Eine Spur von Leben - Laura Laberge - E-Book

Eine Spur von Leben E-Book

Laura Laberge

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Beschreibung

Wer hat Patrick Joubert ermordet und dessen Freund Saadane entführt? Die beiden hatten in ein großes Wespennest gestochen: Menschenhandel mit Flüchtlingsfamilien. Eine Gruppe von nicht manipulierbaren Personen, die den Mord an Patrick aufklären und Saadane vor dem gleichen Schicksal bewahren wollen, begeben sich in höchste Gefahr, denn die Drahtzieher des organisierten Verbrechens schrecken vor nichts zurück, um ihre eigene Anonymität zu bewahren. Das Leben aller Beteiligten gerät ins Wanken. Eine leidenschaftliche Romanze stürzt zudem die beiden Hauptfiguren in arge Gewissensnöte.

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Danksagung

Ein Buch zu schreiben ist streckenweise ein einsames Unterfangen. Es nimmt endlose Stunden in Anspruch, die umherschwirrenden Gedanken zu ordnen und in literarisch überzeugender Weise zu gestalten. Der Weg zum fertigen Manuskript ist lang. Daher kommt der Autor bzw. die Autorin nie ganz ohne fremde Hilfe aus.

Ich lege deshalb ganz besonderen Wert darauf, mich bei den Personen ganz herzlich zu bedanken, die mich tagtäglich bei meiner Arbeit unterstützt haben, mir dabei geholfen haben, Sackgassen zu erkennen, gedankengänge weiterzuentwickeln und die verschiedenen handlungsstränge miteinander zu verbinden.

Danke an alle, die mir mit ihren Anregungen zur Seite standen und mir vieles in klarerem Licht erschienen ließen.

Es hat mir eine Menge Spass gemacht, mit euch allen zusammenzuarbeiten.

[email protected]

Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von der Autorin keineswegs beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Tod eines Freundes

Richard

Der Unbekannte

Geheime Daten

Ermittlungen in Rot und Schwarz

Sam

David

Ein Feuer entflammt

Lebensspuren

Tom

Schwere Zeiten

Zweifel

Der Ausbruch

Seltsame Geschehnisse

Dezember

Tod eines Freundes

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, doch das stimmt nur begrenzt. Die Zeit deckt den Schmerz zu, und tief darunter bleibt eine Vernarbung, die nie ganz verheilt, auch nicht nach dreizehn Jahren. Im Laufe der Zeit verblasst die Erinnerung, aber es gibt keine Taste, die man betätigen kann, um Vergangenes einfach auszulöschen.

Jana Frederiksen fühlte den warmen Sand unter ihren nackten Füßen, als sie an diesem Morgen den Strand entlang spazierte. Die Sonne brannte leicht auf ihrer Haut und eine frische Meeresbrise berührte ihr Gesicht, während sie den Wellen zusah, die näher kamen um sich dann wieder zu entfernen. Sie genoss jede Minute. Ihr großer, schlanker Körper war eingehüllt in ein weißes Sommerkleid aus Leinen und ließ sie sehr elegant aussehen. Jana wurde letzten Monat einundvierzig. Das Meerwasser reichte bis zu ihren Waden. Eine angenehme Art, etwas abzukühlen. Der Wind spielte mit ihrem langen, schwarzen Haar. Es reichte fast bis zur ihrer Taille. Er liebte ihr Haar so sehr …

An diesem Strand machten sie viele Spaziergänge. Seit damals war sie oft nach Teneriffa zurückgekehrt, zur Playa Adeje, und jedes Jahr, wenn sie eine Woche Ferien hier verbrachte, kam die Erinnerung zurück …

In diesem Jahr war der April besonders warm gewesen. Die Einwohner sagten, die Temperatur läge im Durchschnitt bei 25 Grad, doch seit sie hier waren, zeigte das Thermometer jeden Tag über 30 Grad an.

Sie liebte es zu dieser Insel zurückzukehren. Entfernt von Luxemburg, wo sie lebten, weit weg von dem nasskalten Frühlingsanfang, den es dort so oft gibt. Manchmal begleitete sie ein Freund, doch dieses Jahr waren sie alleine hier.

Jana und ihre Tochter Andrea. Andrea war im Dezember zwölf geworden. Sie war ein hübsches Mädchen, groß und schlank, mit langem schwarzem Haar, der Mutter fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch ihre markanten, blauen Augen hatte sie von ihm …

Andrea hatte kurz nach ihrer Ankunft hier im Hotel ein gleichaltriges Mädchen getroffen, deren Familie im Zimmer gleich gegenüber wohnte. Und jetzt spielten die beiden am Strand, schwammen im Meer und beobachteten dabei eine Gruppe von Jungs, die Wasserski fuhren.

Während die Mädchen ihren Spaß hatten, in den Wellen zu schwimmen, hatte Jana Zeit zu entspannen, Zeit ihren Gedanken Raum zu geben.

Bis heute konnte sie nicht genau sagen, warum sie besonders diese Insel so sehr mochte. War es die Natur, das Klima, oder aber die Erinnerung, die sie an diesen Strand hatte, an dieses Hotel, an ihn? Heute waren es fast genau auf den Tag dreizehn Jahre her, dass sie ihn das erste Mal in diesem Hotel sah. Als sie an jenem Tag im Hotel eincheckte, kam er an die Rezeption und fragte nach seinem Zimmerschlüssel. Gerade als er ihn von der Empfangsdame erhalten hatte, fiel er ihm aus der Hand, direkt vor ihre Füße. Sie machten gleichzeitig dieselbe Bewegung um ihn aufzuheben. Als sich dabei ihre Blicke trafen, da wusste sie es. Jana sah in die Augen eines Mannes, die sie gefangen hielten, die sie wie magisch anzogen. Sie hatte das Gefühl, als hätten sie einander so viel zu sagen, als hätten sie viel gemeinsam.

Er war gut gekleidet, sportlich und stilvoll zugleich, in dunkelblauem Leinenanzug, darunter ein weißes Polo-Shirt. Jana war fasziniert von seiner Erscheinung, seinem Charisma.

Sein Haar war grau, ein glänzendes Silbergrau, der Haarschnitt kurz, seine Haut leicht gebräunt.

Während sie sich beide wieder aufrichteten, hielt er ihren Blick noch immer gefangen, verbunden mit einem Lächeln, das es ihr unmöglich machte, ihre Augen von ihm abzuwenden. Er bedankte sich für ihre Mühe, und während er den Schlüssel aus ihrer Hand nahm, hielt er dieselbe für einen Augenblick fest. Dann wünschte er ihr einen schönen Tag und entfernte sich.

Trotz seiner Brille war die klarblaue Farbe seiner Iris nicht zu übersehen. Lag es an seinen Augen oder an seiner ganzen Ausstrahlung, dass sich Jana fast hypnotisiert fühlte? Sie wusste es nicht. Doch sie genoss jeden Blick, den sie ihm schenken konnte, und er bewegte sie zutiefst.

Am darauffolgenden Tag begegnete sie ihm auf der Hotelterrasse gleich neben dem Pool. Er blickte über den Rand seiner Zeitung und folgte ihr, während sie an ihm vorbeiging um nach einem freien Tisch Ausschau zu halten. Da alle Tische besetzt waren, sprach er sie mit sanfter Stimme an: „Ich würde Ihnen sehr gerne einen Platz an meinem Tisch anbieten, falls Sie das möchten.“

Und so kam es, dass sie die folgenden Stunden zusammen verbrachten. Sie redeten und redeten. Er teilte ihr mit, dass er an einem Parkinson/Alzheimer-Kongress teilnahm, der in jener Woche im Hotel stattfand. Dazu erklärte er, dass er als Professor für Neurochirurgie und spezifische Gehirnerkrankungen an der medizinischen Fakultät René Descartes in Paris arbeite.

Jana hatte eigentlich vor, nur einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen, doch dann verbrachte sie den ganzen Nachmittag mit ihm. Er schien gar nicht in Eile. Er war so anders, es war so einfach mit ihm zu reden, sie konnten viele gemeinsame Themen anschneiden. Jana war von Beruf Psychotherapeutin, was die Auswahl der Themen umso leichter machte. Jedenfalls war sie froh, einen Gesprächspartner gefunden zu haben, jemanden, der zudem gut zuhören konnte. Es war schon seltsam: Er kam ihr nicht fremd vor. Richard Winther erzählte ihr, dass er verheiratet und stolzer Vater zweier fast erwachsener Söhne sei.

Während der kommenden Tage war es ganz offensichtlich, dass ihre Blicke einander suchten, jedesmal, wenn sie zum Frühstück oder zum Abendessen den Speisesaal betraten. Da Richard abends mit den anderen Kongressteilnehmern an einem Tisch saß, trank er seinen Kaffee an der Bar, wo er sie dann treffen konnte. Sie redeten bis spät in die Nacht, und es war offensichtlich, dass sie sich beide in des anderen Gesellschaft sehr wohl fühlten.

Zwei Tage vor Janas Abreise war der Kongress zu Ende. An jenem Morgen mussten wohl beide geahnt haben, dass ein entscheidender Wendepunkt in ihrem Leben bevorstünde. Nach dem gemeinsamen Frühstück machten sie gemeinsam einen langen Spaziergang am Strand. Sie schwammen im Meer, redeten und lachten zusammen. Sie waren einander so nah.

Zum Abendessen trafen sie sich wie selbstverständlich im Speisesaal, und ihre Blicke ließen nicht voneinander los. Er verfolgte jeder ihrer Bewegungen, nahm begierig jedes Wort auf, das sie sagte. Sie spürte, dass sie in der bevorstehenden Nacht im klaren Blau seiner Augen ertrinken würde, wie jemand, der vergebens versucht, gegen die Wellen des klarblauen Meerwassers anzukämpfen und von Anfang an bereits weiß, dass nicht die geringste Chance besteht zu entkommen.

In allem, was Richard sagte, zeigte er soviel Stil und Klasse, doch legte er gleichzeitig eine geradezu betörende Einfachheit und Bescheidenheit an den Tag.

Sie hatten alles um sich herum vergessen. Ob es richtig oder falsch war, stand nicht zur Debatte. Sie ließen es einfach zu. In der Nacht, die dann folgte, zerschmolzen sie in der Glut ihrer Leidenschaft. Er sagte, dass er sich noch nie so wohl mit jemandem gefühlt hätte. Sie waren glücklich und wussten zugleich, dass es nur geliehenes Glück war, für zwei kurze Tage. Ein Blick in Richards Augen ließ Jana wissen, dass ihrer Liebe keine Zukunft beschieden war. „In den vergangenen zwei Tagen ist etwas mit mir geschehen. Seit ich dir begegnet bin, spüre ich wieder neues Leben in mir, ich empfinde Freude, Glück; ich hatte schon fast vergessen, wie das ist.“ Das waren seine letzten Worte, am Morgen ihrer getrennten Abreise. Er versuchte in keinem Augenblick, ihr etwas vorzumachen und ein Wiedersehen in Aussicht zu stellen. Er war direkt und offen.

Jana spazierte noch immer den Strand entlang …

All das ist schon so lange her, dachte sie. Doch die Erinnerung war immer noch so lebendig, als sei es gestern gewesen.

Andrea war alles, was ihr von ihm geblieben war. Ja, sie ist seine Tochter. Sie hat sein Lächeln. Und sie hat seine klaren, blauen Augen.

Nein, er wusste nichts von ihrer Existenz. Nach den Ferien auf Teneriffa trafen sie sich noch einmal, in Paris, etwa einen Monat später. Seine Frau war verreist, und sie verbrachten einen Tag und eine Nacht zusammen. An jenem Wochenende verstand Jana, dass diese Beziehung niemals eine Chance haben würde. Richard wäre nie bereit, alles aufzugeben und einen neuen Anfang zu wagen, ein neues Leben zu beginnen. Er sagte, das sei unmöglich. Doch den wahren Grund dafür erwähnte er nie. Es wurden keine Fragen gestellt, sie waren beide einverstanden, sich niemals wiederzusehen.

Einige Wochen später war Jana schwanger. Und sie hatte entschieden, ihm nie etwas davon zu erzählen.

Manchmal, wenn Jana hier am Strand lag, verfiel sie in diese Tagträume. Sie sah ihn in weiter Ferne den Strand entlangkommen, wie er sich langsam nähert, wie Andrea ihn dann plötzlich erblickt. Sie läuft ihm entgegen. Er lächelt und schließt sie in seine Arme. Doch diese Szene war nur ein Traum …

Erst neulich berichteten die Medien von Richard. Er hatte eine sehr erfolgreiche Untersuchung zur Alzheimerkrankheit abgeschlossen und war zum Direktor der Pariser Descartes-Fakultät ernannt worden. Er sah noch genau so aus wie damals. Und sein atemberaubendes, charmantes Lächeln war noch immer dasselbe, er war mit Sicherheit eine herausragende Persönlichkeit. Je älter Andrea wurde, desto ähnlicher wurde sie ihm. In letzter Zeit redete sie davon, dass sie gerne Tierärztin werden wolle. Sie hatte so viel Ähnlichkeit mit ihm.

Das Leben kann schon seltsam sein. Vielleicht wäre Richard stolz darauf, eine Tochter zu haben. Jana dachte öfters daran, unter welchem Vorwand sie ihn einmal anrufen könnte. Nur um nach so langer Zeit seine Stimme zu hören, nur um zu wissen, wie es ihm geht. Würde er sich freuen von ihr zu hören?

Als Andrea drei Jahre alt war, begegnete Jana dem Mann, der ein Jahr später ihr Ehemann wurde: Paul. Er war Zahnarzt. Durch Zufall musste Jana an einem Wochenende in die Klinik, da sie unter unerträglichen Zahnschmerzen litt. Ihr Weisheitszahn hatte sich entzündet.

Paul hatte an jenem Wochenende Dienst. Und da Jana an diesem Sonntagmorgen sein einziger Patient war, hatte er viel Zeit zum Reden. Die kleine Andrea saß brav auf dem Stuhl, unter ihrem Arm hatte sie einen großen Teddybären geklemmt. Sie wartete geduldig und beobachtete Paul, wie er Janas Zahn behandelte. Andrea stellte ihm unzählige Fragen. Das hatte er bisher noch nicht erlebt. Das kleine Mädchen war damals schon äußerst wissbegierig. Jedesmal, wenn sie zum Arzt musste, fragte sie diesem fast Löcher in den Bauch. Im Gegensatz zu den meisten Kindern, die einem solchen Besuch ziemlich ängstlich entgegensehen.

Und so tat sie es auch mit Paul. Er musste herzhaft lachen über die Kleine. Und Jana fand es auch recht amüsant.

Paul und Jana verliebten sich ineinander. Er trug sie auf Händen. Ein Jahr später heirateten sie. Sie hatten so viele Pläne für die Zukunft, sie wollten mindestens noch zwei Kinder haben. Sie waren glücklich miteinander. Bis zu jenem Abend, als der Anruf kam. Paul habe einen schweren Autounfall erlitten. Auf Janas Frage, wie ernst es denn sei, bekam sie nur die Antwort: „Es ist am besten, Sie kommen gleich her, Frau Frederiksen.”

Als sie in der Klinik ankam, empfing sie der behandelnde Arzt mit den Worten: „Es tut uns so leid. Wir haben getan, was wir konnten.“ Vier Jahre hatten sie zusammen verbracht. Vier kurze Jahre. Die Worte des Arztes schallten noch Monate danach in ihren Ohren. An das, wann dann geschah, konnte sich Jana nur noch vage erinnern. Sie brach zusammen und wachte auf, als ihre Eltern neben dem Bett standen und ihre Hand hielten.

Das war jetzt über fünf Jahre her. Und das Leben war irgendwie weitergegangen …

Wenn Jana am Strand entlang spazierte, dachte sie eigentlich selten an Paul. Dieser Ort erinnerte sie immer nur an Richard. Vielleicht, weil sie mit Richard etwas Bleibendes verband: eine gemeinsame Tochter.

Mutter und Tochter waren an diesem Nachmittag gerade von einem langen Strandspaziergang in ihr Zimmer zurückgekehrt.

„Ich bin kaputt, Mami“, seufzte Andrea und ließ sich aufs Bett fallen. „Einer der Jungs ist auch aus Luxemburg. Er heißt Steven. Ich möchte ihn dir heute Abend beim Essen zeigen. Ich glaube, er mag mich. Ach, es ist so toll hier!“ Dann stand sie wieder auf und verschwand unter der Dusche.

Andrea war immer voller Tatendrang. Sie langweilte sich ziemlich schnell, wenn nichts passierte. Sie brauchte Beschäftigung und eine Herausforderung. Seit sie letztes Jahr dem lokalen Handballklub beigetreten war, konnte sie zumindest ihre Energie auf gesunde Weise kanalisieren. Und es machte ihr sehr viel Spaß.

Während Andrea duschte, bemerkte Jana, dass jemand ihr eine SMS geschickt hatte, während sie am Strand waren. In den Ferien trug sie ihr Handy tagsüber nur selten mit sich herum.

Die Nachricht kam von Saadane. Saadane, Algerier, war ein langjähriger, guter Freund von Jana. Sie hatten sich vor Jahren bei einer Hauseinweihungsfeier getroffen. Und da Saadane auch Psychologie studiert hatte, fanden sich schnell gemeinsame Gesprächsthemen.

Hallo, Jana. Ich weiß, du genießt die Sonne. Ruf mich an, sobald du zurück bist – Patrick wurde letzte Nacht tot in seiner Wohnung aufgefunden. Autopsiebericht angefragt. Todesursache unklar. Schöne Ferien! Saadane

Jana erschrak. Patrick! Tot! Ihre Gedanken rasten. Patrick Joubert war ein guter Freund von Saadane. Er hatte ihn kennen gelernt, als er einen Arbeitsvertrag für sechs Monate bei den Europäischen Institutionen in Luxemburg bekam um ein spezifisches EDV-Projekt auszuarbeiten. Patrick arbeitete bereits seit fünf Jahren in dieser EDV-Abteilung und kannte den Laden in- und auswendig. Er selbst war französischer Nationalität und stammte aus Marseille. Als man ihm diesen Job angeboten hatte, war er kurzerhand nach Luxemburg gezogen. Während der sechs Monate, da Saadane mit ihm zusammenarbeitete, entstand eine enge Freundschaft zwischen den beiden Männern. Sie funkten von Anfang an auf derselben Wellenlänge und waren beide regelrechte Computerfreaks. Es gab kein Problem, das nicht zumindest einer der beiden hätte lösen können. Sie gingen ganze Abende und Wochenenden ihrem gemeinsamen Hobby nach, das zugleich ihr Beruf, ja sozusagen ihr Leben war. Als Saadanes Vertrag dann vor einem Jahr auslief, blieb ihre Freundschaft erhalten. Sie unternahmen gemeinsame Reisen. Saadane hatte danach noch einen auf zehn Monate befristeten Vertrag bei einer deutschen Bank und war nun seit zwei Monaten wieder auf Jobsuche. Er zog es vor, nur Zeitverträge anzunehmen, um ungebundener zu sein.

Jana selbst hatte Patrick ein paar Mal getroffen. Er war ein überaus sympathischer und hochintelligenter junger Mann. Vor zwei Monaten hatte er bei sich zuhause seinen 34. Geburtstag gefeiert. Sie und Saadane waren eingeladen. Patrick bewohnte ein großes Penthouse im Stadtzentrum, an der Ecke Avenue de la Gare / Boulevard de la Pétrusse. Von dort aus konnte man eine herrliche Aussicht auf die Altstadt genießen.

Dort traf Jana auch zum ersten Mal Patricks Freundin Krystina, die er erst kurz zuvor kennengelernt hatte. Krystina stammte aus Polen. Sie war noch ziemlich jung, Jana schätzte sie auf höchstens drei- oder vierundzwanzig. An jenem Abend wechselten sie einige Worte miteinander. Es war offensichtlich, dass Patrick sehr verliebt war in diese hübsche junge Frau.

Jana konnte es immer noch nicht begreifen. Patrick war tot! Autopsiebericht angefragt. Todesursache unklar. Das klang schon merkwürdig. Und dann wünschte ihr Saadane auch noch schöne Ferien! Das war typisch für ihn.

Freitag, 13. April

Das Flugzeug landete pünktlich um 17.30 Uhr in Luxemburg. Gleich nach der Passkontrolle erblickte Andrea ihre Großeltern, die sie abholten. Sie begrüßten einander herzlich. Sie hatten ihrer Tochter in den schweren Jahren nach Pauls Tod, als sie mit Andrea ganz alleine da stand, stets geholfen, wo sie nur konnten.

Der Einfachheit halber war Jana damals aus dem Stadtzentrum zurück nach Hesperingen gezogen, wo ihre Eltern wohnten. Sie brauchte – vor allem an den Tagen, wo sie länger arbeitete – jemanden, der Andrea nach der Schule betreute. Und hier ließ es sich leben, in diesem mit vielen Grünanlagen ausgestatteten Vorort Luxemburgs. Die Cité Um Schlass liegt auf einem Hügel nahe dem Wald, von wo man eine wunderschöne Aussicht auf die Umgegend genießen kann.

Nachdem die Koffer ausgepackt, die Post durchgesehen und das Abendessen beendet war, rief Jana bei Saadane an; sie verabredeten sich für den kommenden Abend. Saadane bestand darauf, keine Details am Telefon zu erwähnen, er wollte sie unbedingt persönlich sehen.

Samstag, 14. April

Saadane saß bereits in der Pizzeria, als Jana eintraf. Er wirkte sehr besorgt und unruhig. Sie begrüßten sich mit einer innigen Umarmung und bestellten eine Pizza.

„Hey, ich sage dir, da ist etwas faul. Die haben ihn umgebracht!“, sprudelte es förmlich aus ihm heraus. „Etwas leiser!“, versuchte ihn Jana zu beruhigen. Sie wollte unter keinen Umständen Aufsehen bei den anderen Gästen erregen.

Saadane war ein recht impulsiver, emotionsgeladener Charakter, doch sehr angenehm im Umgang und von hoher Intelligenz. Jana mochte ihn ganz besonders. Ihre Freundschaft hatte sich in den letzten Jahren verfestigt.

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass er tot ist. Wir sollten doch nächsten Monat zusammen zum Tauchen nach Ägypten fliegen …“ Saadane war den Tränen nah.

„Er war so voller Lebensfreude, seit er Krystina kennengelernt hatte.“

„Ich kann mich gut daran erinnern“, sagte Jana, „während seiner Geburtstagsfeier war das ja nicht zu übersehen. Was war die Todesursache?“

„Herzinfarkt“, sagte Saadane nervös, „aber das war es nicht. Er war völlig gesund.“

„Aber wenn der Arzt auf Herzinfarkt geschlossen hat, dann verstehe ich nicht, warum … Was bringt dich zu dieser Annahme?“

Jana war verwirrt. „Hast du inzwischen mit Krystina sprechen können?“

„Das ist auch so eine Sache. Ich muss dir den ganzen Werdegang erklären …“ Saadane rückte seinen Stuhl etwas näher an den Tisch. „Patrick lernte Krystina eines Abends in diesem Nachtlokal kennen, im Rouge et Noir. Kennst du die Bar?“

„Eigentlich nicht. Ich kenne den Namen, weiß, dass sie sich in Belair befindet, aber sonst … Es scheint ein ziemlich nobles Lokal zu sein. Nur für Mitglieder, hab ich mal gehört.“

„Hängt davon ab. Jedenfalls gewährte man Patrick und mir Einlass, als wir an jenem Abend ein Lokal suchten, das uns nach ein Uhr noch einen Drink servieren würde. Patricks Vorgesetzter, Jacques Beaumont, hatte den Namen einmal beiläufig erwähnt, und das führte uns dorthin.“

Saadane schnitt sich ein Stück Pizza ab und verschlang es gierig. Er schien sehr großen Hunger zu haben. „Krystina arbeitet dort als, naja, als Bedienung und Animierdame sozusagen. Zumindest dachten wir das, als Patrick und ich zum ersten Mal dort waren und sie sahen. Die beiden kamen ins Gespräch und mochten sich auf Anhieb, das war nicht zu übersehen. Sie erzählte uns, dass sie aus Polen stamme. Seit jenem Abend besuchte Patrick den Klub regelmäßig. Ich begleitete ihn ab und zu. Er hatte sich in Krystina verliebt, das war offensichtlich. Anfangs schien es, als sei sie nur Tänzerin und Bardame, doch dann stellte sich nach und nach heraus, dass sie auch VIP-Kunden mit nach oben nahm. Davon hatte sie nichts erwähnt, doch Patrick kam ziemlich rasch dahinter. Wenn er mal unangemeldet spät abends noch im Klub vorbeischaute und nach ihr fragte, wurde ihm gesagt, sie sei nicht zu sprechen, sie sei an dem Abend nicht da, oder was auch immer. Das machte ihn natürlich misstrauisch, und so kam er dahinter, dass sie auch andere Geschäfte dort verrichtet.“

„Das war bestimmt eine große Enttäuschung für Patrick.“

„Was denkst du!“, sagte Saadane mit großen Augen.

„Patrick hat dann versucht, sie davon abzubringen, doch sie sagte ihm, dies sei nicht so einfach. Er schlug ihr sogar vor, sie könne zu ihm ziehen und sich dann in Ruhe einen anderen Job suchen. Er habe gute Verbindungen, das würde sicherlich klappen. Doch Krystina war dagegen. Dann sagte sie ihm eines Abends, sie müsse demnächst für einige Monate ins Ausland. Zuerst log sie ihm eine Geschichte vor, sie wolle zu Freunden oder zu ihrer Familie, ich weiß nicht mehr genau, und als sie merkte, dass Patrick nicht locker ließ, gestand sie schlussendlich, dass sie verreisen müsse.“

„Und wohin?“, fragte Jana.

„Keine Ahnung!“, antwortete Saadane.

„Auf Patricks Drängen hin erzählte sie ihm dann die ganze Hintergrundgeschichte. Als sie mit ihrer Familie ins Land kam und einen Asylantrag stellte, wurden sie mit jemandem in Verbindung gebracht, der ihnen ein Geschäft vorschlug. Dieser Mann sagte, wenn die junge Frau, also Krystina, für sechs Monate hier in einem Klub – und danach sechs Monate im Ausland, für denselben Klub – arbeiten würde, dann würde er dafür sorgen, dass die Familie auf unbegrenzte Zeit im Land bleiben könne. Er würde sich persönlich darum kümmern, dass alle notwendigen Aufenthaltsgenehmigungen schnellstens ausgestellt würden. Es war damals allerdings nicht die Rede davon, dass sie auch spezielle Kunden separat zu bedienen habe, wenn es erforderlich sei.“

„Was?“ Jana war sprachlos.

„Das ist noch nichts. Warte. Es kommt noch dicker …“

Sie stützte die Hände unter ihrem Kinn ab und hörte aufmerksam zu.

„Da Patrick diese Geschichte überhaupt nicht gefiel, gab er nicht nach, bis Krystina schlussendlich den Namen einer Person ausspuckte, den sie einmal ganz zufällig gehört hatte. Während sie eine Unterredung mit dem Herrn hatte, der ihr und ihrer Familie sozusagen dieses Angebot unterbreitete, rief ihn jemand auf dem Handy an. Dabei fiel irgendwie ein Name, fast nicht hörbar, doch Krystina schnappte ihn auf: Albert oder Alfred Delaforge. Sagt dir der Name etwas?“

„Nein …“ Sie überlegte kurz und bestätigte dann ihre Aussage.

„Und sie erwähnte, diese Person habe eine markante Narbe über der Oberlippe gehabt.“

Jana zuckte ahnungslos mit den Schultern.

„Krystina hatte Patrick beschworen, niemandem davon zu erzählen. Sie hatte schreckliche Angst. Am nächsten Tag, als Patrick und ich im R&N erschienen und nach Krystina fragten, war sie nicht mehr da. Eine der Damen sagte uns nur, sie sei für einige Zeit verreist. Patrick versuchte sie anzurufen, doch er kam nur an ihre Mailbox. Er hinterließ Nachrichten, aber sie rief nie zurück.“

„Einige Tage später fing Patrick an, Nachforschungen anzustellen. Er blieb abends länger im Büro. Und wenn seine Arbeitskollegen fort waren, ging er sämtliche Dateien durch, zu denen er Zutritt hatte. In der EDV-Abteilung der Europäischen Institutionen hatte er Zugang zu Unmassen von Daten, die im Allgemeinen strengster Geheimhaltung unterliegen. Da er fast alle Methoden kannte, um auch geschützte Dateien zu entschlüsseln und zu öffnen, verschaffte sich Patrick im Nu Zutritt zu Dokumenten, die unter streng vertraulich liefen und gespeichert waren. Er stellte auf eigene Faust Untersuchungen an, in Bezug auf alles, was den Namen Delaforge und auch Krystina Mladovicz betraf.“

„War das nicht sehr riskant? Das hätte doch leicht jemand bemerken können …“

Saadane grinste leicht. „Du weißt doch, Patrick – mehr noch als ich – war Spezialist auf diesem Gebiet. Er wusste, wie man solche Dokumente ausfindig machen kann. Vor ihm konnte man so schnell nichts verstecken. Er war noch um einiges besser als ich und decodierte Dokumente im Handumdrehen; er verbrachte ganze Nächte damit. Er sagte : ‚Wenn dieser Mann solchen Einfluss hat und darüber entscheiden kann, ob Flüchtlingsfamilien im Land bleiben können oder nicht, dann muss er in Verbindung mit höheren Instanzen stehen, dann muss sein Name in der Personendatenbank irgendwie auffindbar sein. Vorausgesetzt, der Name stimmt.’ Er war überzeugt davon, dass es irgendwo entsprechende Eintragungen gäbe.“

Saadane machte eine kleine Pause, stopfte das letzte Stück der Pizza in seinen Mund und trank einen großen Schluck Rotwein.

„Und so war es dann auch. Eines Nachts rief er mich in Panik an, er müsse unbedingt noch vorbeikommen, in derselben Nacht. Das war typisch für ihn. Die Ungeduld in Person. Genau wie ich“, fügte Saadane hinzu.

„Dann kam er um zwei Uhr nachts und zeigte mir Kopien von Listen, die er gefunden und kopiert hatte. Ich sage dir, du glaubst es nicht …“

Jana lauschte gespannt zu.

„Es gibt Listen mit Namen von Flüchtlingsfamilien, die hier einen Asylantrag stellten.“

„Das ist nichts Verbotenes“, sagte Jana ahnungslos. „Oder?“

„Nein, im Prinzip nicht. Außer wenn in diesen Listen die Namen von jungen Frauen hervorgehoben werden, mit ihren Geburtsdaten, die für diese spezielle Tätigkeit in den Klubs in Frage kommen. Alle zwischen achtzehn und fünfundzwanzig. Krystinas Name war auch darauf vermerkt. All diese Listen waren auf einem privaten Laufwerk – und jetzt halt’ dich fest – unter dem Namen Delaforge abgespeichert. Natürlich mit Passwort.“

„Das gibt es nicht!“, empörte sich Jana. Sie hatte fast vergessen zu essen, bei alldem, was ihr Saadane gerade erzählt hatte.

„Dieser Mann, Delaforge, oder wie immer sein Name lauten mag, muss für jemanden aus höheren Kreisen arbeiten, oder mit jemandem zusammenarbeiten, der inkognito bleiben möchte oder muss. Natürlich. Illegale Geschäfte. Denn alleine kann man so etwas kaum bewerkstelligen.“

„Mein Gott, Saadane! Aber es wusste doch niemand von Patricks Entdeckung, wieso also …“ Sie versuchte den Zusammenhang mit Patricks Tod zu verstehen und überlegte rasch. „Und sein Vorgesetzter – wie war der Name … Beaumont? –, glaubst du, er hat irgendwie rausgefunden, dass Patrick diese Dokumente gefunden hatte, dass er in unbefugten Dateien ermittelte?“

„Kann sein. Aber warte, ich bin noch nicht ganz fertig. Zwei Tage später rief mich Patrick von zu Hause an, morgens um sieben, bevor er ins Büro ging; er hätte beschlossen, alles der Polizei mitzuteilen. Irgendetwas müsse getan werden, um den Verantwortlichen das Handwerk zu legen. Nicht zuletzt wolle er ja auch Krystina helfen und all den anderen, die höchstwahrscheinlich in der gleichen Situation seien.“

„Er hatte bereits einen Termin auf dem Hauptkommissariat vereinbart – gegen 18 Uhr abends. Der Polizeibeamte hörte ihm aufmerksam zu. Er schien sehr interessiert und stellte viele Fragen. Unter anderem forderte er Patrick auf, ihm auch diejenigen Personen zu nennen, die noch über diesen Vorfall im Bilde seien und falls notwendig seine Aussagen bezeugen könnten. Deshalb gab Patrick auch meinen Namen weiter. Der Beamte versicherte ihm, er selbst würde die nötigen Schritte einleiten, um Krystina wiederzufinden. Nach Patricks Besuch auf dem Kommissariat trafen wir uns; in dem Moment stellte er sich die Frage, ob sein direkter Vorgesetzter, Jacques Beaumont, nicht doch über diesen Skandal Bescheid wisse, denn irgend jemand aus dem IT-Bereich müsse Zugang zu diesen Dateien haben und diesen Delaforge decken. Es werde dort alles so streng kontrolliert. Wir waren jedenfalls beide erleichtert, dass er die Angelegenheit abgegeben hatte. Und wir waren der Ansicht, dass jetzt alles auffliegen würde. Wie naiv wir doch waren!“ Saadane schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck Rotwein.

„Beruhige dich! Langsam.“ Jana spürte seine innere Unruhe und konnte nur zu gut verstehen, was er gerade durchmachte.

„Am Tag darauf traf ich Patrick nach der Arbeit zum Joggen. Er war ziemlich durcheinander. Er sagte mir, sein Laptop sei aus seiner Wohnung verschwunden. Es gäbe keine Einbruchsspuren. Er hätte noch am Morgen damit gearbeitet, bevor er ins Büro ging; als er nach Hause kam, sei der Laptop unauffindbar gewesen. Ich fand das mehr als seltsam. Hätte ich Patrick nicht so gut gekannt, dann wäre mir glatt der Gedanke gekommen, dass er ein wenig durcheinander sei oder am Tag davor zuviel getrunken hätte. Es hat nämlich außer mir niemand einen Zweitschlüssel für seine Wohnung. Und so ein Laptop verschwindet nicht so ohne Weiteres.

Wenn jemand so etwas aus einer Wohnung entwendet ohne Einbruchsspuren zu hinterlassen und ohne irgendetwas anderes zu stehlen, dann ist das kein gewöhnlicher Einbruch. Dann weiß derjenige genau, was er gesucht hat, und warum er das tat. Gegen 19.10 Uhr waren wir vom Joggen zurück. Wir verabredeten uns für 21 Uhr in der Pizzeria.“

Saadane war so aufgeregt und erleichtert zugleich, endlich jemandem alles erzählen zu können.

„Doch Patrick erschien nicht.“

Jana lauschte voller Spannung zu und bekam fast Gänsehaut bei der Vorstellung davon, was sich anschließend ereignet haben muss.

„Ich wartete und wartete. Patrick erschien noch immer nicht. Ich saß in der Pizzeria. Ich rief auf sein Handy an, keine Antwort. Ich dachte, sein Rufsignal stünde auf leise. Ich schickte ihm eine SMS: nichts, keine Antwort.

Dann, so gegen 22 Uhr, beschloss ich zu ihm nach Hause zu gehen. Vielleicht war er da, ich wusste auch nicht, was ich sonst tun könnte. Ich holte den Zweitschlüssel aus meiner Wohnung und ging zu Fuß zu seinem Penthouse. Ich klingelte, keine Reaktion. Ich schloss die Tür auf und fuhr hinauf zum 7. Stockwerk. Die Tür war zu. Ich klingelte ein paar Mal, doch nichts rührte sich. Dann schloss ich die Wohnungstür auf, ging hinein und fand ihn tot im Wohnzimmer, direkt neben seinem Sofa.“

„Mein Gott!“ Jana hielt die Hand vor den Mund.

„Ich konnte keinerlei Anzeichen von Gewalt erkennen, nichts deutete auf einen Einbruch hin. Ich rief sofort den Krankenwagen. Ich musste denen erklären, was sich ereignet hatte, wer ich bin. Die riefen dann die Polizei. Kurz darauf erschienen zwei Polizeibeamte, die mir unzählige Fragen stellten. Dann musste ich sie aufs Revier begleiten. Sie sagten, sie würden Patricks Familie verständigen. Am folgenden Tag rief ich das Polizeikommissariat an; man sagte mir, es sei Herzversagen gewesen. ‚Das stimmt nicht’, sagte ich denen, ‚er war kerngesund. Hatte nie Herzprobleme.’ – ‚Ja’, sagten sie, ‚das kann ganz plötzlich eintreten’. Dann rief ich Patricks Eltern an. Wir redeten über zwei Stunden am Telefon. Nach langer Diskussion waren sie dann schlussendlich dazu bereit, einen Autopsiebericht zu beantragen“.

„Hatte Patrick den Namen des Polizeibeamten erwähnt, den er am Vorabend getroffen hatte?“

„Nein, jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnern kann.“

„Zwei Tage später kam dann das Resultat des Autopsieberichtes. Herzversagen. Keinerlei Spuren fremden Einwirkens. Ich fragte nach dem Bericht, doch mir wurde gesagt, es sei mir nicht erlaubt ihn zu sehen. “

Saadane rückte noch etwas näher an den Tisch heran und nahm Janas Hand. „Ich sage dir, und das musst du mir glauben: Patrick hatte die beste Gesundheit, die man sich vorstellen kann. Das ist alles nicht wahr. Er ist nicht an Herzversagen gestorben. Wir joggten zusammen, er war in Topform. Es lief auch alles zu glatt, zu schnell: der Autopsiebericht, das Resultat, keine weiteren Fragen, Recherchen, Punkt, Schluss, aus.“

„Haben Patricks Eltern denn keinen Verdacht geschöpft, als alles so schnell und reibungslos vonstattenging?“

„Nein, die Leute stehen unter Schock. Ihr Sohn ist tot, nichts kann ihn wieder lebendig machen.“

„Sind sie noch hier in Luxemburg?“

„Ja, klar. Sie wollen ihn hier beerdigen lassen. Weil er Luxemburg so liebte. Er schwärmte immer davon, wenn er sie besuchte.“

„Wo wohnen sie denn jetzt?“

„Bei Freunden in Mersch. Ich selbst stehe noch unter Schock. Er wurde umgebracht, ich sag es dir. Die haben ihn getötet!“

„Weißt du, was du da sagst? Du vermutest, jemand aus diesen Kreisen …“

„Nein, ich vermute es nicht, ich bin mir sicher!“

„Welcher Arzt war zur Stelle?

„Keine Ahnung.“ Saadane stützte seinen Kopf mit den Händen. „Wir müssen etwas tun. Hilf mir, bitte, hilf mir. Ich kann sonst niemandem davon erzählen. Keiner glaubt mir. Glaubst du mir?“ Er sah sie hoffnungsvoll an. „Du hast Patrick doch auch gekannt. Sprich mit Alec darüber! Bitte, wir müssen etwas tun!“

Jana wurde still und überlegte. Sie musste zugeben, dass die ganze Geschichte schon recht seltsam war.

„Gut, weißt du, was du tun kannst, …“, sagte sie entschlossen. „Red mit seinen Eltern, die haben ein Recht darauf, den Bericht zu sehen. Und dann schauen wir uns den mal gemeinsam an.“

„Gute Idee! Das mach ich gleich morgen.“

„Wie hat Krystina auf Patricks Tod reagiert?“, fragte sie kurz darauf.

„Ich schrieb ihr eine SMS, sie solle mich dringend zurückrufen, Patrick sei tot. Ich musste das erwähnen, sonst hätte sie wahrscheinlich nie geantwortet. Am nächsten Morgen rief sie mich dann endlich an. Sie sagte, ich solle sie in Ruhe lassen. Dann brach sie in Tränen aus, mir brach es fast das Herz. Sie meinte, es sei teilweise ihre Schuld. Hätte sie nicht alles ausgeplaudert, wäre Patrick nie so tief in diesen Schlamassel hineingeraten und würde jetzt noch leben. Dann sagte sie noch, sie wolle von all dem nichts mehr hören, schließlich wolle sie das Leben ihrer Familienangehörigen nicht auch noch aufs Spiel setzen, ich solle sie nicht mehr anrufen. Dann hat sie aufgelegt.

Ich versuchte noch einige Male sie zu erreichen, doch sie antwortete nicht mehr.“

Jana war zornig. „Verdammt!“

„Am Mittwoch ist die Beerdigung. Kommst du mit?“

„Ist doch selbstverständlich. “

„Limpertsberg, 15.30 Uhr Friedhof, 16 Uhr Gottesdienst. “

„Ich denke, dass Alec auch mitkommen möchte“, sagte Jana. „Schließlich kannte er ihn auch gut.“

„Sagst du es ihm?“, fragte Saadane.

„Ja, ich werde morgen mit ihm reden.“

An jenem Montag begann auch wieder die Schule für Andrea. Jana hatte für den Morgen keine Patienten angenommen, so hatte sie Zeit, ihre Post aufzuarbeiten und liegen gebliebene administrative Angelegenheiten zu erledigen.

Am Abend rief sie Alec an. Er war gerade aus St. Petersburg zurückgekehrt. Alecsander Kuryakin und Jana waren seit mehr als fünfzehn Jahren eng befreundet. Damals hatten sie sich auf einer Buchmesse in Walferdingen getroffen. Alec, 51, Autor verschiedener Romane und Theaterstücke, war eigentlich eine ziemlich verrückte Natur. Sein Haar war silbergrau, sehr kurz geschnitten, mit langen Fransen, die bis über den Rand seiner Brille reichten. Diese, mit runden Gläsern und rotem Rahmen bestückt, passte gut zu seiner Künstler-Ausstrahlung. Er war in St. Petersburg geboren und begegnete dort auch seiner ersten Frau, einer Luxemburgerin, die dort Urlaub machte. Ein Jahr später heirateten sie in Luxemburg. Zwei Jahre später wurden sie geschieden, doch Alec blieb im Land. Er heiratete fünf Jahre danach erneut, doch auch diese zweite Ehe wurde nach einem Jahr wieder geschieden. Er sagte, er sei nicht gemacht für ein ständiges Zusammenleben mit wem auch immer. Mittlerweile sprach Alec fließend Luxemburgisch. Seine Romane schrieb er in Englisch und Russisch.

Alec kannte Patrick Joubert von gemeinsamen Treffen mit Jana und Saadane. Als ihm Jana von Patricks Tod berichtete, war er tief betroffen. Er wollte selbstverständlich mit zur Beerdigung kommen.

Mittwoch, 18. April

Der Tag begann alles andere als angenehm. Nicht allein wegen Patrick Jouberts Beerdigung, nein, es regnete dazu unaufhörlich seit den frühen Morgenstunden. Der Himmel war grau und düster. So blieb es auch bis in den Nachmittag hinein.

Jana parkte ihren silbergrauen VW Golf auf dem Glacis und begab sich zum Friedhof. Sie trug eine lange, dunkelgrüne Regenjacke mit Hut. Einige Anwesende standen noch vor der Aussegnungshalle, während die engen Verwandten sich bereits drinnen versammelt hatten.

Sie blieb etwas abseits unter den Bäumen stehen. Zum Regen hatte sich jetzt auch noch ein starker Wind gesellt, der es nicht gerade leichter machte, den Regenschirm in richtiger Position zu halten.

Dann erschien Alec. Er hatte gar keinen Schirm dabei, trug hingegen einen langen, schwarzen Regenmantel und einen schwarzen Hut. Schnell stellte er sich unter Janas Schirm. „Hallo. “ Er gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf beide Wangen. „Was für ein Sauwetter!“ Mit seiner Hand klopfte er das Wasser von seinem Mantel und seinem Hut und sah sich die große Menschenmenge an. „Patrick scheint ziemlich bekannt gewesen zu sein.“

Da kam auch Saadane an. Er trug eine kurze Regenjacke, eine schwarze Baseballkappe und eine Sonnenbrille. Alec blickte ihn etwas verwundert über den Rand seiner roten Brille hinweg an, ohne einen Kommentar zu machen. Ist die Sonnenbrille wirklich nötig?, dachte er.

Saadane beobachtete alle Anwesenden äußerst sorgfältig. Nichts schien ihm zu entgehen.

Dann betrat er die Aussegnungshalle. Er ging sogleich auf Patricks Eltern zu und sprach ihnen sein Beileid aus, wonach er gleich wieder den Weg nach draußen suchte, durch die Menschenmenge hindurch. Das bot ihm die Gelegenheit, sich einige Gesichter einzuprägen. Man weiß nie, wozu das gut ist, dachte er. Einige der Anwesenden betrachteten Saadane mit misstrauischem Blick, er schien vielen aufzufallen mit seiner Sonnenbrille und der Baseballkappe. Aber solche Kleinigkeiten störten ihn nicht im Geringsten. Er stellte sich wieder zwischen Jana und Alec.

„Hey, Jana“, flüsterte er und zupfte dabei an ihrem Ärmel. „Sieh mal, der Mann mit dem dicken Schnurrbart …“ – dabei deutete er unauffällig in dessen Richtung – „… das ist, oder besser gesagt, war unser Chef. Sogar der ist hier erschienen!“ Saadane war verwundert.

„Wie heißt er?“, fragte Alec.

„Jacques Beaumont. “ „Sonst noch ein bekanntes Gesicht?“

Saadane blickte diskret in alle Richtungen. „Weiß nicht … Es wäre wesentlich einfacher, wenn keiner einen Regenschirm dabei hätte.“ Sein Blick wanderte weiter durch die Menge.

„Oh!”

„Was?“ Jana sah zu ihm auf.

„Da, die Frau im weißen langen Mantel, dunkle Brille …“ Saadane ging auf sie zu. Jana wollte ihm folgen, doch er drehte sich um: „Nein, bleibt hier, ich will nur etwas überprüfen. Wenn das Krystina ist, muss ich mir ihr reden. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit dem Tag, als ich mit Patrick zum letzten Mal im Klub war.“

Die Frau stand zwischen zwei Bäumen.

Saadane wechselte ein paar Worte mit ihr. Sie kamen zusammen zurück und versuchten so wenig wie möglich Aufsehen zu erregen, obwohl einige der Anwesenden sich umdrehten, als die beiden sich den Weg frei bahnten.

„Jana, Alec, das ist Krystina. Krystina, das sind Alec und Jana. “ „Krystina“, sagte Jana und umarmte sie herzlich. Sie kannten sich flüchtig von Patricks Geburtstagsfeier. „Mein aufrichtiges Beileid.“

Krystina wischte ihre Tränen ab. „Danke.“ Dann setzte sie ihre Sonnenbrille wieder auf.

Anschließend traf der Pfarrer in der Halle ein. Jana, Saadane, Krystina und Alec gingen etwas näher und mischten sich unter die anderen Trauergäste.

Dieser versuchte, die Anwesenden etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, doch niemand schien ihm besonders aufzufallen.

Bei einer Beerdigung werden Erinnerungen lebendig. Jana dachte zurück an Patricks Geburtstagsfeier. Wie vergnügt er war, wie sehr er immer zu Scherzen aufgelegt war. Und wie sehr er sich in Krystina verliebt hatte. Er war so glücklich gewesen …

Nach dem Schlussgebet des Pfarrers begaben sich die Trauergäste in die Kirche, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Jana, Alec, Saadane und Krystina traten ein und nahmen in einer der hinteren Reihen Platz.

Krystina und Saadane trugen weiterhin ihre Sonnenbrille. „Bist du nicht etwas paranoid?“, fragte ihn Alec. „Wer sollte euch denn hier auflauern?“

„Du wirst dich noch wundern“, antwortete Saadane nervös und blickte immer wieder umher, so als fühle er sich ständig verfolgt. „Ich sage euch, seid vorsichtig! Mit denen ist nicht zu spaßen.“

Eine Frau drehte sich um: „Psst!“ und sah Saadane verärgert an.

Er entschuldigte sich.

Nach vierzig Minuten war die Trauerfeier beendet. Krystina wollte sich gleich verabschieden, doch Saadane hielt sie fest.

„Hey, warte noch ein paar Minuten. Warum hattest du dich nicht bei Patrick gemeldet? Du weißt doch, dass er wie verrückt nach dir gesucht hat. Er war unzählige Male im Rouge et Noir hat nach dir gefragt. Warum? Du hast ihm doch vertraut …“

Krystina weinte ununterbrochen. „Lass mich, Saadane, lass es gut sein. Ich muss jetzt gehen, er …“ Sie blickte ängstlich nach hinten. „Wenn wir zusammen gesehen werden, dann bekommt ihr ebenfalls Probleme … oh Gott!, ich muss gehen … Versuch nicht mich zu finden, bitte, du bringst meine ganze Familie in Gefahr, und noch viele andere auch.“

Alec und Jana sahen sich fragend an. „Krystina, vielleicht können wir dir helfen, aber dazu musst du uns alles sagen, was du weißt. Wo kann ich dich finden?“ Saadane war verärgert. Er hielt Krystina noch immer am Arm fest.

„Ich habe schon viel zu viel gesagt. Und das hat Patrick das Leben gekostet. Wenn ihr nicht loslasst, wird es euch auch so ergehen. Bitte!“, stammelte sie verzweifelt.

Saadane sah keine Möglichkeit mehr, sie zum Bleiben zu überreden. Sie riss sich von ihn los und lief davon. „Krystina!“, schrie ihr Saadane nach, doch sie drehte sich nicht mehr um. „Krystina!“ Sie lief immer schneller.

„Verdammt!“ Sein impulsives Temperament ging mit ihm durch.

„Lass gut sein“, versuchte ihn Alec zu beruhigen und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Du hast nicht die geringste Ahnung, Alec!“, antwortete er schroff, „nicht die geringste Ahnung!“ Plötzlich schritt Jacques Beaumont vorbei. Es war schon über ein Jahr her, da Saadane und Patrick zusammen für ihn gearbeitet hatten, doch er schien ihn trotz Sonnenbrille und Baseballkappe sofort wiederzuerkennen. Beaumont blieb direkt vor ihm stehen und reichte ihm seine Hand.

„Saadane, guten Tag. Welch trauriger Anlass! Mein herzlichstes Beileid …“ Er schüttelte Saadanes Hand fest und lange, was dieser, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht zu mögen schien. Saadane richtete seinen misstrauischen Blick auf ihn und antwortete kühl: „Danke, Herr Beaumont,.“

Beaumont bemerkte sofort, dass Saadane nicht zum Reden aufgelegt war. Deshalb schritt er langsam weiter. Im Vorbeigehen musterte er Jana und Alec sehr genau. „Mein Beileid“, murmelte er vor sich hin. „Sein Schnurrbart bedeckt ja sein halbes Gesicht!“, bemerkte Alec. „Kommt, lasst uns einen Kaffee trinken gehen“, schlug er vor, während er seine Pfeife anzündete.

„Ich mag ihn nicht. Ich hab ihn noch nie gemocht“, war Saadanes knapper Kommentar. „Kann nichts dafür.“

„Drei Kaffee, bitte“, sagte Alec, „und einen Whisky.“ Die drei hatten sich für das Bistro direkt gegenüber dem Miethaus, in dem Saadane wohnte, entschieden.

„Glaubst du, Beaumont weiß, dass Patrick in verbotenen Dateien und Dokumenten recherchierte?“, fragte Alec.

„Keine Ahnung. Patrick war davon überzeugt, dass es zumindest einen Insider geben müsse, jemanden, der sehr gute EDV-Kenntnisse besitzt und an diesem Delaforge-Ding arbeitet. Aber er kam nicht dahinter, wer das sein könnte. Kann natürlich auch sein, dass der Name Delaforge nur ein Deckname ist und es gar keinen Delaforge gibt. Und weil Patrick nicht wusste, wer da mit drinhängt, war er jedem gegenüber vorsichtig.

Allerdings verstand er sich ausgezeichnet mit Jacques. Sie trafen sich öfters nach Büroschluss auf ein Bier, auf einen Whisky. Kann sein, dass er von allem keine Ahnung hat. Als EDV-Leiter müsste er allerdings Bescheid wissen. Andererseits kann er ja auch nicht alles lesen, was die Datenbank beinhaltet.“ Saadane stützte den Kopf auf seine Hände. „Ach, ich habe so viel darüber nachgedacht, ich weiß nicht …“

„Allerdings“, sagte Saadane plötzlich mit einem kleinen Grinsen, „haben wir eine Kopie der Daten. Das heißt, ich hoffe zumindest. Patrick machte von allen Daten ein Back-up. Zusätzlich zur Kopie auf seinem Laptop.“

„Na bitte, das ist doch wenigstens etwas!“, gab Alec zur Antwort. „Cleverer Kerl …“

„Hat ihm nicht viel genützt am Ende …“, meinte Saadane.

„Aber vielleicht hilft es uns“, bemerkte Alec.

„Ich muss so schnell wie möglich zurück in seine Wohnung, um die Daten an mich zu bringen.“

„Wieso erst jetzt?“, fragte Alec. „Das hättest du schon früher tun können …“

„Hab nicht daran gedacht, bis jetzt eben gerade.“

„Weißt du denn, wo sie gespeichert sind?“

„Natürlich“, grinste Saadane.

„Möchtest du seine Eltern nicht darüber informieren?“, fragte Alec.

„Nein, ich möchte die nicht beunruhigen.“

„Die haben jetzt sicherlich mehr als genug zu verarbeiten“, fügte Jana hinzu.

„Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, dorthin zu gehen“, sagte Saadane. „Die Leute, die Patrick gekannt haben, sitzen jetzt irgendwo zusammen und trinken, essen oder reden. Ich glaube kaum, oder zumindest hoffe ich nicht, dass jetzt jemand auf den Gedanken kommt, zu seiner Wohnung zu gehen.“

„Da hast du Recht“, stimmte Alec zu. „Die Gelegenheit ist günstig. Komm, wir trinken aus und machen uns auf den Weg. Jana, wartest du hier auf uns?“

„Ihr seid verrückt! Wenn euch irgend jemand dort sieht, was dann?“

„Ich habe doch einen Zweitschlüssel. Zumindest brechen wir nicht ein. Wir nehmen nur den USB. Ist in einer Minute getan, falls er dort ist, wo ich denke.“

„Dann treffen wir uns hier in, sagen wir, anderthalb Stunden. Ich gehe kurz in meine Praxis und komme dann hierher zurück“, schlug Jana vor. „Seid bloß vorsichtig, hört ihr!“

Alec und Saadane verließen das Bistro gegen 18 Uhr. Saadane holte rasch Patricks Zweitschlüssel aus seiner Wohnung, dann machten sie sich auf den Weg.

Das Bistro war nach Feierabend recht gut besucht, es gab viele Büros und Firmen in der nahen Umgebung, vom Stadtzentrum aus waren es knapp zehn Minuten zu Fuß. Außerdem befand sich der Glacis-Parking in unmittelbarer Nähe.

Jana beobachtete die Leute, die ein- und ausgingen. An einem Freitagabend waren die Menschen sichtlich ausgelassen. Sie lachten, hatten mehr Zeit und freuten sich auf das Wochenende.

Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann gelenkt, der gerade eintrat und sich an die Bar setzte. Sie beobachtete ihn etwas genauer, denn er sah auf den ersten Blick recht gut aus, seine ganze Erscheinung wirkte auf Anhieb sehr angenehm. Er hatte pechschwarzes, sehr kurzes Haar. So kurz, dass es geradewegs nach oben stand. Dieser moderne Haarschnitt passte hervorragend zu seinem schwarzen Drei-Tage-Bart. Er trug einen roten Wollschal lose über seiner schwarzen Lederjacke, dazu Jeans und schwarze Schuhe. Unter der Jacke trug er ein weißes, sportliches Hemd. Er hatte eine schwarze Aktenmappe mitgebracht und auf dem Boden direkt neben dem Barhocker abgestellt. Der Kellner servierte ihm ein Bier. Dazu aß er ein Brötchen.

Jana versuchte, ihn möglichst unauffällig anzusehen. Ein attraktiver Mann!, stellte sie fest.

Hoffentlich gibt es keine Probleme in Patricks Wohnung, dachte sie weiter, während ihr Blick auf dem Mann an der Bar ruhte.

Dann ging die Tür auf und eine große, schlanke Frau trat ins Bistro. Einige Männer an den Tischen blickten auf, denn diese Frau erregte durch ihr schieres Erscheinen Aufsehen. Sie hatte langes blondes Haar und ein recht hübsches Gesicht, das vielleicht ein klein wenig arrogant wirkte. Sie war sehr elegant gekleidet, ein hellbrauner Regenmantel und schwarze Schuhen mit hohen Absätzen, dazu ein dezentes Make-up.

Sie schritt geradewegs auf den Mann an der Bar zu, den Jana gerade noch beobachtet hatte und küsste ihn kurz zur Begrüßung. Er schien etwas verwundert, sie zu sehen und machte nicht gerade einen erfreuten Eindruck angesichts ihres anscheinend unverhofften Erscheinens. Sie stand für einige Minuten neben ihm, während sie ein Glas Champagner trank. Kurz darauf zahlte der Mann und sie verließen zusammen das Bistro. Dabei gingen sie dicht an Jana vorbei, und für Sekunden traf sein Blick den von Jana, während er die Tür öffnete, um der Dame den Vortritt zu lassen.

Ja, in der Tat ein gutaussehender Mann! Ihr Blick verfolgte ihn, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Eine halbe Stunde später erschienen Saadane und Alec mit zufriedenen Gesichtern.

„Wir haben den USB!“, sagte Saadane, „Eine Kopie aller Daten, versteckt in seiner Matratze. Da sucht so leicht keiner. Unser Plan B, unser Geheimversteck“, sagte Saadane stolz. „Heute Nacht habe ich viel zu tun“, fügte er hinzu.

„Dann gehen wir mal davon aus, dass bereits jemand anders die ganzen Daten gesehen hat; die Polizei hat ja von Patrick eine Kopie bekommen.“

„Richtig“, stimmte Alec zu. „Und wer immer den Laptop gestohlen hat, ist auch im Besitz der Daten, oder?“, kombinierte er.

„Genau“, sagte Saadane.

„Wenn deine Vermutung stimmt, dass Patrick ermordet wurde, dann muss jemand von der Polizei die Information sofort weitergeleitet haben, aber an wen?“, fragte sich Alec interessiert.

„Vielleicht steht die Polizei in direkter Verbindung mit demjenigen, dem die Daten gehören?“, meinte Jana.

„Du meinst Delaforge?“, fragte Alec.

„Falls der Name Delaforge auch eine Person ist“, sagte Saadane, „und nicht nur ein fiktiver Name, denk daran.“

„Und wer hat dann den Laptop von Patrick entwendet?“, fragte Alec.

„Sein Mörder, damit es keine Beweise gibt und kein anderer die Informationen ausfindig machen kann.“

„Und der wiegt sich natürlich jetzt in Sicherheit, weil er sich kaum vorstellen kann, dass eine Kopie der Daten gemacht und versteckt wurde … und jetzt in unseren Händen ist.“

„Hat euch auch wirklich niemand gesehen?“, fragte Jana.

„Ich denke nicht“, vermutete Alec. „Ich hoffe zumindest nicht. Um diese Zeit sind so viele Leute unterwegs, unterwegs sind wir sicherlich nicht aufgefallen. Und im Wohnhaus selbst … nein, ich glaube kaum. Wir hatten ja einen Schlüssel. Ein Einbruch hätte vielleicht etwas Aufsehen erregt“, schmunzelte er.

Alecsander Kuryakin war meistens die Ruhe selbst. Öfters blickten ihn Leute im Vorbeigehen etwas genauer an, sein ungewöhnlicher Haarschnitt fiel auf, dazu seine runde Brille mit rotem Rahmen.

Saadane erklärte, dass er spätestens am übernächsten Tag den Autopsiebericht von Patricks Eltern erhalten müsse. Sie waren sich einig, ihn dann gemeinsam durchzugehen.

Zwei Tage später, am Freitagabend, schneite Saadane aufgeregt in Janas Praxis, gerade als der letzte Patient gegangen war. Er hielt die Kopie des Autopsieberichtes in seinen Händen.

Gemeinsam sahen sie den Bericht durch. Es waren so viele medizinische Fachausdrücke drin enthalten, dass es sehr unklar war, was das alles eigentlich im Klartext bedeutete. Doch das Fazit war sonnenklar: Patrick Joubert sei an Herzversagen, also eines natürlichen Todes gestorben. „Das gibt’s doch nicht, Jana! Das stimmt nicht. Ich sage dir, Patrick war gesund, er hatte ein gesundes Herz.“ Sie gingen den Text noch mehrmals durch.

Spontan kam Jana auf eine Idee. „Wir bräuchten die Begutachtung eines Experten, von jemandem, der sich mit diesen Fachausdrücken auskennt. Vielleicht könnte das uns etwas weiterbringen.“ Sie überlegte. „Ich könnte da jemanden anrufen …“

Sie dachte spontan an Richard Winther. Sie könnte ihn anrufen. Insgeheim ein guter Vorwand, mal wieder mit ihm zu reden nach all den Jahren. Warum nicht?!

Richard

Diesen Gedanken setzte Jana gleich am folgenden Montag in die Tat um.

Während sie das Telefon in die Hand nahm, überschlich sie doch ein etwas mulmiges Gefühl. Dreizehn Jahre waren es her, seit sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Sie wählte die Nummer.

„Faculté René Descartes“, meldete sich die Rezeptionistin am anderen Ende der Leitung. „Guten Tag, ich möchte gerne mit Professor Richard Winther sprechen.“

„Ja, einen Augenblick bitte. Ich verbinde Sie mit seiner Sekretärin.“

Janas Herz schlug schneller. Sie ging auf und ab, das Telefon in der Hand. Es war ihr unmöglich, jetzt still zu sitzen. Was wird er sagen?

Die Sekretärin fragte sie nach ihrem Namen und der Ursache ihres Anrufs.

„Es ist privat.“

„Einen Augenblick, ich verbinde.“ Es dauerte noch eine Weile.

„Winther.“

Ja, das war unverkennbar seine Stimme. Jana erkannte sie sofort; dabei stellte sie sich ihn vor, wie er hinter seinem Schreibtisch saß, im weißen Kittel, Jeans, Brille, zurückgelehnt im Sessel.

„Hallo Richard … hier ist Jana. Jana Frederiksen.“

Einen Moment war es still. „Hallo …“, wiederholte sie.

„Jana? Das ist aber eine Überraschung … Wie geht es dir? Du bist doch nicht etwa krank?“

„Nein, nein. Es geht mir gut. Störe ich?“

„Überhaupt nicht... Wie lange ist das her?

Ist etwas passiert?“, fragte er etwas besorgt.

„Nein, nun … ja und nein. Ich rufe dich eigentlich an, weil ich eine professionelle Meinung über einen Autopsiebericht brauche. Aber sag mir, wie geht es dir nach all den Jahren?“

„Es geht mir gut. Ich arbeite viel, zu viel manchmal. Aber ich liebe meine Arbeit, wie du weißt!“

„Ich sah dich – ich weiß nicht mehr, wie lange das her ist – im Fernsehen, als du die Auszeichnung für eine bestimme Forschungsarbeit erhieltest.“

„Ah ja, das war vor knapp zwei Jahren“, antwortete Richard. Seine Stimme genügte, um in Jana die angenehmsten Erinnerungen zu wecken. „Ein Autopsiebericht, sagst du. Ist jemand aus deiner Familie gestorben?“

„Es ist eigentlich der Freund eines Freundes. Er ist sehr plötzlich gestorben, und da seine Todesursache etwas dubios erscheint, wurde ein Autopsiebericht angefordert, den wir nicht so recht deuten können. Und ich dachte, vielleicht könntest du ihn dir kurz ansehen … und mir dann etwas Genaueres dazu sagen …„

Jana erzählte ihm die näheren Zusammenhänge in groben Zügen, und wie es zu Patricks unerwartetem Tod kam.

Sie teilte ihm auch mit, dass sie am kommenden Mittwoch für ein paar Tage nach Paris reisen würde, um an einem Fortbildungskurs für Therapeuten teilzunehmen.

„Vielleicht könnte ich den Bericht mitbringen, und du könntest ihn dir ansehen.“

Richard überlegte. „Warum tun wir nicht Folgendes: Du schickst mir eine Kopie des Berichtes zu, ich lese ihn in aller Ruhe durch, und wir sehen uns dann, wenn du in Paris bist und du Zeit hast, zum Essen. Dann könnten wir darüber reden.“

„Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee!“, antwortete sie, bevor ihre Zweifel sie zu einer anderen Antwort hätten verleiten können.

Anschließend musste Richard Winther das Gespräch beenden, er hatte einen Vortrag zu halten, der in zehn Minuten beginnen sollte.

„Wir sehen uns dann am Mittwoch Abend um 19 Uhr im Restaurant La Petite Cour in St-Germain. Du findest es?“

„Absolut! Bis dann, Richard, ich freue mich. Und ... vielen Dank für alles!“

Der Gedanke, ihn nach all den Jahren wiederzusehen stimmte sie trotzdem etwas melancholisch.

Mittwoch, 25. April

Jana packte ihre Reisetasche, nachdem sie Alec angerufen hatte, um ihm schöne Ferien zu wünschen. Er hatte kurzerhand zwei Wochen Madeira gebucht.

„Ich brauche eine Insel um mein Buch zu beenden. Ich kann mich hier einfach nicht konzentrieren. Und ich brauche Sonne. Tu mir einen Gefallen, Kleines. Bitte stell keine Ermittlungen auf eigene Faust an! Das mit dem Autopsiebericht geht in Ordnung, aber ansonsten warte, bis ich zurück bin. Ich kenne Saadanes Tatendrang. Doch falls sich seine Befürchtungen oder Vermutungen bewahrheiten, dann könnten diese Leute sehr gefährlich werden, wenn sich jemand in ihre Angelegenheiten mischt.“

„Ja, natürlich. Ich habe nicht vor, Detektiv zu spielen. Ich wüsste ja auch nicht einmal, wo ich ansetzen sollte.“

„Genieße deine Tage in Paris mit Andrea, das Wiedersehen mit Richard, obwohl ...“

„Obwohl was?“

„Ach, nichts. Du, mein Flug wird aufgerufen. Wir sehen uns in zwei Wochen. Halt die Ohren steif!“

Gegen Mittag fuhr Jana los und erreichte das Seminarzentrum in Paris am späten Nachmittag. Es lag etwas außerhalb des Stadtkerns.

Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit um auszupacken, sich etwas zu erfrischen und ihrer Tochter anzurufen, bevor sie mit der Metro zum Quartier Latin fuhr. Sie fühlte sich leicht nervös bei dem Gedanken, Richard wiederzusehen.

Jana betrat das Restaurant. Sie trug ein schwarzes Strickensemble bestehend aus einem Pullover und einem wadenlangen Rock. Dazu einen breiten, hellbraunen Ledergürtel, passend zu ihrer Handtasche und den halbhohen Stiefeln. Darüber einen langen, hellbraunen Mantel.

Die Bedienung begrüßte sie freundlich und führte sie in den Speisesaal. Sie sah ihn gleich, er saß am Tisch in der hinteren Ecke. Als er sie erblickte, stand er sogleich auf und ging auf sie zu. Er umarmte sie mit seinem unverkennbaren, charmanten Lächeln. Wie gut sie das noch in Erinnerung hatte! Richard trug einen dunkelblauen Pullover über einem weißen Hemd, eine Jeans, Lederschuhe. Sein Haar schimmerte silbergrau. Es war ein attraktives Grau.

„Jana, schön dich wiederzusehen, nach all den Jahren. Komm, nimm Platz.“ Er half ihr aus dem Mantel und bot ihr den Stuhl an.

„Hallo, Richard. Du hast dich gar nicht verändert“, sagte sie lächelnd.

Wie eigenartig, dachte Jana und blickte ihn an. Plötzlich saßen sie einander wieder gegenüber. So wie damals. Wo waren all die Jahre hingezogen? Jetzt war er ihr wieder so nah. Der Mann, den sie all die Jahre trotz ihrer Heirat mit Paul nie ganz vergessen konnte. Der Mann, für den sie damals alles aufgegeben hätte, wenn er nur ein Wort gesagt hätte.

„Du hast dich fast nicht verändert“, begann er. „Du siehst noch genauso aus wie damals, genauso schön. Und dein Haar ist noch immer so lang wie früher. Es steht dir sehr gut.“

„Danke.“ Sie lächelte etwas verlegen. „Nun, ich habe meine Berufsrichtung etwas geändert. Ich arbeite jetzt als Therapeutin, mit eigener Praxis.“

„Keine Ernährungsberatung mehr?“

„Ab und zu, wenn es sich ergibt.“

Der Kellner brachte die Speisekarte. Richard empfahl ein Fischgericht.

„Kommst du öfters hierher?“, wollte Jana wissen.

„Eigentlich schon. Die Küche ist wunderbar, aber urteile am besten selbst.“

„Ich lass mich gerne überraschen“, sagte Jana und ließ Richard die Bestellung aufgeben.

Der Kellner servierte den Wein.

„Prost! Auf unser Wiedersehen ..“„Auf unser Wiedersehen,!“