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David Burri, ein erfolgreicher Jurist, will seine Träume verwirklichen. Zusammen mit seiner Frau Astrid plant er eine Weltumsegelung. Weg vom bisherigen Leben. Losgelöst von Terminen, Sitzungen und ständigem Zeitdruck. Aber alles kommt anders als geplant. David muss sich damit abfinden, dass er alleine lossegeln muss. Erst drei Jahre später findet er mit Jenna Lindberg, der Schwester seiner Ex-Frau, eine neue Partnerin. Wer ist die Frau an seiner Seite wirklich? Die Ereignisse überschlagen sich. Rache, Hass und tiefe Verachtung stehen einer grossen Liebe gegenüber. David sieht sich nach einem Attentat mit einer Anklage wegen vierfachen Mordes konfrontiert. Muss er den Rest seiner Tage im Zuchthaus verbringen? Nichts ist, wie es scheint, nichts bleibt, wie es ist und nichts kommt, wie man denkt.
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Buch
David Burri, ein erfolgreicher Jurist, will seine Träume verwirklichen. Zusammen mit seiner Frau Astrid plant er eine Weltumsegelung. Weg vom bisherigen Leben. Befreit von Terminen, Sitzungen und ständigem Zeitdruck.
Aber alles kommt anders als geplant. David muss sich damit abfinden, dass er alleine lossegeln muss. Erst drei Jahre später findet er mit Jenna Lindberg, der Schwester seiner Frau, eine neue Partnerin.
Wer ist die Frau an seiner Seite wirklich?
Die Ereignisse überschlagen sich. Rache, Hass und tiefe Verachtung stehen einer grossen Liebe gegenüber.
Jenna verschwindet nach einem Attentat spurlos und David sieht sich mit einer Anklage wegen vierfachen Mordes konfrontiert. Muss er den Rest seiner Tage im Zuchthaus verbringen?
Nichts ist, wie es scheint, nichts bleibt, wie es ist, und nichts kommt, wie man denkt.
Der Autor
Der 67-jährige Daniel Brack, früher Direktionsmitglied einer global tätigen Schweizer Grossbank, hat in seinem ersten Roman eine bis zum Schluss mitreissende und spannende Geschichte mit tiefgründigen Dialogen, aber auch humorvollen Szenen geschrieben. Der Autor lebt zusammen mit seiner Frau an einem Ort im Zürcher Unterland. Seit über 60 Jahren verbindet ihn eine grosse Leidenschaft zum Segeln.
© 2021 Daniel Brack / Geige am Ende des Seins
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Paperback 978-3-347-31002-5
Hardcover 978-3-347-31003-2
E-Book 978-3-347-31004-9
Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Brise weht aus östlicher Richtung, du machst dein Boot seeklar. Die Segel werden gesetzt. Untermalt vom Gurgeln des Wassers setzt sich dein Boot in Bewegung. Du entfernst dich immer mehr vom Hafen. Du fährst hinaus in die Welt deiner Träume.
Für Marlis
Sandra und ClaudioPhilipp und Désirée
und auch für mich
DANIEL BRACK
GEIGE AM ENDE DES SEINS
Roman
Inhaltsverzeichnis
Die drei Schwestern
Abschied mit Skandal
SAR 312
Was habe ich getan?
Liebe und Hass
„Hanna“
Gemeinsam unterwegs 2013-2015
Der Rosenkrieg
Jenna Lindberg
Ankunft in Malta
Das Attentat
Die Anklage
Der 1. Prozesstag
Der 2. Prozesstag
Der 3. Prozesstag
Das Urteil
Jahreswechsel
Der letzte Wunsch
Epilog
Hauptpersonen
David Burri, Kosename Daffy, geboren 1952 in Küsnacht, Ehemann von Astrid, Seniorpartner in einer Rechtsanwaltskanzlei, verwirklicht seinen Traum von einer langjährigen Weltumsegelung. Er ist der Mann der Offenheit. Er macht gerne neue Erfahrungen, zeigt sich interessiert, entdeckt gerne neue Länder und Kulturen. David gilt als fantasievoll und erfinderisch. Er sucht die Aufregung und die Abwechslung. Er ist emotional und versucht, den für ihn richtigen Lebensweg zu finden. David wird auch als streitbar und undankbar wahrgenommen.
Astrid Burri-Lindberg, geboren 1960 in Stockholm, Ehefrau von David und ältere Schwester von Jenna, Juristin in derselben Rechtsanwaltskanzlei, verlässt ihren Mann, vergisst ihn aber nie. Astrid ist die Gewissenhaftigkeit in Person. Sie arbeitet strukturiert und ist gut organisiert. Sie gilt als verlässlich und plant vorausschauend. Astrid verfügt über Disziplin und Durchhaltevermögen. Ehrgeiz und gute Leistungen sind ihre Werte. Astrid ist sprunghaft und eifersüchtig.
Jenna Lindberg, Kosename Jen, geboren 1968 in Stockholm, verheiratet mit Robert, berühmte Fotografin, steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Jenna verkörpert den extravertierten Menschen. Sie geht gerne auf andere Menschen zu und ist gesprächig. Sie kann andere begeistern und ist energisch. Jenna liebt den Spass und ist aktiv. Ihre Durchsetzungskraft ist hoch. Sie handelt spontan. Sie geniesst Glücksmomente. Jenna beschäftigt sich stark mit ihrer inneren Erlebniswelt. Sie braucht auch Freiraum, um sich zurückzuziehen.
Robert Taylor, geboren 1956 in London, verheiratet mit Jenna, Investmentbanker einer global tätigen Bank mit Sitz in London. Robert ist unausgeglichen und tritt oft als unsympathischer Banker auf. Er ist arrogant und rechthaberisch. Robert lässt kaum andere Meinungen gelten und wird als abgehoben und eingebildet beschrieben. Nur wenige kennen seine anderen Wesenszüge. Er kann sehr charmant und hilfsbereit sein. Sein Leben hat er dem Kampf gegen das Böse verschrieben. Er kennt keine Skrupel und schreckt vor nichts zurück.
Peter Rohner, geboren 1949 in Zürich, Seniorpartner in derselben Rechtsanwaltskanzlei wie David und Astrid. Er ist Junggeselle. Mit David teilt er die Begeisterung für das Segeln. Peter gilt als der Verträgliche. Er ist freundlich und kooperativ. Seine Gutmütigkeit und seine Hilfsbereitschaft zeichnen ihn aus. Peter ist grosszügig und mitfühlend. Eine andere Seite von Peter zeigt sich in seinem oft direkten bis schroffem Ton gegenüber anderen. Als Jurist wird er auch als streitsüchtig bezeichnet.
Petra Eckert, geboren 1980 in Basel, Assistentin von David in der Rechtsanwaltskanzlei. Sie macht Alles für David und ist eine geschätzte Mitarbeiterin. Sie ist freundlich, hilfsbereit und wird von allen Seiten geschätzt. Sie wirkt entspannt, selbstsicher und ungezwungen. Getrieben wird Petra aber von unglaublicher Wut, Verzweiflung und blankem Hass. Sie will Genugtuung für eine tiefe emotionale Kränkung.
Jens Berglund, geboren 1977 in Malmö, Chefverkäufer einer bedeutenden Werft für Segelyachten in Schweden. Er ist psychisch krank. Als Chefverkäufer macht er einen guten Job und wirkt souverän und ruhig. In Wahrheit begleitet ihn seit seiner Jugend eine tiefe Frustration. Er ist innerlich labil und ängstlich. Er fühlt sich schnell persönlich attackiert. Jens ist schnell gekränkt und bemitleidet sich. Er lebt in ständiger Sorge, dass er in solchen Situationen die Kontrolle über sich verliert.
Die drei Schwestern
11. September 2019
Der Sturm kümmert sich nicht darum, unter welcher Flagge das Schiff segelt. Walter Rudin
Am Ruder der Yacht „Hanna“ steht ein grossgewachsener Mann im Lichtkegel der untergehenden Sonne. David Burri ist 67 Jahre alt und man kann ihn mit Recht als sportlich bezeichnen. Durch das enganliegende T-Shirt, das er zu verwaschenen Bluejeans trägt, sind die Konturen eines durchtrainierten Oberkörpers zu erahnen. Wenn er keine Rettungsweste tragen würde, könnte man auf dem T-Shirt den Aufdruck „Sport ist Mord“ erkennen. Ein Zeichen für seinen manchmal aufkeimenden Sarkasmus? Ein-, zweimal fährt er sich mit der Hand durch die nassen, grauen und verstrubbelten Haare, als würde er sich vor dem Spiegel für eine Verabredung zurechtmachen.
Aufmerksam beobachten die blau-grauen Augen von David Burri den Himmel und die schnell dahinziehenden Wolken. Ein entferntes Gewitter mit einer Regenwand kündigt sich an. Der Donner gleicht einer herantrabenden Viehherde, die von etwas erschreckt, ausser Rand und Band geraten ist. Die Blitze nimmt David als kleine Feuerschweife wahr. Es beginnt zu regnen. Trotz des Sturms mit einer Stärke von 7-8 Beaufort strahlt er eine beeindruckende Ruhe aus. Die vielen
Erfahrungen und kritischen Situationen in den letzten neun Jahren auf See haben ihn zu einem besonnenen Skipper werden lassen. Ein Sturm entsteht selten aus dem Nichts. Es gibt viele Anzeichen für einen drohendes Unwetter, die es zu erkennen gilt. Da das Wetter kleinräumig sehr unterschiedlich sein kann, trifft die Wettervorhersage nicht immer exakt zu.
„Kannst du mal das Ruder übernehmen?“, ruft David laut, um die pfeifenden Geräusche des Windes zu übertönen.
„Muss das sein bei diesem Wetter?“
Jenna Lindberg, die bei diesen Verhältnissen keinen Bock darauf hat, das Ruder zu übernehmen, sitzt gut geschützt neben dem Saloneingang im Mittelcockpit der „Hanna“ und versucht, trotz der schlingernden Bewegungen der gut 13.5 Meter langen Yacht, die Balance zu halten. Die „Hanna“ rauscht mit 8.5 Knoten bei achterlich einfallendem Wind unter der kleinen Sturmfock und zweifach gerefftem Gross-Segel Richtung Valletta. Seit mehr als sieben Jahren ist das Schiff ihre Heimat. Die 16 Jahre jüngere Lebensgefährtin von David verbindet eine tiefe und unantastbare Seelenverwandtschaft. Gleich bei der ersten Begegnung zwischen David und Jenna ist ein unmittelbares Gefühl tiefer Verbundenheit und Zusammengehörigkeit entstanden.
Ein blindes gegenseitiges Vertrauen, ein Kommunizieren ohne viele Worte, ein Verstehen nur mit Blickkontakt und gegenseitiger Respekt prägen die Liebe der beiden unterschiedlichen Menschen.
„Ja, bitte“, ruft David, „es ist sehr wichtig.“
Jenna steht auf und klammert sich am Haltegriff der geschlossenen Luke am Eingang der Hauptkajüte fest. Sie rümpft die Nase. Ihre Stimme ist energisch und ihre Abneigung gegen den Wunsch von David ist deutlich zu spüren.
„Bei diesem Wetter werde ich am Ruder stehend durch und durch nass und die hohen Wellen sorgen dafür, dass sich die Gischt durch den starken Wind über das ganze Schiff verteilt. Ich hasse solche Bedingungen. Was ist denn so wichtig?“
„Kommst du oder kommst du nicht?“
„Wieso gerade jetzt?“
„Weil ich dich darum bitte!“
„Eine wirklich starke Begründung!“
*****
Wie immer sind sie gut vorbereitet. Bereits vor dem Sturm haben sie alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Bei den Sicherheitsvorkehrungen gehen sie niemals Kompromisse ein. Jenna hat alle Seeventile und Luken geschlossen. David kontrolliert noch einmal alles. Das Kartenmaterial des befahrenen Gebietes liegt bereit. Die Koordinaten der ausgewählten Ansteuerungspunkte sind im GPS erfasst. Die notwendigen Seenotsignalmittel liegen bereit. Niemand sollte bei ruppiger See gezwungen sein, unter Deck zu müssen. Alle Dinge, die später benötigt werden, müssen sicher im Cockpit oder an Deck verstaut werden. Da in Extremsituationen die Zubereitung von warmen Mahlzeiten kaum möglich ist, hat David vor dem Sturm genügend Sandwiches und zwei grosse Thermosflaschen mit Tee zubereitet, die sicher in den Stauräumen im Cockpit liegen. Beide tragen eine automatische Rettungsweste und Lifelines. Die Rollenverteilung bei einem Notfall ist besprochen. Die aktuelle Position gemäss GPS an der Steuersäule jederzeit ablesbar. Im Notfall können die genauen Koordinaten übermittelt werden. Der Motor sollte -wenn immer möglichnicht benutzt werden, da die im Tank vorhandenen Schmutzpartikel im hohen Seegang aufgewirbelt werden und den Kraftstoff-Filter verstopfen können.
*****
„Jenna, ich kann nicht ewig warten“, hört sie die Stimme von David.
Jenna seufzt und übernimmt das Ruder der „Hanna.“
„Es tut mir leid, dass du nass wirst, aber ich brauche einen neuen Dichtungsring für das Schloss der Backkiste“, empfängt David sie mit einem Grinsen im Gesicht.
„Jetzt, bei diesem Wetter? Du willst unter Deck?“
„Es kann nicht warten. Ich brauche 2-3 Minuten!“
„Du Schwindler“, antwortet sie, lächelt und gibt ihm einen Kuss. Sie denkt darüber nach, ob er es ehrlich gemeint und wirklich Mitleid mit ihr hat.
„Du musst wissen, du bist die Liebe und die Inspiration meines Lebens“, erwidert David geheimnisvoll.
„Wie meinst du das?“
„Das wirst du bald erfahren. Sei doch nicht so neugierig“, witzelt David.
Er vergewissert sich, dass Jenna die Sicherheitsleine einhakt, dreht sich um, klickt seine Lifelines aus und steigt durch die Treppe in den Salon der Yacht. Die Eingangsluke lässt er zur Hälfte offen.
Seine Bitte an Jenna das Ruder zu übernehmen ist ein Ablenkungsmanöver. Er will in der hintersten Ecke einer Schublade, gut versteckt unter Betriebsanleitungen, Plänen und einem Fernglas etwas holen, das keine Ähnlichkeit mit einem Dichtungsring hat. Der Gegenstand steckt in einer kleinen, viereckigen Schatulle aus edelstem Holz. Er wird gehalten durch einen Schlitz in der von Samt ausgekleideten Innenverkleidung. Der Ring in der Schatulle ist aus Gold gefertigt. In der Mitte ziert ein edler Diamant das Objekt, rechts und links ergänzen zwei kleinere Steine das Kunstwerk. Er hat den Ring in Horta, ihrer letzten Station vor der Rückkehr nach Valletta, gekauft. Der Ring soll ihr Eheversprechen besiegeln. Aber das ist eine lange Geschichte.
Auch nach sieben Jahren geniesst es Jenna, am Ruder zu stehen. Nur die Nässe durch die Gischt und der Regen sind nicht ihr Ding. Aber trotzdem liebt sie es , mit einem sanften Zug am Steuerrad die Kontrolle über ein Schiff zu haben, das voll beladen gegen 14 Tonnen wiegt. Sie vergisst dabei schnell ihre Abneigung gegen die Unannehmlichkeiten. Am Anfang ihrer Reise hat sie sich noch etwas schwer getan, um bald die Lücke zu den Steuermannskünsten von David zu schliessen.
Selbst im plumpen Ölzeug sieht die 51-Jährige athletisch und attraktiv aus. Das gelbe Halstuch, das sie sich um den Hals gebunden hat, damit weniger Wasser zwischen Hals und Jacke eindringen kann, passt farblich gut zu ihrem rötlich-braunen Haar, das sie halblang trägt. Man muss ein guter Beobachter sein, um zu erkennen, dass sich auch wenige graue Haare eingenistet haben. Ihre Haarpracht versteckt sie unter einer blauen Mickey Mouse Mütze, die sie seinerzeit in Panama gekauft hat. Die Gesichtszüge von Jen, wie sie von David liebevoll genannt wird, werden von zwei wunderbaren, blauen Augen geprägt, die Neugier und Lebensfreude ausstrahlen. Daffy -der Kosename von Davidmacht ihr oft Komplimente, über die sich Jen freut. Erst kürzlich sagte er bewundernd zu ihr, wie sie es schaffe, immer so gut auszusehen und Kleider auszuwählen, die ihren 168 cm grossen und schlanken Körper so attraktiv betonen.
Der aktivierte Autopilot und die Windfahne halten das Schiff selbständig auf Kurs und nur bei unerwartet hohen Wellen und stark rollender See, wenn die Steuerung zu langsam reagiert, muss Jenna eingreifen und selbst am grossen Steuerrad für die nötige Kurskorrektur sorgen.
*****
Sie verfällt kurz in Gedanken und sagt sich:
„Ich bin mir sicher, dass ich zwei, wenn nicht sogar drei Schutzengel habe.“
Kurz vor dem Auslaufen in Horta nimmt sie die Schutzengel in Anspruch. Horta ist die Hauptstadt der Insel Faial, einer der grösseren Inseln der portugiesischen Inselgruppe der Azoren. Die Insel hat rund 15.000 Einwohner.
Beim Verlassen des „Enrico Café Sport“ in Horta überquert Jenna die Strasse. Abgelenkt durch einen Hund auf der anderen Strassenseite, übersieht sie ein heranbrausendes Auto und schreckt erst in letzter Sekunde zurück. Natürlich glaubt sie nicht an Engel, die eingehüllt in weissen Kleidern und mit Flügeln auf uns Menschen aufpassen. Aber sie ist überzeugt, dass es eine höhere Macht gibt, die in solchen Situationen eine schützende Hand über uns legt. Schicksal, ein siebter Sinn, Humbug? Sie hat eine klare Meinung.
„Alle erleben die Anwesenheit eines Engels auf andere Weise. Als innere Stimme oder als Gänsehaut. Vielleicht als leichten Hauch auf der Haut. Egal, ob wir ihn rufen oder er alleine zu uns kommt: Auf unseren Schutzengel können wir uns verlassen“, hat sie David bereits vor Jahren erklärt.
*****
David und Jenna haben vor drei Wochen in Horta angelegt, um nachher die rund 1500 Seemeilen nach Malta in Angriff zu nehmen. Zwei Drittel dieser Etappe haben sie hinter sich und in sechs oder sieben Tagen treffen sie in Valletta, der Hauptstadt von Malta, ein. Dort wollen sie den Winter verbringen und entscheiden, ob sie das Boot nach sieben gemeinsamen Jahren auf den Weltmeeren verkaufen und sich nach einem ständigen Wohndomizil umsehen wollen.
Jenna wird aus ihren Gedanken gerissen, weil sie ein ungewöhnliches Geräusch wahrnimmt. Es klingt wie das Donnern bei einem Gewitter und das Rauschen eines riesigen Wasserfalles. Sie erblickt achterlich drei riesige 12-15 Meter hohe Wellen, die das Schiff in Kürze treffen werden. Die Monster haben eine ungewöhnliche, charakteristische Form. Der steile, ausserordentlich hohe Wellenkamm mit einer scharfen Kante an der Spitze folgt dabei einem tiefen und runden Wellental. Jenna, die solche Wellen noch nie erlebt und nur aus Erklärungen kennt, ist beeindruckt vom Ausmass des Wellentals, das aussieht wie ein riesiges Loch im Meer.
„David, riesige Wellen, mein Gott…“, schreit sie.
Die „Drei Schwestern“ genannten Monsterwellen kommen der „Hanna“ immer näher. Diese Wellen können in Küstenzonen mit stark schwankenden Meerestiefen und unterschiedlichen Strömungsverhältnissen entstehen. Sie sind nicht vorhersagbar und deshalb unberechenbar. Weitere Faktoren wie Sandbänke und lokale Strömungen sind dafür verantwortlich, dass die Wellen ihre Richtung und Geschwindigkeit ändern.
Eine brodelnde, unheimliche und donnernde Katastrophe bricht los. Tosende Wassermassen überfluten das Schiff. Was nicht durch die Wand des halb-offenen Saloneinganges aufgehalten und ins Cockpit zurück katapultiert wird, fliesst ins Innere der Yacht. Das ganze Boot erzittert, fällt ins riesige Wellental, läuft aus dem Ruder, stellt sich quer und krängt durch die Wucht der Wassermassen stark. Der Mast der „Hanna“ berührt kurz die Wasseroberfläche, bevor die Yacht sich wieder aufrichtet. Satan mit dem Fegefeuer der Hölle besucht das Schiff.
Auch David, der gerade in der Schublade nach der versteckten Schatulle tastet, vernimmt die unbekannten Geräusche. Er erhebt sich, um nachzusehen, was die Ursache für das ungewöhnliche Getöse ist. Er hat sich noch nicht ganz aufgerichtet, als die erste Welle die „Hanna“ mit unglaublicher Wucht trifft. David wird durch die Kajüte geschleudert und schlägt mit dem Kopf hart auf der Kante des Kartentisches auf. Er greift sich an den Kopf. Seine Hand ist voller Blut. David hört, dass die automatische Bilgen Pumpe sich einschaltet und ein saugendes Geräusch von sich gibt. Das eingedrungene Wasser wird aus dem Inneren der Yacht gepumpt. Bevor er einen weiteren Gedanken fassen kann, folgt die zweite Welle, die „Hanna“ legt sich erneut quer und David kann nicht verhindern, dass er auch diesmal durch den Innenraum katapultiert wird. David knallt an die Abgrenzung der Küche und spürt einen unerträglichen Schmerz. Es gelingt ihm kaum noch ein- und auszuatmen. Als er seine Hand auf die betroffene Stelle legt, zuckt er zusammen und stöhnt.
„Verdammt“, denkt er, bevor die dritte Welle über das Schiff rollt und David in die Luft geschleudert wird. Nach einem heftigen Aufprall, der ihm fast das Bewusstsein raubt, schreit er mit letzter Kraft:
„Jenna, wo bist du?“
Er flüstert noch ein kaum hörbares
„Ist alles in Ordnung?“, bevor er endgültig die Orientierung verliert und alles Dunkel um ihn wird.
David hört den langanhaltenden und angsterfüllten Schrei von Jenna nicht mehr. Die Wucht der unglaublichen Wassermassen hebt sie über die Reling und Jenna fällt in die aufgewühlte See. Benommen schaukelt sie im Wasser, die automatische Rettungsweste hat sich zischend aufgeblasen. Nur die straff gespannten Lifelines verhindern, dass sie weiter von der „Hanna“ abdriftet.
*****
„Beherrschen wir Menschen die Natur oder zeigt die Natur den Menschen ihre Grenzen auf?“, fragt sich Jenna und denkt:
„Sind die Schutzengel auch diesmal vor Ort? Treffen sie bald ein? Haben wir sie zu oft in Anspruch genommen?“
Abschied mit Skandal
7. März 2010
Freiheit bedeutet, dass man nicht alles so machen muss wie andere Menschen. Astrid Lindgren
David steht vor dem Spiegel des luxuriös eingerichteten Badezimmers. Lange hat er das warme Wasser unter der Dusche genossen. Er blickt in das Gesicht eines 58-jährigen Mannes. Braungebrannt und glattrasiert. Seine grauen und kaum zu bändigen Haare bereiten ihm wie üblich Sorgen. Täglich spricht er mit ihnen und droht mit der radikalen Rasur auf 2 mm, wenn sie sich nicht seinen Vorstellungen anpassen. Das Zeremoniell zeigt absolut keine Wirkung. Er sagt sich, dass diese verfluchten Haare entweder taub sind oder kein Schweizer Mundart Deutsch verstehen. Er hat es deshalb auch schon auf Hochdeutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch versucht. Alles ohne Erfolg!
Er spürt Stolz, als sein Blick nach unten gleitet und er seinen durchtrainierten Körper sieht. Nachdenklich sagt er zu sich selbst:
„Heute ist dein letzter Tag im alten Leben, ab morgen beginnt dein neues. Freue dich, es ist das, was du so lange ersehnt hast. Keine nervigen Sitzungen mit Klienten, kein Hasten von Termin zu Termin, kein blauer Anzug, keine teuren Hemden mit Seidenkrawatte und keine für Normalsterbliche unerschwingliche, englische und nach Mass gefertigte Lederschuhe. Dagegen Jeans, T-Shirt, bunte Unterwäsche und bequeme Sneakers.“
Vor fünf Jahren hatte er sich entschlossen, seinen Traum einer Weltumsegelung umzusetzen. Vor vier Jahren begannen die Vorbereitungen.
Seit 20 Jahren ist er mit Astrid Lindberg verheiratet, nachdem sie vorher eine zwanglose Freundschaft verband. Sie haben sich nach dem Studium kennengelernt. Die Beziehung ist kinderlos geblieben. Beide arbeiten als bekannte Anwälte in der gleichen, renommierten Kanzlei an bester Lage in Zürich. Die 50-jährige Astrid ist eine attraktive Frau. Die langen, blonden Haare fallen ihr bis auf die Schultern. Die sanften Gesichtszüge passen zu ihrer schlanken Statur. Sie gleicht einer schwedischen Frau, die in einem Werbeinserat eines Reisebüros für Ferien in Schweden Modell steht.
„In 20 Minuten müssen wir das Haus verlassen, damit wir rechtzeitig im Büro sind. Es ist unsere Abschiedsfeier und es ist unanständig, wenn wir zu spät kommen.“
Die Stimme von Astrid tönt angespannt, wie so oft in letzter Zeit. David antwortet gelassen:
„Ich bin wie immer pünktlich, also kein Problem.“
Ein leichter Unterton der Gereiztheit ist nicht zu überhören.
In den letzten zwei Jahren haben sie sich auseinandergelebt. Nichts ist mehr wie früher. Seit David den Berger-Prozess von Astrid übernommen hatte, weil man ihr einen erfolgreichen Ausgang nicht zugetraute, war sie gekränkt und gibt David die Schuld daran.
Obwohl David nicht einen Freispruch bei der Verteidigung von Hans Berger erwirken konnte, gelang es ihm, die auf Indizien beruhende Anklage der Staatsanwaltschaft zu zerpflücken, so dass der zuständige Richter ein wesentlich milderes Urteil als von der Anklageseite beantragt, aussprach.
*****
„Noch 15 Minuten“, tönt es vom unteren Geschoss.
David ist angezogen und bindet sich die Krawatte. Er will sein neues Leben ab morgen konsequent umsetzen, aber heute ist noch der teure Anzug mit passendem Hemd Pflicht.
„Ich bin schon fast fertig“, antwortet David genervt. „Das sagst du immer. Aber nie trifft es ein. In der Kanzlei bist du immer pünktlich. Du hast Petra.“
„Was soll das jetzt bedeuten?
„Das fragst du mich?“, regt sich Astrid auf.
„Ich bitte dich, du unterstellst mir etwas, das nicht wahr ist.“
„Aber alle Spatzen pfeifen es vom Dach. Du solltest wenigstens ehrlich sein.“
Sein Handy klingelt, das er vorsorglich mit ins Badezimmer genommen hat. Eine Nummer leuchtet auf. Er kennt sie auswendig. Es ist die Nummer der Werft, bei der Astrid und er 2007 das Boot in Auftrag gegeben haben. „Astrid“ soll die Traumjacht als Namen tragen. In blauer Farbe wird der elegant wirkende Schriftzug das Heck der Yacht zieren. Er nimmt den Anruf trotz heftiger Proteste von Astrid entgegen.
„Hey, hey David, wie geht es dir?, fragt Jens Berglund. Er ist der Chef des 4-köpfigen Teams, das die Yachten einer renommierten schwedischen Werft verkauft.
„Wenn ich dich höre, geht es mir immer gut“, entgegnet ein vergnügter David.
„Ich brauche von dir das definitive okay wegen der Einlösung des Bootes. Bleibt es dabei, dass du unter Schweizer Flagge segelst?“
„Ja klar, ich werde doch die Schweiz in die Welt hinaustragen.“
“Alles klar, dann leiten wir alle Formalitäten ein.“
„Super, der Übergabetermin im September steht noch?“
„Du kannst dich auf uns verlassen. Du hast eine neue Yacht bei uns bestellt, die dich mit aller Ausstattung rund 600‘000 Euro kosten wird. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, deine „Astrid“ hat absolute Priorität für uns.“
„Du erinnerst dich aber schon, wir haben 580‘000 und nicht rund 600‘000 abgemacht“, präzisiert David.
Astrid steht vor der Badezimmertür und zeigt mit bösem Blick und nervös auf ihre teure IWC-Uhr.
„Ja, ich komme gleich, sobald ich fertig bin“, gibt David gestresst zurück. Er nimmt das Handy ans Ohr und fragt:
„Jens bist du noch dran?“
Aber Jens hat bereits aufgelegt und die Verbindung ist unterbrochen.
„Verdammt, kommst du nun endlich?“, ruft Astrid.
„Astrid, es reicht jetzt. Ich treffe meine Entscheidungen überlegt und noch immer selber. Wenn ich telefonieren will, dann telefoniere ich, weil es für mich wichtig ist. Wann kapierst du das endlich?“
„Ändert es etwas? Nein! Mach doch, was du willst. Das tust du immer. Wieso lebe ich noch bei Dir?“
*****
Astrid und David sitzen zusammen im Auto. Ein Maserati Quattroporte 4.7 V8 S Automat, den sich David vor zwei Jahren geleistet hat. Astrid war dagegen, weil sie keinen Wert auf teure Autos legt. Trotz aller Proteste von Astrid kaufte David den schnellen Boliden mit 450 PS.
„Du siehst hübsch aus in deinem neuen Kleid.“
Ein Kompliment, das David besser nicht gemacht hätte. Die bissige Antwort von Astrid folgt umgehend.
„Ich habe dieses Kleid bereits vor einem Jahr gekauft und es mindestens schon viermal getragen. Aber das hast du natürlich nicht bemerkt. Seit du nur noch an dein verdammtes Schiff denkst, bin ich dir gleichgültig.“
„Aber Astrid, ich…“
„Halt einfach den Mund und lass mich mit deinem Wiedergutmachen-Gesülze in Ruhe.“
„Du hast aber schlechte Laune, Astrid.“
„Da hast du wohl recht. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch Lust habe auf das blöde Boot mitzukommen!“
„Ach, Astrid. Wir haben uns so gefreut, dieses Projekt zusammen anzupacken.“
David schluckt seinen Ärger und seine aufkommenden Emotionen herunter. Schweigend sitzen sie im Auto als David seinen Maserati auf den firmeneigenen Parkplatz der renommierten Kanzlei lenkt und auf dem noch für ihn reservierten Parkfeld abstellt.
*****
Viele Leute -zu viele für David-, lautes Gequatsche, fragende und auch neidische Blicke, als Astrid und David das grosse Sitzungszimmer der Kanzlei betreten. Astrid liebt solche Anlässe. David bevorzugt es eher, sich im kleinen Rahmen zu treffen, wo man sich auch wirklich unterhalten und auf die Gäste eingehen kann. Im hinteren Bereich warten verschiedene Köstlichkeiten auf die geladenen Gäste. Wasserperlen tropfen langsam entlang der gekühlten Eiskübel. Auf den blauen Tischdecken bilden sich Wasserflecken. Blau ist die Farbe des Abends und ist dem kristallblauen Wasser der Karibik gewidmet. Die grünen Servietten liegen bereit und symbolisieren die Palmen, die am grauen Sandstrand stehen und schwankend dem Wind trotzen. Der Sandstrand wird durch die hellgrauen Pappteller dargestellt. Petra Eckert, die gutaussehende, 30-jährige Assistentin von David, hat sich das alles ausgedacht. Sie arbeitet seit gut einem Jahr für David. Vom ersten Tag an machte es den Anschein, dass sie in David verliebt sei und sie tat Alles für ihn. Es beruht nicht auf Gegenseitigkeit. David schätzt Petra als Mitarbeiterin, findet sie sehr sympathisch, attraktiv und freut sich über ihr natürliches und zwangloses Auftreten, das auch bei den Klienten Anklang findet.
Nun folgen die üblichen Abschiedsreden.
„Liebe Astrid, lieber David, wir konnten gemeinsam eine schöne und erfolgreiche Zeit verbringen… blablabla..…“ David lächelt und tut so, als ob er gespannt den Worten folgt. In Wirklichkeit ist er in Gedanken versunken. Er hört das Rauschen von Wasser, kann die Spritzer förmlich spüren, wenn der Bug des Bootes sanft ins Wellental versinkt. Er hört die Seemöwen, die das Schiff kreischend begleiten. Die Sonne verschwindet langsam am Horizont. Er schreckt plötzlich auf, ist zurück im heute und jetzt und versteht nur noch die Worte:
"Auf Wiedersehen, Goodbye, Adieu, zum Abschied alles Gute. Geht euren Weg voll Zuversicht und mit gutem Mut."
David bedankt sich im Namen von Astrid und ihm für die netten Ansprachen und wendet sich Petra zu, hält sie an ihren beiden Händen und küsst sie auf die Wangen.
„Petra, ich danke dir herzlich für den tollen Einsatz und deine hervorragenden Leistungen. Mit deiner fröhlichen Art hast du mir an vielen Tagen geholfen, den grauen Alltag zu vergessen. Und ganz wichtig, du machst den besten Kaffee der Schweiz.“
Allgemeines Gelächter.
Astrid, die seit Wochen von Eifersucht geplagt wird, beobachtet die Szene und presst die Lippen zusammen. Sie ist wie vom Donner gerührt. Sie mustert Petra wie ein Ausstellungsstück. Schon lange macht in der Kanzlei das Gerücht die Runde, dass David und Petra einen Umgang pflegen, der über das rein geschäftliche hinausgeht. Als David in typischer Schweizer Tradition Petra drei Küsse auf die Wangen drückt, starrt Astrid gekränkt in die Visage von Petra. Ein eigentümlicher Glanz, beinahe eine Art Triumph liegt auf dem Gesicht dieses Miststücks. Dieses Bild brennt sich im Kopf von Astrid ein. Angespornt durch ihren Frust, gönnt sie sich mehrere Drinks.
David verabschiedet sich von seinen Kolleginnen und Kollegen. Er führt Gespräche, erzählt von den Vorzügen der neuen Yacht und schildert euphorisch, wie er sich das Leben an Bord vorstellt. Er sieht zwei Personen, die den Raum betreten. Er erkennt Jenna Lindberg, die 42-jährige, jüngere Schwester von Astrid und ihren Mann Robert Taylor, den er mindestens zehn Jahre älter als Jenna schätzt.
*****
David lernte Jenna und Robert vor drei Jahren an ihrer Hochzeit kennen. Zusammen mit Astrid flog er nach London, um an der pompösen Feier teilzunehmen. Robert arbeitet als erfolgreicher Investmentbanker bei einer Bank, an deren Namen David sich nicht erinnern kann. David hielt von Robert gar nichts und hatte das gegenüber Astrid schon vor drei Jahren nach der Hochzeitsfeier unverblümt kundgetan. Damals sagte er zu Astrid:
„Dieser Taylor ist für mich das Paradebeispiel für einen erfolgsverwöhnten Banker. Arrogant, abgehoben, eingebildet, strotzt nur so vor Selbstüberschätzung, weiss alles besser, hört nicht zu und akzeptiert keine anderen Meinungen. Kurz gesagt: Er ist ein Arschloch und ich will nichts mit ihm zu tun haben.“
„Er heisst Robert. Er ist dein Schwager und der Mann meiner Schwester“, wendete Astrid ein.
„Gibt es eine Vorschrift, dass man seinen Schwager mögen muss?“
„David, bitte!“, erwiderte Astrid genervt.
David Burri, einem erfahrener Anwalt, ging Robert den ganzen Abend aus dem Weg. Er hätte sich sonst von Robert provozieren lassen und unangemessen reagiert. Das wollte er vermeiden.
David unterhielt sich an der Hochzeitsfeier in einer ruhigen Ecke des Festsaales lange mit Jenna. Er hatte sie vorher nicht näher gekannt, weil Jenna als bekannte Fotografin arbeitete und ständig auf der ganzen Welt unterwegs war. Jenna nimmt unter den berühmten Fotografen der Gegenwart einen der vordersten Plätze ein. Der Grund dafür liegt vor allem in ihrer intellektuellen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Themen wie Identität, Rollenbildern, Körperlichkeit und Sexualität. Auf ihren inszenierten Bildern setzt sie sich mit vorherrschenden Rollenbildern auseinander, was ihrer Arbeit immer auch einen aktuellen Bezug gibt. Aber auch für ihre Portraits ist sie bekannt. Alles was Rang und Namen hat, wurde von ihr abgelichtet. Zu den berühmtesten Fotos von Jenna zählen noch heute ihre Aufnahmen, die sie 2005 während einer Tournee von Mark Knopfler, dem englischen Gitarristen, Sänger und Songwriter, produziert hatte. Dabei war sie mittendrin im Geschehen, was ihre Bilder so besonders macht. Ihren Ruf als begnadete Fotografin stärkte sie durch ihre berühmten Bilder der Obama Familie. Während Tagen hatte sie von Barack, Michelle und den beiden Töchtern Malia und Natasha unzählige Fotos geschossen. Ihre Bilder zeigen ein besonderes Gefühl der Nähe und Fürsorge für die Menschen, die sie fotografiert. Ihre Bilder sind einfach, aber stark in einer Gegenüberstellung. Durch ihren einzigartigen Ansatz erreicht sie erzählerische Aussagen in einem einzigen Bild.
Er ist von der Persönlichkeit, die Jenna ausstrahlt, fasziniert. Sie plaudert unbeschwert, fröhlich und hat immer ein verschmitztes Lächeln um die Mundwinkel. Aber das Besondere sind ihre faszinierenden Augen mit einem sanften und geheimnisvollen Blick.
„Kommst du?“, forderte Astrid David auf, „Robert wartet auf dich.“
„Es war nett, sich mit dir zu unterhalten“, sagte David zu Jenna.
„Ich gebe das Kompliment gerne zurück.“ Sie erhob sich, nahm David spontan in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die rechte und linke Wange.
„Man sieht sich, irgendwann und irgendwo“, ergänzte Jenna.
*****
David wurde durch die Stimme von Robert gestört.
„Warum jetzt gerade und warum er?“, fragte sich Robert.
„Hi, David. Grossartig vor so einem bekannten Rechtsverdreher zu stehen. Geld hast du genug, wie ich höre. Ich habe für dich ein paar todsichere Insidertipps. Du wirst in Kürze eine Menge Kohle machen.“
David setzte zu einer Antwort an, aber Robert war nicht aufzuhalten.
„Vergiss die üblichen Anlagestrategien. Was ich dir empfehlen werde, wird dich noch reicher machen, als du schon bist.“
Davids Schläfen schwollen an, sein Blut pochte und er spürte, dass er sich nicht mehr zurückhalten kann. Astrid war besorgt. Aber David blickte Robert ruhig und gelassen an, taxierte ihn, trat nah an ihn heran und flüsterte:
„Ich kenne dich nicht näher und ich will es auch nicht versuchen, Schwager. Um es noch deutlicher zu sagen, lass mich in Ruhe. Ich kenne genug solche Typen wie dich. Du gehst mir mit deinem Getue auf den Geist!“
Robert reagierte sofort und schoss scharf zurück:
„Wow, bin ich so schlimm? Ich kann dich nicht zu deinem Glück zwingen. Du wirst vielleicht deine Meinung noch ändern.“
“Lass es gut sein“, sagte David und wendete sich ab.
Für einen Augenblick veränderten sich die Gesichtszüge von Robert und ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Astrid versuchte Robert zu beschwichtigen und eilte dann David nach. Sie zischte:
„Du bist unmöglich.“
„Nein, ich bin ehrlich. Ich fahre zurück ins Hotel. Kommst du mit oder bleibst du noch?“ Sie blieb. Um zwei Uhr morgens betrat sie nach einer 20-minütigen Fahrt mit dem Taxi schwankend das Hotelzimmer. David war noch wach. Sie trottete ins Badezimmer. David hörte die Dusche. Nach fünf Minuten schlüpfte sie nur mit einem Slip bekleidet ins Bett und schmiegte sich eng an David.
„Ich sehne mich so sehr nach dir.“
„Ich aber nicht nach dir. Besoffene Weiber stossen mich ab.“
„Dann lassen wir es“, fauchte Astrid zurück.
Am nächsten Morgen nahmen die beiden das gemeinsame Frühstück schweigend ein. Astrid machte ihrem Mann, der in Ruhe die Zeitung lesen wollte, Vorwürfe wegen seines Verhaltens gegenüber Robert. Er wiederholte, was er von Robert hielt Verstimmt und nachdenklich kehrten sie von London zurück nach Wollerau, wo sie in einer herrschaftlichen Villa mit direktem Seeanstoss und eigenem kleinen Hafen mit Anlegestelle wohnten. An diese Szenen vor drei Jahren erinnert sich David, als Robert und Jenna den Raum betreten.
*****
An der Abschiedsfeier sagt David zu Astrid:
„Hast du sie eingeladen?“
„Ja klar, es ist meine Schwester mit ihrem Mann. Ich habe sie beide seit der Hochzeit vor drei Jahren nicht mehr gesehen.“
„Du weisst, was ich von Herr Taylor halte? Jenna sehe ich gerne wieder, aber die Fehlbesetzung Robert?“
“Sie bleiben ein paar Tage bei uns und du kannst Robert, während ich mit Jenna in Stockholm bin, besser kennenlernen und ich werde mich um meine kleine Schwester kümmern. Nach dem unerwarteten Tod unserer Mutter Hanna gibt es einige Dinge zu klären.“
“Wieso erfahre ich nichts? Du kannst nicht einfach Leute zu uns einladen, ohne mich zu informieren.“
„Du hast nie Zeit für mich. Ich hatte keine Gelegenheit, dich zu fragen“, giftelt Astrid.
Aber es ist schon zu spät für weitere Diskussionen. Der ungeliebte Robert ist im Anmarsch.
„Hallo, alter Knabe, wie geht es dir?“
„Danke der Nachfrage. Es geht mir ausgezeichnet. Und dir?“
Dummes blabla-Gequatsche. Ich muss da durch, geht David durch den Kopf.
„Ich fühle mich ausgezeichnet. Ein paar Kunden sind reich durch mich geworden. Erst gestern hat mir ein Klient gesagt, dass er meine Fähigkeiten ausserordentlich schätzt. Mir würde es nicht gut gehen, wenn ich an dich denke. Mein jetziges Leben mit allem Luxus gegen eine kleine, feuchte Kajüte tauschen? Meine neun Zimmer und drei Badezimmer sind mir schon lieber. Schwimmen kann ich auch in meinem IndoorPool und die Sonne geniesse ich im Solarium. Weisst du, was der Nachteil ist? Im Pool hat es nicht so viel Müll wie im Meer.“
„Ja, so ist das im Leben, jeder hat andere Vorstellungen. Gerade dein Leben ist mir zu langweilig. Zu öde. Was ich will und suche, ist die persönliche Freiheit, jederzeit das zu machen, was ich will.“
„Eine interessante Philosophie, die genau zu den Ansichten von Jenna passt.
Mit einem Lächeln unterbricht Jenna das Gespräch und sagt zu Robert:
„Langweilst du meinen Schwager?“
„Nein, nein, von Langeweile kann keine Rede sein. Wir haben unsere Diskussion soeben beendet“, sagt David.
„Wie geht es dir, Jenna?“
Robert gibt anstelle von Jenna Antwort:
„Sie wird dich gleich mit ihrer heilen Welt bekanntmachen und versuchen, dir ihre Weltanschauung näher zu bringen. Mein Ratschlag an dich: nicht hinhören, du könntest überzeugt werden.“
*****
Robert wendet sich ab und sucht sein nächstes Opfer. David schaut Jenna lange in die Augen und wiederholt seine Frage, wie es ihr geht. Er hat mitbekommen, dass Astrid und Jenna eine unvergessliche Jugend bei ihrer alleinerziehenden Mutter Hanna auf der äussersten Schäreninsel Sandön mit ihrem kleinen und gemütlichen Ort Sandhamn erlebt haben. Bereits auf der Fahrt nach Sandhamn fühlt man sich wie in den Ferien. Angekommen auf der Insel warten Cafés, Restaurants, wunderschöne Sandstrände und Badeplätze. Stockholm liegt nur wenige Kilometer entfernt und dennoch fühlt man sich wie in einer fernen Welt. Einer Welt, in der es keinen Stress gibt. Deswegen sollte man die Zeit in Sandhamn so lange wie möglich geniessen. David hat Hanna bei einem zweiwöchigen Besuch vor fünf Jahren näher kennengelernt. Ausser an seiner Hochzeit mit Astrid und an derjenigen von Jenna und Robert hat er nur einmal in zwanzig Jahren Zeit gefunden, sich mit seiner Schwiegermutter zu unterhalten. Darauf ist er nicht stolz, denn Hanna war eine ganz besondere Frau, die ihr Leben aufopfernd ihren Töchtern gewidmet hat und die den frühen Unfalltod ihres Ehemannes Lars zu verkraften hatte. Hanna ist vor einem Monat nach einer schweren Krankheit verstorben. Sie hat niemals mit ihren Töchtern über ihre Krankheit gesprochen. Zufrieden mit ihrem Leben schlief sie friedlich ein.
Jenna und David setzen sich auf ein bequemes Sofa und sie beginnt zögernd:
„Ich weiss nicht, wieso ich dir alles erzähle. Ich kenne dich kaum. Aber mein Bauch sagt mir, dass es bei dir gut aufgehoben ist. Bei dir kann ich mich selber sein. Du verstehst mich. Es ist so schön, dass ich dich kenne. Du bist mein Lieblingsmensch!“
David bleibt vorerst stumm. Er greift nach beiden Händen von Jenna, blickt sie an und lächelt.
„Danke, Jenna. Deine Worte bedeuten mir sehr viel. Der Tod eurer Mutter tut mir sehr leid. Sie war eine besondere Frau.“
„Ja, das war sie. Du musst wissen, ihr Tod hat mich aufgewühlt und sehr traurig gemacht. Ich habe über Vieles nachgedacht.
„Das verstehe ich. Zudem sehe ich ein, dass ich mich nach den drei Jahren, mit denen ich mit Robert verheiratet bin, wie jemand fühle, dem man die Flügel abgerissen hat. Eine Welt bricht für mich zusammen. Ich hole mir jetzt Stück für Stück meine Freiheit zurück. Ich werde mich wieder voll in die Arbeit stürzen.“
„Das sind doch bewundernswerte Neuigkeiten. Als meine Eltern vor sieben und acht Jahren verstorben sind, bin ich auch in ein tiefes Loch gefallen. Ich finde es toll, dass du wieder arbeiten willst. Als Fotografin?“
„Ja, das habe ich vor.“
„Was sind die Gründe dafür?“
„Ich glaube, das Gefühl der persönlichen Freiheit. Wie soll ich es am besten ausdrücken? Ich denke, es ist die Überzeugung, keinen inneren und äusseren Zwängen folgen zu müssen. Verstehst du das?“
„Ja, sicher. Aber ist das nicht Wunschdenken? Ist das möglich?“
„Davon bin ich überzeugt. Aber wichtig scheint mir, dass man zwischen der Freiheit als -lass mich kurz überlegeneinzelnes Individuum oder im Zusammenhang mit der Freiheit in der globalen Gesellschaft unterscheidet.“
„Wo siehst du den Unterschied?“, fragt David nach.
„Du stellst genau die richtigen Fragen. Ich würde es so umschreiben, dass Freiheit die Fähigkeit bedeutet, aus eigenem Willen Entscheidungen zu treffen oder die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Alternativen auswählen zu können.“
„Freiheit bedeutet also, über sich selbst bestimmen zu können. Dazu gehören Meinungsfreiheit, Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Bildungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Vertragsfreiheit, …“„Ja, so sehe ich das. Natürlich bedeutet das noch lange nicht, dass wir alle gleich frei sind.“
„Verstehe ich das richtig? Frei ist, wer seine Freiheiten auch nutzt?“
„Grundsätzlich bedeutet Freiheit für mich ein Nein zu Zwängen und ein Ja zu Möglichkeiten.“
David ist in Gedanken versunken. Er runzelt die Stirn und überlegt. Mit der Zunge drückt er die Oberlippe nach oben, um sie nachher wieder fallen zu lassen. Er wendet sich Jenna zu:
„Sind wir nicht alle in einem goldenen Käfig gefangen? Wir arbeiten zu viel, sind durch äussere Gegebenheiten eingeschränkt, unterliegen gesellschaftlichen Normen, leben mitten in Denkmustern und Vorurteilen.“
„Da gebe ich dir recht. Die Selbstbestimmung beginnt erst, wenn ich die Möglichkeiten zum freien Handeln auch ausnutze.“
„Aber das ist nicht immer einfach“, erwidert David.
„In dem Moment, wo wir unsere Freiheiten nutzen und Ja zu etwas sagen, gehen wir Risiken ein. Wir sagen Ja zu Beziehungen, zu Reisen oder äussern eine kritische Meinung und wir wissen, dass die Konsequenzen daraus schmerzhaft sein können. Zur Freiheit gehört es eben auch, Risiken einzugehen und alle Konsequenzen daraus selbst zu tragen.“
„Ich denke, genau hier unterscheiden wir Menschen uns. Eine Gruppe hat diesen starken Freiheitsdrang und ist bereit, dafür die Risiken einzugehen. Die andere Gruppe schätzt Stabilität und Sicherheit weitaus höher, weshalb auf Freiheiten verzichtet wird. Das eigene Wohlbefinden ist je nach diesen Grundwerten auf der einen oder anderen Seite am höchsten.“
Es entsteht eine kurze Pause. Jenna schliesst die Augen. Danach blickt sie David direkt in seine Augen und sagt:
„Jetzt bist du dran! Als baldiger Skipper und Weltumsegler hast du dir sicher auch Gedanken zu solchen Fragen gemacht.“
„Ja, klar und nicht wenige. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob es bei mir wirklich die angestrebten Werte sind. Ich habe auch Zweifel, ob ich überhaupt das Recht dazu habe, ein freies Leben zu führen.“
„Wie meinst du das?“, fragt Jenna nach.
„Ich habe mich für Astrid entschieden. Ich bin eine Verpflichtung eingegangen und damit steht mir diese Entscheidung nicht mehr offen. Auch wenn wir kinderlos geblieben sind. Du kannst mich altmodisch nennen, aber eigentlich habe ich keine freie Wahl mehr, denn meine Priorität sollte bei dem liegen, zu dem ich mich verpflichtet habe.“
„Aber Astrid begleitet dich doch. Sie hat sich für den gleichen Weg entschieden.“
„Schon. Astrid wird mich zwar begleiten, damit ich meinen Freigeist ausleben kann. Dafür bin ich ihr sehr dankbar und freue mich darauf. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es das ist, was sie wirklich möchte. Wir sind alle irgendwann erwachsen geworden und je länger wir an Bord sind, desto unfreier werden wir – es hilft alles nichts.“
„Der Weg zur Freiheit ist lang ….“, kann Jenna ihre Antwort noch beginnen.
*****
Ausgerechnet jetzt erscheint Petra. Mit einem gewinnenden Lächeln stellt sie sich vor das Sofa und fragt:
“Entschuldigung, darf ich kurz stören? David, kann ich dich ein letztes Mal etwas fragen und dir ein Dokument in deinem Büro zeigen?“
„Entschuldigst du mich bitte für einen kurzen Moment?“, fragt David und sieht Jenna an. Sie nickt.
*****
„Was ist so dringend, dass es nicht Peter am Montag regeln kann?“
„Warte ab, du wirst es gleich wissen.“
Er ist verärgert, denkt aber, dass es etwas sehr Wichtiges sein muss. Wieso nicht? Sie gehen gemeinsam in sein Büro. Petra schaut David schweigend an und geht dann aufreizend auf ihn zu. Sie beginnt die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Unter der Bluse trägt sie nichts. Sie nimmt die Hand von David und führt sie an eine ihrer Brüste. David ist völlig überrumpelt.
Es klopft an der Tür. Astrid tritt ein. Ungläubig nimmt sie die Szene wahr und schreit:
„Du elender Mistkerl!“ Astrid stürmt schluchzend aus dem Büro.
David ist fassungslos, kann nicht begreifen, was hier abläuft. Er starrt die lächelnde Petra an und stammelt:
„Was soll das?“
„Wollen wir weitermachen? Du willst es doch auch“, fragt sie arglistig.
Als David keine Antwort gibt, öffnet sie den Gurt von David und zieht am Reissverschluss der Hose. Sie zieht sein Hemd aus der Hose. Petra zieht sich zurück und mit einem verzerrten Gesicht voller Hass und Zorn sagt sie ganz ruhig:
„Ich werde dich vernichten, bis nichts mehr von dir übrig bleibt. Du sollst büssen, für das, was du angerichtet hast.“
David spürt trotz der äusserlichen Ruhe von Petra die tiefe Verachtung und die Feindseligkeit in der Stimme. Sie dreht sich um, beginnt zu schreien, zerreisst ihre Bluse, rennt aus dem Büro und ruft verzweifelt:
„Hör auf, hör auf, nicht schon wieder.“
Was ist hier los?
David schwankt zitternd mit offener Hose zur Türe hinaus und entsetzte Gesichter starren ihn an.
Er schaut hilflos in den Raum. Astrid, Jenna und Robert verlassen den Raum mit eiligen Schritten. Das Schluchzen von Astrid zerreisst fast sein Herz.
David Burri versteht gar nichts. Er kann sich keinen Reim auf das Verhalten von Petra machen.
SAR 312
12. September 2019
Im Unglück finden wir meistens die Ruhe wieder, die uns durch die Furcht vor dem Unglück geraubt wurde. Marie von Ebner-Eschenbach
Die Sonne brennt erbarmungslos auf die „Hanna“. Es ist fast windstill und von den letzten Sturmtagen ist nichts mehr zu spüren. Eine bleierne Schwere liegt in der Luft. Die Dünung lässt das Boot monoton von Luv nach Lee und wieder zurück schaukeln. Die Sturmfock hängt regungslos herunter. Im grellen Sonnenlicht ist kaum zu sehen, dass seit dem Vorabend, als die Wellen das Schiff trafen, noch immer die Positionslichter brennen und durch die Fenster und Luken der „Hanna“ die Innenbeleuchtung zu erkennen ist. Die hässliche Radarschüssel, welche für die elegante Silhouette der edlen Yacht nicht gerade förderlich ist, hängt nur noch an einer der zwei Befestigungen sowie den Kabeln und schwingt mit den Bewegungen der „Hanna“ mit.
*****
David hatte sich bei der Auswahl des Zubehörs für die Schüssel entschieden, obwohl sie durch das GPS eigentlich überflüssig ist. Das GPS gibt fortlaufend den Schiffsort auf 10 Meter genau an und das AIS zeigt die umliegenden Schiffe mit Kurs und Geschwindigkeit, nebst vielen anderen Details über mögliche Kollisionsgegner. Die Ruder-Automatik hält auf ein paar Grad genau den gewünschten Kurs.
"Was brauche ich denn da noch ein Radargerät?“, fragte David Jens.
„Auch heute ist Radar immer noch das präziseste Navigationsinstrument: Fast so gut wie die Augen. Bei Nebel sogar besser. Denn Schiffe ohne Radar sind im Nebel blind, mit Radar sind sie mindestens einäugig! Aber ein Radargerät ist nicht nur nachts oder im Nebel eine gute Navigationshilfe. So sind auch die meisten Blauwasseryachten trotz der hässlichen und störenden Radarantenne mit der Schüssel ausgestattet, in der sich die Antenne dreht. Und diese Yachten segeln ja im Normalfall nicht gerade in nebelgefährdeten Gegenden“, antwortete ihm Jens damals.
David liess sich überzeugen und gab den Auftrag, die Schüssel zu montieren.
*****
Die ganze Szenerie wirkt gespenstisch und unwirklich. Die Ruhe mutet trügerisch an. Eine Gruppe von mehr als zehn Delfinen zieht vorbei. Die Tiere interessieren sich nicht für die treibende Yacht. Bald sind sie ausser Sichtweite. Einige Gelbschnabelsturmtaucher, deren eigentümliche Rufe in den Frühlings- und Sommernächten überall widerhallen, drehen ihre Kreise über dem Schiff. Diese an Land eher plump wirkenden Vögel erweisen sich als ungemein flugfertig, wenn sie die Wellen des Ozeans streifen und dabei an ihren Fischfangtechniken feilen. Als Zugvögel legen sie problemlos weite Strecken über der See zurück.
Die Stille wird durch das laute Knattern eines SAR-Hubschraubers der maltesischen Marine gestört, der im Anflug ist. Insgesamt drei Hubschrauber des Search and Rescue Dienstes sind im Einsatz, um grossflächig nach havarierten Schiffen zu suchen. Vor zwei Tagen briste der moderate Wind zu voller Sturmstärke auf.
„Zwei sehr nasse Tage laufen wir bei 9 bis 10 Beaufort nur unter Sturmfock mit 8,5 Knoten vor dem Wind. Häufig brechen schwere Seen an und über Deck, das Cockpit ist fast ständig überflutet“, berichten zwei sichtlich verstörte, englische Segler, die von ihrem Boot gerettet werden.
Wassereinbruch, Schäden an Maschinen und Riggs sowie verletzte Personen an Bord, veranlassen die Crews, Hilfe zu rufen. Insgesamt werden bei der grossangelegten Rettungsaktion, an der sich neben SAR-Hubschraubern auch in der Nähe befindliche Frachtschiffe beteiligen, zwölf Segler von ihren Schiffen, aus Rettungsinseln und auch direkt aus der See geborgen.
Der Hubschrauber mit einer Reichweite von rund 1000 Kilometern kreist über der „Hanna“. Der Co-Pilot versucht über Funk und mit einem Megafon Kontakt aufzunehmen. Keine Antwort. Der mitfliegende Notarzt und der Sanitäter bereiten eine Bergung mit der Rettungsschlinge vor. Nur 130 kg Gesamtgewicht kann, das am maximal 75 Meter langen Bergungsseil befestigte Geschirr, verkraften. Der Pilot starrt konzentriert auf seine Anzeigen und knurrt enttäuscht:
„Wir müssen zurück zur Basis. Ich habe nur noch eine Reserve für fünf Minuten. Das reicht nicht einmal für eine Person.“
Ein Albtraum für die Helfer. Der Co-Pilot meldet die Position der „Hanna“ an seine Basis. Der Hubschrauber dreht ab und nach kurzer Zeit verschwindet er mit der Reisegeschwindigkeit von 290 km/h am Horizont.
Jenna versucht verzweifelt auf sich aufmerksam zu machen. Aber ihr fehlt die Kraft dazu. Getragen durch ihre Weste mit dem lebensrettenden Kragen liegt sie auf dem Rücken liegend im Wasser. Die Sicherheitsleine hat ihr das Leben gerettet. Seit Stunden treibt sie im Wasser. Sie erinnert sich an die Erklärungen von David während einer der Übungen zum Verhalten bei Notfällen.
„Bei einer Wassertemperatur von 10 Grad überlebst du knapp zwei Stunden, bei 15 Grad naht das Ende nach gut sechs Stunden, bei zwanzig Grad sind es bereits 16 Stunden und ab 25 Grad kannst du drei Tage oder länger überleben.“
„Was passiert, wenn ich länger im Wasser bin?“, fragte Jenna damals.
„Du bist unterkühlt und fällst in tiefe Bewusstlosigkeit. Den Tod spürst du nicht mehr.“
„So möchte ich sterben“, reagierte Jenna unerwartet.
„Zuerst geniessen wir das Leben und erst dann sterben wir. Dieser Zeitpunkt ist bestimmt noch lange entfernt“, erwiderte David lächelnd.
Jenna schätzt die momentane Wassertemperatur auf gut 20 Grad. Das beruhigt sie etwas. Trotzdem fühlt sie sich sehr müde. Eine bleierne Schwere hat sich über sie gelegt und sie kann sich kaum bewegen. Aufgeben ist aber für sie ausgeschlossen und sie sagt zu sich:
„Jenna, du schaffst das. Du hast drei Jahre lang in Kriegsgebieten überlebt, hast so manche schwierige Situation gemeistert, um am Schluss elend im Wasser treibend zu verrecken. Nein, nein und nochmals nein.“
Die Augenlider von David zittern. Langsam versucht er die Augen zu öffnen, um sie gleich wieder zu schliessen. Er erträgt das gleissende Sonnenlicht nicht, das durch eine der Dachluken direkt in sein Gesicht scheint. Erst als sich vorbeiziehende Wolken für kurze Zeit vor die Sonne schieben, wagt er einen neuen Versuch. Was er erblickt, gefällt ihm gar nicht. In seinem Blickfeld nimmt er ein unglaubliches Tohuwabohu wahr. Er hasst Unordnung, aber im Moment hat er andere Sorgen, die ihm bedeutend wichtiger erscheinen. Er liegt verkrümmt auf dem Boden und versucht aufzustehen. Ein stechender Schmerz hält ihn davon ab. Er versucht es noch einmal. Unsicher steht er da und klammert sich an der Lehne des Fernsehstuhls fest. Ihm wird schwindlig und er merkt, dass er sich übergeben muss. Er versucht, tief ein- und auszuatmen.
Das verschlimmert den Schmerz noch mehr. Er geht in die Knie und das Unheil nimmt seinen Lauf. Erst jetzt realisiert David die katastrophale Situation in der ganzen Dimension und denkt als erstes an Jenna.
„Jennnnaaa. Bist du da?“, ruft David laut.
Keine Antwort. Nichts. Er geht zum Treppenaufgang der Kajüte und nur unter fast unerträglichen Schmerzen kämpft er sich ins Cockpit der „Hanna. Er sucht das Wasser nach Jenna ab und sieht nichts als die Weite der See. Als das Schiff in der Dünung schaukelt, verliert er das Gleichgewicht und prallt mit dem Oberkörper an die Steuersäule. Er schreit laut auf. Eine abgrundtiefe Hilflosigkeit legt sich über ihn und leise und von Schmerz erfüllt denkt er:
„Ich habe sie verloren. Für immer. Wieso nur bin ich mitten in einem Sturm in die Kajüte gegangen. Ich bin schuld an ihrem Tod.“ Tränen laufen über sein Gesicht und er schreit:
„Neiiiin!“
Jenna erwacht aus ihrer Lethargie und fragt sich, ob sie halluziniert. Werde ich bald sterben? Nein, ich bin sicher, ich habe einen Schrei gehört. Hoffnung keimt in ihr auf. Da ist es wieder!
„Neiiiin. Neiiiin. Bitte nicht Jenna!“, hört sie erneut den Ruf.
Ihre Euphorie ist nicht mehr zu bremsen. Sie überlegt fieberhaft, wie sie sich bemerkbar machen kann. Sie kann sich erinnern, dass in einer kleinen Tasche der Rettungsweste eine Pfeife an einer Kordel steckt, die genau für solche Fälle vorgesehen ist. Nach mehreren Versuchen ertastet sie die Pfeife. Mehrmals scheitert sie, der Pfeife einen Ton zu entlocken. Sie ist zu schwach. Sie muss sich Zeit nehmen, um sich wieder zu erholen. Bei ihrem nächsten Versuch klappt es. Fünf Sekunden lang ist der schrille Pfeifton zu hören. Beflügelt davon versucht sie es das dritte Mal. Es ist nicht mehr nötig, weil sie David erblickt, der im Cockpit steht, sich gekrümmt an die Steuersäule klammert und fassungslos zu ihr schaut. Jenna wird von einer unbeschreiblichen Welle der Erleichterung und Freude überrollt.
David ruft Jenna zu: „Bist du verletzt?“ Geht es dir gut?“
Sie nickt und schaut ihn an, ohne ein Wort über die vom Salzwasser gesprungenen und verkrusteten Lippen zu bringen. Die Kehle ist trocken und fühlt sich an wie bei einer schweren Angina.
*****
David schleppt sich in den hinteren Teil des Cockpits. An der Steuersäule drückt er auf einen Knopf. Mit gelber Schrift steht darauf „Plattform“. Jetzt sollte sich die Badeplattform am Heck der „Hanna“ senken und den Niedergang freigeben. Nichts passiert. David drückt noch einmal mit ganzer Kraft auf den Knopf und wartet. Immer noch nichts. Wütend haut er die Faust auf die Steuersäule. Die Schmerzen rauben ihm fast den Verstand. Vorsichtig drückt er noch einmal auf den Schalter.
„Bitte, komm schon. Du hast immer funktioniert!“
Ohne Verzögerung setzt ein Surren ein und die Plattform senkt sich langsam, bis sie wenige Zentimeter über dem Wasser hörbar einrastet. Was für ein unsagbar schönes Geräusch. Eine enge Treppe mit einem Handlauf führt vom erhöhten Mittelcockpit auf die Badeplattform. David überlegt, wie er am besten vorgehen soll. Er sieht die gespannten Lifelines, die an einer Öse im Cockpit eingeklickt sind. Mit den Schmerzen, die er hat, kann er Jenna unmöglich mit reiner Muskelkraft an die Badeplattform ziehen. Jenna liegt nicht weit von der „Hanna“. Das ist auch der Grund, wieso er sie vom hochgelegenen Mittelcockpit nicht sehen konnte. Er steigt zurück ins Cockpit. Er