Geliebter des Mondes - J. R. Ward - E-Book

Geliebter des Mondes E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Seit Jahrhunderten lebt Vampirkrieger Sahvage im Verborgenen, und wenn es nach ihm ginge, könnte es auch für die nächsten paar Hundert Jahre so bleiben. Doch dann verliebt er sich in die schönen Mae, die sich unfreiwillig mit der neuen Erzfeindin der Bruderschaft der BLACK DAGGER eingelassen hat. Sahvage schließt sich erneut den Brüdern an, doch während diese ums Überleben kämpfen, kämpft er um seine große Liebe ...

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Seitenzahl: 797

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Das Buch

Vampirkrieger Sahvage ist ein Verstoßener. Als Schwarzmagier von der Bruderschaft der BLACK DAGGER geächtet, streift er seit Jahrhunderten unerkannt durchs Land und hält sich mit illegalen Faustkämpfen über Wasser. Bei einem dieser Kämpfe begegnet er Mae und verliebt sich Hals über Kopf sich in die schöne Vampirin. Zunächst ahnt Sahvage nicht, dass Mae sich mit dunklen Mächten eingelassen hat, um ihren Bruder zu retten, und als er endlich davon erfährt, schwebt Mae bereits in tödlicher Gefahr. Um die Kräfte des Bösen zu besiegen, braucht Sahvage die Unterstützung der Bruderschaft, doch werden ihm die BLACK DAGGER jemals wieder genug vertrauen, um ihm und seiner großen Liebe zu helfen?

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J. R. Ward

GELIEBTER DES MONDES

Ein Black dagger-Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

LOVER UNVEILED

Aus dem Amerikanischen von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2022 

Redaktion: Anneliese Schmidt

Copyright © 2021 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Dirk Schulz, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28788-7V002

www.heyne.de

Gewidmet:

Euch beiden.

Reisende, endlich am Ziel.

Willkommen daheim.

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die Leser der BLACK DAGGER! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Hannah Braaten, Andrew Nguyen, Jennifer Bergstrom und der gesamten Gallery- und Simon-&-Schuster-Familie.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Alles, was ich tue, mache ich aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich! Und an Archiball!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters (üblicherweise der älteste Mann des Haushalts). Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge sorgfältiger Auswahl der Fortpflanzungspartner besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Fahrzeugs oder zum Abhandenkommen des selbigen führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngster Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von immenser Größe und sexueller Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Schuldigen entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies der Vampire, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sie sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber vollkommen ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

Trade Street Ecke 30th,

Innenstadt von Caldwell, New York

Eine Dreiviertelstunde bevor er ermordet wurde, war Ralphie DeMellio auf dem Höhepunkt seines Daseins.

»Mach ihn fertig«, feuerte ihn sein Kumpel an und klopfte ihm aufmunternd auf die nackte Schulter. »Den hast du in null Komma nichts erledigt, du bist ein Monster, Ralphie, ein gottverdammtes Monster!«

Ralphie und seine Crew befanden sich im sechsten Stock einer Parkgarage. Oldsmobiles oder Lincolns suchte man hier vergeblich, dafür war alles komplett zugemüllt und voller Öllachen. Das verlassene Gebäude war nichts als ein leerer Betonklotz, ein Schrank ohne Inhalt, und in diesem Viertel von Caldie hatte kein Bauwerk, das man sich selbst überließ, allzu lange Bestand. Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in der Faustkampfarena des BKC. Bare Knuckle Conquests war der einzige rechtmäßige Untergrund-Kampfverbund im südlichen Staat New York, und der bevorstehende Boxkampf war der Grund, weshalb er, seine Kumpels und ungefähr fünfhundert faustkampfverrückte Insta-Famer heute Abend hier zusammengekommen waren.

Noch mehr Selfies mit ihm im Hintergrund, und man hätte der Schlange vor der Führerscheinausgabestelle Konkurrenz machen können.

BKC war die ganz große Nummer, und Ralphie, amtierender Champion, machte einen Mordsreibach – vorausgesetzt, keiner von diesen Vollpfosten kam auf die blödsinnige Idee, über GPS ihren Standort zu verraten. Und mal ehrlich, die Chancen dafür standen nicht schlecht.

»Wo ist mein Koks?«

Er hielt die Hand auf, und jemand drückte ihm eine braune Ampulle in die Hand, als handle es sich um ein Operationsbesteck. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog er sich das Zeug in einem Rutsch rein. Während er sich also rund zwei Kilo Schnee tief in die Nebenhöhlen jagte, sprangen ihm fast die Augen aus dem Schädel. Am anderen Ende des Parkdecks, jenseits des Gedränges, standen Horden von hibbeligen Typen herum, vollgepumpt mit allen möglichen Substanzen, und platzierten ihre Wetten bei den von den Organisatoren gestellten Buchmachern. Es lagen nur noch drei Runden Einsatz blanker Knöchel zwischen jetzt und dem geplanten Mord.

Ralphie war dafür der perfekte Kandidat.

Er hatte noch nie einen Kampf verloren, und dabei war er alles andere als ein Muskelprotz und rauchte außerdem Unmengen Gras. Aber das Ding war Folgendes: Diese Türstehertypen mit ihren Oberarmen wie Felsbrocken und den schmalen Taillen beeindruckten nur so lange, wie sie stillstanden. Sobald sie sich bewegten, fehlte es ihnen an Balance, an Wendigkeit, und sie zogen durch, als würden sie schielen. Solange Ralphie um sie herumschwirrte wie eine Fliege um einen Haufen Scheiße, hatten sie keine Chance, ihn zu erwischen, während seine Rechte vollen Einsatz leistete.

»Du packst das, Ralphie! Du packst das, verdammt!«

»Ja, genau, Ralphie, du bist der Champ!«

Seine Crew bestand aus fünf Typen, alle aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Sie waren zusammen aufgewachsen und außerdem alle über ein paar Ecken verwandt. Ihre Familien hatten vor mehreren Generationen gemeinsam das Schiff bestiegen und in Ellis Island angelegt, und sie alle hatten sich dann aus Hell’s Kitchen verkrümelt, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Little Italy in Caldie unterschied sich nicht wesentlich von dem gleichnamigen Viertel in Manhattan, und wie sein Vater gern sagte: Trau keinem, den du nicht kennst, und schließ mit niemandem Freundschaft, dessen Zuhause du nicht zu Fuß erreichen kannst.

Aber es gab noch ein Mitglied im Team Ralphie.

»Wo steckt sie, verdammt.« Ralphie sah sich um. »Wo zur Hölle ist …«

Chelle stand vor dem Mercedes-Geländewagen und posierte wie ein Pirelli-Model, die Ellbogen lässig auf die Motorhaube gestützt, einen Schuhabsatz auf der Radkappe. Sie hatte den Kopf so tief in den Nacken gelegt, dass die lila Spitzen ihrer ansonsten rabenschwarzen Haare die Metalllackierung streiften. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, während sie nach oben ins Leere blickte. Die Nacht war kühl, typisch für den April in diesen Breitengraden, aber das scherte sie einen Dreck. Sie trug trotzdem nur ein knappes Bustier, und auch ihre untere Hälfte war nicht wesentlich dicker eingepackt.

Sie war der helle Wahnsinn, fand Ralphie. Die Tattoos an ihren Oberschenkeln spitzten neckisch unter dem Rocksaum hervor. Genauso wie die an den Wölbungen ihrer Brüste. Und die am linken Arm.

Sie hatte sich immer stur geweigert, sich seine Initialen stechen zu lassen. So war sie nun mal, eine Frau, die wusste, was sie wollte.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte Chelle den Kopf jetzt in seine Richtung. Und fuhr sich mit der Spitze ihrer Zunge neckisch über die Oberlippe.

Ralphies Hand wanderte zum Hosenschlitz seiner Jeans. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau, die man mit nach Hause brachte und stolz der eigenen Mutter vorstellte, was zu Beginn ihrer Beziehung der Hauptgrund war, warum er mit ihr in die Kiste stieg. Aber das Mädchen hatte Grips, besaß sogar einen eigenen Haarsalon. Sie dachte nicht daran, sein Handy zu checken. Es interessierte sie nicht die Bohne, wenn er mit den Jungs bis in die Puppen um die Häuser zog. Sie war finanziell unabhängig, bat ihn nie auch nur um einen müden Cent, und sie konnte sich die Typen aussuchen, hatte Möglichkeiten, verflucht viele Möglichkeiten.

Die Kerle waren verrückt nach ihr.

Aber sie war mit ihm zusammen. Und obwohl sie es jederzeit gekonnt hätte, kam sie nie auf die Idee, einen von seiner Crew anzugraben. Sie war keine, die sich herumreichen ließ. Und falls sich jemand an ihr vergreifen sollte, wäre derjenige nur einen Fausthieb von einer Zahnprothese entfernt.

Scheiße, ja, nach einem Jahr Beziehung fuhr Ralphie immer noch total auf sie ab.

So sehr, dass es ihm mittlerweile piepegal war, was die anderen dachten. Nicht mal die Meinung seiner eigenen Mutter, einer konservativen Italienerin, die noch richtig was auf Tradition hielt, war ihm wichtig. Wenn es nach ihm ginge, war Chelle eine Frau zum Heiraten, und das war alles, was zählte.

»… zeig’s diesem Mistkerl, Ralphie …«

Um der elenden Arschkriecherei den Riegel vorzuschieben, platzierte Ralphie seine Hand auf dem Brustbein des Jungen und schob ihn unsanft beiseite. »Gib mir ’ne Minute.«

Seine Crew raffte sofort, was los war, denn ohne Zögern drehten sie sich zu den Zuschauern um und bauten sich in geschlossener Formation auf, Schulter an Schulter.

Auch Chelle war nicht auf den Kopf gefallen und wusste sofort, wonach ihm der Sinn stand. Und nicht nur das, ihr schien es ähnlich zu gehen.

Der Mercedes war mit dem Heck zur Wand hin geparkt, zwischen hinterer Stoßstange und nackter Betonmauer war noch reichlich Platz. Chelle umrundete den Wagen und warf sich in Pose, gegen die Heckklappe des Benz gelehnt, den Kopf weit nach hinten gelegt. Mit ihren hochhackigen Pumps war sie fast so groß wie Ralphie, und während sich ihre Brüste unter dem Spitzenrand des Bustiers strafften, senkte sie die Lider und sah ihm direkt in die Augen.

Ralphies Herz raste, doch das Lächeln, das sich nun auf seine Lippen stahl, während er ihr seine Hände um die schmalen Hüften schob, war unendlich träge. »Soll ich’s dir besorgen, Süße?«

»Worauf wartest du.«

Hastig riss Ralphie am Reißverschluss seiner Hose. Dabei bedeckte er ihren Hals mit gierigen Küssen. Sicher würde sie nicht wollen, dass er ihr den sorgfältig aufgetragenen Lippenstift verschmierte. Dafür bliebe später noch Zeit, nachdem er seinem heutigen Herausforderer eine satte Abreibung verpasst hatte.

Der Sex war einfach nur heiß. Der Adrenalinrausch vor dem Kampf, das Koks, Chelle, der neue Geländewagen, den er sich von seinem Anteil an den Einnahmen des BKC mit links leisten konnte, das alles durchströmte seine Adern wie die pure, flüssige Macht. Er war ein ganzer Kerl. Er war ein Monster. Er war …

Tja, er war eben auch ziemlich abgelenkt. So sehr, dass er gar nicht bemerkte, wie sie von einer Gestalt etwa sechs Meter entfernt aus dem Schatten heraus beobachtet wurden.

Hätte Ralphie es mitbekommen, hätte er Hals über Kopf seine große Liebe und seine Jungs in den Wagen gepackt und Vollgas gegeben, um nichts wie fortzukommen von hier.

Doch das Schicksal funktionierte leider anders, meistens lief es nach dem Need-to-know-Prinzip.

Und manchmal war es ohnehin das Beste, wenn man nichts ahnte von den unvermeidlichen Ereignissen, die einen selbst betrafen.

Denn das wäre verdammt noch mal viel zu verstörend.

2464 Crandall Avenue,

elf Meilen vom Stadtzentrum entfernt

Mae, Blutschwester von Sturt, Blutschwester von Rhoger, zog ihren Mantel über und sah sich nach ihrer Handtasche um. Das kleine Häuschen bot nicht allzu viele Versteckmöglichkeiten, sodass sie sie nach kurzer Suche fand – inklusive ihrer Schlüssel, jippie. Sie lagen auf der Waschmaschine gleich neben der Tür zur Garage. Aber klar doch. Gestern Abend hatte sie die Sachen hereingebracht, da war sie ihr wegen der vielen Tüten, die sie auf einmal schleppte, ausgekommen. Dabei war das Portemonnaie herausgefallen und auf dem Fliesenboden gelandet. Mit letzter Kraft hatte sie sich danach gebückt. Die billige Michael-Kors-Kopie an die Garderobe zu hängen, war ihr einfach zu viel gewesen. Deshalb hatte sie die Sachen kurzerhand auf der Waschmaschine abgelegt.

Jetzt griff sie sich das Täschchen und stellte zufrieden fest, dass der abgerissene Träger, den sie notdürftig mit einer Sicherheitsnadel befestigt hatte, zu halten schien. Jep. Immer noch einsatzbereit. Klar hätte sie auch in den nächsten TK Maxx marschieren und eine neue besorgen können, aber für so was hatte sie gerade keine Zeit. Außerdem, in ihrer Familie hatte man sich immer schon an dem Motto »nichts wollen, nichts verschwenden« orientiert.

Damals, als ihre Eltern noch am Leben gewesen waren.

»Das Handy. Wo ist mein …«

Sie ertastete ihr iPhone 6 in der Gesäßtasche ihrer Jeans. Als Letztes überprüfte sie, ob die Dose Pfefferspray, die sie immer bei sich trug, an ihrem Platz war.

An der Hintertür blieb sie kurz stehen und lauschte in die Stille hinein.

»Bin gleich wieder da«, rief sie. Schweigen. »Ich beeile mich.«

Das Schweigen zog sich in die Länge.

Als sie sich eingestehen musste, dass es sinnlos war, öffnete sie die Tür und schlüpfte mit hängendem Kopf hinaus in die Garage. Die Stahltür fiel krachend hinter ihr ins Schloss, und sie sperrte die Kupferverriegelung mit dem Schlüssel ab und drückte auf den Öffner für das Garagentor. Das Deckenlicht sprang an, und vor ihr präsentierte sich zentimeterweise die feuchtkalte Nacht, während die Lamellen des Rolltors in den Schienen hochfuhren.

Ihr Auto hatte schon acht Jahre auf dem Buckel, ein Honda Civic, dessen Lackierung sie farblich an eine Winterwolke erinnerte. Beim Einsteigen nahm sie einen Hauch von Motoröl wahr. Wäre sie ein Mensch und keine Vampirin gewesen, wäre es ihr vermutlich gar nicht aufgefallen, aber der Geruch war eindeutig da. Auch was er zu bedeuten hatte, war ihr sofort klar.

Großartig. Bitte noch mehr gute Neuigkeiten.

Sie legte den Gang ein, trat aufs Gaspedal und rollte hinaus in die Einfahrt. Ihr Vater hatte ihr immer eingeschärft, sie solle stets rückwärts in die Garage fahren, damit sie im Notfall möglichst schnell fliehen konnte. Falls es mal brannte, zum Beispiel. Oder im Falle eines Lesser-Angriffs.

Oh, welch traurige Ironie.

Sie sah in den Rückspiegel und wartete ab, bis sich das Garagentor vollständig geschlossen hatte. Dann bog sie nach rechts auf die Straße ein und brauste davon. Die Menschen in den Nachbarhäusern begaben sich allmählich zur nächtlichen Ruhe, um bis Sonnenaufgang für einen weiteren Arbeits- oder Schultag neu aufzutanken. Sicher, normal war es nicht, wenn man in nächster Nähe einer anderen Spezies lebte, aber Mae hatte es nie anders gekannt.

Und genau wie die Schönheit war das Seltsame relativ.

Der Northway war eine sechsspurige Umgehungsstraße, die direkt ins Herz der Innenstadt von Caldwell führte, und erst als sie darauf fuhr und ihre konstanten hundert Stundenkilometer hielt, kramte sie ihr Handy hervor und tätigte den Anruf. Sie stellte das Gerät auf Lautsprecher und legte es sich auf den Schoß. Ihre alte Karre hatte kein Bluetooth, und auf gar keinen Fall würde sie riskieren, angehalten zu werden, weil sie es am Steuer in der Hand hielt …

»Hallo? Mae?«, ertönte die schwache, brüchige Stimme. »Bist du schon unterwegs?«

»Bin ich.«

»Ich wünschte, dir bliebe das alles erspart.«

»Schon gut. Ich krieg das schon hin.«

Die Lüge tat weh, und wie. Aber was hätte sie sonst sagen sollen?

Sie hielten die Verbindung aufrecht, obwohl sie nichts weiter zu bereden hatten. Mae sah die alte Vampirin förmlich vor sich, in ihrem bestickten Morgenmantel, mit rosa Pantoffeln an den Füßen, wie Lucille Ball sie in den Fünfzigern getragen hätte. Doch Tallah konnte sich kaum mehr allein fortbewegen, nicht einmal mit Stock. Auf gar keinen Fall war sie gerüstet für das, was ihnen bevorstand.

Zur Hölle, Mae war sich ja noch nicht mal sicher, ob sie selbst es packen würde.

»Du weißt, was zu tun ist?«, fragte Tallah. »Und du rufst mich an, sobald du wieder im Auto sitzt?«

Gott, diese Stimme, sie klang so unendlich schwach.

»Ja. Versprochen.«

»Ich liebe dich, Mae. Du schaffst das.«

Nein, tu ich nicht. »Ich liebe dich auch.«

Nachdem Mae aufgelegt hatte, rieb sie sich die brennenden Augen. Doch jetzt musste sie sich auf die Ausfahrt konzentrieren. Welche war es gleich noch mal? Fourth Street? Market? Sie wurde nervös, aus Panik, sie könnte die richtige verpassen, und fuhr dann letzten Endes viel zu früh vom Highway ab. Nach einem unnötigen Umweg durch ein wirres Geflecht aus Einbahnstraßen gelangte sie schließlich zur Trade Street und hielt sich darauf, über eine Reihe von kreuzenden Avenues mit Nummern zwischen zehn und weit über zwanzig.

Etwa ab der dreißigsten purzelten die Immobilienpreise nach und nach ins Bodenlose, bis da nur noch mit Brettern vernagelte, baufällige Bürogebäude und leer stehende Restaurants und kommerzielle Einheiten waren. Die einzigen anderen Fahrzeuge waren entweder auf der Durchreise oder komplett ausgeschlachtete Wracks. Die aufgerissenen Gehsteige waren mit Müll übersät, und Fußgänger suchte man hier vergebens, was nicht allein an der ungastlichen Aprilwitterung hier in Upstate New York lag.

Als sie jetzt den ersten von mehreren überfüllten Parkplätzen erreichte, meldeten sich bei ihr doch leise Zweifel an ihrem Vorhaben.

Scheiße, vor allem wenn sie sich die Schlitten ansah, die hier parkten – denn für ganz normale Limousinen und Kombis schien hier kein Platz zu sein: Sie waren entweder grell neonfarben oder schwarz lackiert und sahen mit ihren windschnittigen Karosserien und den gerundeten Stoßstangen aus wie aus einem futuristischen Anime.

Sie hatte den richtigen Ort gefunden …

Wobei, das nahm sie zurück. Sie gehörte nicht hierher, es war also nichts richtig daran. Aber trotzdem war sie am Ziel.

Mae bog auf den dritten Parkplatz ab. Innerhalb des einen Block großen, von Maschendrahtzaun begrenzten Areals musste sie dann allerdings bis ganz ans Ende in die hinterste Reihe fahren, um einen Parkplatz zu ergattern. Während sie an den endlosen Fahrzeugkolonnen vorbeirollte, wurde sie immer wieder entgeistert angestarrt, von Menschen, die perfekt zu den ausgefallenen Dragstern passten, allesamt Lookalikes von Jake Paul und Tana Mongeau. Sie fühlte sich wie die brave Bibliothekarin, die sich auf einen ausgelassenen Rave verirrt hatte.

Es stimmte sie traurig, wenn auch nicht deshalb, weil die Meinung von ein paar lächerlichen Menschen sie gekümmert hätte.

Nein, die Tatsache, dass sie überhaupt etwas über menschliche Influencer wusste, hatte sie Rhoger zu verdanken. Und diese Tür zur Erinnerung an ihr Leben früher musste sie schleunigst schließen. Wenn sie jetzt wieder in dieses schwarze Loch fiel, war das zum aktuellen Zeitpunkt alles andere als hilfreich.

Sie stieg aus und sperrte die Tür von Hand ab, weil die automatische Verriegelung nicht funktionierte, die Batterien waren leer. Die Handtasche fest unter die Achsel geklemmt, den Kopf tief gesenkt, lief sie an den Leuten vorbei, ohne jemandem in die Augen zu sehen. Allerdings spürte sie die neugierigen Blicke, die sich in sie bohrten. Das Ironische war, dass diese Menschen sie nicht anstarrten, weil sie eine Vampirin war, oh nein. Es waren eindeutig ihre schlichte Jeans und der SUNY-Caldie-Sweater, die diesen Gucci-verwöhnten Gören missfielen.

Sie war sich zunächst unschlüssig, wohin sie gehen sollte, doch dann sah sie, wie sich vereinzelte Leute in einen Strom von Menschen einreihten. Die Menge hielt auf eine Parkgarage zu. Sie mischte sich ebenfalls unter die Horde von gut aussehenden, sexy Mittzwanzigern und streckte sich, um zu sehen, was vor ihnen abging. Der Eingang zu dem mehrstöckigen grauen Betonklotz war verbarrikadiert, aber dann bemerkte sie die Schlange, die sich vor einer kleineren Tür seitlich davon gebildet hatte.

Mae stellte sich brav hinten an, blieb aber auf Abstand zu den anderen Wartenden. Es waren bestimmt zehn bis fünfzehn Meter bis zum Einlass, und es ging quälend zäh voran. Zwei Typen mit der Statur von Sattelzügen standen ganz vorne und gewährten den glücklichen Auserwählten jeweils mit einem knappen Knurren Einlass – denn es waren tatsächlich nicht wenige, die wortlos abgewiesen wurden. Es erschloss sich ihr nicht gleich auf Anhieb, nach welchen Kriterien die beiden vorgingen, aber Mae war felsenfest überzeugt, dass sie selbst in die Kategorie »Sorry, Fehlanzeige« fallen würde.

»Hast du dich verirrt, oder wie?«

Die Sprecherin musste ihre Frage wiederholen, bevor Mae begriff, dass sie gemeint war. Als sie sich zu der Stimme umdrehte, stand sie zwei Mädchen – obwohl, eigentlich eher Frauen – gegenüber, die ungefähr so beeindruckt von Maes Erscheinungsbild zu sein schienen wie die Türsteher nachher, wenn sie sie eiskalt abwiesen.

»Nein, ich habe mich nicht verirrt.«

Die junge Frau rechts, die ein Tattoo direkt unter dem Auge hatte, den Schriftzug »Dady’s Girl« in kursiven Buchstaben, beugte sich auf sie zu. »Oh doch, ich bin ganz sicher, du musst dich verdammt noch mal verlaufen haben.«

Ihre Pupillen waren so stark geweitet, dass ihre Iris kaum mehr zu erkennen war, und ihre Augenbrauen waren zu einer so feinen Linie gezupft, dass sie aussahen wie Draht – nein, halt, sie waren ja auch tätowiert. Dazu falsche Wimpern mit kleinen pinkfarbenen Perlen an den Enden, passend zu ihrem pink-schwarzen Outfit, das mehr Karnevalskostüm als Kleidung war, und sie hatte Piercings an Stellen, dass Mae für sie hoffte, sie möge sich so schnell keinen Schnupfen oder eine Lebensmittelvergiftung einfangen.

Und nur so am Rande: Man fragte sich schon, ob das fehlende »d« in »Dady« Absicht war, oder ob das Meisterwerk buchstabenweise hatte bezahlt werden müssen und jemandem das nötige Kleingeld ausgegangen war.

»Nein, habe ich nicht«, entgegnete Mae wieder.

Die Frau trat einen Schritt auf sie zu, die Brüste stolz gereckt wie Barbarella, auch wenn sie vermutlich keinen Schimmer hatte, wer Jane Fonda war, geschweige denn, was für ein Star die Schauspielerin in den Sechzigern gewesen war. »Du solltest dich schleunigst vom Acker machen.«

Mae senkte den Blick auf die Risse im Asphalt. Unkraut hatte sich durch die Ritzen gezwängt, auch wenn es wegen der winterlichen Witterung momentan komplett vertrocknet war.

»Nein, werde ich nicht.«

Die junge Frau neben Maes Kontrahentin zündete sich jetzt eine Zigarette an und warf ihr einen gelangweilten Blick zu. Als würden sich solche Szenen ständig abspielen, und die dramatischen Auftritte ihrer Freundin hätten längst ihren Reiz verloren.

»Du verpisst dich jetzt, kapiert?«

Dady’s Girl rammte Mae beide Handflächen gegen die Schultern, und zwar mit solcher Wucht, dass sie nach hinten taumelte und mit dem Hintern unsanft auf dem harten Boden landete. Das einzig Gute war, dass der kaputte Träger ihrer Handtasche bombenfest hielt und nichts rausgefallen war. Während Maes Gehirnkapazität fast komplett von ungläubigem Staunen in Anspruch genommen wurde, hob sie langsam den Blick.

Dady’s Girl sah verächtlich auf ihr Opfer herab und gab die triumphierende Superheldin: die Hände seitlich in die Hüften gestemmt, die gefährlich hohen Absätze breitbeinig aufgepflanzt, und hinter ihr wehte der unsichtbare Umhang ihrer sadistischen Genugtuung. Sie genoss es sichtlich, andere zu erniedrigen.

Nach und nach drehten sich immer mehr Köpfe nach ihnen um, doch keiner dachte daran, Mae aufzuhelfen. Aber es wirkte auch niemand sonderlich beeindruckt von Dady’s Girl, abgesehen von dieser selbst.

Mae stemmte sich mit der flachen Hand vom Boden ab und kämpfte sich hoch, bis sie wieder aufrecht stand. Aber bei ihrer Körpergröße nahm sie im Vergleich zu GLOW-Girl in der Welt des Wrestling allenfalls den Status des Underdog ein.

»Hau ab«, fauchte die Frau. »Du hast hier nichts verloren.«

Wieder schossen ihre Hände nach vorn und trafen Mae an exakt den gleichen Stellen wie vorhin. Es war wie ein gezielt platzierter, geübter Schuss, eine Fähigkeit, in der sich ihre Kontrahentin offensichtlich durch fleißiges Üben fit hielt. Doch auch Mae hatte ihre Lektion gelernt. Während sie abermals mit rudernden Armen nach hinten taumelte und dabei einen kippeligen Stepptanz hinlegte, zeigte sich, dass ihr Körper diesmal besser auf den Gleichgewichtsverlust vorbereitet war. Für einen kurzen Moment war sie völlig benommen. Sie spürte nichts mehr, nicht den Verlust der Balance, nicht den erzeugten Wind, der ihr die Haare verwehte, nicht die kühle Luft, die sie vor Schreck in ihre Lunge sog.

Sie war selbst überrascht, dass sie sich so elegant fing.

Dady’s Girl aber ließ ihr keine Sekunde zum Durchschnaufen. Die Frau stürzte auf sie zu, Kopf voraus und den Oberkörper tief gesenkt wie ein Linebacker beim Tackle …

Maes Arm schnellte wie von allein hoch, stark wie ein Ast, sodass die Menschentussi ungebremst mit der Kehle in ihre offene Hand lief. Beim ersten Körperkontakt schlossen sich Maes Finger darum.

Zeit für die Retourkutsche.

Mae marschierte los und beförderte die Gegnerin vom Gehsteig hinunter auf die Straße. Und weil Dady’s Girl ganz klar Schwierigkeiten mit dem Rückwärtsgang hatte und mit ihren spitzen Absätzen am Asphalt hängen blieb, half Mae nach, indem sie sie an der Gurgel hochhob, bis die hübschen langen Beine der anderen hilflos in der Luft baumelten. Verzweifelt krallte sie Mae ihre langen, mit Steinchen und Schnörkeln verzierten Fingernägel in die Hand, die ihr gnadenlos die Luft abdrückte. Aber Pustekuchen. Sie brachen nacheinander ab, ohne etwas auszurichten, und sprangen davon, als wollten sie fliehen.

So vehement die andere sich wehrte, Mae ließ nicht von ihr ab.

Die Parkgarage bestand aus bombenfestem Stahlbeton – was ihr die perfekte Hilfestellung bot. Als Mae die andere jetzt mit voller Wucht gegen die Betonmauer rammte, geriet als Erstes ihre komische Verkleidung durcheinander, und es presste ihr die Luft aus der Lunge. Entsetzt weiteten sich die Augen mit den perlenbesetzten Wimpern.

Doch Mae war noch lange nicht fertig mit ihr.

Sie legte der anderen die Linke auf das Brustbein und übte zunehmend Druck auf ihre Rippen aus … der sich auf die Lunge übertrug … und schließlich auf das wild klopfende Herz innerhalb seines Knochenkäfigs mit den Gitterstäben aus Kalzium und Kollagen.

Die Augen der Menschenfrau traten aus ihren Höhlen. Die Halsschlagader fing an zu flackern. Ihr ehemals rosiger Teint nahm eine aschfahle Färbung an wie Scheunenbretter.

Leise drohend knurrte Mae: »Du hast mir gar nichts zu sagen. Kapiert?«

Dady’s Girl nickte schnell, als hinge ihr Leben davon ab. Was ja absolut der Wahrheit entsprach.

Die Warteschlange hatte sich mittlerweile zu einem Hufeisen um sie herum formiert. Es wurde aufgeregt getuschelt.

»Verfluchte Scheiße, ihr kennt doch alle die Regeln, so läuft das nicht!«

Einzelne Gaffer wurden zur Seite weggeschleudert wie Plüschtiere, als einer der Türsteher sich nach vorne durchkämpfte. Und als Mae den Blick von Dady’s Girl löste und ihn verächtlich musterte, blieb er verdattert stehen und blinzelte, als traute er seinen Augen nicht.

Er glotzte sie an wie eine harmlose Topfpflanze, die sich überraschend als Cannabisgewächs entpuppt hatte.

Oder als ein Tier mit einer Vorliebe für Menschenfleisch.

»Meine Damen«, fragte er in verwundertem Tonfall. »Was zum Henker soll das werden?«

Mae beschloss, sich den Kerl mit seiner groben Behandlung der Umstehenden zum Vorbild zu nehmen. Ohne Vorwarnung ließ sie Dady’s Girl los, sodass sie zu Boden fiel wie eine leere Chipstüte. Sie zupfte ihren Sweater zurecht und strich ihre Jacke glatt.

Trotzig sah sie zu dem Türsteher auf. »Ich will den Reverend sehen.«

Wieder blinzelte der Mann irritiert. Dann senkte er die Stimme und fragte: »Woher haben Sie diesen Namen.«

Mae brachte ihre Tasche vor den Oberkörper und legte schützend die Arme davor – dabei ging die Chance, dass sie beklaut wurde, gerade stark gegen null. Als Nächstes schob sie sich so dicht vor den Kerl, dass ihr sein stinkender Schweiß in die Nase stieg, genauso wie das fast komplett verflogene Rasierwasser und das Gel, mit dem er sein Haar in Form gebracht hatte.

Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und sprach ebenfalls leiser. »Das geht dich einen Scheißdreck an. Und jetzt Schluss mit der Diskussion. Du bringst mich auf der Stelle zu ihm.«

Noch ein Blinzeln. Und dann: »Sorry, aber das geht nicht.«

»Falsche Antwort«, presste Mae wütend hervor. »Vielleicht versuchst du es noch mal.«

Das Commodore, Luxuswohnen vom Feinsten,

Innenstadt von Caldwell

Balthazar, Sohn des Hanst, trug Schuhe so weich wie die Ohren eines Lämmchens. Er war von Kopf bis Fuß in hautenge schwarze Klamotten gehüllt. Seine Haare und der Großteil seines Gesichts waren unter einer eng anliegenden Haube verborgen. Er hatte ein Paar Handschuhe übergestreift.

Nicht dass Vampire sich wegen Fingerabdrücken Gedanken machen mussten.

Er wurde sämtlichen Mythen, die über seine Spezies in Sachen Lautlosigkeit und unbemerktes Anschleichen kursierten, gerecht – zumindest denen, die die Menschen sich ausgedacht hatten. Und doch war er ein Schatten unter den Schatten, glitt wie ein leises Flüstern durch die weitläufigen Räume der größten Wohneinheit im Commodore, wo er sämtliche im gedimmten Licht ausgestellten Wertgegenstände katalogisierte.

Diese krasse Bude, die sich über drei Stockwerke zog, war so eine Art Museum. Ein feuchter Traum für alle Fans von American Horror Story.

Als er um eine weitere Ecke bog und noch einen Raum voll mit thematisch sortierten Ausstellungsobjekten vor sich hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. »Was zum …«

Wie die anderen Zimmer, durch die er lautlos wie ein Geist geschwebt war, war dieses hier mit zahlreichen Vitrinen und Glasregalen bestückt. Aber das eigentlich Überraschende waren die Exponate – und wenn man bedachte, dass er vorhin durch einen Raum voll mit medizinischem OP-Besteck aus der viktorianischen Epoche geschlendert war, hieß das schon einiges.

Ach ja, die Fledermausskelette nicht zu vergessen.

»Du wirfst dein Geld also für ein paar Steine raus«, murmelte er leise vor sich hin. »Ernsthaft? Weißt du mit deiner Kohle nichts Besseres anzufangen?«

Balz bewegte sich durch die Dunkelheit geräuschlos über das noble Parkett auf etwas zu, das aussah wie ein Laib Pumpernickel, in den man zu oft mit dem Probierstäbchen gestochen hatte. Das Ding war eiförmig, die äußere Hülle löchrig. Es ruhte auf einem Sockel aus Acryl. Auf einer kleinen goldenen Plakette stand: Willamette-Fragment, 1902.

Jedes der Exponate schien nach einem bestimmten Ort benannt: Lübeck, 1916. Kitkiöjärvi, 1906. Poughkeepsie, 1968.

Was sollte das alles?

Dover, 1833.

Balz runzelte die Stirn. Doch bevor er sein Gedächtnis nach Ort und Jahreszahl durchwühlen konnte, rammte ihn die Vergangenheit mit der Wucht eines Schnellzugs: Und mit einem Schlag wurde er aus diesem Kuriositätenkabinett von einer Luxusunterkunft gesogen und im Geiste zurück ins Alte Land katapultiert … wo er und die Bande von Bastarden auf sich allein gestellt in den Wäldern gehaust hatten, immer knapp am Rande des Existenzminimums, ständig auf der Suche nach Nahrung, Waffen und Lessern, die sie töten konnten. Ach ja, die guten alten Zeiten, so rau und dabei so aufregend. Sie waren das exakte Gegenteil von dem gewesen, was sie jetzt waren, nämlich Verbündete der Bruderschaft der Black Dagger und der Ersten Familie. Verflucht, neuerdings lebten sie in einem herrschaftlichen Anwesen aus ehrwürdigem altem Gestein, hoch oben auf einem Berg, wo sie sicher und behütet waren.

Einiges an den Nächten von früher vermisste er tatsächlich sehr. Und trotzdem hätte er an der Gegenwart nicht das Geringste ändern wollen.

Aber ja, damals im Alten Land, im März 1833 war das gewesen, hatten die Bastarde sich eben aus der nicht sonderlich tiefen Höhle herausbewegt, in der sie Schutz vor der Sonne gesucht hatten. Und plötzlich hatte über ihnen am Himmel ein greller Lichtstrahl aufgeleuchtet, ein Blitz, der quer über den Nachthimmel zuckte, hell wie ein Stern und von Sekunde zu Sekunde größer werdend, einen Schweif aus funkelnden Juwelen hinter sich herziehend.

Sie waren zurück in die Höhle geflohen und hatten sich schutzsuchend in die hinterste Ecke gekauert, die Arme panisch um Köpfe und Gesichter gelegt.

Balz hatte im ersten Moment angenommen, das Ende der Welt sei gekommen, die Jungfrau der Schrift habe endlich die Nase voll davon, die Spezies immer nur mit Samthandschuhen anzufassen – oder aber Omega hatte eine völlig neuartige Waffe gegen die Vampire in die Finger bekommen.

Der Einschlag ereignete sich nicht allzu weit entfernt, mit ohrenbetäubender Wucht, gefolgt von einer Erschütterung, dass der Fels um sie herum gebebt hatte und kleine Steinchen von der Decke auf ihre Schultern herabgerieselt waren. Die Stabilität der Höhle war auf eine harte Probe gestellt worden. Und danach hieß es, eine Zeit lang abwarten. Als nichts weiter geschah, waren sie einer nach dem anderen ins Freie geschlüpft und hatten geschnuppert.

In der Luft lag der Geruch von Eisen. Brennendem Eisen. Sie waren dem beißend metallischen Geruch gefolgt. Immer weiter durch den Wald, bis sie auf einen rauchenden Krater gestoßen waren, in dessen Mitte ein Gesteinsbrocken lag. Als hätte eine uralte, mystische Gestalt, eine vogelähnliche Kreatur ein toxisches Ei hineingelegt.

Zurück in der Gegenwart, sah Balz sich näher um.

Diese so unscheinbar aussehenden Steine waren Meteoriten. Alle diese schroffen Brocken aus Gott weiß was für Material waren einen weiten Weg durchs Weltall gereist und mit einem Paukenschlag auf der Erde gelandet. Nur um von einem betuchten Schnösel mit beinahe krankhafter Sammelleidenschaft hier in diesen Raum gesperrt zu werden.

»Dieser gierige Raffzahn, muss sich wohl alles unter den Nagel reißen«, murmelte Balz im Weitergehen.

Es hatte ihn mehrere Wochen gekostet, dieses Zielobjekt auszuspähen – wobei die Recherchen und das Ausspionieren für ihn so was wie das freudige Vorspiel zum verbrecherischen Höhepunkt waren. Der Eigentümer war Hedgefonds-Manager – eine Berufsbezeichnung, die bei Balz unwillkürlich Bilder von geschniegelten Anzugtypen mit Heckenscheren heraufbeschwor. Seine Ehefrau war ein ehemaliges Model – man konnte also davon ausgehen, dass sie zwar immer noch ein heißer Feger war, nur nicht mehr professionell fotografiert wurde, jetzt, wo sie einen Ring am Finger stecken hatte. Und, Überraschung, natürlich lag der Altersunterschied zwischen den beiden bei fast zwanzig Jahren. Was angesichts der Lebenserwartung der menschlichen Spezies jetzt, wo sie in ihren Dreißigern beziehungsweise Fünfzigern waren, keine nennenswerte Rolle spielte. Aber in zehn Jahren? Oder in zwanzig?

Schwer vorstellbar, dass eine Frau mit vorteilhaftem Körperbau und einem ansehnlichen Allerwertesten auch dann noch die Beine breit machte, wenn ihr Gatte ein Gebiss brauchte und mit dem Rollator ankam.

Aber wie dem auch sei, als Manager von Hecken oder was auch immer brauchte man nun mal eine vorzeigbare Ehefrau. Und man musste über ein gewisses Immobilien-Portfolio verfügen. Genauer gesagt, mindestens sechs Eigentumswohnungen und/oder Häuser. Dieser Kerl besaß schon mal die drei obersten Stockwerke des Commodore, eine Wohnung, die nach den Maßstäben der Logik konzipiert war: Das unterste Geschoss mit seinen weitläufigen Räumen diente der Unterhaltung und dem Empfang von Gästen – das Übliche eben, Scheck-gegen-Canapés-Events, bei denen sich die örtlichen Philanthropen versammelten, natürlich alles für den guten Zweck. Das zweite Geschoss war dieser Kaninchenbau aus unzähligen kleinen Räumen, in denen die kuratierte Sammlung aus Weltraumkieseln sowie die albtraumhaften Kitzel- und Stocherinstrumente ihren Platz hatten – ach ja, nicht zu vergessen die drei Dutzend Fledermausskelette, die an Schiffsmodelle erinnerten, nur mit Flügeln.

Balz empfand beinahe so was wie Respekt vor dem erlesenen Geschmack des Typen.

Tja, und was das dritte Stockwerk anging? Das war sein eigentliches Ziel. Als er nun die Treppe erblickte, stieg er die Marmorstufen hinauf, seine Schritte kaum lauter als ein Rascheln. Werke von Banksy zierten die gerundete Wand, und hoch über ihm baumelte ein Kronleuchter mit Prismen aus Bleikristall von der Decke, bescheiden und still wie eine ungestüme Debütantin, der man eingeschärft hatte, sich beim Ball zurückzuhalten. Auf dem Penthouse-Level waren die Böden komplett mit Teppich ausgekleidet, und es roch anders. In den Räumen hing ein blumiges Bouquet, mit einem Hauch Lavendel und Geißblatt, der Duft unbeschwerter Freiheit, die mit einem dicken, fetten Bankkonto einherging.

Balz folgte dem Läufer, dessen Flor so dick und flauschig war, dass er das Gefühl hatte, auf wolkenweichem Toastbrot zu laufen. Er kam an einer Reihe von Bogenfenstern vorbei, von denen aus man eine herrliche Sicht auf die Stadt hatte, mit ihrer leuchtenden Skyline aus Wolkenkratzern und den auf hohen Pfeilern thronenden Schnellstraßen darunter. Der Anblick der roten und weißen Lichter der Fahrzeuge, die sich zu einem konstant dahinfließenden Strom vereinten, gepaart mit den hell erleuchteten, anmutig geschwungenen Bögen der Doppelbrücke, fesselte ihn derart, dass er sich einen Moment Zeit nehmen musste, um diese urbane Landschaft in all ihrer Schönheit gebührend zu würdigen.

Schließlich riss er sich von der herrlichen Aussicht los und setzte sich wieder in Bewegung.

Die Alarmanlage war keine große Überraschung gewesen, es handelte sich um den zu erwartenden hochwertigen Einbruchschutz, den zu entsichern ihm eine willkommene Herausforderung war, aber kein Problem darstellte.

Hey, Vishous war nicht der Einzige, der ein Händchen für diesen IT-Kram hatte, okay?

Es hatte ihm einen glorreichen Moment beschert, stolz, dass er nicht gezwungen gewesen war, den Bruder mit dem Mitgliedsausweis für Mensa International um Hilfe zu bitten. Denn das war eine der Regeln, die Balz sich selbst auferlegt hatte: nämlich dass er seine Raubzüge komplett allein durchzog. Und so deaktivierte er all die Bewegungssensoren, Türkontakte und Laser immer selbst. Diese Menschen mit ihren beweglichen Besitztümern waren eigentlich leichte Beute für einen Dieb wie ihn: Denn theoretisch konnte er sich überall hin dematerialisieren, in jedes erdenkliche Haus, jede Wohnung, jedes Apartment, jede Jacht, jeden Bunker, was auch immer. Dazu reichte eine Fensterscheibe aus. Alternativ konnte er die Bewohner mittels Gedankenkraft in einen Schlaf versetzen und seinen Fünf-Finger-Rabatt geltend machen. Er konnte sich nehmen, was er wollte, wann er wollte.

Allerdings: Wo blieb da der Spaß? Es war, als würde man sich für eine Partie Monopoly mit einem Schlagring an den Tisch setzen. Und dann kloppte man den Gegner einfach k. o. und raffte sämtliche Häuser und Hotels und das gesamte Spielgeld an sich. Herzlichen Glückwunsch. Dann konnte man die nächsten fünfundsiebzigtausend Runden pausenlos würfeln und seine Spielfigur unbehelligt über das Spielbrett schieben. Hurra.

Er aber brauchte die Herausforderung. Und deshalb hatte er sich eine weitere Regel auferlegt: Er durfte keinen seiner Vorteile gegenüber der menschlichen Spezies nutzen und durfte nichts tun, was diese schwanzlosen Ratten nicht auch hinbekommen hätten.

Okay, na schön. Gelegentlich umging er diese Regeln und schummelte. Aber nur ein kleines bisschen, ehrlich.

Hallo? Er war ein Dieb, kein Heiliger.

Jetzt kam er an einer Reihe von leer stehenden Gästezimmern vorbei. Tatsächlich war die komplette Wohnung, inklusive des Panic Room, der sein eigentliches Ziel war, wie ausgestorben. Er hatte ursprünglich vorgehabt, hier einzusteigen, während das glückliche Paar sich in den Räumlichkeiten aufhielt. Hauseigentümer waren nämlich eine sehr viel größere Herausforderung, wenn sie auch tatsächlich zu Hause waren. Doch leider musste er auf seine Dienstzeiten im Einsatz für die Bruderschaft Rücksicht nehmen, und die Herrschaften reisten viel. Er hatte keine Lust gehabt zu warten, bis die Sterne endlich günstig standen.

Das Tierheim, dem er die Kohle vermachen wollte, musste nach einem Brand von Grund auf neu aufgebaut werden. Zum Glück waren keine von den Hunden oder Katzen zu Schaden gekommen, aber der medizinische Behandlungstrakt war arg in Mitleidenschaft gezogen.

Ja, er hatte eine Schwäche für Vierbeiner. Na und? Schließlich brauchte er die Moneten nicht, er betrieb sein Handwerk als reines Hobby, aber wenn er es für einen guten Zweck tat, sah das Ganze doch gleich nach sehr viel mehr aus als nach gemeinem Diebstahl.

Das riesige Schlafzimmer war wie ein eigenes Apartment innerhalb der Wohnung konzipiert, eine Mischung aus superschick und absolut privat. Es gab sogar eine integrierte Küche, eine separate Terrasse und eine exklusive Kombination aus Badezimmer und begehbarem Kleiderschrank, so groß wie anderer Leute Häuser. Offenbar waren die Architekten Jodie Fosters Vorbild von 2002 gefolgt. Die Räumlichkeiten verwandelten sich nämlich in einen Hochsicherheitstrakt, eine Art Luxus-Panic-Room, sobald sie von jemandem mit einem Nettoeinkommen unter vierzig Millionen Dollar oder, sofern es sich um eine Frau handelte, mit einem Taille-Hüft-Verhältnis unter null Komma sieben fünf betreten wurden.

Der übliche Standard eben, klar.

Nachdem Balz die Schwelle zu diesem herrschaftlichen Bereich übertreten hatte, blieb er kurz stehen und lauschte in die Stille hinein. Scheiße, wie langweilig. Er hätte es wirklich vorgezogen, wenn die Herrschaften zu Hause wären.

Als er nun auf einen Türbogen zuschritt, fiel sein Blick in die Küche. Sie war steril wie ein OP und auch ungefähr so gemütlich, mit Unmengen Edelstahl und natürlich den teuersten Profigeräten. Und das, obwohl hier garantiert keine großen Familienmahlzeiten zubereitet wurden. Die erste Ehefrau sowie der gemeinsame Nachwuchs, gezeugt noch vor der ersten Milliarde, waren abgestoßen worden wie eine unrentable Investition. Kein Bedarf mehr an Gemütlichkeit.

Schlicht und schön, steril und State of the Art, lautete jetzt die Devise.

Neue Frau, neues Leben.

Balz ging weiter. Das Ankleidezimmer hatte zwei Eingänge, einen durchs Schlafzimmer und einen durch den schmalen Flur für die Dienstboten. Aus Höflichkeit entschied er sich, Letzteren zu benutzen, schließlich war er schon unerlaubt hier eingedrungen. Doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Tür abgeschlossen war. Kein Problem. Er holte seinen Satz Dietriche heraus und hatte sie in weniger als einer Minute geknackt. Beim Eintreten fiel sein Blick auf eine beachtliche Sammlung von Anzügen, Krawatten, Kleidern und Accessoires. Man hätte annehmen können, er sei in einer Luxusboutique gelandet. Beeindruckt schnappte er nach Luft. Aha. Daher kam also dieser Duft, der das gesamte obere Stockwerk erfüllte, und ja, wenn Geld tatsächlich nach etwas roch, dann exakt so. Berauschend, kräftig genug, um aufzufallen, und trotzdem nicht zu aufdringlich. Blumig, aber mit einer Tendenz hin zum edlen Männerduft, die für einen harmonischen Ausgleich sorgte.

Scheiße, es grenzte schon an ein Wunder, dass die Herrschaften überhaupt noch etwas auf dem Bankkonto hatten, bei all dem edlen Zwirn, der hier herumhing.

Das mussten Klamotten im Wert von mehreren Hunderttausend Dollar sein. Sie wurden an Kleiderstangen in unterschiedlicher Höhe hinter Glas aufbewahrt, als könnten die kostbaren Stücke Schaden nehmen, wenn man sie Licht und Luft aussetzte. Außerdem standen in der Raummitte zwei Reihen Kommoden, Rücken an Rücken, eine Seite für ihn, eine für sie.

Partytime!

Balz stieß einen leisen Pfiff aus und tänzelte auf die Glastür zu, hinter der die Smokings des Hausherrn zu sehen waren. Er zog sie auf und machte einen auf Moses, indem er die feinen Seidenjacketts teilte wie der biblische Prophet das Rote Meer. Die Rückwand dahinter war vollkommen glatt – bis auf einen feinen quadratischen Umriss, den man nur wahrnahm, wenn man entweder über die scharfen Augen eines Vampirs verfügte oder genau wusste, wo der Safe sich verbarg.

Balz brachte einen Prozessor von der Größe eines Venti-Latte-Bechers zum Vorschein und gab auf einer BlackBerry-ähnlichen Tastatur eine Reihe von Befehlen ein. Dann lehnte er das Gerät gegen die Wand. Es folgten einige surrende Laute, ein Klicken und ein Zischen. Im nächsten Moment fuhr die Wandverkleidung zur Seite, und ein Safe von ungefähr einem Meter auf einen Meter mit völlig veraltetem Drehschloss kam zum Vorschein – was eine echte Überraschung gewesen war, als er sich in die Alarmanlage gehackt hatte, um Anzahl und Positionen der Kontakte zu bestimmen.

Hut ab, so ein analoger Safe war ein pfiffiger Schachzug. Denn mal ehrlich, so ein Ding ließ sich unmöglich übers Netz knacken. Während er jetzt probeweise an der Scheibe drehte, dämmerte ihm, dass er selbst mithilfe eines Schneidbrenners und mehrerer Stunden Zeit seine liebe Not damit gehabt hätte.

Tja, also, dann war es wohl jetzt an der Zeit, seine bescheuerten Regeln über den Haufen zu werfen.

Als er das Schloss, das zum Glück nicht aus Kupfer bestand, per Gedankenkraft in Gang setzte und die Bolzen darin mühelos kapitulierten, war das wie ein Abend vor der Glotze, als säße er im gemütlichen Relaxsessel und stopfte sich mit Doritos voll. Und trotzdem hinterließ der Mangel an Herausforderung ein dumpfes Gefühl in ihm.

Andererseits würden noch viele weitere Nächte kommen, in denen er sein Talent würde beweisen können.

Die Safetür öffnete sich, und im Inneren ging ein kleines Lämpchen an und tauchte die zu erwartenden Schätze in ein helles Licht. Das, was da drinnen auf durchsichtigen Regalfächern lag, war – oh Wunder – themenmäßig sortiert: Da waren mehrere Packen Bargeld, die mit Gummibändern zusammengehalten wurden und ihn kurioserweise an Etagenbetten erinnerten. Da war eine Schachtel voller Uhren, deren Zeiger sich rhythmisch bewegten, wie Jetsetter, die zu einem lautlosen Lied einen Line Dance hinlegten. Und dann waren da noch jede Menge Schmuckschatullen aus Leder.

Und genau deswegen war er hier.

Er griff nach dem obersten Kästchen. Das Ding war größer als seine Handfläche, und die war schon verdammt groß. Es bestand aus rotem Leder und war mit einer goldenen Bordüre verziert. Als er mit der Daumenkuppe den Schnappverschluss betätigte, sprang der Deckel auf.

Balz’ Grinsen zog sich so in die Breite, dass seine Fänge sichtbar wurden.

Aber der Freudentanz war schnell vorbei, als er die im Tresor verbliebenen Schachteln zählte. Es waren noch ganze sechs, und aus irgendeinem Grund löste dieses halbe Dutzend weiterer Möglichkeiten eine tiefe Erschöpfung bei ihm aus. Zu jedem anderen Zeitpunkt in seinem Leben hätte er sich jede einzelne Schatulle angesehen und das kostbarste Stück ausgewählt. Jetzt scherte ihn das einen Dreck. Außerdem hatte er bereits ein Modell von Cartier in der Hand, und das Gewicht des Diamanten deutete auf eine Karatzahl irgendwo zwischen vierzig und fünfzig hin. Und der Schliff sowie Farbe und Reinheit waren von exquisiter Qualität. Was wollte er mehr?

Und nein, er hatte keineswegs vor, sie alle mitzunehmen. Denn es gab noch eine Regel, an die er sich eisern hielt: Er durfte bei jedem Einbruch nur eine Sache mitnehmen, und zwar wirklich nur eine einzige. Das konnte ein einzelner Gegenstand sein, mehrere Dinge in einem Behälter oder ein Satz von etwas, das in irgendeiner Weise, wenn auch nur lose, miteinander verbunden war.

Damals im Alten Land zum Beispiel hatte er einmal eine Kutsche mit vier identischen Grauen gestohlen, die direkt unter dieser kleinen Luke gestanden hatte.

Er würde also bei diesem Stück von Cartier bleiben und den Rest liegen lassen.

Er erhob sich, schloss den Safe kraft seiner Gedanken und sperrte wieder ab. Gerade, als er überlegte, ob er seine zuverlässige kleine, 007-mäßige Zauberkiste benötigen würde, um das Panel in der Wandverkleidung wieder in die ursprüngliche Position zu bringen, senkte sich das Ding von ganz allein und rastete mit einem Klicken ein.

Für einen Moment starrte er verdattert auf die Stelle in der weißen Rigipswand zwischen dem geteilten Meer aus Smoking-Jacketts. Plötzlich fühlte er sich schrecklich leer, und er schloss seufzend die Augen.

»Was tun Sie hier?«

Beim Klang der weiblichen Stimme fuhr Balz herum. In der Tür zum Schlafzimmer stand die Dame des Hauses, direkt unter einer der Deckenleuchten – was zur Folge hatte, dass ihr durchsichtiges Nachthemd keinen Raum für Spekulationen ließ.

Tja, Mister Hedgefonds-Manager, dachte Balz, vor dem Altar hast du jedenfalls das große Los gezogen.

»Was tun Sie hier?«,gab Balz mit einem schiefen Grinsen zurück. »Sollten Sie nicht eigentlich in Paris sein?«

Ralphie zog den Reißverschluss hoch, während Chelle ihren Rock und das, was darunter war, zurechtzupfte. Seine Sinne waren rasiermesserscharf und hellwach, dafür war er zum Glück nicht mehr so überdreht. Der Orgasmus hatte die Wirkung des Koks ein wenig abgemildert. Er presste die Kiefer aufeinander, beugte beide Arme und spannte sämtliche Muskeln im Oberkörper an. So stand er da und fletschte die Zähne.

Als Nächstes stieß er einen Laut aus, der die Köpfe seiner Crewmitglieder herumschnellen ließ.

»Er ist bereit! Das Monster ist so weit!«

Im selben Moment ertönte am anderen Ende des Parkdecks das Signal, als hätten die »Offiziellen« nur darauf gewartet, dass er sich in den Kampfmodus brachte.

Sofort stimmten seine Jungs den Sprechgesang an, und Chelle kam auf ihn zu und beugte sich zu ihm vor. Er küsste sie auf die Stirn und sagte so leise, dass nur sie es hören konnte, die berühmten drei Worte. Dann marschierte er los, und seine Jungs bildeten die Speerspitze und gingen voraus, während Chelle sich hinter ihm einreihte. Als sie durch die Menge pflügten, sprangen die Menschen beiseite, und die Jubelschreie erreichten eine Lautstärke, die gewiss Aufmerksamkeit erregt hätte – wenn sich denn jemand in diese trostlose Gegend verirrt hätte.

Ralphie grinste zufrieden in sich hinein. Nach außen hin aber gab er sich so unbeteiligt, als ließe ihn das alles völlig kalt.

Der Reverend hatte den Kampf vor ungefähr drei Tagen unter Dach und Fach gebracht, mit einem Auswärtigen, über den nichts bekannt war und dessen Namen keiner von ihnen je gehört hatte. Die Sache wäre also reine Routine, ein Spaziergang.

»Monster! Monster!«

Seine Crew feuerte ihn lautstark an, und die Menge fiel mit ein und heizte die Stimmung weiter auf. Und auch wenn er genau wusste, dass Chelle zusah, musste er sich vergewissern, dass sie das alles mitbekam. Und das tat sie. Sie hatte das Kinn auf die Brust gesenkt, doch ihr Blick ruhte auf ihm, und sie hatte ein leises Lächeln auf den Lippen, das ihm das Gefühl gab, über sich hinauszuwachsen. Er fühlte sich groß, stark, unbesiegbar.

Sie war seine Kraftquelle.

Und er konnte sich nicht sattsehen an ihrem glücklichen, stolzen Gesicht.

Ralphie sammelte sich und konzentrierte sich auf die Schneise, die sich vor ihm auftat. Er näherte sich dem Kampfring, einem Bereich, der von den Scheinwerfern der wenigen Autos, die man unten an der Schranke durchgelassen hatte, erhellt war. Als er jetzt ins Licht trat, rasteten seine Fans aus, und er ließ seine Muskeln spielen und zog eine Miene, als wollte er seinem Herausforderer im Ring den Schädel zertrümmern.

Auch wenn dieser besagte Ring nichts weiter war als ein auf den fleckigen Boden gesprühter roter Kreis.

Eigentlich waren da sogar zwei rote Kreise, der innere mit einem Durchmesser von ungefähr fünf Metern, der äußere eine Pufferzone von etwa anderthalb zusätzlichen Metern, aus der sich die Zuschauermenge raushalten sollte – woran sich gegen Ende kaum mehr jemand hielt. Zu Beginn allerdings befolgten immer alle artig die Regeln, deshalb ließ er seine Crew nun zurück und trat allein in die Kampfzone.

Unter seinen Stiefelsohlen waren noch die Blutflecken von letzter Woche zu sehen, zu einem schmutzigen Braun vertrocknet, und er ließ die Knöchel knacken, während er hin und her tigerte und mit klopfendem Herzen daran zurückdachte, wie er diese Nase gebrochen und diese Zähne ausgeschlagen hatte. Während er sich psychisch auf den Kampf vorbereitete, wurde er blind für die Leute um ihn herum – auch für seine Jungs und Chelle. Er ruhte ganz in sich und existierte nur für sich selbst. In sich, für sich. In sich …

Während er dieses Mantra im Geiste wieder und wieder vor sich hinsprach, rhythmisch wie ein dahinratternder Zug, schien sich sein Schwerpunkt allmählich zu verlagern. Sein Gewicht ruhte nun auf seinen Knien, während er sich von einem Bein auf das andere neigte, hin und her. Die Fäuste erhoben, die Oberarme angespannt, den Blick starr und entschlossen geradeaus gerichtet, konzentrierte er sich auf eine Stelle jenseits des Rings, auf den geschlossenen Kreis der Zuschauer, die jeden Moment den Weg für seinen Opponenten freigeben würden.

Bein verlagern.

Atmen.

Bein verlagern.

Atmen.

Nach etwa anderthalb Minuten wurde Ralphie langsam ungeduldig. Was zum Teufel sollte das? Wo steckte dieser verdammte Mistkerl? Das Scheißweichei, zog wohl in letzter Sekunde den Schwanz ein.

Mit einem Mal kam Unruhe auf, und die Leute direkt vor ihm sahen sich mit betretenen Mienen nach ihm um, als würde da was nicht stimmen. Dann ging alles recht schnell. Immer mehr Zuschauer sprangen hektisch beiseite und stolperten dabei vereinzelt über ihre eigenen Füße, Gerangel entstand.

Himmel, hoffentlich zückte keiner von diesen Idioten eine Waffe, sonst …

Eine zehn Meter lange Schneise hatte sich zwischen den erhitzten Leibern gebildet, ein unsauberer Durchlass, der sich vom Kampfring bis zum überdachten Aufgang zog. Und ganz am Ende? Da stand ein Kämpfer, völlig allein, das Gesicht vom Geschehen abgewandt, die massiven Schultern klar umrissen vor dem Hintergrund der kalten, stahlgrauen Großstadtlichter.

Ralphie stoppte sein Getänzel und stand stocksteif da. Sein Herzschlag geriet aus dem Takt.

Und im nächsten Moment stolperte eine Frau in die Sicherheitszone, eine gewöhnliche graue Maus, und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um, als hätte sie keinen verdammten Schimmer, wo sie hier gelandet war.

Ralphie achtete nicht auf sie und gab sich einen Ruck. Was zur Hölle, war er jetzt hier das Weichei? Dieser Typ war doch auch nicht anders als die ganzen anderen Vollpfosten. Wenn dieser Mistkerl sich nur endlich umdrehen würde. Bestimmt stellte sich raus, dass er fetter war als Onkel Vinnie.

Scheiß auf den Typen, dem würde er ordentlich die Fresse polieren!