Gemütlich war es nie - Wolfgang Herles - E-Book

Gemütlich war es nie E-Book

Wolfgang Herles

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Beschreibung

Sein Lebensprojekt ist die Anatomie der Macht. Was macht sie mit den Mächtigen - und was macht sie mit ihm selbst, dem streitbaren Skeptiker? Wolfgang Herles, "ZDF-Legende" (Bild) und "unabhängiger als die meisten deutschen Fernsehjournalisten" (Financial Times), beschreibt Werden und Wandel der Republik entlang des eigenen Lebens. Beide sind ein Dreivierteljahrhundert alt - und er ist fast immer da, wo gerade die Musik spielt. Er eckt an, als Chef des Hauptstadtstudios des ZDF lässt ihn der Kanzler entfernen. Danach begleitet er Giganten der Wirtschaft von Bill Gates und Steve Jobs bis Jack Welsh und George Soros durch eine Zeit, in der die Globalisierung die Welt in Atem hält. Es folgen neue, weltbewegende Krisen und Begegnungen mit den größten Schriftstellern der Gegenwart. Vielseitiger hat kaum ein anderer das Geschehen verfolgt. Immer wieder spiegelt es auch das Leben des schier omnipräsenten Reporters, Moderators und Romanciers. So reibt er sich auch an seinem eigenen Metier, durchlebt die Untiefen der Talkmasterei und die Hörigkeit der Medien. Weit mehr als eine Autobiografie. Ein treffsicheres Porträt seiner Zeit.

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Seitenzahl: 484

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Was mir am meisten auf der Welt zuwider ist, sind meine Eltern.

Wo ich auch hingehe, sie verfolgen mich, (...) Kaum habe ich einen Stuhl gefunden,

öffnet sich die Tür und einer von beiden starrt herein,

Vater Staat oder Mutter Natur.

Günter Eich

Wolfgang Herles

Gemütlich war es nie

Erinnerungen

eines Skeptikers

Distanzierungserklärung:

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© 2025 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, Thomas-Wimmer-Ring 11, 80539 München

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Wir behalten uns auch die Nutzung von uns veröffentlichter Werke

für Text und Data Mining im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: © IMAGO / teutopress

Satz: Ralf Paucke, Langen Müller Verlag

E Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-7844-8517-1

www.langenmueller.de

INHALT

Vorspann – Der Mönch und der Mörder

EINS – Am Rand

Der Wald, das Dorf, der Tod

Der Mitmacher

Der gefrorene See

ZWEI – In der Bonner Republik

Ins Freie

Die politische Klasse

Politik und Showgeschäft

Die Besteigung des Lerchenbergs

An Bord des Raumschiffs

Überschwang und Übermut

Halbzeit

DREI – Am Nabel der Welt

Redaktion für Zukunftsfragen

Untiefen der Talkshow

Glaube, Geld, Gewalt

Fix it, sell it, kill it

Jahrtausendwende

Merkelland

Die weite Welt der Literatur

Das Glück und das Meer

Mein Land, nicht mein Staat

Abspann

Dank

Personenregister

Für Benedikt und Christian

VORSPANN – DER MÖNCH UND DER MÖRDER

Der Mönch, den ich bisher nur in der weißen Soutane eines Dominikaners kenne, fährt am letzten Januartag 1988 auf einem Rennrad vor, im Rollkragenpulli aus grob gestrickter grauer Wolle zur Jeans. Pater Heinrich Basilius Streithofen ist ein einflussreicher, manche sagen gefährlicher Mann. Der Professor für Sozialethik dient der CDU als Ratgeber und dem Kanzler als Feldkaplan und Beichtvater. Seine lakonisch-schneidende, gar nicht frömmelnde Art ist mir nicht unsympathisch.

Der Pater hat mich ins Isola d’ Ischia zum Essen eingeladen, im Erdgeschoss des Adenauerhauses, der Parteizentrale der CDU. Dominikaner betrieben im Mittelalter im Auftrag des Papstes die Inquisition, »domini canes« hat man sie genannt, Hunde des Herrn. Hunde, die nicht nur bellen. Basilius sieht aus wie ein Filmschauspieler in einer Rolle, die mir nicht ganz klar ist.

»Sehen Sie nur!«, flüstert er und ruckt mit dem Kinn Richtung Tresen, wo zwei italienisch sprechende, modisch gekleidete Herren auf den Wirt einreden. »Was glauben Sie, spielt sich da ab?«

»Schutzgelderpressung im Adenauerhaus?«, antworte ich, weil ich denke, er macht einen Witz.

Der Ordensmann dämpft seine Stimme. Im milden Ton eines väterlichen Freundes erkundigt er sich nach meinen Söhnen und nach meiner Frau, die auch schon zu Gast in seinem »Klösterchen« gewesen sind, einem behaglich eingerichteten Haus aus der Gründerzeit in der Südstadt, in dem er mit zwei weiteren Professoren lebt. Familie ist ein passendes Stichwort an diesem Abend zu Ossobuco und schwerem Roten.

»Jede Familie braucht ein Familienoberhaupt, das ist in Parteien nicht anders«, raunt Pater Basilius.

Allmählich klingelt es bei mir. »Die Partei als Familie? Ihr Chef als ... Pate?«

»Sie stehen unter seinem Schutz, vergessen Sie das nicht!«

Der Pate, also der Parteichef und Bundeskanzler, hat trotz großer Bedenken zugelassen, dass ich Leiter des Bonner Studios jener Fernsehanstalt geworden bin, die er für seine eigene hält. Er bereut seine Zustimmung schon. Der »Pimpf«, wie er mich genannt hat, spurt nicht, in seinen Augen bin ich ein Verräter.

In meinem Job wird man leicht zum Verräter, man muss ihm nur einigermaßen gewissenhaft nachgehen. Der schwarze Pate denkt, dass er mich lenkt, solange ich die Füße unter seinen Tisch stelle. Er verlangt nicht einmal Linientreue, er erwartet nur persönliche Gefolgschaft.

Der Mönch erklärt mir das so: »Er kennt drei Sorten Menschen. Die erste ist ihm egal, die zweite ist die, die ihm nützt, die dritte die, die ihm schadet.«

»Ich bin ihm also egal«, sage ich. Das zeugt von jugendlicher Unbekümmertheit und Naivität.

»Am schlimmsten ist es«, belehrt mich der Dominikaner, wenn der, der ihm schadet, es nicht einsehen will.«

»Der einzige angemessene Platz für einen Journalisten ist zwischen den Stühlen«, behaupte ich.

»Sicher! Aber machen Sie sich nichts vor! Ohne ihn säßen Sie nirgends in Bonn, nicht einmal zwischen den Stühlen. Er hält Sie für undankbar.«

»Für Dankbarkeit gegenüber Politikern werde ich nicht bezahlt.«

Der Pater sieht mich mitleidig an. Wie kann man nur so stur sein im Angesicht des Allmächtigen!

»Sie wissen, wie man dort oben über sie spricht?« Er deutet zur Decke. Zehn Stockwerke darüber hat Helmut Kohl sein Parteibüro. »Man sagt, mit Ihrer Berufung hätte sich die Herabsetzung des Wahlalters gerächt. Sie müssen ihn verstehen! Da hat sich eine Menge aufgestaut. Seit Jahren wird er als Birne verspottet. Er muss eine Menge einstecken. Und jetzt auch noch in seinem Haussender.«

Satirische Spitzen gehören zu meiner Sendung. Sie heißt »Bonn direkt«.

»Spott muss sein. Wir versuchen, den Zuschauern Politik schmackhaft zu machen, es ist schwer genug.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu erklären. Hoffentlich ist Ihnen klar, was Sie riskieren?«

»Ich soll mich also zügeln.«

Er hebt abwehrend beide Hände. »Mir gefällt, was Sie machen. Ich gebe Ihnen nur einen freundschaftlichen Rat.« Er beugt sich über den Tisch, als höre jemand heimlich mit, und flüstert: »Passen Sie auf, er ist ein Mörder.«

EINS

Am Rand

DER WALD, DAS DORF, DER TOD

Am 8. Mai 1950, einem Montag, herrscht angenehmes Wetter am Rand eines von Skandinavien langsam westwärts ziehenden Hochdruckgebiets. Mein Vater ist Lehrer in Tittling, einem Marktflecken in der Nähe von Passau, und umständehalber wohnen er und seine Frau auch in der Schule. Nachts um halb fünf erlöst Dr. Murr Mutter und Kind mit der Zange. Es ist die bei Geburtsstillstand seit dem 17. Jahrhundert übliche Prozedur, die beim Neugeborenen gelegentlich zu Hirnblutungen oder temporären Verformungen des Schädels führt. Mir bleibt das erspart, also ist mein Geburtstag ein Tag der Befreiung, nicht zuletzt für meine Mutter.

Das große Wort Befreiung hängt bereits am 8. Mai. Es ist ein Datum von historischer Wucht. Hitler-Deutschland ist auf den Tag fünf Jahre zuvor kollabiert, hat kapituliert. Das bedeutet beides, totale Niederlage und Befreiung. Westdeutschland ist befreit, wenn auch noch nicht frei.

Genau ein Jahr vor meinem Geburtstag, am 8. Mai 1949, hat der Parlamentarische Rat im Zoologischen Museum Koenig zu Bonn den Entwurf des Grundgesetzes beschlossen. Noch ist kein Mensch davon überzeugt, dass das besetzte »Trizonesien« sich schnell zum erfreulichsten, freundlichsten Staat der deutschen Geschichte mausern könnte. Am 12. Mai genehmigten die drei westlichen Militärgouverneure das Grundgesetz, am 23. Mai ist es in Kraft getreten, am 14. August haben die Westdeutschen den ersten Bundestag gewählt. Im September dieses Jahres bin ich gezeugt worden, womöglich am siebten, dem Tag, an dem sich das Parlament konstituiert hat.

8. Mai 1952

Was hat der Auftritt der Bundesrepublik auf der Bühne der Geschichte mit meinem Erscheinen zu tun? Reiner Zufall ist es nicht, sondern Zuversicht, die meine Eltern ein Leben in die Welt setzen lässt, nachdem sie vertrieben worden sind, alles verloren und mit knapper Not den Krieg überlebt haben. Statt zu verzweifeln, setzt ihre Generation die Babyboomer in die Welt. Auch die Bundesrepublik ist eine riskante Zangengeburt.

Am Tag meiner Geburt entwickeln sich die Dinge gut. Zum Vorteil der Westdeutschen hat der Kalte Krieg begonnen. Das Besatzungsregime in Deutschland soll deshalb weiter gelockert, die junge Republik bewaffnet und ins atlantische Verteidigungsbündnis aufgenommen werden. Die Zeitungen berichten von internationalen Konferenzen in Paris und London. Moskau behauptet, die Freilassung deutscher Kriegsgefangener sei abgeschlossen – eine Lüge. Zwei Millionen Westdeutsche sind arbeitslos, beachtliche zwölf Prozent. »Sind Sie mir janz ruhig mit ihrer Marktwirtschaft«, schnauzt Konrad Adenauer seinen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard an. Noch ist das Wirtschaftswunder nicht in Fahrt gekommen, aber die Hoffnung ist groß.

*

Ich bin nur ein Jahr jünger als die Bundesrepublik. So spiegelt sich mein Lebenslauf in dem dieses Staates und dessen Geschicke in meinen. Als professioneller Zeitzeuge bin ich die meiste Zeit nah dran am Geschehen. Aber ich beobachte nicht nur, bin gelegentlich auch selbst gefangen von den Ereignissen.

Lange fühle ich mich aufgehoben in dieser Republik. Bis zum Knacks. Mein persönlicher Knacks korrespondiert nicht zufällig mit dem Knacks der Republik. Es heißt nun überall, die »Wiedervereinigung« sei das größte Glück der Geschichte. Doch mit der Berliner Republik geht es bergab. Die Fundamente des Wohlstands bröckeln. Hochgestimmt und selbstgefällig verzehrt die politische Klasse von nun an dessen Substanz. Die staatstragenden Kräfte reden den Wandel schön. Sie bewahren nicht, sie »transformieren«.

Zu spüren ist, wie die staatliche Ordnung zunehmend in die Freiheit der Bürger schneidet. Etwas ist faul im Staate D. Nach der Theorie von Thomas Hobbes (1588–1679) ist der Staat notwendig, um den chaotischen Urzustand von Gesellschaft und damit den Krieg aller gegen alle, zu überwinden. Allerdings wächst er heran zum mächtigen Leviathan, wird stärker als die Demokratie, die er bewahren soll, schützt die Bürger weder vor sich selbst (wie Hobbes glaubte) noch vor ihren Feinden. Der Staat wird selbst zum Feind der Freiheit. Ist es schon wieder so weit? Wie konnte es dazu kommen? Dies ist auch die Geschichte einer Entfremdung.

Abgesehen davon sind die deutschen Angelegenheiten Teil eines Epochenbruchs. Die entfesselte Globalisierung geht einher mit der nächsten industriellen Revolution, die das Leben der Menschen verändert.

*

1950 bevölkern 2,5 Milliarden Menschen die Erde, 75 Jahre später sind es 8,3 Milliarden, in wenigen Jahren werden es zehn Milliarden sein. Meine Eltern haben damals anderes im Kopf, als sich um den Zustand der Erde zu sorgen. Sie fühlen sich auch noch nicht als Teil einer globalen Weltgesellschaft. Es gibt noch weiße Flecken auf den Landkarten, unerforschte Gebiete, etwa im Amazonasbecken. Heute zeigen Satelliten in Echtzeit jeden Quadratmeter, und jedes Kind weiß, dass Brandrodung den Dschungel vernichtet und die »Klimakatastrophe« anheizt.

Die »Letzte Generation« will keine Kinder mehr in die Welt setzen, glaubt andererseits aber auch, die Temperatur der Atmosphäre wie mit einem Thermostat genau regeln zu können. Der Mensch ist gebeutelt von Hybris und Angst zugleich. Mit der Künstlichen Intelligenz hat er sich selbst zum Schöpfer erhoben, fürchtet aber, dass ihm seine eigenen Geschöpfe über den Kopf wachsen. Während der kurzen Spanne meines Lebens wurde der Code des Lebens entschlüsselt, der Mensch hofft, ihn nach Bedarf reparieren, aber auch manipulieren zu können.

Inzwischen hat der einstige »Herr der Schöpfung« entdeckt, dass auch anderswo im Universum Leben möglich ist. Abgesehen davon, dass er kein Herr mehr ist, sondern Herr/:_in. Der woke Mensch misstraut seinem eigenen Wesen und verachtet seine eigene Zivilisation. Will er so überleben? Doch der Reihe nach. Meine Eltern sind 1950 noch auf einem ganz anderen Trip.

*

Gretl klagt nicht über die schwere Geburt. Ein Jahr lang tippt sie ihr Glück auf gelbes Schreibmaschinenpapier. »12. Mai: Bubi ist brav und bei gutem Appetit. Mutti hat nicht genug und so schmecken ihm Eledon und Haferschleim auch recht gut.« Exakt notiert sie die Fortschritte der Aufzucht, was der Bubi zu sich nimmt, von sich gibt, ob und wie er schläft, wächst, sich bewegt. Am 20. Mai wird Wolferl getauft. »Nass liegen will er auf keinen Fall. Da hebt er sein Bobscherle und macht förmlich eine Brücke und schreit wie am Spieß bis er eine neue Windel bekommt.« Es sind keine Pampers.

Bereits Ende Juli ist er »braun wie ein halber Neger, weil er den ganzen Tag draußen ist.« Zum ersten Weihnachtsfest schenkt ihm Oma ein »Negerpüppchen« – schon wieder das heute verbotene Wort –, »das man aufblasen kann und das fürchterlich quietscht, wenn man es drückt«. Das Spielzeug wäre heute pädagogisch untragbar, und schon gar nicht würde man einen Säugling ungeschützt der Sonne aussetzen. Aus heutiger Sicht fast ein Wunder, dass Wolferl den Mangel an Vorsicht und Achtsamkeit überlebt.

Auf einem Foto von meinem ersten Geburtstag strahle ich neben der brennenden Kerze und der Schwarzwälder Kirschtorte. Am Tag danach wird der Wechselkurs der D-Mark freigegeben. Einen Monat später beginnen die ersten Berliner Filmfestspiele. Prämiert wird »Das doppelte Lottchen« nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner, mehr geredet allerdings über »Die Sünderin«, weil darin Hildegard Knef splitternackt zu sehen ist.

Adenauers erste offizielle Reise führt nach Italien, meine erste ins fränkische Lichtenfels, wo mir Opa, ein Bundesbahnoberwerkmeister a. D., die gewaltigen Dampflokomotiven erklärt. Wenn er mit mir in den Wald geht, fallen Schokoladestücke von Bäumen. Wolferl glaubt, dass sie da wachsen. Vom Schlaraffenland träumen die Bundesbürger. Die »Fresswelle« überrollt das Land, nach den Hungerjahren mehr als verständlich. Laktoseintoleranz oder Veganismus sind noch unbekannt.

*

»Hier, da in der Ecke, begann deine Reise«, sagt der alte Mann, der mich Jahrzehnte später durch das ehemalige Schulhaus führt. Georg Höltl hat es gekauft und wohnt nun darin. Damals, 1950, besitzt er einen Bus, mit dem er die Strecke nach Passau bedient. Im Sommer bietet er auch Fahrten auf den Balkan an, geschlafen wird in Zweimannzelten. Mein Vater ist sein erster Reiseleiter.

Der Busfahrer hat die Sehnsucht nach der Ferne und ganz große Ziele. Bald kutschiert er seine Kunden durch die abwegigsten Gegenden der Welt, durch die Sahara, den australischen Outback, das wilde Kurdistan, ungehindert von Krieg und islamischem Terror. Die Reisenden schlafen in winzigen Kojen in Anhängern, den »rollenden Hotels«. Betreute Abenteuer sind die durchschlagende Geschäftsidee des waghalsigen Selfmade-Unternehmers. Der Hinterwäldler legt in den frühen Jahren der Republik wie viele andere einen sagenhaften Aufstieg hin. Das Wirtschaftswunder greift aus der Enge der Provinz aus auf die ganze Welt.

Der Lehrer verfügt über kein unternehmerisches Talent. Walter fasst auf seine Art Fuß. Es ist noch nicht lange her, da hat er sich als Knecht verdingt. Jetzt unterrichtet er wieder, baut die Sudetendeutsche Landsmannschaft im Ort auf, gründet eine Sektion des Bayerwaldvereins, ist Dekanatsführer der Katholischen Jugend, schreibt für die »Passauer Neue Presse« und wird im März 1952 in den Gemeinderat gewählt, macht Politik im Bau- und im Ortsverschönerungsausschuss.

Im selben Jahr werden auch in der großen Politik Weichen gestellt. Sowjetführer Stalin schickt zwei Noten nach Bonn. Sein Angebot: Wiedervereinigung zum Preis der Neutralität Deutschlands nach Abzug aller Besatzungstruppen. Adenauer lehnt zweimal ab, unterzeichnet stattdessen Ende Mai den Generalvertrag mit den drei Westmächten, der die Bundesrepublik in die westeuropäische Gemeinschaft aufnimmt. Die DDR antwortet mit der Errichtung einer fünf Kilometer breiten Sperrzone entlang der Grenze. Am 17. Juni 1953 schlagen russische Panzer den Aufstand der Arbeiter im Arbeiterparadies DDR nieder.

Der westdeutsche Kanzler behauptet: »Wir werden nicht ruhen und wir werden nicht rasten – diesen Schwur lege ich ab für das gesamte deutsche Volk – bis ganz Deutschland wiedervereint ist in Frieden und Freiheit.« Die Festigung der Demokratie im Westen hält er für die dringendere Aufgabe. Die Landsleute in der »Zone« müssen leider warten. Auf den Schulkarten ist das Reich noch in den alten Grenzen zu sehen, einschließlich Schlesien und Ostpreußen.

Walter muss sich nicht wundern, dass der Schulleiterin die Fülle seiner außerdienstlichen Aktivitäten missfällt. Animositäten sind nicht auszuschließen. Millionen Vertriebene werden von der einheimischen Bevölkerung nicht gerade umarmt. Von »Welcome Refugees« kann keine Rede sein. Aber der rührige Gemeinderat weiß schon ganz gut, wie Politik funktioniert. Er hat erfolgreich für einen Zuschuss des Landkreises zum Bau eines Hauses speziell für Vertriebene gekämpft und eine Wohnung darin für sich selbst reservieren lassen.

Es riecht nach Selbstbedienung und gibt, wie er schreibt, »einen großen Stunk«. Wider Erwarten vergibt die Gemeinde die Wohnung an ein einheimisches Ehepaar. Walter lässt das nicht auf sich sitzen und bewirkt, dass der Landrat von der Gemeinde den Zuschuss zurückfordert. Ehe der Zündstoff hochgeht, wird der Skandal nach Landessitte geregelt. Walter wird zum Hauptlehrer und Leiter einer zweiklassigen Volksschule befördert, muss dafür allerdings Tittling verlassen.

*

Die Familie zieht nach Hohenau. Das Dorf liegt nur 20 Kilometer entfernt auf einer 800 Meter hohen Kuppe mit prächtiger Aussicht auf die nahen Gipfel von Arber, Lusen und Dreisessel. Vom Nationalpark, an dessen Rand die Gemeinde heute liegt, ist damals noch keine Rede. Durch den felsigen Urwald verläuft der Eiserne Vorhang, an dem auf Menschen, die ihn überwinden wollen, geschossen wird. Davon bekommt das Kind im niederbayerischen Kuhdorf nichts mit. Der Tod, der wenige Jahre zuvor das ganze Land überzog, ist ausgeblendet.

In jeder Hinsicht. Zwischen Schulhaus und Kirche steht die Friedhofskapelle. Neugierig linst der Vierjährige durchs Schlüsselloch der abgesperrten Tür, sieht die bleiche Frau im offenen Sarg. Es ist meine erste Begegnung mit dem Tod und tatsächlich bis heute die einzige Leiche, die ich leibhaftig sehe. Als meine Eltern im Krankenhaus sterben, bin ich nicht dabei und will sie auch nicht mehr sehen. Auch nicht meinen jüngeren Bruder Diethard. Als er in der Heidelberger Leukämiestation den letzten Atemzug macht, sitze ich gerade draußen bei einem Espresso. Zum Tod hat meine Generation ein gestörtes Verhältnis. Ich hasse ihn nicht nur, ich verdränge ihn auch.

Ein paar behäbige Bauernhäuser stehen um einen weiten Dorfanger herum. In der Mitte das Kriegerdenkmal und der Maibaum. Gasthaus, Kolonialwarenladen, Raiffeisenkasse mit Lagerhaus, die spätbarocke Pfarrkirche St. Peter und Paul, daneben die Schule. In ihm wohnt der Hauptlehrer mit seiner Familie. Drei Zimmer und Küche zum Mietpreis von monatlich 32,20 DM. Die Toilette ist ein Plumpsklo auf halber Treppe. Es gibt keinen Kühlschrank, und der Herd wird jeden Morgen mit Holz angeschürt. Dafür ist die Küche so groß, dass ich mit dem Dreirad um den großen Tisch in der Mitte sausen kann. Wasser wird vom Brunnen geholt. Mutter lehnt die Anschaffung eines Geschirrspülers ein Leben lang ab. Am Waschtag weicht sie die Wäsche in großen Bottichen ein, schrubbt, kocht, spült und wringt.

Es ist eine arme Gegend. Der Bulldog ist noch ein seltenes Tier. Ochsen ziehen im Märzen den Pflug, Kaltblüter die Stämme aus den Wäldern. Im Dorf wohnen viele Bauarbeiter, die im Winter arbeitslos sind. Manche Bauernkinder tragen Holzschuhe. Sie müssen bei der Ernte helfen und schwänzen deshalb im Sommer häufig die Schule. Kindergarten ist ein Fremdwort. Die Frauen stricken, kochen, machen Heu mit der Sense, misten den Stall aus. In dunklen Stuben unter niedrigen Decken löffeln alle aus der Gemeinschaftsschüssel in der Mitte des Tisches. Die Väter drücken die selbst gebackenen Brotlaibe an die Brust und schneiden sie mit scharfer Klinge an, nicht ohne zuvor drei Kreuze in die Kruste zu ritzen.

Einmal lädt eine Reklametruppe von Maggi in weißen Kitteln die Dorfbevölkerung zu Instantsuppe in den Saal des Wirtshauses ein, es sind Sendboten einer komfortableren Zukunft. Meine Lieblingskost steht am fleischlosen Freitag auf dem Tisch: die süßen Mehlspeisen der böhmischen Mutter, Buchtln, Powidltatschgerln, Obstknödel, Liwanzen, Kaiserschmarrn, Palatschinken. Als gesund gilt, was schmeckt.

Der Bayerische Wald ist das Sibirien Bayerns. Die Winter bringen damals klirrenden Frost und meterhohen Schnee. Die Fenster sind überzogen mit Eisblumen. Wenn das Dorf eingeschneit ist, dauert es Stunden, bis die Schneefräse dem Omnibus den Weg bahnt. Manchmal versperren Verwehungen selbst das Schulhaus. Klimawandel? Es herrscht Eiszeit.

Mein Vater inszeniert mit der Hohenauer Theatergruppe im Winter – es geht nur in der staden, feldarbeitsfreien Zeit – den Bauernschwank »Der Tototerich«. Vom Inhalt ist mir nichts erinnerlich, ich bin ja erst vier, aber Theater fasziniert mich seither. Mein Paradestück führe ich in der Küche auf. Die dreiflüglige Kredenz ist der Hochaltar, an dem ich mit einer Tischdecke kostümiert in lautmalerischem Lateinisch die Messe lese.

Mein Vorbild ist Pfarrer Maier, seit 1933 im Amt, was nichts heißen muss. Er steigt polternd mit Gummistiefeln unterm Messgewand zur Kanzel hinauf und ist unbestritten die erste Autorität im Ort. Abgesehen vom Maibaumaufstellen und der Fronleichnamsprozession ist die Weihe und Installation der drei neuen Kirchenglocken das größte Ereignis jener Jahre. Mit dem Pferdefuhrwerk werden sie herangeschafft.

Mein Vater kümmert sich auch in Hohenau um die katholische Jugend, organisiert einen Bücherbus, eröffnet eine Volkshochschule und sitzt schon wieder im Gemeinderat. Er kandidiert auf der gemeinsamen Liste der Parteilosen Wählergemeinschaft und der SPD. Aber das hat nicht viel zu bedeuten. Mit dem Bürgermeister und dem Landtagsabgeordneten von der CSU fährt er nach München, um von der Regierung Geld für die Wasserleitung loszueisen.

Er ist nicht der einzige Migrant im Dorf. 1949 haben Flüchtlinge und Vertriebene den Sportverein Hohenau gegründet, der allerdings 1955 wegen Spielermangels vorübergehend den Betrieb einstellen muss. Aus dem Krieg hat Walter einen steifen Fuß mitgebracht, sonst hätte er das nicht zugelassen. Westdeutschland wird 1954 in Bern Fußballweltmeister – das Land ist wieder auf etwas stolz.

Die neue Zeit überrollt buchstäblich die junge Republik. Ein Auto wird angeschafft, ein »Leukoplastbomber«. Es heißt, »wer den Tod nicht scheut, fährt Lloyd.« Der Kleinwagen ist ein Symbol des einsetzenden Wirtschaftswunders. Die Lloyd-Werke in Bremen gehören zum Konzern von Carl Borgward, dessen musterhafter Aufstieg schon Anfang der Sechzigerjahre im Konkurs endet.

Im Wonnemonat Mai des Jahres 1950 ist nicht nur das Wolferl zur Welt gekommen, sondern auch der Kleinwagen LP 300. Material ist knapp, deshalb besteht die Karosserie aus Sperrholz, mit Kunstleder überzogen. Anfangs ist nur die Bodenplatte aus Stahlblech. Der 300 cm³ große Zweitakter bringt 10 PS und schafft mit angelegten Ohren bergab 75 Stundenkilometer. Die nicht synchronisierte dreigängige Krückstockschaltung am Armaturenbrett ist so knifflig zu bedienen wie die mechanische Seilzug-Handbremse. Der Kofferraum lässt sich von außen nicht öffnen, sondern nur von innen über die vorgeklappte Rückbank beladen.

1954 kommt bereits das Nachfolgemodell Lloyd 400 auf dem Markt. Es imponiert mit 13 PS und einer eleganteren Linienführung. Von dem Erfolgsmodell laufen in fünf Jahren gut 100 000 Stück vom Band, zum Preis von 3780 DM. Gemessen an den spärlichen Einkommen ist das nicht wenig. Der Lehrer hat in Tittling 379,19 DM im Monat verdient, in Hohenau kaum mehr. Mitte der Fünfzigerjahre rollen etwa zwei Millionen Autos auf den Straßen der Bundesrepublik. 1990 werden es, nur im Westen, mehr als 30 Millionen sein.

Eine der ersten Fahrten geht nach München zu Tante Gerti. Zum ersten Mal sehe ich eine richtige Stadt – übersät von Ruinen. Bis dahin hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon, was Krieg bedeutet. Im Wald ist vom Lärm der Welt nichts zu hören, geschweige denn zu sehen. Es läuft noch kein einziges Fernsehgerät, nur das Radio. Die Sonntagsreden der Politiker gehen den Männern an den Biertischen ins eine Ohr hinein und durchs andere wieder hinaus wie die Predigten von Pfarrer Maier. Ein Viertel der Deutschen plädiert damals noch immer für einen Einparteienstaat. Von Hitler sind die meisten vielleicht kuriert, aber einem neuen Moses würden sie schon gern ins Gelobte Land folgen. Vorausgesetzt, er ist kein Jude.

Der katholische Moses Adenauer misstraut aus guten Gründen den Deutschen, weshalb er nicht gern offene Debatten über die Vergangenheit führt. Die DDR lässt den Kanzler gleichgültig. Der Alte in Bonn würde sogar auf das Saarland verzichten, weil ihm die neue Freundschaft mit dem einstigen Erbfeind Frankreich wichtiger ist. Aber die Saarländer stimmen 1956 für die Rückkehr nach Deutschland, so groß ist bereits ihr Vertrauen in die Bonner Republik. Sie gehört nun zur NATO. Die Wehrpflicht wird wieder eingeführt. Die Bedrohung ist sehr real. In Ungarn rebelliert die Bevölkerung 1956 gegen das kommunistische Regime, sowjetische Panzer schlagen den Aufstand nieder. Aber auch davon bekommt der Sechsjährige nichts mit. Ob meine Eltern schon wieder Angst vor Krieg haben, verraten sie mir nicht.

*

Sie träumen nicht von der großen Freiheit in einer offenen Gesellschaft, sondern vom kleinen privaten Glück. Ihre Kinder sollen es einmal besser haben. Sie wollen reisen, auf »Große Fahrt« gehen. Schon vor der Anschaffung des Leukoplastbombers sind sie mit einer italienischen Vespa über Alpenpässe gekrochen, während Oma auf mich aufgepasst hat.

Ich darf 1956 zum ersten Mal mitfahren – in die Schweiz. Das mit Zelt und Dosennahrung beladene Vehikel stößt gelegentlich an Grenzen. »Der Lloyd steht am Berg und heult!«, sagt man. Stimmt. Mutter und der Knirps müssen dann aussteigen und schieben. Wir machen nicht einfach Ferien. Möglichst viel sehen und dafür möglichst wenig Geld ausgeben, lautet die Devise. Vier Wochen lang schlafen wir in einem grünen Giebelzelt, das nirgendwo länger als drei Tage lang aufgestellt wird. Am Schweizer Nationalfeiertag, dem 1. August, wird auf dem Marktplatz von Altdorf am Vierwaldstädter See »Wilhelm Tell« aufgeführt, als Volksstück in Mundart. Den großen Monolog von Schillers Tell lerne ich später auswendig: »Sie alle ziehen ihres Weges fort. An ihr Geschäft – und meines ist der Mord!« Es ist meine Paradenummer, als ich noch davon träume, Schauspieler zu werden.

Vater gibt sich mit einem Leben als Dorfschulmeister im Hinterland des Hinterlands nicht zufrieden. Es werden »Mittelschulen« in Bayern gegründet, die späteren Realschulen. Er bewirbt sich an eine Stelle im neu gegründeten Vertriebenenstädtchen Waldkraiburg, wird jedoch ungefragt nach Lindau an den Bodensee versetzt. Als er das erfährt, sehe ich ihn zum ersten und letzten Mal weinen. Es sollten Freudentränen sein, es ist aber Enttäuschung. Von den dunklen Wäldern am östlichen Rand zieht die Familie an ein lichtes Ufer am südlichen Rand, von einer Grenze an eine ganz andere. Der Eiserne Vorhang im Wald war ein Ende, die Grenze am See ist eine Einladung.

*

Von den Rändern her fange ich an, dieses Land zu begreifen, wachse mit Politik auf sehr bodenständige und konkrete Weise auf. Heute wird Politik von urbanen Milieus geprägt, die nicht verstehen, wie jenseits der Metropolen gelebt und gedacht wird. Wo ohne Auto nicht viel zu bewegen ist, wo geredet wird, wie die Schnäbel gewachsen sind, wo noch gegessen wird, was seit jeher auf den Tisch kommt, und die Leute heizen wollen, wie es ihnen passt. Wo sie wenig von einem Staat halten, der sie bevormundet und behandelt, als hätten sie den Anschluss an den Wandel der Welt versäumt. Das Land ist vor allem gespalten zwischen ein paar von grünen Weltverbesserern dominierten Zentren und dem weiten Land.

In Wahrheit liegt auch Berlin am Rand, nicht nur geografisch. Es repräsentierte noch nie die Mitte. Die sieht sich politisch an den Rand gedrängt. Obwohl ich inzwischen seit einem Vierteljahrhundert Politik in der »Hauptstadt« beobachte, fand ich Berlin nie repräsentativ für das ganze Land.

DER MITMACHER

Eine finstere Vergangenheit hängt der Republik wie ein Wackerstein um den Hals. Es ist auch die Geschichte meines Vaters. Sie ist hier von Belang, weil sie beispielhaft erzählt, wie es zum Bruch zwischen den Generationen kommen konnte. Die Folgen sind bis heute zu spüren, denn die »Achtundsechziger« waren ja nicht zuletzt eine Antwort auf ihre Väter (und Mütter). Sie sind durch die Institutionen des Landes marschiert, haben sie unterwandert und weitgehend übernommen: Universitäten, Medien, Behörden, Parlamente. Jetzt haben wir den Salat. Die Re-Ideologisierung der Politik nach den nüchternen Aufbaujahren ist auch ein Ergebnis dieses Generationenkonflikts.

*

In einer Zigarrenkiste liegen das Bundesverdienstkreuz, rote Emaille mit Bundesadler, und das Eiserne Kreuz, schwarz, das Hakenkreuz in der Mitte. Sie stehen für die Pole von Walters Leben. Auch ein Totenschein und das winzige Foto einer Frau liegen da, die auf keinem anderen Bild zu sehen ist. Marle Herles, geborene Jahnel, Jahrgang 1914, kurzes, dunkles Haar, hübsches Gesicht, Vaters erste Frau. Warum hat er über sie kein einziges Wort verloren? Es riecht nach einem dunklen Geheimnis. Vielleicht ist es aber auch nur eine gewöhnliche Tragödie. Die junge Frau war schwer an Diabetes erkrankt, Kinder konnte sie nicht bekommen.

In der Kiste ist auch ein Bündel eng mit Schreibmaschine beschriebener Blätter zu finden, Erinnerungen, verfasst wenige Jahre vor seinem Tod. In meinen Augen sind sie das Wertvollste, was Vater mir hinterlassen hat. Es ist der Versuch einer Antwort auf unbeantwortete Fragen.

Walter Herles als Student in Prag

Von den 73 Seiten handeln 56 von den 40 Jahren vor meiner Geburt, von der ersten Hälfte seines Lebens. Er hat zwei Weltkriege überlebt, gestohlene Lebenszeit. Ohne sich groß zu bewegen, ist er Bürger von fünf unterschiedlichen Staaten und politischen Systemen gewesen.

Als Untertan des österreichischen Kaisers kommt Walter Eduard Vinzenz Herles im Dezember 1911 in Komotau zur Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg gehört die nordböhmische, fast ausschließlich von deutschsprachigen Bürgern bewohnte Stadt zur Ersten Tschechoslowakischen Republik. 1939 marschieren die Nazis ein, übernehmen erst den deutschen Teil, dann das ganze Land als Reichsprotektorat Böhmen und Mähren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchtet Walter aus einem tschechischen Arbeitslager zuerst in die sowjetisch besetzte Ostzone, die künftige Deutsche Demokratische Republik, dann in die Bundesrepublik. Seine Eltern sind kleine Leute. Mutter Johanna ist die Tochter eines Kondukteurs, Vater Karl Schlosser bei der Bahn, Sohn eines Spenglers. Er hat im Ersten Weltkrieg in der grauen Felduniform der kaiserlichen Infanterie gedient.

Nach dem Ersten Weltkrieg wird in Komotau das Denkmal des österreichischen Kaisers gestürzt, und tschechische Legionäre marschieren in die Stadt. Die Familie hamstert in den Dörfern Kartoffeln und Milch, sammelt auf abgeernteten Feldern liegen gebliebene Ähren, die USA finanzieren Suppenküchen. Ihr Sohn Walter soll der erste Akademiker werden. Im humanistischen Gymnasium herrscht »strenge Disciplin«. Manch alter Brauch hält sich, etwa »Tatzenhiebe« mit dem Rohrstock. Die feuerzangenbowlenhaften Schnurren sind schwer nachzuvollziehen. Meine eigene Schulzeit ist mir als Leidenszeit in Erinnerung.

Nach dem Abitur unternimmt Walter mit einem Freund eine Radrundfahrt durch ganz Deutschland. Sie ärgern sich, weil die Reichsdeutschen sich wundern, »dass wir als Studenten aus Böhmen so gut Deutsch sprachen. Von uns 3,5 Millionen Sudetendeutschen wusste man im Reich leider sehr wenig.« Das sollte sich ändern.

Er liebt als Student »eine kleine tschechische Freundin« im zweisprachigen Prag. Nach zwei Semestern Jurastudium wird sein Vater, der jetzt offiziell Karlu Herlesovi heißt, arbeitslos, weil er nicht Tschechisch kann. Walter kann sein Studium knicken. Er geht zurück nach Komotau auf die Lehrerbildungsanstalt. Dann ruft das Vaterland, das tschechische. »Weil ich mich nun mit der recht schäbigen Uniform nicht gerne sehen lassen wollte, ließ ich mir bei einem Schneider eine Ausgehuniform anfertigen.« Das spricht für seine Eitelkeit, aber nicht für antitschechische Ressentiments. Er wird, weil er die Sprache beherrscht, schnell zum »Desatnik« befördert, zum Obergefreiten.

Er gehört den »Staffelsteinern« an, einer katholischen Vereinigung, die aus der romantischen Wandervogelbewegung hervorgegangen ist. Namensgeber ist das kleine fränkische Städtchen Staffelstein. Man wandert über Böhmens bewaldete Höhen und geht immer wieder auf »Große Fahrt«, die weiteste führt 1932 bis nach Istanbul, mit dem Zug, auf Flößen und Karren, auch zu Fuß. Vater steigt auf zum »Gaugraf« und ist Turner. Das wird ihm zum Verhängnis. Denn in Böhmen formiert sich um den Turnlehrer Konrad Henlein die nationalistische Sudetendeutsche Heimatfront. Ihren Kern bilden die Turnvereine.

Als Hitler 1933 im Reich an die Macht kommt, emigrieren zahlreiche Deutsche ins liberale Prag, die staatenlosen Brüder Thomas und Heinrich Mann etwa erhalten tschechische Pässe. Staatspräsident Masaryk, ein Philosoph, verspricht eine für alle offene Gesellschaft. Aber ihm folgt 1935 der Nationalist Beneš. Man rät Walter, sich nicht länger mit den Turnern einzulassen. 1938 erhält Henleins Sudetendeutsche Partei, ein Ableger der NSDAP, bei den Kommunalwahlen 90 Prozent der Stimmen. »Heim ins Reich« lautet jetzt die Parole.

Was ein knappes halbes Jahrhundert später großspurig »sexuelle Revolution« genannt wird, hat Walter offenbar nicht nötig. Er nennt es einfach »Jugendarbeit«, in der er sehr engagiert ist, erwähnt eine ganze Reihe weiblicher Wesen, die es ihm angetan haben, unter anderen eine Kellnerin in einem Dorfgasthaus, »mit der ich mich gut verstand.« Bis ein Schuss fällt. »Ein Mann hatte sich aus unglücklicher Liebe zur ihr angeschossen. Er starb aber nicht.« Ist hier ein Romanstoff versteckt?

Jugendarbeit ist nun aber leider auch eine hochpolitische Angelegenheit. Die Staffelsteiner und die Turner werden mit anderen Jugendgruppen zur Sudetendeutschen Volksjugend fusioniert. Walter ist Ortsjugendführer, bekommt einen grauen Anzug mit kurzen Hosen und weißen Strümpfen verpasst und einen grauen Hut. Weil er die verbotene Uniform trägt, wird er von einem »Geheimpolizisten« verhaftet und zur Strafe als Lehrer versetzt. Er marschiert auch in den Reihen der Sudetendeutschen Partei und führt den Verein der Junglehrerschaft des Bezirks an. »Die Bäume des Lehrers Herles werden nicht in den Himmel wachsen«, droht ihm die kommunistische »Rote Fahne«.

Die Tschechen fürchten den Angriff Hitlers und bauen an der Grenze Bunker und Panzersperren, die Mobilmachung steht bevor. Walter will nicht auf Deutsche schießen müssen, flieht deshalb nach Sachsen und schließt sich dem Freikorps an. Jugendarbeit betreibt er nun »mit netten sächsischen Mädchen« in einer Uniform der SA, zu der er – als tschechisch-slowakischer Staatsbürger – nicht gehört. Ob er sich auch an Grenzprovokationen beteiligt, erzählt er nicht. Es heißt nur: »Da gab es dann leider noch einen bösen Zwischenfall. Das tschechische Militär hatte unmittelbar an der Grenze auf einer Anhöhe eine Maschinengewehrstellung eingerichtet. Diese wollten nun einige Übereifrige, nur mit Gewehren ausgerüstet, stürmen. Das ging aber daneben. Es gab auf deutscher Seite drei Tote.«

Die Sudetenkrise eskaliert. Aus Angst vor Krieg unterschreiben am 29. September 1938 Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain und Frankreichs Ministerpräsident Édouard Daladier gemeinsam mit Italiens Duce Benito Mussolini und Adolf Hitler in München das Abkommen, mit dem das Sudetenland ans Deutsche Reich abgetreten wird. Damit ist die Tschechoslowakei isoliert und muss akzeptieren, dass der von Deutschen besiedelte Landesteil verloren geht.

Schon am 1. Oktober marschiert die Wehrmacht ein. »Wir gehörten nun zu Deutschland, ein Traum war in Erfüllung gegangen.«Es gibt für seinen Vater wieder Arbeit.»Wir wussten damals im Jubel freilich nicht, was noch auf uns zukommen würde.«Die»Sieger«führen sich»oft recht herrisch auf. Sehr viel änderte sich nicht zu unserem Vorteil. Wir sahen einst in Deutschland nur das Schöne und Gute, nun gab es manche Enttäuschung. So zerbrach auch sehr bald die Gemeinschaft im Turnverein. Es kamen Werber für die SS. Wer kleiner als 1.70 Meter und Brillenträger war, kam nicht in Frage.«

Auf Walter trifft beides zu. Hätte er sich andernfalls anwerben lassen? Ich halte die Skepsis gegenüber den einmarschierten Nazis nicht für nachgeschoben; sie entspricht seinem Charakter. Aber: Er beurteilt Menschen nach ihrem Verhalten, nicht nach ihrer Ideologie – das gilt auch später für den Kommunalpolitiker. Das ist nicht unsympathisch, aber auch nicht frei von gefährlicher Arglosigkeit. Mein Vater ist im Grunde unpolitisch. Aber eben ein Gschaftlhuber, einer, der sich gern einspannen lässt. Politik als praktisches Tun, als Selbstbestätigung. Die böhmischen Junglehrer gehören zur NS-Erziehergemeinschaft, die Turner werden dem NS-Verband für Leibesübungen angeschlossen, die Staffelsteiner der Hitlerjugend angegliedert.

Hauptamtliche Führer übernehmen das Kommando. »Ich wurde nun nicht mehr benötigt, weil ich den Zuständigen wahrscheinlich zu wenig zackig war.« Es reicht nur noch zu einer Funktion als Kreisfeierabendwart der KdF, Kraft durch Freude. Lange hält das faule Appeasement-Abkommen nicht. Schon im März 1939 besetzt Hitler die übrige Tschechoslowakei, erklärt sie zum Reichsprotektorat.

Walter konzentriert sich weiter auf »Jugendarbeit«. Auf »Großer Fahrt« mit den Junglehrern nach Ostpreußen lernt er im Juli 1939 Marle kennen, seine künftige Frau. Doch erst einmal bricht Hitler am 1. September mit dem Überfall Polens Krieg vom Zaun.

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Im April 1940 wird Walter erneut zu den Waffen gerufen, diesmal zu den deutschen. Ihn stört »gleich am ersten Tag das Geschrei in der Kaserne, der Drill«. Beim tschechischen Militär ist es ziviler zugegangen. Am 10. Mai greifen deutsche Verbände die neutralen Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg an. Walter ist dabei. Die Schlacht von Dünkirchen beginnt am 27. Mai. Am Tag darauf kapituliert zunächst die belgische Armee. Große Teile der französischen 1. Armee werden eingeschlossen und geben auf. 370 000 Briten sind eingekesselt und sollen evakuiert werden. So lange muss der Verteidigungsring halten. Walter liegt nördlich der Hafenstadt in Nieuwport an einem Damm, als das Projektil eines britischen Maschinengewehrs seinen rechten Knöchel zertrümmert.

Damit ist der Krieg für ihn zu Ende. Er verbringt die nächsten zwei Jahre in verschiedenen Lazaretten. Das ist entschieden gesünder, als es weitere Fronteinsätze wären. Das Glück im Unglück besteht auch darin, dass zu Beginn des Krieges komplizierte Verwundungen noch mit großer Sorgfalt behandelt werden. Der Fuß bleibt am Bein. Stolz zeigt Vater noch im Alter Fotos von seinem Loch im Fuß, dort wo der Knöchel gewesen ist, kann man hindurchsehen. Eine Aufnahme zeigt den Verwundeten grinsend im Bett, während ihm eine Pflegerin die Stirn abtupft. Schwestern sammeln für das Winterhilfswerk. »Einen Kuss gab es für fünf Reichsmark.«

Auf zwei Stöcken humpelnd, heiratet er im Dezember 1942. Das Kriegsende erlebt er als Lehrer wieder in Komotau. Da der hauptamtliche HJ-Führer an der Front ist, wird der gehbehinderte Walter 1943 zum Standortführer ernannt. Kann oder will er sich dagegen nicht wehren? Mit dem Posten verbunden ist eine geräumige Dienstwohnung, in die er mit Frau und Eltern zieht.

In den letzten Kriegstagen werden Kolonnen von KZ-Insassen »in erbärmlichem Zustand« durch die Stadt geführt. »Da erst erfuhren wir etwas von den KZs.«Ob ich das glauben kann, glauben will? Das KZ Theresienstadt liegt 63 Kilometer entfernt. Die Front rückt näher. Die höchsten Nazis der Stadt hauen ab oder geben sich die Kugel. Walter ist sich keiner Schuld bewusst und bleibt. In der Nacht kommen die Russen, plündern, verwüsten die Häuser, vergewaltigen. Walter hat Glück; ein Major zieht mit seinem Stab ins Haus. Die Mutter muss kochen, aber niemand hungern. Das Schlimmste steht erst noch bevor.

Verhaftet wird Walter Anfang Juni von tschechischen Gendarmen und mit zahlreichen anderen verprügelten und blutenden Menschen eingesperrt. Hundert Komotauer, Männer wie Frauen, darunter Walter, werden in eine Glashütte bei Trauschkowitz geführt, mit Peitschen traktiert, müssen sich nackt ausziehen. Wer ein tätowiertes Blutgruppenzeichen trägt und damit als SS-Mann enttarnt ist, wird totgeprügelt, die anderen bloß gequält. Wer schlapp macht, wird erschossen. Die Zeit für Rache sei gekommen, wird ihnen erklärt. Die Gedemütigten müssen das Deutschlandlied singen, den Arm heben und »Hitler wir danken dir« rufen.

Einige Tausend Arbeitsfähige werden mit leeren Mägen in Marsch gesetzt, viele überstehen die drei Tage und Nächte nicht. Ziel ist ein zerbombtes Hydrierwerk, ein Arbeitslager, die »Hölle von Maltheuern«. Der gehbehinderte Walter ist zäh, und weil er tschechisch spricht, wird er zum Stubenältesten ernannt; klappt etwas nicht, wird er zuerst verprügelt. Die Gefangenen putzen Ziegel, ziehen Wände hoch. Sprechen ist verboten, Deutsch sowieso. Als Walter sich einmal erschöpft hinsetzt, wird er mit 25 Schlägen mit dem Gummiknüppel auf das Gesäß bestraft. Die Verpflegung im berüchtigten Lager 28 besteht aus dünner Suppe und Brot. Er nimmt in sechs Wochen 25 Kilo ab. Ruhr und Skorbut grassieren, die Leute sterben wie die Fliegen. Tatsache ist, dass mehrere Hunderttausend Deutsche die Pogrome nicht überstehen.

Ich will all die grauenhaften Folter- und Mordszenen, deren Zeuge und Überlebender Vater gewesen ist, nicht ausführlich wiedergeben. Seinem Bericht schenke ich zwar Glauben, er geht mir nahe, doch der Ton gegen den Strich. Er schreibt vom »Opfergang unseres Volkstums«: Solch politisch aufgedonnertes Pathos widerstrebt mir grundsätzlich. Zwar beteuert er, »diese Zeilen sollen keine Anklage sein, sondern nur eine wahrheitsgetreue und nüchterne Wiedergabe von furchtbarem Erleben«. Aber natürlich klagt er an. Unbewusst weigere ich mich, in ihm und seinen Leidensgenossen nur Opfer zu sehen. Vergleiche liegen nah und verbieten sich doch. Wäre hier von einem Genozid an Deutschen in tschechischen Konzentrationslagern die Rede, würde es sich anhören, als wollte ich die Untaten der Nazis relativieren.

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Im tschechischen Lager drückt sich Walter, wo er kann, wird zeitweilig als Gärtner beschäftigt, stiehlt aus dem Büro des Lagerkommandanten Lebensmittelkarten. Dann sucht er das Weite, nachts zwischen den Schienen unter einem Güterzug. Gemeinsam mit einem Mithäftling schlägt er sich durch die Wälder nach Thüringen, bettelt in Dörfern, findet Arbeit als Knecht und meldet sich beim Schulamt in Gernrode im katholischen Landkreis Eichsfeld. »Der dortige Schulleiter war verhaftet worden, weil er ein ›Nazi‹ war. Ich – es ist ein Witz – kam an seine Stelle.«

Er ist wieder in seinem Element. »Die Kinder in diesem Dorf waren einfach wunderbar. Beinahe täglich lag eine Trockenwurst auf dem Katheder.« Sie päppeln ihren ausgemergelten Lehrer auf. Er führt mit ihnen ein Krippenspiel auf und übernimmt die katholische Jugendgruppe, veranstaltet »bunte Abende« und spielt wieder Theater. Die Freie Deutsche Jugend – FDJ ist im Entstehen – und da macht die katholische Jugend ebenso mit, wie sie bei der Hitlerjugend mitgemacht hat, mitmachen musste. Mitmacher Walter hat schon so vieles mitgemacht.

Er freundet sich mit dem Bürgermeister an, auch seine Frau Marle bekommt als Lehrerin eine Stelle im Ort, und sogar die Eltern ziehen nach Gernrode. Es sieht nach einem soliden Neuanfang aus. Dann wird das ehemalige Parteimitglied doch aus dem Schuldienst entlassen und muss sich um seine Rehabilitation bemühen. Vorübergehend jobbt er als Buchhalter für sudetendeutsche Antifaschisten, die eine Kalkbrennerei aufgemacht haben, bis ihn Kommunisten aus Komotau anschwärzen. Er sei hauptamtlicher Bannführer gewesen, behaupten sie fälschlich. In letzter Minute, die Polizei steht schon vor der Tür, springt er aus dem Fenster in den Garten und schleicht sich bei Eintritt der Dunkelheit über die Felder davon, Richtung Westen, nach Bayern in die amerikanische Zone.

Er landet beim Großbauern Alfons Eckl in Neusling bei Plattling als Knecht. »Als er hörte, dass ich Lehrer sei, meinte er, dass ich nicht viel können würde.« Er darf aber bleiben, um sich neben der Arbeit im Wald, auf dem Feld und im Stall um die sieben Kinder zu kümmern. Unter den sechs Knechten hat er den niedrigsten Rang, aber er leidet keine Not; nachts wird öfter mal eine Sau schwarzgeschlachtet.

Wenn er nicht Knecht bleiben, sondern wieder Lehrer werden will, muss er entnazifiziert werden. Das erste Urteil der Spruchkammer ist für ihn vernichtend. Er wird als »Aktivist« abgestempelt. In Passau wendet er sich an das bischöfliche Amt, um zu fragen, ob es für ihn, den früheren Staffelsteiner, nichts zu tun gäbe. Er wird Mitarbeiter des bischöflichen Jugendamts und macht sich wieder sofort unentbehrlich. Der Generalvikar vermittelt ihm einen Anwalt, der Berufung gegen seine missglückte Entnazifizierung einlegt. In der zweiten Instanz wird er als »Mitläufer« eingestuft und mit der Weihnachtsamnestie 1947 begnadigt.

Im Frühjahr 1948 kommt die Währungsreform. Jeder erhält 40 DM. »Von diesem Geld kaufte ich mir zuerst einen Füllfederhalter.« Kaum ein Satz meines Vaters rührt mich mehr. Das Schreiben ist auch seine Leidenschaft. Vater gelingen so lakonische, wahrhaftige Sätze wie: »In Bayern ist von der Kirche her alles möglich. So genügte auch ein Anruf bei der Schulrätin und ich bekam eine Stelle an der Volksschule in der Marktgemeinde Tittling.« Er wohnt im Pfarrhof im Zimmer neben dem Kaplan und unterrichtet eine Klasse mit 67 Buben der Jahrgänge vier und fünf.

Am 14. August 1948 stirbt Marle 34-jährig in einem Krankenhaus der sowjetischen Zone. Walter kann nicht zur Beerdigung fahren. In seinem Text kein Wort der Trauer. Bereits vier Zeilen nach dieser Mitteilung heißt es im Lebensbericht: »Indessen hatte ich auch wieder mit Gretl Kontakt.«Ist Walter nach allem, was geschehen ist, so abgestumpft oder einfach nur gierig nach Leben? Er kennt Gretl, eine kleine, vollbusige, strohblonde Schönheit mit wasserblauen Augen und einem sinnlichen Mund aus dem Turnverein und der Hitlerjugend länger, als er Marle gekannt hat. Sie ist mit wenigen Habseligkeiten im Viehwaggon »umgesiedelt« worden, wie man sagt.

Die aus Böhmen entfernten drei Millionen Deutschen sind keine Asylbewerber. Mit »Geflüchteten«, wie es heute heißt, aus Syrien, Afghanistan oder Afrika verglichen zu werden, hätte sie mit Empörung erfüllt. Die Transporte werden im Land verteilt, die Mittellosen in Baracken untergebracht oder einheimischen Hausbesitzern zur Unterbringung zugewiesen, so wie Gretl, ihre Mutter Elisabeth und ihr jüngerer Bruder Walter im schwäbischen Illertissen. Dort heiratet sie meinen Vater im Juli 1949. Mutter zieht nach Tittling. Als sie schwanger ist, heißt es, in einem Pfarrhaus dürfe kein Kind zur Welt kommen. Man bringt sie im Schulhaus unter.

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Die Geschichte der Bundesrepublik ist nicht zu verstehen ohne das Desaster davor. Millionen Väter und Mütter sitzen im übertragenen Sinn auf der Anklagebank. Es bleiben meist schwebende Verfahren ohne abschließendes Urteil. Auch meine Frage bleibt letztlich offen: War mein Vater ein Nazi? Ja. Doch ist es entscheidend, dass er in der Partei war? Ist die drängendere Frage nicht die, ob er etwas bzw. was er auf dem Kerbholz hatte? Was wusste er? Hat er sich als HJ-Führer schuldig gemacht nach seiner schweren Verwundung?

Seine Aufzeichnungen kommen mir vor wie eine Mischung aus Rechenschaftsbericht, Selbstvergewisserung und Selbsterkenntnis. Er ließ sich nicht unterkriegen. Sein Talent für das Schicksal kann ich bewundern. Aus reiner Überzeugung machte er wohl nicht mit. Er nutzte die Situationen, die sich ihm boten, war auf seinen Vorteil aus. Wie hätte ich mich verhalten? Wenn er wirklich an etwas glaubte, dann an sich selbst. Soll ich ein drittes Entnazifizierungsverfahren führen? Ich bin schon dankbar dafür, dass mein Vater sich überhaupt ausführlich geäußert hat.

Vater ist im Zweifel immer dafür. Ich bin unter ungleich günstigeren Umständen aus Prinzip meist dagegen. Ist das meine Reaktion auf seine Erfahrungen? Meine Eltern kultivieren ihre Egerland-Nostalgie und langweilen ihre Söhne damit. Mich stört, dass sie sich als »Heimatvertriebene« bezeichnen. Heimatvertriebene – sind das nicht Fremde? Ich will kein Flüchtlingskind sein. Mich interessieren meine Ahnen kaum. Nach dem Tod der Eltern reißen die Verbindungen zu den wenigen Verwandten ab. Familienzusammenrottungen mochte ich nie, bedauere heute jedoch, so wenig über meine Herkunft zu wissen. Ich kann niemanden mehr fragen.

Ich war auch nie in Komotau, aber öfter, auch mit meinen Eltern, in Prag. Sie liebten diese Stadt, fühlten sich ihr verbunden. Vater hatte einen tschechischen Freund, für den er ein Schwarzgeldkonto in D-Mark führte. Er war aber auch jahrzehntelang Vorsitzender vom Orts- und Kreisverband der Sudetendeutschen Landsmannschaft und vom Bund der Vertriebenen. Er hatte eine neue Heimat gefunden und nicht den geringsten Grund, sein Schicksal zu beklagen, dennoch trommelte er für ein ominöses »Recht auf Heimat«. Er sah darin keinen Widerspruch. Ich brauchte lange, um das zu verstehen.

Manchmal kommt es mir vor, als hätte mein Vater mehr zu erzählen als ich. Nie musste ich um mein Leben fürchten, geschweige denn kämpfen. Mein Leben verläuft bisher frei von Tragik. Trotzdem bin ich selten so zufrieden, wie es mein Vater gewesen ist.

DER GEFRORENE SEE

In Hohenau werde ich eingeschult, in dem Schulhaus, in dem ich wohne. Mit den Älteren bis zum 4. Jahrgang sitze ich in einer Klasse. Meine Zeichnung auf der Schiefertafel wischt der Banknachbar aus, zornig zerbreche ich alle seine Farbkreiden und kann nicht begreifen, dass ich bestraft werde. Nur ich. Ist meine Zeichnung denn nicht viel mehr wert als ein bisschen Kreide? Für den Sohn des Schulleiters gibt es ohnehin kein Pardon.

In meiner Individualität nicht geachtet und in meiner Genialität nicht hinreichend beachtet, fühle ich mich offenbar von Anfang an. Die Schulzeit ist eine Leidensgeschichte. Die erste Klasse absolviere ich an vier verschiedenen Schulen, fast wie ein Zirkuskind. Nach Hohenau folgt Illertissen, wo ich bei der Großmutter geparkt werde, während Vater in Lindau eine Bleibe sucht. Das ist im Nachkriegsdeutschland so schwer wie heute wieder.

Er findet für zwei Erwachsene und zwei Kinder zunächst in Bad Schachen nur ein möbliertes Zimmer in einem Einfamilienhaus, das einem Witwer und seinem scharfen Schäferhund gehört. Dort besuche ich für ein paar Wochen die dritte Schule. Unter dem mächtigen Walmdach der vierten Schule auf dem Hoyerberg sind zwei kleine statt einer großen Schule untergebracht. Protestanten und Katholiken sind strikt voneinander getrennt, nicht nur im Fach Religion, und weil es nicht genügend Kinder derselben Konfession gibt, werden jeweils zwei Jahrgänge zusammengelegt. Das katholische ABC ist offenbar ein anderes ist als das evangelische.

Dieser pädagogische Unsinn ist ehernes Gesetz. Bayern und andere Bundesländer haben die Bekenntnisschule wiederhergestellt. Sogar SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, der Bayern regiert, ist eingeknickt, will »im Interesse des religiösen Friedens keinen Schulkampf« riskieren. Die Lindauer Bevölkerung ist zu gleichen Teilen katholisch und evangelisch, auf der Insel stehen ihre Kirchen unmittelbar nebeneinander, und seit dem Augsburger Religionsfrieden vor 400 Jahren sind keinerlei Feindseligkeiten überliefert.

Fräulein Thierheimer, die katholische Schulleiterin, eine korpulente, ledige Bauerntochter in der Mitte ihres Lebens, legt auf Schönschrift besonderen Wert, gelegentlich setzt es Schläge mit einem Bambusstöckchen auf die Handflächen, demütigender ist das In-der-Ecke-Stehen. Man soll sich schämen, wenn man jemanden an den Haaren gezogen oder beim Beten gegrinst hat. Körperliche Strafen sind bei der Aufzucht deutscher Untertanen nach wie vor zulässig und allgemein akzeptiert. Prügel, ein »gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht«, werden in Bayern erst 1980 verboten. Die Achtundsechziger-Rebellion ist längst vorbei, als sich die Auffassung durchsetzt, dass solche Erziehungsmethoden charakterliche Missbildungen verursachen können.

Endlich eine Wohnung. Drei Zimmer. Vor dem samstäglichen Bad wird der Warmwasserkessel angefeuert, genug für knapp zwei Wannen. Die Eltern teilen sich die erste, die zweite die beiden Söhne. Wer hätte gedacht, dass 70 Jahre später dieses Verfahren wieder aktuell werden könnte, um Energie zu sparen! Ein Kinderzimmer gibt es nicht, sondern nur eine Ausziehcouch für die Brüder neben der Essecke. Für sie ist im kleinen Wohnzimmer kein Platz, weil dort auch der schwere eichene Schreibtisch Vaters steht.

Mein erstes Tagebuch, ein liniiertes Heft, stammt aus den Jahren 1958 und 1959. Der Alltag kommt nicht vor, nur das Besondere. Die Weihnachtsgeschenke werden aufgelistet »1. Ein paar Ski, 2. ein Jugendlexikon, 3. drei schöne Bücher, 4. drei Märchenschalplatten (sic), 5. einen Skianzug und Schokolade.«Bescheidener Wohlstand bricht aus. Genauer geschildert werden Reisen und Ausflüge, etwa zur Flugschau der französischen Garnison in Friedrichshafen. »Die Hubschrauber haben in der Luft getanzt. Die Fallschirmjäger sind durch die Wolken gesprungen. Einer hat sich verletzt.«Auf nahezu jeder Seite eine Zeichnung. Immer wieder Schiffe, auf dem Bodensee, in den Häfen von Rotterdam und Marseille.

Kein einziges Wort steht im Tagebuch über den beklemmenden Besuch des Wallfahrtsorts Lourdes. Er ist dennoch in nachhaltiger Erinnerung geblieben. Eine tausendköpfige Menge, darunter Hunderte in Rollstühlen auf dem Platz vor den beiden übereinander gebauten Kirchen. Ich gehe verloren. Die Eltern können kein Wort Französisch. Instinktiv, keineswegs in Panik, steigt der Knirps die Treppen zur Oberkirche hinauf, aus der Menge heraus, und seine Eltern entdecken ihn auf den Stufen. Kein Wunder. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, lautet die Maxime des Vaters, der, so will es mir vorkommen, auch bei den Katholiken nur mitgemacht hat, weil es sich anbot, nicht weil er tiefgläubig gewesen wäre.

Mit Hingabe spiele ich Kasperletheater, notiere sogar die Handlung einiger Stücke. Eines handelt von einem Bösewicht, der mit seinem Diener Seppl nach Afrika fährt, »um den Neger zu bestehlen. Seppl vereitelt den Plan, indem er seinen Freund Kasperl zu Hilfe ruft«. Auf der Seite des Bösen, in den Notizen als »Anwalt« bezeichnet, agieren Zauberer, Krokodil und Teufel. Wie kommt ein Kind vor einem halben Jahrhundert auf so einen geradezu postkolonialen Plot? In der Schule steht ein lebensgroßer Mohr mit einem Schlitz im Kopf, der dankbar nickt, wenn ein Zehnerl hineingeworfen wird, das an die Mission geht.

Die große Politik hat andere Sorgen. Was kriege ich davon mit? Als Bayerns CSU-Ministerpräsident Hans Ehard Lindau kurz nach der Wahl 1960 besucht, wird er so festlich empfangen, wie es ein Söder nicht einmal mehr träumen kann. In weißem Hemd und kurzer Hose sage ich an der Rathaustreppe zur Begrüßung Verse auf, die eigens für diesen Anlass geschmiedet worden sind. Im Radio laufen stundenlang Bundestagsdebatten, die Redner schenken sich nichts. Viel verstehe ich noch nicht, aber diese Heftigkeit gefällt mir. Adenauer und Brandt, Strauß und Wehner beziehen ihre Leidenschaft aus persönlichen Erfahrungen in Krieg und Diktatur. Politik als Beruf ist damals noch keine Karrierelaufbahn von der Stange.

Die große Trommel

Wie sehr der Kalte Krieg meine Eltern beunruhigt, zeigen sie nicht. Heimlich betreibt auch der schwarze Kanzler, wofür er die Roten angreift: Entspannungspolitik. »Über kurz oder lang werden wir an der Anerkennung der DDR nicht vorbeikommen«, sagt Adenauer, allerdings nicht öffentlich. Als in Genf 1959 auf der Konferenz der Siegermächte die Zusammenlegung der beiden deutschen Staaten scheitert, freut er sich: »Wir haben nochmals fies Jlück jehabt.« Er tickt deutlich weniger national als die Sozialdemokraten, die sich auf eine deutsch-deutsche Föderation um fast jeden Preis einlassen würden. Am anderen Ende der Republik, am Schwäbischen Meer, erregt der Bau der Berliner Mauer 1961 kaum jemanden.

Im Sommer 1960 ist beim Lindauer Sportfest Armin Hary aus der Nähe zu bewundern. Er hat gerade in Zürich offiziell den Weltrekord über 100 Meter gebrochen, der erste Mensch, der die Sprintstrecke in 10,0 Sekunden (handgestoppt) schafft. Kurz darauf gewinnt er die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Rom. Es ist das erste Fernsehereignis, an das ich mich erinnere – allerdings bei Nachbarn; der Lehrervater hat aus Überzeugung noch kein Gerät.

Nicht bloß deshalb bekommen wir am Rand der Welt nicht viel mit. Die Eltern stimmen 1960 abends noch lauthals »Kein schöner Land in dieser Zeit« an, als in Hamburg schon die Beatles auftreten. Die USA lassen im selben Jahr die erste Anti-Babypille zu. Sie wird die Beziehung der Geschlechter zueinander gründlich verändern – noch sind es nur zwei. Beim Wandertag weist Fräulein Thierheimer die Buben an, links vom Weg »auszutreten«, die Mädchen rechts. Ich pinkle rechts, Fräulein Thierheimer unterstellt mir unkeusche Absichten und verdonnert mich dazu, ihr striktes Gebot 50-mal hintereinander zu schreiben.

Links und rechts: In der Politik, die Vater betreibt, sind sie auch leicht zu verwechseln. Sie spielen, abgesehen von seinen Sonntagsreden am »Tag der Heimat«, kaum eine Rolle. Es sind Dinge zu organisieren, Wohnraum für die vielen »Heimatvertriebenen«, Schulraum, Turnhallen.

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Von Heinz Hagel, dem besten Freund, werde ich mit »Schundheftchen« versorgt, die zu Hause strikt verboten sind. Heute sind Eltern schon froh, wenn ihre Plagen wenigstens Comics »lesen«. Die Titelfigur Sigurd erinnert an den deutschen Helden Siegfried. Bildungsgut ist das nicht, zwei Nummern der von Hansrudi Wäscher von 1953 bis 1960 gezeichneten und getexteten querformatigen Schwarzweiß-Heftchen auf billigem Papier werden als jugendgefährdend indiziert.

Heinz ist der Anführer unserer »Ritterbande«, die auf dem Schulweg Schlachten mit matschigen Mostbirnen veranstaltet und »Judenstrick« raucht, wie die Waldreben am Bahndamm heißen. Kämpfen ist nicht meine Stärke, lieber denke ich mir Geschichten dazu aus, entwerfe Fahne und Wappen. Ein Baumhaus ist unsere Burg. Heinz ist ganz anders als ich, ein Haudegen wie Sigurd. Arglos lasse ich mir von ihm Boxhandschuhe überstreifen, und habe auch schon seine Faust im Gesicht. Es tut nicht weh, schmeckt aber nach Blut, das nicht aufhören will, mir aus der Nase zu laufen, bis man mich zum Arzt bringt. Im Spielfilm »Das Schweigen der Lämmer« fragt der geisteskranke Kannibale Hannibal Lecter die FBI-Agentin Clarice Starling: »Was war das schrecklichste Erlebnis ihrer Kindheit?« Ich müsste nicht lange überlegen, kann bis heute kein Blut sehen, schon gar nicht das eigene.

Alle Versuche, aus mir einen »ganzen Kerl« zu machen, scheitern. In den Turnverein drängt mich Vater, auch das endet nicht schön. Beim Nikolausturnen vor Publikum sollen die Kinder durch einen brennenden Reifen springen. Niemand findet das fragwürdig. Ich weigere mich. Weil ich ein Feigling bin oder mich aus Überzeugung der Dressur widersetze? Wohl beides. Tragisch endet die Freundschaft mit Heinz, dem Sohn eines Feldwebels. Manchmal spielen wir mit der Dienstpistole seines Vaters. Von einem anderen Freund wird er beim Spielen versehentlich erschossen.

Erst nach der fünften Klasse Volksschule werde ich für reif genug erachtet, auf die Oberrealschule für Knaben zu wechseln. Nur sechs Prozent meines Jahrgangs machen Abitur, heute sind es deutlich mehr als 50 Prozent.

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Im Sommer 1962 bin ich mit den Eltern in Rom. Zur öffentlichen Audienz des Papstes hat jeder Zutritt ohne jede Sicherheitskontrolle. Im Schiff des Petersdoms stehen die Tribünen, auf denen in Kürze die Teilnehmer des Zweiten Vatikanischen Konzils Platz nehmen werden. Es ist eng deshalb. Eine Meute ekstatischer Nonnen drückt den schmächtigen Knaben zur Seite, der sich zur Wehr setzt und einer Schwester die Brille von der Nase haut.

Ordner ziehen mich aus dem Tumult und führen mich ab – nach vorn in die erste Reihe. Johannes XXIII., der kleine, gemütlich dicke, liberale Kirchenreformer aus Bergamo schwebt auf seiner leicht schwankenden Sedia gestatoria segnend direkt an mir vorbei, und es will mir vorkommen, als lächle er mir ganz persönlich zu.

Danach träume ich gelegentlich davon, zum Papst gewählt zu werden. Auf dieser Karriereleiter stehe ich als Ministrant und katholischer Pfadfinder noch ganz unten. Es ist nicht Frömmigkeit, sondern in meiner Familie schlichte Konvention. Das frühe Aufstehen zur kargen, lateinisch gelesenen Frühmesse ist mir ein Graus, lieber schwenke ich das Weihrauchfass, vor allem bei Beerdigungen, des Trinkgelds wegen. Längst aus der Kirche ausgetreten, gefällt mir am Katholizismus heute noch immer das Zeremonielle und Sinnliche. Wunder dagegen sind mir schon als Kind suspekt. Alles Überirdische, Esoterische übt ungerechtfertigte Macht aus über Menschen. Als Skeptiker glaube ich nicht an ein Schicksal, halte alles für Zufall.

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Das Jahr 1962 ist an Dramatik kaum zu überbieten. Im Oktober, als das Konzil in Rom beginnt, schockt die Kubakrise die Welt. Die Angst vor einem Atomschlag der Sowjets und einem Dritten Weltkrieg wächst. Deutschland wäre im Kriegsfall ein atomares Schlachtfeld. Die Bundeswehr wird in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Nach einem Manöver (Fallex) bezeichnet der »Spiegel« die Bundeswehr als »bedingt abwehrbereit«. Verteidigungsminister Strauß sorgt rechtswidrig dafür, dass Herausgeber Augstein und Chefredakteur Ahlers als Landesverräter in Untersuchungshaft genommen werden. Es herrscht Krieg: An Strauß arbeitet sich Der »Spiegel« schon länger ab, etwa mit der legendären Titelgeschichte »Der Endkampf«: »Wichtig erscheint allein, ob Franz Josef Strauß ein Stück weiter auf jenes Amt zumarschieren kann, das er ohne Krieg und Umsturz schwerlich wieder verlassen müsste.« So ist der Ton der politischen Auseinandersetzung in den frühen Jahren der Bonner Republik. Dagegen geht es in der Berliner Republik wie in einem Mädchenpensionat zu. Was den Ton betrifft.

Am Ende muss Strauß als Verteidigungsminister zurücktreten, denn das Parlament belügt man nicht. Jedenfalls damals. Die noch junge Demokratie erweist sich beim ersten ernsthaften Angriff auf die Pressefreiheit keineswegs als bedingt abwehrbereit. Da wäre ich mir heute nicht mehr sicher. Auch beim »Spiegel«, der sich damals zum »Sturmgeschütz der Demokratie« stilisiert, ersetzt heute Haltungsjournalismus Haltung. Lügen im Parlament sind kein Rücktrittsgrund mehr. Der Verfassungsschutz tritt auf den Plan, brandmarkt Kritik als »Delegitimierung« des Staates auch »unterhalb der Strafbarkeit«. Damals ist die »Verhöhnung des Staates« ein zulässiges Stilmittel. Man nennt es Meinungsfreiheit. Heute schwingt sich der Staat »im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat« (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) zur Moralinstanz auf. Aber ich greife vor.

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