnung im hinteren Teil des Gebäudes besaß, hatte außerdem eine außergewöhnlich schöne Aussicht über den Rollingergrund, den Wald und die Umgebung.
Chris schaltete den Motor ab. Er trug verwaschene Jeans, dazu einen lässigen schwarzer Rollkragenpullover. Seine dunklen Augen wirkten müde, und er war unrasiert. Während er seine Handschuhe auszog und sie auf den Beifahrersitz legte, richtete er seinen Blick nach draußen zum Wohnhaus. Das zweite und somit zugleich das oberste Stockwerk war ihm gut bekannt. Hier hatte Frank gewohnt.
Chris öffnete die Wagentür und stieg aus. Er nahm seinen kleinen Handkoffer, und während er zum Eingang schritt, blickte er sich kurz um und sah die Straße hinunter. Keine Menschenseele war zu sehen. Franks Name stand noch immer auf dem Briefkasten und neben dem Klingelknopf.
Er betrat den Fahrstuhl. Oben angelangt, stieg er aus und sperrte die Wohnungstür auf. Beim Eintreten beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Er schloss die Tür hinter sich zu, stellte seinen Koffer im Flur ab und ging ins Wohnzimmer.
Welch herrliche Aussicht, dachte Chris und stellte sich an die Fenstertür zur großen Dachterrasse, die auf der Sonnenseite gelegen war. Für einen 6. Dezember schien die Sonne ungewöhnlich klar und warm. Er öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Hier hatten sie so manche Abende zusammen gesessen, geredet, Partys gefeiert. Er und Frank. Frank! Schon allein der Gedanke an diesen Namen ließ ihn fast erstarren und traf sein Herz wie ein scharfes Schwert. Tränen stiegen in seine Augen, doch er ließ sie nicht zu. Sein Gesicht versteinerte. Sein Bruder Frank war nicht mehr hier.
Nach einigen Minuten ging er wieder hinein, schloss die Tür und trat an die kleine Bar rechts neben dem großen schwarzen Klavier. Er goss sich einen doppelten Whisky ein und trank ihn in wenigen Zügen. Dabei versank er wieder in Gedanken. Er konnte nicht sagen, wie oft er in Gedanken das letzte Telefongespräch mit seinem Bruder hatte abspielen lassen. Ja, dieses Telefongespräch war die letzte Erinnerung, war das letzte Mal, wo er Franks Stimme gehört hatte. Und er würde nie wieder die Gelegenheit haben, mit seinem Bruder zu reden. Nie wieder ...
Chris setzte sich auf einen der Hocker an der Bar. Er schenkte sich noch einen Whisky ein und ließ die schmerzliche Erinnerung wieder einmal wie einen Film ablaufen. Hier, mitten in Franks Wohnung, war dies noch viel leichter und umso schmerzlicher.
Es war an jenem Donnerstag, dem 15. Oktober ..., gegen neunzehn Uhr. Chris war kurz davor, die Kanzlei für den Tag zu schließen. In einer knappen Stunde sollte er Susan im Restaurant treffen, im Quartier Latin. Wie des Öfteren war er wieder einmal unter Zeitdruck geraten und leicht verspätet. Er legte die letzten Papiere in den Safe und fuhr sich mit der Hand durch sein kurz geschnittenes, schwarzes Haar. Einige graue Haare hatten sich im Laufe der letzten Jahre untergemischt, doch das nahm ihm nichts von seiner Attraktivität. Im Gegenteil. Der mittelgroße, schlanke Franzose zog mit seinen dunklen Augen so manchen Frauenblick auf sich. Sein äußerst männliches Aussehen, vermischt mit einem Hauch von Abenteuerlichkeit, schien jedenfalls der Damenwelt auf Anhieb ins Auge zu fallen und sie wie magisch anzuziehen. Eigentlich genoss er dieses heimlich. Wenn er lachte, wurden kleine Grübchen in seinen Mundwinkeln sichtbar. Chris hatte etwas Ernstes und zugleich verspielt Jungenhaftes in seiner ganzen Art, seinem Wesen, was die Frauen an ihm zu lieben schienen. Wenn sich andere Männer tagtäglich bemühen mussten, bei dem anderen Geschlecht Aufmerksamkeit zu erregen, Chris schien diesen Charme von Natur aus zu haben.
Einundvierzig und noch immer Single, denn Chris liebte seine Freiheit über alles. Und er liebte es, mit den Damen zu flirten, sie auszuführen und, was immer sich daraus ergab – er genoss sein Singledasein in vollen Zügen. Seine Unabhängigkeit war ihm fast heilig. Deshalb hatte er auch nie geheiratet. Gelegenheiten hatte es wahrhaftig genug gegeben. Ein ehemaliger Schulfreund und praktizierender Psychiater hatte ihm vor Jahren einmal gesagt, seiner Meinung nach leide Chris unter einer sehr starken Bindungsangst, geprägt durch seine etwas ungewöhnliche Kindheit. Doch Chris hatte nicht weiter auf dieses Thema eingehen wollen. Damals nicht, und jetzt erst recht nicht. Nicht jeder auf dieser Welt ist eben zum Heiraten gemacht, so seine Theorie.
Wenn Chris die Avenue des Champs-Élysées entlangschritt, mit seinen verwaschenen Jeans, den weißen Turnschuhen, der braunen Wildlederjacke, in einer Hand seinen schwarzen Aktenkoffer, dann vermutete niemand, dass sich hinter diesem lässig gekleideten Mann ein VIP-Anwalt versteckte. Seine attraktive, sportliche und sehr sympathische Erscheinung hatte schon so manchen Gegner vor Gericht arg getäuscht.
An jenem Donnerstagabend, dem 15. Oktober, hatte Chris gerade abschließen wollen, als sein Handy klingelte. Das wird Susan sein, die sich noch mal vergewissern will, ob ich auch rechtzeitig erscheinen werde, durchzog es seine Gedanken.
„Mayer.“
„Hallo, Chris. Ich bin’s Frank. Du, hast du ein paar Minuten. Es ist sehr wichtig und äußerst dringend.“
Chris war überrascht. Sein kleiner Bruder Frank. Klein, das hieß sein vierunddreißig jähriger Bruder. Frank wohnte seit Jahren in Luxemburg und hatte einen gutbezahlten Job als Privatkundenverwalter bei einer ausländischen Bank. Wie oft hatte er Chris schon gebeten, doch mal Ferien in Luxemburg zu machen, einen längeren Aufenthalt zu planen, um sich Land und Leute näher anzusehen. Es werde ihm sicher gefallen und er könne seine Kanzlei auch von hier aus gut führen. Doch Chris war immer zu beschäftigt gewesen, um diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen und war nie weiter darauf eingegangen. Außer zu gelegentlichen Wochenendbesuchen oder wenn Frank eine Party gab.
„Salut, Frank, was gibt’s denn so Dringendes? Brauchst du einen Anwalt?“, hatte Chris gescherzt. „Du, ich bin in Kürze mit Susan verabredet und sie wird sehr sauer, wenn ich wieder einmal zu spät komme.“
„Chris, ich habe große Probleme. Hör dir nur das Wichtigste jetzt am Telefon an. Wir müssen uns nächste Woche unbedingt sehen, unbedingt! Bitte, ich ...“
„Hey, langsam, langsam, was ist passiert?“
„Ich, in der Bank, ich bin auf Sachen gestoßen, was meinen Vorgesetzten betrifft, und den Kunden, den ich in die Bank brachte, vor langer Zeit, es gehen … sonderbare Dinge hier vor. Und ... jetzt bin ich in etwas drin ...“
Franks Worte überschlugen sich förmlich. Er schien außer Atem, hektisch und aufgewühlt. So kannte ihn sein großer Bruder gar nicht.
„Ich werde dir per Kurier einen Umschlag schicken. Bitte, heb ihn für mich auf, ja. Bewahr ihn gut auf, denn es sind wichtige Sachen drin, nur für den Fall ...“
Chris versuchte, seinen Bruder zu beruhigen. Er konnte nicht genau nachvollziehen, was Frank sagen wollte.
„Was genau meinst du mit – sonderbare Dinge?“
„Ist eine lange Geschichte! Du, ich muss jetzt weg. Wenn notwendig, setz dich mit Hans in Verbindung. Hans De Haas. Ich schick dir seine Kontaktdaten mit. Er kann dir Einzelheiten vermitteln. Es kann sein, dass ich abgehört werde, deshalb mach ich jetzt Schluss, okay?“
„Ja, aber ... hör zu, Frank, lass uns morgen über alles reden. Komm doch am Wochenende nach Paris, ja?“
„Werde sehen. Oder komm du doch ... nach Luxemburg. Ach, wir werden sehen, ich melde mich ... Bis dann, Chris. Bis später. Salut!“
„Okay, Frank, wir telefonieren. Und bleib ruhig“, versuchte Chris ihn noch zu beruhigen. Er konnte nicht wissen, dass dies das letzte Mal sein sollte, dass er mit seinem Bruder reden würde. Chris blickte auf die Uhr und machte sich eilends auf den Weg zu Susan.
Was mochte Frank denn so aufregen?, dachte er unterwegs in der Metro. Na, das wird sich sicherlich bald erledigt haben, und wenn nicht, dann hat er immer noch seinen großen Bruder Chris.
Wie oft hatte Chris diese Szene in Gedanken wiederholt. Und jedes Mal wünschte er sich, er hätte sich gleich ins Auto gesetzt und wäre nach Luxemburg gefahren. Aber ...
Sie waren so eng miteinander verbunden gewesen. Auch wenn es Zeiten gegeben hatte, in denen sie einander nicht so oft sahen, besonders, seit Frank nach Luxemburg gezogen war, fanden sie immer Zeit zum Telefonieren oder E-Mails zu schreiben. Seit ihrer Kindheit standen sie einander so nah. Sie hatten ja nur einander, damals ...
Und wieder kamen Chris Franks letzte Worte in den Sinn: „Bis dann, Chris. Bis später!“
Ja, bis später, dachte Chris wieder. Dass es nie wieder sein würde, ahnte er an jenem Tag nicht.
Und erneut kam Maître Mayer jetzt auch dieser schockierende Telefonanruf ins Gedächtnis. Jener Montagmorgen, der 19. Oktober. Würde er diesen Anruf je aus seiner Erinnerung verbannen können?
Die Luxemburger Staatsanwaltschaft setzte sich an diesem Morgen persönlich mit Maître Mayer in Verbindung, teilte ganz sachlich mit, dass sein Bruder Frank in der Nacht von Samstag zum Sonntag durch ein Feuer im Gefängnis umgekommen sei. Damit wäre die gegen ihn erhobene Anklage automatisch nichtig. Somit wäre der Fall abgeschlossen, und was den Kunden selbst betraf, damit werde sich ab jetzt nur noch die Bankeninspektion befassen. Punkt. Schluss.
Chris war noch am gleichen Tag nach Luxemburg gefahren. Jeder, den er dort traf, war verschwiegen wie ein Grab. Keine Informationen, keine weiteren Angaben. Nur der offiziellen Bericht. Bei der Polizei war es auch nicht besser. Der Fall war abgeschlossen, die Akte fürs Archiv bereit.
Die Beisetzung fand drei Tage später in Luxemburg statt. Einige wenige Personen hatten an der Zeremonie teilgenommen, alles Leute, die Chris nicht kannte. Außer seinem Vater. Und dem wollte Chris am allerwenigsten begegnen.
Frank war tot. So grausam und plötzlich mitten aus seinem jungen Leben gerissen. Vierunddreißig Jahre alt nur … Nein, mit der Art und Weise, wie die Luxemburger Justiz diesen Fall abwickelte, wollte sich Maître Mayer unter keinen Umständen abfinden. Und wenn es das Allerletzte war, was Chris für seinen Bruder Frank tun konnte, dann war es das: die Wahrheit herauszufinden. Um jeden Preis.
All das lag nun fast zwei Monate zurück. Wie die Zeit vergeht. Schon so lange her, seit ich zum letzten Mal mit ihm reden konnte. Vierunddreißig Jahre alt nur ... Und erneut kam diese fast unkontrollierbare Wut in Chris hoch, vermischt mit Schmerz, mit Trauer, mit ... ach so vielen Gedanken und Gefühlen, denen er bis jetzt keinen Raum hatte geben wollte. Doch er war sich bewusst, dass all diese Erinnerungen über ihn hereinbrechen würden, sobald er einen Schritt in Franks Wohnung setzen würde.
Erst letzte Woche war Christophe Mayer als offiziellem Erben der Zutritt zu Franks Wohnung gestattet worden. Denn wenn jemand plötzlich in einem Luxemburger Gefängnis stirbt, und dabei auch noch bis zur Unkenntlichkeit verbrennt, dann gibt es Pressewirbel und unzählige Schlagzeilen.
Feuer in der Zelle, hatte es geheißen. Frank konnte nicht entkommen und kam im Feuer um. Die Brandursache konnte angeblich nicht vollständig geklärt werden. Man sagte, dass eine Zigarette die mögliche Ursache gewesen sei, doch ansonsten wurde auch hierzu rundum nur geschwiegen.
Es tut uns leid, sagte der Beamte am Telefon, als er Chris Mayer in seiner Anwaltskanzlei anrief. Es tut uns leid ... als ob damit alles geregelt wäre. So einfach ... Chris musste lediglich einige belanglose Fragen beantworten. Sonst nichts.
Mittlerweile wusste das ganze Land, dass Frank Mayer vermutlich in einen Bankenskandal großer Klasse verwickelt gewesen war und dass sein Kunde, so wurde vermutet, ein schwerreicher Araber sei. Wie seltsam, obwohl das Bankgeheimnis in Luxemburg doch so gewahrt wurde, wo sickerten plötzlich all diese Vermutungen durch?
Frank wurde verhaftet. Nichts war bewiesen. Nur der Verdacht bestand. Und dann, zwei Tage später, ein Feuer – ausgerechnet in seiner Zelle. Ein Feuer, das er selbst verschuldet haben soll? Nein, da stimmt so manches nicht, konnte Chris nur zu gut beurteilen.
Jeder, der logisch überlegt, würde zu genau derselben Schlussfolgerung kommen. Erst der Telefonanruf von Frank kurz vor seiner Verhaftung, seine Andeutungen, seine panische Angst. Die Ankündigung, er würde ihm wichtige Informationen schicken, für den Fall, dass ihm etwas zustoßen werde. Und dann ...
Chris hatte nicht verstanden, was Frank ihm hatte sagen wollen. Und dann, als die Nachricht von seinem Tod ihn erreichte, da verstand er, doch zu spät. Dann bekam Chris am folgenden Tag das Paket zugestellt, das Frank ihm angekündigt hatte. Er hatte sich den Inhalt kurz angesehen und dann wieder beiseitegestellt, aber der Polizei gegenüber hatte er es nicht erwähnt. Und jetzt hatte er alles hierher mitgebracht. Hierher in Franks Wohnung. Er wollte der ganzen Sache auf den Grund gehen. Dafür hatte er seinen gutbezahlten Job als Pariser Anwalt er auf unbestimmte Zeit an den Nagel gehängt.
Wenn der einzige Mensch, den man in seinem Leben hat, einem jäh entrissen wird, dann verändert sich das Leben innerhalb von Minuten. Nichts ist mehr wie es eben noch war. Gar nichts mehr. Und es wird auch nie wieder so sein.
Die Polizei hatte nach Franks Tod die gesamte Wohnung auf den Kopf gestellt, jedoch nichts von Bedeutung gefunden. Damit war der Fall für sie abgeschlossen. So einfach ist ein Menschenleben vergessen, vernichtet, ausgelöscht. So einfach.
Und jetzt war Chris hier in Luxemburg. Er würde hier in Franks Wohnung bleiben und herausfinden, was sich wirklich zugetragen hatte, und vor allem, warum Frank hatte sterben müssen. Denn Chris glaubte nicht einen Moment an einen Unfall oder Zufall. Für ihn war es Mord. Schlicht und einfach Mord. Und das musste er beweisen. Nun, ein erster Schritt war bereits getan, seine Reise hierher. Aber das war noch lange nicht der Letzte, dessen war sich Chris sicher.
Irgendjemand würde dafür büßen müssen, dass man ihm seinen Bruder weggenommen hatte. Was hat Frank entdeckt? Wer war hinter ihm her? Und vor allem, was ist vorher passiert?
Was hatte Frank an jenem Abend solche Angst gemacht, dass er seinen Bruder regelrecht um Hilfe, um Unterstützung angefleht hatte? Und Chris konnte sie ihm jetzt nicht mehr geben.
Was immer er sich jetzt versprach von dieser Untersuchung, er wollte jeder Spur nachgehen. Doch wenn er ehrlich war, dann wollte er in erster Hinsicht Rache. Er würde Frank zwar nicht wieder lebendig machen, keineswegs, doch wenn einem alles im Leben genommen wird, dann spielt selbst das keine Rolle mehr. Vielleicht gibt einem dann die verbissene Sucht nach Rache noch einen winzigen Halt. Eine letzte Motivation zum Weiterleben, an die man sich klammert.
Welche Anhaltspunkte hatte Chris? Die wenigen Dinge, die Frank ihm zugeschickt hatte. Zumindest war es ein Anfang. Die Telefonnummer und der Name Hans De Haas, ein guter Freund von Frank, der in Luxemburg wohnte und arbeitete. Den Schlüssel eines Bankschließfachs der BDLP – Banque de la Place – eine lokale Bank im Stadtzentrum. Und die seltsame Bitte von Frank, er möge unerkannt in Luxemburg einreisen, wenn überhaupt. Nicht unter dem Namen Mayer. Chris saß auf dem Sofa, lehnte den Kopf an die Rückenlehne und starrte an die Decke. Er hatte Tränen in den Augen.
Auch das noch, dachte er plötzlich und presste die Hand an seine rechte Wange. Da war dieser Schmerz wieder. Er versuchte, die Stelle mit einem weiteren Schluck Whisky zu spülen, in der Hoffnung, es würde ihm etwas Linderung verschaffen, doch dem war nicht so.
Kurzerhand entschied Chris, noch rasch in den nahegelegenen kleinen Supermarkt zu gehen, um den Kühlschrank aufzufüllen. Einkaufen war nicht gerade Chris’ Lieblingsbeschäftigung, und er war froh, als er alles in der Küche verstaut hatte.
Sein Handy klingelte. An der Rufnummer erkannte er seinen Partner Georges Legille.
„Hallo Georges.“
„Hallo, du Ausreißer! Na, wie war die Fahrt? Wie fährt der Schlitten?“
„Wunderbar, Georges. Purer Luxus. Ich kann nur hoffen, dass wir hier keinen Schnee bekommen werden. Sonst kann ich diesen Wagen vergessen.“
„Und, deine Papiere, dein Ausweis? Alles in Ordnung?“
„Ja, alles okay. Perfekt. Fast zu perfekt. Und ohne Bart erkennt mich hier kein Mensch. Oh ja, ich muss daran denken, mich täglich zu rasieren, stimmt“, sagte er mehr zu sich selbst.
„Richtig. Du hast während der vergangenen zehn Jahre einen Bart getragen, das ist schon eine Umstellung. Ich hoffe für dich, Chris, dass dich niemand erkennen wird, sonst läufst du Gefahr, rasch einige Presseleute am Hals zu haben.“
„Nur ruhig Blut. Keiner weiß, wer ich bin. Und ich nehme mir Zeit, viel Zeit. Du weißt ja – la revanche est un plat qui se mange froid – parfois même gelé. Wann hast du vor, zu kommen?“
„Weiß noch nicht genau, aber ich denke, kurz nach Weihnachten.“
„Gut. Bis dahin werde ich hoffentlich bereits einiges in Erfahrung gebracht haben. Luxemburg allein ist schon eine Reise wert, sag ich dir, und die Wohnung hat reichlich Platz. Also, schalt mal ab und gönn dir einige Ferientage und komm einfach her übers Jahresende. Im Dezember ist sowieso kaum was los im Gerichtssaal. Du weißt ja, wie lange die Richter Urlaub machen.“
„Du, Chris, ich habe, wie versprochen, versucht, durch meinen Kontakt in Luxemburg weitere Informationen zu den wirklichen Ursachen des Gefängnisbrandes zu erhalten, doch irgendwie scheint die ganze Akte komplett unter Verschluss zu sein. Ein absolut totes Gleis sozusagen. Seltsam ... Auch meinem Kontaktmann war nur das zu Ohren gekommen, was von den Medien berichtet wurde, dass eine Zigarette der Auslöser war.“
„Hm ...“ Chris schüttelte verständnislos den Kopf. „Ja, das hat man mir auch als Erklärung angeboten, als ich der Polizei Rede und Antwort stehen musste. Und auf meinen Kommentar hin, dass Frank überzeugter Nichtraucher war, hat mir der Untersuchungsbeauftragte doch allen Ernstes gesagt, jeder könne mal damit anfangen, oder? Das müsse man doch nicht unbedingt seinem Bruder mitteilen! ... Was konnte ich darauf schon sagen ...?“
Chris schwieg einen Augenblick. „Wieder ein Indiz mehr, dass irgendetwas vertuscht oder versteckt wird. Frank hätte niemals im Leben eine Zigarette geraucht! Aber gut, mal sehen, wie ich hier vorankomme. Ich halte dich auf dem Laufenden.“
„Gut, Chris, ich muss auflegen, wir hören voneinander.“
„Ja. Bis die Tage, Georges, und ... danke!“
„Nichts zu danken. Sei vorsichtig, Junge.“
„Du meinst, ich laufe Gefahr, in einem Zellenbrand umzukommen, sollte ich in Untersuchungshaft geraten?“
„Man weiß nie, Chris, man weiß nie ...“ Dann legte Georges Legille, der 45-jährige Pariser Anwalt und enger Freund von Chris, auf.
Und wieder ein heftiger Schmerz. Noch immer dieser Weisheitszahn! Verdammt, ich hatte so gehofft, der Schmerz würde nachlassen und die Entzündung wäre vollständig abgeklungen seit der letzten Behandlung.
Als sich Chris zwei Stunden später im Spiegel betrachtete, musste er feststellen, dass die Wange mächtig angeschwollen war. Der Schmerz wurde noch stechender.
Nachdem er noch mal ein starkes Schmerzmittel geschluckt hatte, legte er sich angezogen aufs Bett. Die lange Autofahrt von Paris hatte ihn wegen starken Nebels und regen Verkehrs doch sehr angestrengt. Und so war er trotz des hämmernden Zahnschmerzes irgendwann eingeschlafen.
2.00 Uhr morgens
Chris wachte ruckartig auf. Die fast unerträglich starken Zahnschmerzen holten ihn aus dem Schlaf zurück. Halb benommen stand er auf und taumelte ins Bad.
Oh je!, dachte er als er sich im Spiegel sah. Seine rechte Wange war noch dicker geworden war. Der Schmerz war fast nicht mehr zu ertragen. Nun gut, wenn’s denn nicht anders geht! Chris wählte die Nummer des Notrufs. Er schilderte sein Problem und der hilfsbereite Mann gab ihm die Telefonnummer des nächstgelegenen Zahnarztes, der dieses Wochenende Notdienst hatte. Chris wartete noch eine weitere halbe Stunde, doch als die Schmerzen nicht weichen wollten, rief er schließlich an. Es klingelte ... Und klingelte. Chris wurde ungeduldig.
Dann endlich hörte er am anderen Ende der Leitung eine verschlafene Frauenstimme: „Weber.“
„Ja, guten Abend, Doktor Weber. Entschuldigen Sie die nächtliche Störung, aber ich habe fürchterliche Zahnschmerzen und der Notdienst hat mir Ihre Nummer vermittelt.“
Die Stimme räusperte sich: „Ja, ja, ich habe Notdienst.“
„Es ist mein Weisheitszahn. Ich habe zwar schon seit Monaten Probleme damit, aber der Schmerz ist jetzt unerträglich. Es zieht bis zum Ohr hinauf, die ganze untere Seite der Backe, die Zähne ... ach, ich weiß schon nicht mehr, wo es wehtut und wo nicht. Er muss raus, glaube ich.“
„Dann kommen Sie am besten gleich vorbei, Herr ...“
„Leblanc, Bernard Leblanc.“
„... Herr Leblanc, meine Adresse ist 13, boulevard Pierre Dupong, Belair. Klingeln Sie kurz, ich öffne Ihnen dann.“
„Danke. Bin schon unterwegs.“
„Und bitte – geben Sie mir zehn Minuten, um wach zu werden“, sagte die angenehme Frauenstimme.
Chris zog seine Joggingschuhe an, streifte seine braune Lederjacke über und rief ein Taxi. Wegen der starken Medikamente, vermischt mit dem Whisky, fühlte er sich reichlich benommen und nicht wirklich in der Lage, selbst zu fahren. Er ging nach unten und wartete draußen. Um diese Zeit war die Straße menschenleer. Alles schien zu schlafen.
Und doch, oben am Ende der Straße fiel ihm plötzlich ein Mann auf. Der stand neben einem Baum, am Rande des Bürgersteiges, und schaute die Straße hinunter, zu Chris hinüber. Er musste ihn in diesem Augenblick sehen.
Als Chris in das Taxi eingestiegen war, sah er, wie der Mann einen letzten Zug an seiner Zigarette zog, diese dann auf die Straße warf und eilig in seinen Wagen stieg. Bis zum Belair waren es knappe zehn Minuten Autofahrt um diese Zeit. Während der Taxifahrt drehte sich Chris einige Male um und bemerkte, dass der Wagen ihnen auf Distanz folgte.
Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, der Mann würde ihn verfolgen. Doch weshalb sollte ihm jemand folgen? Nein, das war wohl Einbildung! Er hatte wohl zu viel gerätselt um Franks Tod und sah jetzt schon überall Verfolger und mutmaßliche Verdächtige. Das musste an dem starken Schmerzmittel liegen.
Der hämmernde Zahnschmerz lenkte seine Gedanken in den nächsten Minuten dann allerdings wieder in eine ganz andere Richtung, und er schenkte dem Wagen hinter sich keine weitere Beachtung.
„So, wir sind angekommen, Monsieur.“ Das Taxi hielt an. Eilends zahlte Chris und stieg aus.
„Soll ich warten?“, fragte der freundliche Fahrer.
„Nein, kann vielleicht länger dauern. Danke trotzdem.“ Daraufhin reichte ihm der Fahrer seine Visitenkarte.
Chris klingelte, und die Tür wurde ihm geöffnet von einer großen, schlanken Frau in dunkelblauem Jogginganzug. Ihr langes, blondes Haar hatte sie zusammengebunden.
Chris blickte sie überrascht an. Wenn das der Zahnarzt ist, na dann ..., dachte er unter Schmerzen. Was für himmlische blaue Augen, wow! Das erleichtert die Behandlung immerhin ein wenig, dachte er.
Martine lächelte, als sie den Mann mit seiner dicken Backe dort stehen sah. Vermutlich hatte sie seine Gedanken lesen können.
„Tja, wie ich sehe, kommen Sie nicht grundlos, Herr Leblanc. Bitte, kommen Sie herein!“
„Hallo, Frau Doktor. Ich bin froh, dass Sie sich meiner annehmen, so mitten in der Nacht.“
„Nun, das ist mein Job. Kommen Sie bitte mit.“ Martine Weber geleitete den Patienten in ihr Behandlungszimmer. Chris nahm im Zahnarztstuhl Platz. Martine zog ihren weißen Kittel an.
„Das sieht nicht gut aus“, sagte die 42-jährige Luxemburger Zahnärztin und sah sich seine Wange etwas genauer an, tastete sie vorsichtig mit ihren Fingern ab. Sie musste gähnen.
„Entschuldigung, aber ich hatte so unheimlich tief geschlafen ... und da brauche ich immer etwas Zeit, um ... um halt voll da zu sein“.
„Kein Problem“, meinte Chris und sah sich das schöne Gesicht dieser Frau mit der makellosen hellen Haut genau an. „Solange Sie ganz wach sind, wenn Sie an mir arbeiten werden!“
„Angst?“
„Nein. Aber, wer kommt schon gerne hierher?“
„Hm ...“, meinte sie. „Hm ... der Zahn ist schwer entzündet. Das ist nicht gut.“
„Ziehen Sie ihn?“
„Das ist schwierig. Ich kann Ihnen keine Spritze geben, die Entzündung muss erst abklingen. Ich werde Ihnen Schmerzmittel und Antibiotika für einige Tage geben müssen ...“
„Können Sie ihn nicht einfach so ziehen?“, fragte Chris. „Es tut so furchtbar weh, Doktor. Er muss raus, bitte ... er muss jetzt raus.“
Martine sah die Entschlossenheit im Blick dieses recht gut aussehenden Mannes. Mit seiner dicken Wange sieht er irgendwie witzig aus, dachte sie. Und gut zugleich. Aber etwas mitgenommen, müde vor allem“, stellte sie fest. Ihre Augen trafen sich einige Male.
„Ich kann schon, aber das tue ich prinzipiell nicht gerne. Denn das wird nicht angenehm, Herr Leblanc. Der Zahn sitzt noch ziemlich fest. Ich muss etwas einschneiden, ihn lösen, und ... das ... das wird schon wehtun ... Deshalb schlage ich vor, dass wir ...“
„Ziehen Sie ihn, bitte!“, sagte Chris entschlossen. „Ich hatte vor Wochen schon das gleiche Problem, und ... ja bitte, ziehen.“
„Ach, ich weiß nicht ...“ Martine setzte sich vor ihn auf den Stuhl. Mittlerweile war es drei Uhr morgens.
„Frau Doktor, ich habe bereits reichlich Schmerzmittel geschluckt, vor zwei Wochen Antibiotika, und jedes Mal, wenn etwas Warmes mit dem Zahn in Berührung kommt, dann tut es furchtbar weh.“
„Ja, das kann ich mir denken.“
„Haben Sie vielleicht eine Flasche Whisky?“, fragte Chris.
„Sie möchten sich zuerst betrinken?“
„Nicht betrinken, ich möchte nur etwas unempfindlicher werden.“
Martine überlegte. Was sollte sie tun. Im Normalfall würde sie nicht einwilligen. Aber, wenn er es unbedingt will ...
„Bitte!“, er sah sie fast flehend an „Ich möchte, dass dieser Schmerz ein Ende hat.“
Martine überlegte. „Okay. Wenn Sie darauf bestehen. Ich hol den Whisky. „Aber auf Ihre Verantwortung!“
„Kein Problem. Ach, lassen Sie mich vorher zahlen.“
„Nein, nicht jetzt. Ich schicke Ihnen die Rechnung. Geben Sie mir Ihre Sozialversicherungskarte.“
„Ich, ich bin aus Frankreich, das, das ...“
„Ist doch wurscht, ist ja alles EU.“
„Nein, ich möchte aber bar bezahlen, ja? “
„Aber, ich, das geht jetzt nicht ...“
„Ich zahle bar. Und nur bar.“
Das erschien Martine allerdings etwas seltsam. Warum wollte ihr der Mann seine Sozialversicherungskarte nicht geben? Vielleicht hatte er gar keine und war arbeitslos? Tja, dafür war es jetzt zu spät. Sie hatte versprochen zu helfen, und somit würde sie das auch tun.
„Dann zahlen Sie halt nächste Woche, wenn Sie wiederkommen.“
Chris trank zwei große Whiskys in einem Zug. „Sie auch einen?“ ,scherzte er.
„Das lieber nicht, in Ihrem eigenen Interesse“, lächelte sie. Er hat Humor! „Sie möchten doch nicht, dass ich Ihnen den falschen Zahn ziehe, oder?“
„Ich bin bereit“, sagte Chris und sah ihr noch einmal tief in die Augen. Sogar unter Schmerzen konnte er noch äußerst charmant sein. „Ich gebe mich ganz in Ihre Hand.“ Dann musste Chris den Mund mit einer antiseptischen Flüssigkeit ausspülen.
„Okay, halten Sie sich mit beiden Händen gut an den Armlehnen fest, bitte. Und wenn’s unerträglich wird, geben Sie mir ein Zeichen, ja. Sie sind ein mutiger Mann“, flüsterte sie. „Im Allgemeinen tue ich so was nicht, ich frag mich, warum ...“, murmelte sie vor sich hin.
„Danke, dass Sie es trotzdem tun.“ Chris schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Dann öffnete er seinen Mund und konnte kein weiteres Wort mehr sagen.
Während der nächsten zehn Minuten tropfte Chris der Schweiß förmlich von der Stirn. Martine war sich nicht sicher, ob er durchhalten würde, und sie gab ihr Bestes, diesen Zahn so schnell wie möglich zu entfernen. Zum Glück gab es keine Komplikationen, und sie konnte ihn einfach und sauber herausnehmen. Und doch, die Schmerzen, die dieser Mann hier aushalten musste ... sie fand es schon bemerkenswert.
„Ich weiß nicht, wer jetzt mehr geschafft ist, Sie oder ich“, sagte sie, als sie den Zahn endlich in der Zange hielt und in die Schale ablegte.
„Puh!“ Chris und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Er konnte kaum reden.
„Ich habe zwei Stiche setzen müssen.“ Sie legte Kompressen auf die Wunde.
„Sie werden jetzt zwanzig Minuten darauf beißen, und nichts Warmes trinken. Die erste Stunde sowieso gar nichts. Okay?“ Chris nickte nur.
Doktor Weber zog ihren Kittel aus und hängte ihn an den Haken hinter der Eingangstür.
„Kommen Sie nächsten Donnerstag noch einmal wieder, dann ziehe ich die Fäden.“ Chris nickte. Er fühlte sich wie benommen. Und es schmerzte.
„Die Schwellung müsste in ein bis zwei Tagen abklingen. Normalerweise“.
„Gut, sehr gut“, sagte Chris mit zusammengepressten Zähnen und versuchte trotzdem ein Lächeln.
„Fühlen Sie sich okay?“, erkundigte sich Doktor Weber besorgt.
„Einigermaßen, ich weiß nicht so recht.“
„Sie brauchen erst mal Schlaf und Ruhe. Das andere kommt von selbst.“
„Okay. Würden Sie mir freundlicherweise ein Taxi bestellen?“
„Aber selbstverständlich, Herr Leblanc.“ Martine Weber wählte die Nummer und knappe zehn Minuten später war das Taxi bereits vor der Tür.
„Sehr freundlich von Ihnen, Frau Doktor. Vielen Dank.“, murmelte Chris.
„Keine Ursache. Und gute Besserung. Bis Donnerstag.“ Chris stieg ins Taxi, und der Wagen brauste davon.
„Sachen gibt es.“ Martine schloss die Tür und löschte alle Lichter in der Praxis. „Ein Glück, dass nicht jeder Nachtdienst so verläuft.“
Samstag, 7. Dezember
Chris wachte auf. Er lag auf dem Rücken, den Kopf auf zwei Kissen gestützt, um das noch heraussickernde Blut nicht zu schlucken. Er streckte sich und blieb noch etwas liegen.
Ich habe doch geschlafen, dachte er und tastete dabei seine Wange ab. Immer noch sehr empfindlich. Aber zumindest schmerzt es nicht mehr so scheußlich wie gestern Nacht. Mann, was für eine Ankunft in Luxemburg. Er schmunzelte vor sich hin. Und dazu eine sehr attraktive Zahnärztin. Na, wenn das die Luxemburger Mentalität ist, dann wird der Aufenthalt hier angenehm.
Chris blickte auf seine Armbanduhr. Halb eins! Er konnte es nicht glauben. Er hatte tatsächlich so lange geschlafen. Blitzschnell stand er auf, zog den dunkelblauen Bademantel an, der gleich neben der Tür auf einem Haken hing, und ließ die elektrischen Rollläden hoch. Die Sonne schien über Berg und Tal heute Morgen, oder besser gesagt, heute Mittag.
Chris betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Ah, die Wange ist noch etwas geschwollen, aber alles in allem, nicht mehr so stark wie gestern Nacht.
Er nahm gleich eine der Antibiotika-Tabletten, die ihm Doktor Weber mitgegeben hatte. Fünf Tage lang musste er diese Dinger schlucken. Aber gut. Wenn’s nicht zu vermeiden ist ...
Nachdem er eine wohltuende, heiße Dusche genommen hatte, gefolgt von einem ausgiebigen Frühstück setzte er sich aufs Sofa. Das Kauen war noch etwas beschwerlich, aber immerhin, er konnte etwas essen. Jetzt wollte er sich in aller Ruhe den kompletten Inhalt des Umschlags ansehen, den ihm Frank vor seinem Tod hatte zukommen lassen.
Sein Handy klingelte. „Ja?“
„Chris?“
„Wer ist dort?“, fragte ziemlich barsch.
„Susan!“
Bei dem Namen Susan veränderte sich Chris’ Gesichtsausdruck schlagartig. „Was willst du?“
„Nicht mal ein Guten Morgen mehr?“
„Morgen. Was ist los?“
„Wo steckst du? Ich war an deiner Tür, hab wie verrückt geklingelt. Ich war ein paar Male dort, bis mir ein Nachbar schließlich mitgeteilt hat, du seist verreist, für länger. Und dein Handy war ausgeschaltet ...“
„Susan, ich dachte, wir hätten den Fall geklärt, bevor ich abgereist bin“, sagte Chris, diesmal in etwas ruhigerem Ton.
„Ach, Chris, sei doch nicht so abweisend. Ich weiß, wir ... nein, ich habe Fehler gemacht, und .... ach ... lass uns doch noch einmal in aller Ruhe über alles reden, was meinst du?“
„Susan, es ist alles gesagt worden, soweit ich mich erinnern kann. Vielmehr, du hast gesagt, ich sei zu nichts Ernstem zu gebrauchen, ich werde mich nie entscheiden können im Leben, ich sei ein Luftikus ... welche Ausdrücke hattest du noch gebraucht ... ach, ist jetzt auch nicht mehr wichtig!“
„Ja, ich weiß, Chris, aber ich war so wütend. Es tut mir wahnsinnig leid. Ich war so ... so dumm ... ich ...“
„Susan, tu jetzt mal etwas, was du noch nie zuvor getan hast und hör mir bitte für zwei Minuten zu, ohne mich zu unterbrechen.“ Es wurde ganz still am andern Ende der Leitung.
„Du hast mir Dinge an den Kopf geworfen vorige Woche, von denen einige stimmen. Ja, richtig. Ich kann mich nicht entscheiden, ich bin nicht gemacht für ein Leben zu zweit, ja, ich habe eine rege Vergangenheit, doch das bin ich.Und das alles hast du von Anfang an gewusst.“
Sie versuchte, ihn zu unterbrechen. „Hey, ich bin noch nicht fertig, bitte! Ich habe dir das alles nie vorenthalten. Du kanntest meinen Lebensstil, meine Einstellung genau, als wir uns kennenlernten. Doch war das nicht auch interessant und aufregend, mit einem solchen Mann zusammen zu sein? War das nicht teilweise auch eine Herausforderung, ein Reiz? Tja, und jetzt lernst du leider auch die negative Seite eines solchen Mannes kennen. Ich bin halt nicht der Typ von Mann, der abends nach Hause kommt, kocht, und sich ausschließlich dann auf die Freundin einstellt. Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen, Susan, und deshalb habe ich dir gesagt, wir trennen uns.“
„Du machst es dir verdammt einfach, Chris. Was ist mit meinen Gefühlen? Ich liebe dich, weißt du das nicht! Ich habe auch viel falsch gemacht, aber, lass es uns noch mal versuchen, Chris!“
„Du verschwendest Zeit und Energie. Ich liebe dich nicht mehr. Wie lange haben wir darüber geredet, wie lange? Du möchtest Kinder, ich möchte keine, ich kann das alles nicht. Ich kann keine Verantwortung für irgendjemand anderen als für mich selbst übernehmen. Manchmal ist mir sogar das zu viel! Und seit Frank gestorben ist, habe ich mich sehr verändert. Versteh das doch bitte!“
Am anderen Ende der Leitung war es still. Chris hörte ein leichtes Schluchzen. „Susan, hör zu. Wir hatten eine fantastische Zeit miteinander, aber bitte, sieh es ein, es würde nie das Leben für dich werden, das du dir vorstellst. Wir beide, du und ich, wir wären nicht glücklich dabei. Okay?“
„Schuft!“, schrie sie ins Telefon.
„Du, ich werde jetzt auflegen. Ich habe zu tun, und ich habe keine Lust, mit dir zu streiten. Und ich habe auch keine Lust mehr, dich zu sehen. Bitte, akzeptier das und lass uns die Sache jetzt nicht noch hundert Mal durchdiskutieren. Wenn du das verdaut hast, und wir wie ... sagen wir, wie Freunde reden können, dann bin ich gerne bereit zu einem Essen, aber nicht vorher. Bis dann.“ Chris unterbrach die Verbindung, ohne eine Antwort abzuwarten. Familie, Kinder ... es grauste Chris, wenn er nur daran dachte. Verpflichtungen, Langeweile, nein, dafür war er nicht geschaffen. Auch nicht mit seinen einundvierzig Jahren.
Jetzt aber. Er nahm Franks Kuvert und öffnete es. Chris hatte zuvor schon einen Blick hineingeworfen, aber nicht die Nerven und die Geduld gehabt, alles genau zu untersuchen. Zwischen einigen losen, beschrifteten Blättern kam ein fester Umschlag zum Vorschein, aus wattiertem Karton, fest verschlossen. Darauf stand geschrieben: Bankschließfach der lokalen Bank, wo ich mein Konto habe. Darunter im Klammern gekritzelt: Bitte nimm eine größere Tragetasche mit, falls du dahin gehst.
Chris öffnete den Umschlag und entnahm ihm einen langen Schlüssel. Dabei lag ein kleines weißes Kuvert, das er sogleich aufriss. Ein Brief von Frank, handgeschrieben. Chris lehnte sich zurück und legte seine Beine auf den Tisch.
Hallo Bruder,
hoffe, dich bald zu sehen. Viel ist passiert, habe momentan keine Zeit für weitere Erklärungen.
Der Schlüssel gehört zum Schließfach der BDLP (Banque de la Place), der Luxemburger Bank, wo ich mein Konto habe. Bewahr ihn auf, bis wir uns sehen, ansonsten, wenn erforderlich, leere das Schließfach. Und behalte den Inhalt für dich.
Name meines Vorgesetzten: Jonathan Morgan, BOGA Bank
Unser gemeinsamer Kunde ist eine Hotelkette aus den Arabischen Emiraten.
Falls notwendig, ruf Hans De Haas an. Kannst ihm zu 100 % vertrauen! Er weiß einige Einzelheiten, die du brauchen kannst, falls ... Büro
nummer/Handynummer siehe unten.
Bis bald – hoffentlich. Dein kleiner Bruder Frank – 15. Oktober
Darunter war eine Telefonnummer notiert, der Schrift nach zu urteilen in aller Eile.
Frank hatte diesen Brief am 15. Oktober geschrieben und am gleichen Tag per Kurier abgeschickt. Am Morgen danach war Frank verhaftet worden, und kurz darauf war er tot. Als ob er das hatte kommen sehen, als ob er es geahnt hatte, dachte Chris. Was immer passiert war, Chris hatte sich geschworen, es herauszufinden. Zu welchem Preis auch immer.
Chris nahm seine Brieftasche und zog daraus seinen Pass: Bernard Leblanc. Sieht gut aus, dachte er. So echt, den Unterschied sieht nicht mal ein Polizeibeamter. Ausgezeichnete Arbeit, Guy.
Den restlichen Samstagnachmittag verbrachte Chris in der Wohnung. Das Antibiotikum machte ihn doch recht müde.
Sonntag, 8. Dezember
Im Wohnzimmer einer nett eingerichteten Wohnung des Appartmentblocks in Fentange stand eine junge Frau mit rötlich-braunem, langem Haar und grünen Augen am Fenster und blickte hinaus. Der Wald, den sie von hier aus sehen konnte, lag noch größtenteils im Nebel. Lea war gerade erst aufgestanden und sah noch recht verschlafen aus.
Plötzlich spürte sie die kleine Hand des dreijährigen Mädchens, das barfuß zu ihr gekommen war und ihr Bein umfasste. Das Kind hatte wunderschönes, rötliches Haar und recht viele Locken. „Lilly, bist du schon wach?“
„Jaaaaa.“ Dann drückte sie sich erneut an Leas Beine. „Ich hab Hunger!“, verkündete sie laut und lächelte Lea an, als diese sie anblickte und sie umarmte.
„Wir werden gleich frühstücken, mein Schatz. Ich hab nämlich auch Hunger.“
Das Telefon klingelte. „Weis“, meldete sich Lea.
„Lea, Martine hier. Hab ich dich geweckt?“
„Hallo, Martine. Nein. Aber wir sind noch nicht lange auf. Was gibt’s?“
„Nichts Besonderes. Was treibt ihr heute?“
„Weiß noch nicht. Lilly ist hier bis heute Abend. Dann fahr ich sie zu meinen Eltern. Komm doch vorbei und frühstück mit uns.“
„Warum eigentlich nicht. Mach ich“, sagte Martine ohne langes Zögern „Bin schon so gut wie da!“
Martine Weber nahm ihren Mantel, stieg in ihren Golf und fuhr Richtung Fentange. Unterwegs kaufte sie frische Hörnchen, und eine gute halbe Stunde später saßen die beiden Frauen am Tisch, zusammen mit Lilly, und genossen ein langes Sonntagsfrühstück.
„... und dann hatte der Mann doch tatsächlich den Mut und ließ sich den Zahn ohne Spritze ziehen. Ich war total überrascht, dass er durchhielt.“
„Das war schon eine reife Leistung. Mutiger Kerl“, bemerkte Lea.
„Und ein gut aussehender dazu“, lächelte Martine versonnen.
„Ah, Frau Zahnärztin ... interessante Bemerkung!“
„Er ist Franzose. Bernard Leblanc.“
„Arbeitet er hier in Luxemburg?“
„Keine Ahnung. Sonderbar war nur, dass er seine Sozialversicherungskarte nicht rausgeben wollte. Vielleicht ist er arbeitslos. Obwohl er mir nicht den Anschein erweckt hat ... Du, ich muss dir noch was erzählen“, sagte Martine übergangslos. Ich hatte vor zwei Monaten bei einem Preisausschreiben unseres Lokalsenders mitgemacht. Einfach so zum Spaß.“
„Und jetzt sag nicht, dass du etwa gewonnen hast?“
„Ich hab. Ich hab!“, sagte Martine freudig. „Aber es ist für zwei Personen. Und deshalb gleich meine Frage: Kommst du mit?“
„Du hast gewonnen ... was ... wohin ... sag schon.“ Leas Neugier war kaum zu bremsen.
„Ach, es ist nichts Weltbewegendes, aber immerhin. Zwei Nächte im Casinohotel in Mondorf.“
„Nein!“
„Doch! Und ... ein Abendessen für zwei Personen im Sternerestaurant inbegriffen.“
„Das ist doch wunderbar!“
„Heißt das, du kommst mit?“
„Würdest du nicht lieber deinen neuen Patienten zu diesem romantischen Wochenende einladen?“, scherzte Lea.
„Hör auf, Lea, du weißt, dass mein Bedarf an Männern vorerst gedeckt ist.“
Lea wusste genau, dass Martine nicht auf eine neue Bekanntschaft aus war, seit Pierre sie vor etwa drei Jahren hatte sitzen lassen und zurück zu seiner Ex-Frau gezogen war. Damals hatten er und Martine gerade geplant, zusammenzuziehen, ein Haus zu kaufen, da tauchte seine geschiedene Frau wieder auf und ließ nicht locker. Außerdem hatte sie Geld, viel Geld. Und Pierre entschied, wieder mit ihr zusammen sein zu wollen. Was für ein Schwachsinn. Martine litt höllisch unter dieser Trennung. Sie hatten fünf Jahre lang eine so gute Beziehung gehabt. Fünf Jahre lang. Bis diese Hexe wieder auftauchte. Dann stand seine Liebe zu Martine wohl doch nicht auf wirklich festen Beinen.
„Also, was ist? Kommst du mit?“
„Klar, auf jeden Fall, du!“
„Wunderbar, Lea. Klasse. Wann sollen wir? Gültig bis Ende Januar“.
„Was hältst du vom Jahreswechsel, vom 30 Dezember bis zum 1. Januar. Wär doch mal was anderes? Und wir dinieren zum Jahresabschluss sehr vornehm, begegnen zwei steinreichen Junggesellen und gewinnen dazu den Jackpot.“ Die beiden Frauen lachten herzhaft.
„Das klingt gut. Ich habe sowieso nichts vor zum Silvesterabend, Martine. Ja, lass uns das so machen.“
„Und ich?“, meldete sich plötzlich eine leise Kinderstimme dazwischen.
„Du mein Schatz, wirst dieses eine Mal bei Oma und Opa bleiben. Ich bin ja nur drei Tage fort.“
„Ich möchte aber bei dir bleiben!“ Die Kleine begann zu weinen und klammerte sich fest an Leas Arm.
„Komm her, Lilly, lass gut sein. Wir werden das schon schaffen, ja?“
Martine beobachtete die beiden. Ihr tat das Herz weh. „Wie sieht es aus, noch immer keine Fortschritte bei Paula?“, fragte sie zögernd und blickte Lea dabei an.
Mit traurigen Augen schüttelte sie den Kopf. „Leider nicht. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf.“
Die Woche verging schnell. Chris alias Bernard Leblanc kam am besagten Donnerstag in die Praxis, und Dr. Weber zog die Fäden. Der Einschnitt war mittlerweile gut verheilt, und die Schwellung seiner Backe war völlig abgeklungen.
„Das sieht nahezu perfekt aus, Herr Leblanc. Alles bestens. So kann ich Sie entlassen“, meinte Martine.
„Das hör ich gerne. Ich habe auch wenig Zeit, mich mit Zahnschmerzen herumzuschlagen.“ Er schwang sich aus dem Behandlungsstuhl. „Was schulde ich Ihnen?“
„Ich schicke die Rechnung, ja?“
„Ah ... nein, ich hatte doch gesagt, dass ich bar bezahle.“ Dabei zog er seine Geldbörse hervor.
„Geben Sie mir trotzdem bitte Ihre Adresse für meine Kartei.“
„Das ... geht nicht. Ich ... ich bin nur vorübergehend hier im Land.“ Das klang gut. Chris war froh, diese Ausrede gerade noch gefunden zu haben.
„Tja, wenn Sie darauf bestehen, von mir aus.“ Es erschien Martine schon etwas sonderbar, doch was soll’s. Somit konnte sie allerdings nicht herausfinden, wo sie diesen äußerst charmanten Mann treffen konnte, falls sie das wollte. Und sie war mit Sicherheit nicht abgeneigt.
„Frankreich?“, fragte sie dann doch.
Chris blickte sie an. „Was schulde ich Ihnen, Frau Doktor?“
Martine gab ihm die Rechnung, sie spürte, es war ihm nicht recht, wenn sie Fragen stellte. Chris zahlte den Betrag, dann reichte er ihr die Hand. „Haben Sie ganz herzlichen Dank, Doktor Weber. Sie haben mir sehr geholfen.“
„Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Herr Leblanc. Leben Sie wohl!“
„Und Sie auch!“, sagte er. Als er fast draußen war, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Ich wusste gar nicht, dass Luxemburg so attraktive Zahnärztinnen hat.“ Dabei schenkte er ihr ein charmantes, spitzbübisches Lächeln.
Martine spürte, dass sie errötete. Es ärgerte sie, dass ihr kein einziges Wort als Antwort einfiel und sie ihn stattdessen einfach nur anlächelte und sich dabei fühlte wie ein Schulmädchen, das von einem Klassenkameraden ein Kompliment bekommt.
Chris eilte die Treppe hinunter. Er hatte es tatsächlich geschafft, die schöne Frau Doktor in Verlegenheit zu bringen.
Vom Fenster aus beobachtete Martine, wie er in seinen Maserati mit französischem Kennzeichen stieg. So ein interessanter Mann, und ich habe nicht mal seine Adresse. Sie schmunzelte. Seltsamer Vogel.
Samstag, 13. Dezember
Lea Weis parkte ihren Wagen vor dem Haus ihrer Eltern, einem Einfamilienhaus in Belair.. Die Rue Jean Bertels, in einem schönen Wohnviertel nahe dem Stadtzentrum, hatte keinen Durchgangsverkehr und war somit eine sehr ruhige Lage.
Lea stieg aus, nahm die kleine Lilly bei der Hand, und gemeinsam gingen sie ins Haus hinein.
„Hallo Mutter, Vater!“, sagte sie und begrüßte die beiden herzlich.
„Guten Morgen, mein kleiner Liebling“, sagte ihr Vater und umarmte die kleine Lilly fest.
„Hallo Opa!“
„Ich bin nicht vor morgen Nachmittag zurück. Die Feier wird wie gewohnt spät enden, und ich übernachte dann im Hotel. Ich habe absolut keine Lust, um vier Uhr morgens noch von Mondorf zurückzufahren.“
Lea Weis war von Beruf Kinderpsychologin. Doch seit gut einem Jahr hatte sie diesen Beruf für unbestimmte Zeit aufgegeben, weil ein schwerer Autounfall sie seelisch und moralisch so sehr mitgenommen hatte, dass sie sich nicht mehr in der Lage fühlte, diese anspruchsvolle Arbeit zu bewältigen.
Seither war sie bei einer Event-Firma tätig, welche Partys und Veranstaltungen für Firmen organisierte. Wenn dann ein solches Ereignis stattfand, blieb sie während des ganzen Ablaufs an Ort und Stelle, um einen reibungslosen Verlauf des Abends zu sichern.
Heute Abend feierte eine große Luxemburger Bank im Mondorfer Casino ihr 25-jähriges Firmenjubiläum. Lea wollte lieber dort übernachten, da der Wetterdienst für die kommende Nacht Schnee und Glatteis vorhergesagt hatte. Außerdem ermöglichte ihr das Hotelzimmer, sich zwischendurch immer wieder mal für eine halbe Stunde zurückzuziehen, um zu entspannen.
„Gute Entscheidung, dort zu übernachten, Lea“, bemerkte ihr Vater. „Mit all den Trunkenbolden, die immer wieder nachts unterwegs sind ...“
Leas Vater war seit über dreißig Jahren Kommissar bei der Luxemburger Geheimpolizei. Manchmal war er so von einem Fall eingenommen, dass seine Frau oft tagelang nicht wusste, wo er sich befand, aus Sicherheitsgründen für die Angehörigen und deren Familie.
„Na, Paps, gibt’s einen neuen, spannenden und ungelösten Fall?“
„Ach, es ist eigentlich kein ganz neuer Fall, aber du weißt ja, was mich seit zwei Monaten beschäftigt.“
„Ach nein, sag bloß nicht, dass es noch immer dieser Banker ist, der wegen ... was war es doch gleich ... Verdacht auf Kunden mit Drogengeldern, verhaftet wurde. Der Mann ist eh jetzt tot. Und waren nicht alle Beweise seiner Schuld erbracht worden, schlussendlich?“
„Na, so einfach ging das alles nicht gerade“, murmelte der grauhaarige Alfonse Weis und sah über den Rand seiner schmalen Lesebrille.
Alfonse war ein herzensguter Mann, ein liebevoller Vater und ein sehr stolzer Großvater. Sein ruhiges und gefestigtes Wesen strahlte Sicherheit und Zufriedenheit aus. Doch man sollte sich nicht von seiner schmalen Statur und seinem eher unscheinbaren Äußeren täuschen lassen. Im Dienst konnte Alfonse knallhart und unerbittlich sein. So mancher Gauner und Betrüger hatte diese Seite von Polizeikommissar Weis schon am eigenen Leib zu spüren bekommen.
„Es gibt zu viele Ungereimtheiten in diesem Fall, Lea. Ich habe noch nie erlebt, dass die Staatsanwaltschaft einen Fall derart ruck zuck abschließt. Der Zellenbrand wurde gar nicht weiter hinterfragt. Es sieht alles zu sauber aus, nach dem plötzlichen Tod dieses Mannes. Und das mag ich nicht. Das mag ich ganz und gar nicht“, wiederholte er mit bestimmtem Ton.
„Wenn etwas nicht in Ordnung damit ist, dann findest du es bestimmt heraus, Paps.“ Lea umarmte ihren Vater, der am Tisch über einer Unmenge an Papieren saß, und ging hinaus. Ihre Mutter nahm Lilly an der Hand, und beide begleiteten Lea bis vor die Tür.
„Ich war übrigens heute Nachmittag noch mal bei Paula“, sagte sie leise zu Lea und drückte dabei fest ihre Hand.
Lea blickte ihre Mutter an und sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Ich werde nächste Woche hingehen, Mutter.“
„Ach Lea, ich weiß, wie weh es dir tut, wenn du dorthin gehst. Du musst es nicht, das weißt du.“
„Natürlich weiß ich das. Aber ...“ Lea stockte. „Ich vermisse sie so sehr.“
„Ja“, sagte Frau Weis im Flüsterton. „Wir alle vermissen sie unaufhörlich ...“
Lea räusperte sich. „So, tschüss ihr beiden. Schönen Abend, und Lilly, schlaf schön.“ Sie drückte der Kleinen einen festen Kuss auf die Wange.
Lilly umarmte Lea kräftig und wollte gar nicht mehr loslassen. Frau Weis hob sie dann auf ihren Arm, während das kleine hübsche Mädchen ihren Teddybären ganz fest hielt. Sie winkte noch, als Leas Wagen schon um die Ecke gefahren war.
Kurz nach 18.00 Uhr traf Lea im Casino in Mondorf ein. Sie checkte gleich an der Rezeption ein und stieg mit ihrer Reisetasche in den Fahlstuhl. Zweites Stockwerk, Zimmer 113.
Die Feierlichkeiten zum Firmenjubiläum sollten um 19.00 Uhr starten, und somit machte sie sich gleich auf den Weg zum Festsaal, nachdem sie sich umgezogen hatte. Lea trug für diesen festlichen Anlass eine schwarze Lederhose mit eleganter ärmelloser Glitzerbluse. Darüber ein cremefarbener Pashmina, und flache schwarze Lederschuhe.
Sie war nicht der Typ Frau, den man oft in engen Kleidern und Schuhen mit hohen Absätzen sah, obwohl sie unverkennbar die Figur dazu hatte. Sie bevorzugte eher lässige, sportliche Kleidung.
Sie trug ein dezentes Make-up. Ihre rötlich-braunen, langen, glatten Haare reichten ihr bis zur Taille, und die Festbeleuchtung in dem großen Saal gab diesem Rotton einen wunderschönen, glänzenden Schimmer. Die Dekorateure hatten gute Arbeit geleistet und dem Saal eine vorweihnachtliche, angenehme Atmosphäre verliehen. Die Band war wie geplant an Ort und Stelle. Und da kam auch schon der engagierte Illusionist auf Lea zu. Sie begrüßten sich herzlich, wechselten einige Worte und besprachen noch einmal genau den Ablauf seiner Vorstellung.
Gegen 19.30 Uhr waren die meisten Angestellten eingetroffen, der Champagner wurde serviert, und die Atmosphäre schien locker und freudig. In der Mitte des Saales befand sich ein wunderschön dekorierter Weihnachtsbaum, von zahlreichen Geschenkpäckchen umgeben.
Nach einer halben Stunde begab sich die Gesellschaft dann an die weihnachtlich eingedeckten Tische, und nachdem der Bankdirektor eine Willkommensansprache gehalten hatte, wurde die Vorspeise serviert. Der Ablauf des Abends war von Lea wie immer, perfekt geplant und organisiert.
Kurz nach 22.30 Uhr hatte der Illusionist den ersten Teil seiner Show beendet, und Lea hatte Lust, einen Abstecher in den Spielsaal des Casinos zu machen.
Spielautomaten hatten Lea schon als Kind fasziniert. Sie konnte sich für alle Spiele begeistern, bei denen man einige Münzen gewinnen konnte, sowie man die richtige Zahlenkombination eingegeben hatte. Hier im Casino war das Bingospiel ihr absoluter Favorit. Sie zahlte den Eintritt für beide Spielräume, den mit den Slotmaschinen und den mit den Roulette- und Black-Jack-Tischen. An den Wochenenden war das einzige Casino des Landes meistens gut besucht, und auch heute Abend herrschte hier reger Betrieb.
Nachdem sie eine kleinere Summe an der Kasse in Jetons umgewechselt hatte, schlenderte sie im Saal umher, beobachtete die Menschen an den verschiedenen Tischen und Spielautomaten. Sie konnte sich nicht so richtig entscheiden, mit welchem Spiel sie beginnen sollte, da alle Bingoautomaten besetzt waren. Nach einigen Rundgängen hatte sie dann einen Entschluss gefasst; sie wollte einen Drink.
Sie trat an die Bar und bestellte sich einen Saftcocktail. Lea hatte gerade den ersten Schluck davon genossen, als sich ein Mann der Bar näherte und den einzigen noch freien Barhocker gleich neben Lea belegte. Der Mann war mittelgroß, schlank, hatte schwarzes, kurzes Haar und trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, jedoch keine Krawatte. Seine ausgeprägten Wangenknochen sowie sein unrasiertes Gesicht verliehen ihm ein eher lässiges Aussehen, trotz des eleganten Anzugs. Er hatte große, dunkle Augen.
Lea beobachtete ihn möglichst unauffällig von der Seite. Er hatte eine gewisse Ausstrahlung. Ein interessanter Mann, so auf den ersten Blick, dachte Lea. Er bestellte seinen Kaffee in akzentfreiem Französisch, sah sich im Spielsaal um, blickte umher. Als er Lea bemerkte, betrachtete er sie etwas intensiver.
„Bonsoir Madame!“, sagte Chris Mayer mit einem freundlichen Lächeln. Dabei wanderte sein Blick diskret an ihrem Körper entlang, bis zu ihren Füßen. Erneut fielen ihr seine lebendigen, dunklen Augen auf.
„Hallo“, erwiderte sie und lächelte.
„Und, hat Madame schon Glück gehabt heute Abend?“, fragte er mit einem leicht spielerischen Unterton.
„Noch nicht. Alle Bingospiele sind zurzeit besetzt, und die übrigen Spiele sind nicht so mein Fall.“
„Hm, dann darf ich Sie in der Zwischenzeit zu einem Glas Champagner einladen?“, fragte Chris und hob dabei die Hand um die Bardame zu rufen. „Zwei Gläser Champagner, bitte.“
„Sind Sie immer so schnell?“, fragte Lea aufgeweckt.
„Kommt ganz darauf an!“, sagte Chris schlagfertig und legte dabei, während er sie unentwegt anblickte, sein charmantes Lächeln auf.
„Wie ist Ihr Name?“
„Cookie. Nennen Sie mich einfach Cookie. Es ist so eine Art Kosename – für gute Freunde. Und Sie?“, fragte Chris.
„Lea. Lea Weis.“
„Was treibt eine so attraktive Frau wie Sie mutterseelenallein an einem Samstagabend ins Casino. Zeitvertreib?“ Irgendwie hat sie einen Hauch von asiatischer Abstammung in ihren Augen, dachte er. Irgendwie geheimnisvoll! Und schön!
„Nein, Arbeit. Was übrigens verleitet Sie zu der Annahme, dass ich allein hier bin?“
„Zum Arbeiten? Nun, es sieht nicht so aus, als seien Sie in Begleitung!“, sagte er im selben Atemzug.
Lea erklärte kurz den Grund ihres Casinobesuches.
„Ah“, sagte er jetzt, erleichtert. „Also sind Sie doch alleine hier!?“
Lea ging nicht auf diese Bemerkung ein. „Und Sie, Sie sind Franzose?“
Chris beobachtete jede von Leas Gesten. Er hielt sie mit seinem Blick immer wieder gefangen, eine Art, die Lea einerseits gefiel, die sie jedoch andererseits fast zu aufdringlich fand. Doch da der Mann auch einen interessanten Eindruck auf sie machte, sah sie vorerst darüber hinweg.
„Ja, ich bin aus Paris.“
„Geschäftlich hier in Luxemburg?“
„Ich mache längere Ferien hier und möchte das Land und seine Kultur kennenlernen.“ Das war eine fette Lüge, aber es lässt sich nicht vermeiden, dachte Chris.
„Um dann später einmal hier zu arbeiten?“
„Nein, das ist nicht direkt geplant, aber, man weiß ja nie, was das Leben so alles bringt.“ Chris nahm einen Schluck Champagner. „Ich habe eigentlich auf unbestimmte Zeit Urlaub genommen.“ Ja, so kann man es nennen, dachte Chris. Ich habe keineswegs vor, irgendjemandem hier in Luxemburg den wahren Grund meines Aufenthalts zu verraten.
„Und was hat Sie hierher verschlagen heute Nacht?“
„Langeweile. Ich wollte einfach unter Leute!“, erklärte er ihr.
Der Abend verstrich. Lea fühlte sich wohl in der angenehmen Gesellschaft von Cookie. Er war unterhaltsam, sehr redegewandt und hatte dazu auch noch Humor. Sie spielten beide Bingo bis spät in die Nacht hinein, lachten und redeten viel belangloses Zeug.
„Prost“, sagte Chris und stieß mit Lea kurz nach Mitternacht mit einem weiteren Glas Champagner an. „Sollten wir nicht zum Du übergehen?“, fragte er im selben Atemzug. „Das Sie klingt so formell.“
„Nichts dagegen einzuwenden. Prost, Cookie.“
„Auf Glück ... im Spiel, Lea“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Auf Glück im Spiel, Cookie!“, betonte sie. Genüsslich schlürften sie den eiskalten, prickelnden Champagner.
„Du, ich sehe lieber noch mal nebenan, wie die Veranstaltung läuft.“
„Ich bin hier“, meinte Chris „und rühre mich nicht von der Stelle.“
Als Lea durch die Halle an der Rezeption vorbeikam, wollte sie kurz an die frische Luft und ging zum Eingang. Oh mein Gott. Sie traute ihren Augen nicht. Während der vergangenen zwei Stunden hatte es unmäßig viel Schnee gegeben, die Wettervorhersage hatte sich nur allzu gut bestätigt. Unwahrscheinlich viel Schnee. Gut, dass ich die Nacht im Hotel verbringen werde. Lea ging wieder zurück in den Spielsalon, Chris war noch immer an der Bar.
„Draußen ist der Winter eingetroffen. Ganz plötzlich, aber heftig.“
„Ach, so schlimm wird’s schon nicht sein.“
„Ich sag dir, es ist wirklich viel Schnee. Komm mit, vergewissere dich selbst. Der liegt mindestens dreißig Zentimeter hoch.“
Er folgte Lea zum Haupteingang, wo er feststellen musste, dass sie keineswegs übertrieben hatte. „Tja“, meinte er nachdenklich, „mit meinem Wagen werde ich wohl heute Nacht nicht in die Stadt zurückfahren können.“
„Warum? Keine Winterreifen?“
„Das auch nicht.“ Lea sah ihn fragend an. „Würdest du mich ... eventuell mit in die Stadt nehmen, nachher, wenn du nach Hause fährst?“
„Ich übernachte hier im Hotel. Das tue ich oft bei diesen späten Veranstaltungen. Aber, du könntest doch auch ein Zimmer buchen. Bestimmt ist noch was frei, in der Vorweihnachtszeit.“
„Das werde ich wohl müssen.“ Lea begleitete Chris zur Hotelrezeption, wo er problemlos ein Zimmer bekommen konnte.
„Danke für den Vorschlag, Lea. Gute Idee!“, bemerkte Chris und lächelte Lea zu.
„Keine Ursache. Aber, was fährst du denn so Besonderes, was nicht winterfest ist?“
„Maserati. Nicht für den Schnee gemacht.“
„Ah ...“, meinte Lea. „Aber ein schönes Auto!“
„Da kann ich dir nur zustimmen.“