Felsen in der Brandung - Wolfgang Herles - E-Book

Felsen in der Brandung E-Book

Wolfgang Herles

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Beschreibung

Von Schönheit und Unbeugsamkeit: Die deutsche Künstlerfamilie Braunfels-Hildebrand Europäische Kulturgeschichte wird lebendig, wenn Wolfgang Herles die Biografie einer der berühmtesten deutschen Familie schildert. Liebe und Freundschaft, Streit und Zerwürfnisse, Erfolg und Scheitern: Anschaulich erzählt der Autor von fünf Generationen einer schillernden Familie, die bedeutende Bildhauer, Komponisten, Musiker, Philosophen und Architekten hervorgebracht hat. Alle vereint, dass sie widerständig und konservativ zugleich waren, stets unbeugsam vor dem Zeitgeist und eine Gegenmacht zu den Mächtigen ihrer Zeit. Die größte verbindende Kraft über die Generationen hinweg ist das klassische Ideal der Schönheit im Denken und Tun. - Porträt der deutschen Künstlerfamilie Braunfels-Hildebrand - Zweihundert Jahre deutsche und europäische Kulturgeschichte werden lebendig - Ein Kaleidoskop namhafter Persönlichkeiten aus Kunst, Musik, Architektur, Philosophie und Literatur - Eine Familienbiografie von einem der profiliertesten Journalisten und Autoren Deutschlands Alle Wege führen nach Florenz: Kunst, Licht und Lebensgefühl Italiens Ohne Italien ist die Familie Braunfels-Hildebrand nicht denkbar. Geistiges Zentrum war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein ehemaliges Kloster auf einem Hügel in Florenz. Die Familie wurde tief geprägt von der italienischen Renaissance und Klassik. Hieraus leitete sich ein unerschütterlicher, ästhetischer Anspruch ab, ob es nun um Kunst, Wirtschaft oder Politik ging. Prominente Persönlichkeiten wie Adolf von Hildebrand, Walter Braunfels, Dietrich von Hildebrand, Wolfgang Braunfels oder Stephan Braunfels gingen aus dieser Familie hervor. Wie lebt es sich in und mit einer Familie, die genau wie die Brentanos oder Weizsäckers so viele Berühmtheiten hervorgebracht hat? Was hält einen Familienverband zusammen? Wie bleibt man seinen Familienidealen über die Zeitläufte hinweg treu? Wolfgang Herles bringt uns mit seiner faszinierenden Biografie eine einflussreiche Familie näher und damit auch europäische und deutsche Kulturgeschichte.

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WOLFGANG HERLES

FELSEN IN DERBRANDUNG

BRAUNFELS-HILDEBRAND

Die Geschichte einerdeutschen Künstlerfamilie

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2022 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro Regular, Minion Pro Bold

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotive: © Maren Köhler, München (Cover u.); © ullstein bild/Frank Eugene Smith (Cover o. li.); © Lebrecht Music Arts/Bridgeman Images (Cover o. Mi.); © picture-alliance/dpa (Cover o. re.); © akg-images/De Agostini Picture Lib./W. Buss (Rückseite)

ISBN 978-3-7109-0149-2

eISBN 978-3-7109-5141-1

Inhalt

Einstimmung – Gruppenbild in San Francesco

IRevolution und Aufbruch – zwei Achtundvierziger

Unerkannte Nähe | Bruno Friedrich Hildebrand

Ludwig »Lazarus« Braunfels

IIDie Macht der Schönheit – der Bildhauer Adolf von Hildebrand

Kindheit in der Schweiz | Jugend in Deutschland

Selbstfindung in Rom | Freunde fürs Leben

Die Autonomie des Autodidakten | Klarheit und Wahrheit

Irene | Der Clan der Florentiner

Der größte Porträtist seiner Zeit | Der Primat der Form

Nicht deutsch genug | Das Hildebrandhaus

In allerhöchster Ungnade | Bismarck hoch zu Ross

Befreundete Wittelsbacher | Der Bildhauer als Architekt

Musik, die zweite Göttin | Am Abgrund

IIIZwei Musiker, eine Liebe – Bertel Hildebrand-Braunfels

Verliebt, verlobt … | … verlobt, verheiratet

IVStein im Damm – der Komponist Walter Braunfels

Hitlers Auftrag | Wunderkind ohne Ambition

Münchner Bohème | Leitbilder und Schreckbilder

Erste Erfolge | Krieg und Konversion

»Meine katholischen Vögel« | Geistliches und Groteskes

Lehrer und Pianist | Die Verdammung

Verkündigung | Späte Opern

Erst verbannt, dann verkannt | Wiederentdeckung

VKatholik im Widerstand – der Philosoph Dietrich von Hildebrand

Glaube, Liebe, Wahrheit | Glaube, Liebe, Frauen

Gegen den Strom | Flucht und Exil

VIDas vertonte Parlament – der Pianist Michael Braunfels

In großen Fußstapfen | Das Schöne, Wahre und Gute

VIIDas Maß der Stadt – der Kunsthistoriker Wolfgang Braunfels

Europäischer Geist | Die Städte der Toskana

Ein Katechismus für den Aufbau | Karl der Große

Ordnung und Schönheit | Sigrid Esche-Braunfels

VIIIFels und Filz – der Architekt Stephan Braunfels

Ein Hochveranlagter legt sich an | Architektur und Musik

Das Studium der Schönheit | Der Kampf um den Hofgarten

Der »Querkopf« | Ein Tempel für die Kunst

Das Unglück im Glück | Gebaute Demokratie

Berliner Enttäuschungen | Der Skandal um das Kulturforum | Hochgefühle in Sachsen

Das Kaiserforum am Heldenplatz | Ungebaut und unvollendet | Braunfels in der Brandung

Das Schöne und der Trotz – ein Fazit

Literatur

Personenregister

Bildnachweis

Einstimmung – Gruppenbild in San Francesco

Man muss sich das vorstellen: Ein zwar begabter, doch noch keineswegs etablierter Bildhauer, gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt, hat seine Ausbildung abgebrochen. Es zieht ihn nach Italien. Dort gefällt es ihm, er will bleiben, und so bittet er seinen Vater kurzerhand, ihm seinen Erbteil von zwanzigtausend Goldlire auszubezahlen, um in Florenz ein ehemaliges Kloster zu kaufen. Die Lage ist eins a. Das Objekt der Begierde, San Francesco di Paola, liegt etwas südlich des Zentrums von Florenz auf einem Hügel, bietet einen herrlichen Blick auf die Türme und Kuppeln der Altstadt. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Wie reagiert der Vater? Ist er entsetzt? Hält er seinen Sohn für größenwahnsinnig oder sonst nicht mehr ganz gescheit? Befiehlt er ihn zurück? Lehnt er entrüstet ab? Nichts wäre verständlicher. Doch er sagt ohne groß zu zögern ja. Dieser Vater, ein rationaler Wirtschaftswissenschaftler und Zahlenmensch, »willigte ein, ohne das Anwesen auch nur gesehen zu haben«, wie sein Urenkel Wolfgang Braunfels erzählt.

Was für ein Vater! Was für ein Ausbund an Liberalität! Was für ein Vertrauen in seinen Sohn! Welch moderne Auffassung von Selbstverwirklichung! Und das vor eineinhalb Jahrhunderten! Ohne seinen Vater Bruno wäre aus Adolf Hildebrand gewiss nicht der vielleicht bedeutendste deutsche Bildhauer seiner Zeit geworden. Und ohne dessen Residenz in Florenz wären die nachfolgenden Generationen nicht angesteckt worden von diesem Ort, von seiner Kunst, seinem Licht, seinem Lebensgefühl. Sie teilen nicht bloß die Leidenschaft für Klima, Farben, Formen und Töne der Toskana, sondern auch den Geist, der mit diesem Ort verbunden ist. Hier ist seine Quelle. Hier entspringt die Idee, die alle ihre Künste und Charaktere vereint: Bildhauer, Musiker, Architekten, Literaten. Hier bilden sich die Maßstäbe, die sie ertüchtigen, auf dem Strom der Zeit nicht einfach nur ergeben zu treiben.

Alle waren sie hier, mehr oder weniger oft, mehr oder weniger lang. Auch wenn sie sich nicht mehr zu Familienfesten treffen, ist es ein zentraler ideeller Ort geblieben. Hier versammelt sich die weit verstreute, höchst vielseitige und verschiedenartige Familie gewissermaßen zu einem unsichtbaren Gruppenbild.

Zu sehen sind auf ihm Figuren aus fünf Generationen. Ein Revolutionär ist darunter, Bruno Friedrich Hildebrand, einer der Begründer der Nationalökonomie, der 1848 in Frankfurt vergeblich für die Demokratie kämpfte, zum Tode verurteilt wurde, und nach dem Scheitern der Revolution in die Schweiz ins Exil floh und sich dort als Eisenbahnpionier hervortat. Aus seinem Vermögen wurde San Francesco erworben.

Auch sein Sohn Adolf legte sich gründlich an mit der deutschen Obrigkeit, mit Kaiser Wilhelm vor allem. Seine Frau Irene brachte sechs Kinder in San Francesco zur Welt. Bertel, die jüngste der fünf Töchter, entflammte in Liebe zum späteren Dirigenten Wilhelm Furtwängler, heiratete dann aber doch Walter Braunfels. Der machte als Opernkomponist Furore. Aber dann schlug er Adolf Hitler die Bitte aus, eine Parteihymne zu komponieren, und wurde als »Halbjude« von den Nazis verfemt. Dennoch weigerte er sich, Deutschland zu verlassen. »Stein in einem Damm« wollte er sein.

Auf dem Gruppenbild zu sehen ist auch Bertels Bruder Dietrich. Er musste vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen. Der berühmte katholische Philosoph ging für die Freiheit des Individuums auf die Barrikaden und war doch zugleich ein erzkonservativer Moraltheologe und Papstfreund.

Das ist kein Widerspruch. Immer wieder positionierten sich namhafte Köpfe dieser Familie gegen den Zeitgeist, ob er von rechts wehte oder von links. Sie waren nicht gewillt, sich den herrschenden Strömungen anzupassen, weder künstlerisch noch politisch. Ob aus Stolz oder Trotz – immer wieder verwickeln sie sich in Konflikte mit Mächtigen, von Kaiser Wilhelm über Hitler bis Franz Josef Strauß. So spiegeln sich nahezu zweihundert Jahre deutscher Geschichte in der Geschichte dieser Künstlerfamilie.

Auf dem imaginären Gruppenbild ist auch Wolfgang Braunfels zu sehen. Der Sohn des Komponisten erforschte in San Francesco die Baugeschichte toskanischer Städte. Dessen Sohn Stephan Braunfels initiierte aus dieser Erkenntnis Widerstand gegen monströse Stadtplanungen in München und zog die Pfeile der Mächtigen auf sich. Im wiedervereinten Berlin baute er dann Parlamentsgebäude, die mit kühnem Brückenschlag über die Spree Ost und West verbinden. Wie kein zweiter Architekt opponiert er gegen kleingeistige Bauherren, Filz und Mauscheleien.

Der Komponist Walter Braunfels schwärmte in Florenz nicht nur vom Licht und von der Wärme, sondern stellte auch fest: »Dies Land spricht so schön von der großen Macht der Schönheit.« Sein Enkel Stephan Braunfels stimmt ihm heute noch zu: »Wir waren fast jeden Sommer auf unserem Familiensitz in Italien. Florenz ist damit meine architektonische Vaterstadt geworden.« Schönheit also ist die Kraft, die alle Mitglieder dieser Familie vereint, ob sie sich als Bildhauer, Musiker, Architekten oder Philosophen ins Gefecht stürzten.

Dabei folgen sie einem ästhetischen Gesetz. Ob wir es Schönheit nennen oder Klarheit – letztlich ist es das, was diese Künstler als Wahrheit erkennen und womit sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Feldern anecken und sich dem Konformismus widersetzen. Hier in Florenz finden sie ihre Maßstäbe und halten an ihnen gegen vielerlei Widerstände unbeugsam fest. Das, was sie hier als schön und deshalb richtig empfinden, erhält die Schaffenskraft auch in bitteren Zeiten. Sie lieben den Erfolg und glänzen gern, taugen aber nicht zum Opportunismus. Unabhängigkeit zeichnet sie über Generationen hinweg aus. Sie beziehen ästhetische Positionen aus dem Geist des »klassischen« Florenz. In diesem Sinne sind sie allesamt unangepasste Traditionalisten, die sich gegen die Moden der Zeit wehren. Diese Haltung erweist sich immer auch als politisch. Und umgekehrt: Für diese Familie ist Politik immer auch eine ästhetische Frage. In dieser Hinsicht gibt diese Familie bei aller Unterschiedlichkeit ein verblüffend geschlossenes Bild ab. Als besäße sie eine Botschaft, als folge sie einem inneren Programm.

So ist dies mehr als eine Sammlung von Lebensgeschichten bewundernswerter Individuen einer Familie. Es geht um das, was diese Familie im Innersten zusammenhält. Und das sind weniger die Gene als das gemeinsame geistige Fundament. Dieses gilt es zu vermessen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wie der Widerstandsgeist wachsen aus gemeinsamen Überzeugungen.

Kollektivistisches, gar nationalistisches Denken ist dieser Familie so gut wie fremd. Und doch ist dies, gerade weil sie am deutschen Wesen zweifeln und mit den deutschen Dingen hadern, eine sehr deutsche Geschichte. Der Spiegel der deutschen Geschichte, in dem sie sich erkennen, wird immer wieder beleuchtet vom Licht des Südens. Italien, nicht Deutschland, liefert die Inspiration auch für das, was sich in München, Berlin und anderswo ereignet. Was diese Familie prägt, ist nicht nur sattes, gewachsenes bürgerliches Selbstbewusstsein, sondern immer auch die helle, klare Luft der Renaissance. Hier in Florenz haben sie sie geatmet.

San Francesco also. Was ist das für ein ganz realer und zugleich symbolischer Ort? Gestiftet hat das ehemalige Kloster der Pauliner, die Villa di San Francesco di Paola, eine der faszinierendsten Frauen der Renaissance, die legendäre Bianca Capello (1548–1587). Aus einer hochvermögenden venezianischen Patrizierfamilie stammend, lief sie 1563 mit ihrem florentinischen Geliebten Pietro Bonaventuri (1546–1570), dem Angestellten einer Bank, von zu Hause fort. Vergeblich setzten die Eltern eine hohe Belohnung auf ihre Ergreifung aus. Einige Jahre lebte das Paar unerkannt in Florenz. Ein Mächtiger hielt die Hand über sie. Denn Bianca war auch die Geliebte des Herzogs Francesco de Medici, zunächst heimlich, dann als seine offizielle Mätresse. Als die Sache sich bis Venedig herumsprach, ließ der Fürst Biancas Mann ermorden – es heißt, um sich die fällige finanzielle Entschädigung an jenen zu sparen. Die offizielle Ehefrau des Herzogs war eine Habsburgerin, Erzherzogin Johanna von Österreich, die ihm acht Kinder gebar, von denen nur zwei Mädchen am Leben blieben. Mehr Glück hatte Bianca, die dem Herzog einen Sohn gebar, Antonio de Medici. Freilich kursierten Gerüchte: Sie soll Schwangerschaft und Geburt vorgetäuscht haben. Drei als Leihmütter verdächtigte Frauen starben nach der Geburt, ebenso die Hebamme. Kurz zuvor, 1575, hatte die Mätresse den Konvent San Francesco di Paola gestiftet. Ein Zeugnis der Liebe wie der Reue? Das Kloster wurde 1783 aufgehoben und ging danach durch verschiedene Hände, beherbergte auch die Verwaltung der damals noch selbstständigen Gemeinde Galluzzo. Adolf Hildebrand kam kurz nach der Reichsgründung hierher. Er wollte nicht im explodierenden Berlin arbeiten; die deutschen Angelegenheiten interessierten ihn kaum. Er kaufte das Gemäuer 1874 einem Engländer günstig ab.

Das geistige Zentrum der Familie: San Francesco di Paola, mit dem von Hildebrand erhöhten Atelierdach, ca. 1890.

Prominentenherberge und »glückselige Insel«: die Rückseite des Klosters mit Loggia und Garten.

Hildebrand baute es aus und machte es zum gesellschaftlichen Zentrum einer deutsch-florentinischen Künstlerkolonie, »die zu den Zeitströmungen im stärksten Gegensatz stand, aber doch als stille Kulturmacht ganz allmählich in das geistige Leben Deutschlands hinüberdrang«, so eine enge Freundin des Hauses, die Schriftstellerin Isolde Kurz. Sie erzählt von Ochsenkeulen und Riesenschinken in Brotteig, die Irene Hildebrand, die Frau des Hauses, servierte. Den Ton aber bestimmte der Hausherr mit Beiträgen von tieferer Bedeutung. »Man sah die Geburt des Gedankens in seinen Augen.« Hildebrand war getrieben von »unersättlichem Arbeitsdrang«, von »trunkener Schaffenslust«, besaß zugleich aber eine Leichtigkeit und Erdung, »nichts Düsterglühendes, Titanisch-Gewaltsames«. Für Hildebrand selbst war es eine »glückselige Insel, auf der ich lebe«.

Die Gästeliste der Villa ist beeindruckend. Clara Schumann, Johannes Brahms, Franz Liszt, Richard und Cosima Wagner sind darauf zu finden, auch Dichter wie Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal. Der britische Premierminister William Ewart Gladstone war zu Gast, der Ingenieur und Unternehmer Werner von Siemens, die Schauspiellegende Eleonora Duse und Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, selbst Königin Victoria hatte sich angesagt, wie Adolf im Frühjahr 1893 seiner Frau schrieb, daraus wurde aber nichts. Es ist die Aura des Ortes, aber auch der ungezwungene, unbefangene Umgang mit Berühmtheiten aller Art, die die Hildebrands zu begehrten Gastgebern machte.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs konfiszierte der italienische Staat San Francesco. Der Grund war absurd. Adolf von Hildebrand besaß die schweizerische und die deutsche Staatsangehörigkeit; in Florenz wurde er als feindlicher Ausländer behandelt. Doch zählten zur Familie auch Adolfs Schwiegersöhne, der Schriftsteller Christopher Brewster, Amerikaner mit italienischem Pass, und der Maler Georges Baltus, ein Belgier. Sie kauften das Anwesen jeweils zur Hälfte zurück. Und so wohnen bis heute Nachkommen der Hildebrands in San Francesco.

In den Ateliers arbeiteten und arbeiten bis heute namhafte deutsche Künstler. Georg Baselitz malte hier als junger Mann seine Heldenserie. Markus Lüppertz modellierte sechs Bronzeköpfe: Die Bürger von Florenz.

Wäre dies nur die Geschichte einer Familie, sie wäre faszinierend genug und vergleichbar mit der Geschichte der Brentanos, der Mendelssohns, der Weizsäckers. Doch wer fünf Generationen der Braunfels’ und Hildebrands im Spiegel der deutschen Geschichte vorbeiziehen lässt, kann mehr erkennen – etwas Gemeinsames, das sich in Bildhauerei, Architektur, Musik und Philosophie nur unterschiedlich ausdrückt. Es ist, wenn man so will, ein Thema mit Variationen.

IRevolution und Aufbruch – zwei Achtundvierziger

Unerkannte Nähe

Diese Geschichte beginnt zu einer Zeit, die in vielerlei Hinsicht an unsere Gegenwart erinnert. Sie ist bestimmt von gewaltigen Umbrüchen. Die erste Industrielle Revolution erfasst die Gesellschaft, so wie heute die digitale Revolution fast alle Lebensbereiche wandelt. Maschinen, Eisenbahnen, Elektrizität, Medizin, Kommunikation. Zukunftsängste mischen sich mit wilden Utopien. Den ökonomischen und wissenschaftlichen Umwälzungen folgen die politischen. Noch herrschen Fürsten, aber das Bürgertum steigt auf. In Elend und Armut fallen die Massen zurück, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft. Karl Marx entdeckt den Klassenkampf. Charles Darwin findet heraus, dass der Mensch vom Tier abstammt. Massenmedien stellen Öffentlichkeit her. Es riecht in ganz Europa nach Umsturz. Deutschland ist dabei, politisch zu erwachen, aber noch lange keine Demokratie. Es ist eine vibrierende, nahezu alle Gewissheiten infrage stellende, atemberaubende Chancen bietende Zeit.

In ihr beginnt der Aufstieg der beiden Familien, um die es hier geht. Sie nehmen Teil am großen Aufbruch: ökonomisch, gesellschaftlich, politisch. Sie profitieren von der großen bürgerlichen Emanzipationsbewegung und gestalten sie mit. Die beiden Protagonisten sind namhafte Intellektuelle und zugleich tatkräftige Unternehmer. Sehr wahrscheinlich sind sie einander bekannt. Denn beide kämpfen in Frankfurt auf derselben Seite – auf der Seite der Demokratie.

Der eine, der Wirtschaftsprofessor Bruno Friedrich Hildebrand, Mitbegründer der Nationalökonomie in Deutschland, sitzt im ersten deutschen Parlament. Oder sagen wir besser: in dem Haus, aus dem das erste deutsche Parlament werden könnte, würde die Sache nicht krachend scheitern und von den Stiefeln des preußischen Militärs niedergestampft werden. Weil er in der Frankfurter Paulskirche mitwirkt, gilt er als Revolutionär, wird verfolgt, flieht ins Exil. Dort macht er sich einen Namen als Eisenbahnpionier, kommt hochverehrt nach Deutschland zurück. Der andere, der Frankfurter Anwalt, Journalist, Schriftsteller, spätere Mitgründer der Frankfurter Zeitung und Unternehmer Lazarus Braunfels ist auf kommunaler Ebene ebenfalls führend in der Demokratiebewegung von 1848 aktiv.

Lazarus Braunfels, der liberale Jude, tritt zum Protestantismus über und heißt nun Ludwig. Bruno Friedrich Hildebrand wiederum heiratet eine Jüdin, die protestantisch erzogen wurde. Religion spielt im Hause Hildebrand kaum eine Rolle. Dennoch sind seine Kinder nach traditioneller Definition Juden, denn sie haben eine jüdische Mutter. Bruno Friedrich Hildebrand und Ludwig Braunfels sind beide nicht sonderlich religiös. Sie stehen sich geistig und politisch nahe, als sie noch gar nicht wissen können, dass sich ihre Familien miteinander verbinden werden, ein halbes Jahrhundert nach der gescheiterten Revolution. Bruno Friedrich Hildebrands Enkelin Bertel wird Walter, den Sohn von Ludwig Braunfels, heiraten. Die Liebe geht durch die Ohren. Musik ist das Medium, das die beiden Familien zusammenführt.

Bruno Friedrich Hildebrand (1812–1878)

Die bronzene Büste an seinem Grab auf dem Johannisfriedhof in Jena hat kein Geringerer geschaffen als sein Sohn Adolf. Ernst und streng, ein wenig unnahbar blickt er auf die Nachwelt. Die Totenmaske diente als Vorlage; sie ließ wohl keine andere Wahl. Ganz anders wirkt ein Foto: Hinter einer kleinen, randlosen Schubertbrille blitzen skeptische, ironische Augen und verraten den intellektuellen Unruhegeist. Das Haar ist verstrubbelt, nur eine Ecke des weißen Kragens lugt nachlässig unter der Weste hervor. Das ist kein Patriarch, auch kein angepasster Repräsentant der herrschenden Gesellschaftsordnung im noch jungen Deutschen Kaiserreich.

Liberaler Unruhegeist: Bruno Friedrich Hildebrand, Porträt (li.) und Grabstele, geschaffen von seinem Sohn Adolf.

Bruno Friedrich Hildebrand stirbt am 29. Januar 1878. Am 6. März 1812, nur sechsundsechzig Jahren zuvor, wurde er in Naumburg an der Saale geboren als Sohn der Johanne Rosine Leidecker (1783–1860) und des Landgerichtsbeamten Johann Friedrich Christian Hildebrand (1780–1864).

Bruno wird in die Landesschule in Pforta aufgenommen. Dies ist kein nebensächliches biographisches Detail. Die berühmte Schule ist eines der ältesten und bis heute existierenden Internate, gegründet 1543 zur kostenlosen Förderung der Begabtesten aus allen Schichten, ein Reformprojekt der Reformation. Bruno erhält dort bereits eine Art Hochschulausbildung. Nach sechs Jahren, Ostern 1832, verlässt er Pforta dennoch vorzeitig. Ungeduld und intellektuelle Neugier treiben ihn zum Studium der Theologie nach Leipzig, für das er sich nach kurzer Zeit aber auch nicht mehr interessiert. Philosophie und Geschichte fesseln ihn nun mehr.

Und es ziehen ihn politische Ideen in ihren Bann, rühren ihn auf, noch ehe das ganz Land in Aufruhr gerät. Die bleierne Zeit seit dem Ende der napoleonischen Herrschaft und dem restaurativen Wiener Kongress geht zu Ende. Endlich werden auch in Deutschland die Ideen der Französischen Revolution lebendig. Nach Ende der Julirevolution in Frankreich 1830 flieht der König nach England, das liberale Bürgertum übernimmt die Macht. So weit ist Deutschland noch lange nicht. Aber auch in einigen Staaten des Deutschen Bundes kommt es danach zu Unruhen, etwa in Sachsen, vor allem in Leipzig, wo die lokale Obrigkeit das Tragen studentischer Uniformen verbietet. Studenten tragen die neue Bewegung des Liberalismus. Angestachelt von den Ereignissen in Frankreich protestieren Handwerksgesellen, Studenten, Arbeiter gegen Härte und Willkür der Obrigkeit. Davon wird auch Hildebrand bewegt. Einheit und Freiheit lautet die Parole, freie Presse und Demokratie.

In Leipzig schließt sich Hildebrand 1832 einer Burschenschaft an. Im selben Jahr, Ende Mai, wird das Hambacher Fest zum historischen Ereignis. Bis zu dreißigtausend Teilnehmer versammeln sich an der Pfälzer Schlossruine. Eine deutsche Fahne mit der Inschrift »Deutschlands Wiedergeburt« flattert im Wind. Hildebrand ist in Hambach zwar nicht dabei, doch macht auch er sich mit ganzer Leidenschaft die Sache zu eigen.

Weil er Burschenschaftler ist, landet er 1834 in Breslau für ein paar Wochen in Untersuchungshaft. Dort studiert er inzwischen und verdient das Geld dafür als Lehrer und Bibliothekar. Er wird 1836 mit einer von republikanischem Geist durchdrungenen Arbeit – De Veterum Saxonum republica – zum Doktor der Philosophie promoviert, und baut danach die Schrift weiter aus, um sich damit zu habilitieren. Ebenfalls in Breslau wird er bereits 1839 zum außerordentlichen Professor der Geschichte ernannt. Im Haus des angesehenen jüdischen Arztes Guttentag unterrichtet Bruno Clementine, die älteste von drei Töchtern. Noch im selben Jahr heiraten die beiden.

Die fünf Kinder von Bruno und Clementine werden in die politischen Wirren des Vormärz hineingeboren. Richard, das erste, kommt 1840 zur Welt. Das zweite, Maria, stirbt mit neun Jahren an den Masern. Es folgten Otto und Bertha. Richard wird wie sein Vater Ökonomieprofessor, Otto Professor für Chirurgie und Chefarzt der Poliklinik der Charité, Ferdinand Sauerbruch wird ihm auf dem Lehrstuhl folgen. Bertha heiratet ebenfalls einen Nationalökonomen. Bildungsbürgertum wie gemalt. Adolf, der berühmte Bildhauer, wird 1847 als fünftes Kind in Marburg zur Welt kommen, ein Jahr vor der Revolution.

In Marburg erhält Bruno 1841 eine ordentliche Professur für Staatswissenschaften. Aber wir sehen ihn nicht als angepassten Karrieristen. Er eckt auch in Marburg an, geht Konflikten nicht aus dem Weg, wenn er seine Unabhängigkeit in Gefahr sieht. Trotzdem wird er 1844/45 zum Rektor der Universität bestellt. Das ist mehr als ungewöhnlich – und es geht auch nicht lange gut. Ein Artikel, den er 1846 für die deutschsprachige Londoner Zeitung schreibt, wird ihm zum Verhängnis. Er bringt ihm eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung ein. Bruno wird von seinem Amt suspendiert und erst Anfang 1848 freigesprochen.

Er hat Geschmack an der Politik gefunden. Seine wissenschaftliche Arbeit leidet darunter nicht, im Gegenteil. Politik und Wirtschaft, liberale Reformen und industrielle Revolution bedingen einander.

Der erste Band seines Hauptwerks Die National-Oekonomie der Gegenwart und Zukunft beschreibt den Übergang von der Naturaltausch- über die Geld- bis zur Kreditwirtschaft. Deutschland steckt mitten in der stürmischen Industrialisierung. Damit verbunden wächst das Elend der Massen. Unterbeschäftigung und Überteuerung treffen zusammen. Betroffen vom Pauperismus ist keineswegs nur die neue Schicht der Industriearbeiter, sondern auch Bauern, Handwerker, Lehrer, Künstler und Intellektuelle. Fortschrittliche Liberale wie Friedrich List, der bedeutendste Vorkämpfer des Deutschen Zollvereins, sehen in der erhofften Reichsgründung ein demokratisches, volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten verpflichtetes Projekt, und in der zunehmenden »Nationalmanufakturkraft«, also der weiteren Industrialisierung, das einzige erfolgreiche Rezept gegen die Massenarmut. Zu den Köpfen dieser Denkschule zählt Hildebrand.

Er hält den Pauperismus nur für eine »Übergangsperiode«. Die Industrie hole die arbeitenden Klassen »aus der Trägheit und Ungewissheit, aus dem dumpfen und hirnlosen Hinbrüten … Das Streben nach einem menschlicheren und würdigeren Lose in der Geschichte« verleihe ihr damit »erst die geistigen und moralischen Eigenschaften …, ohne welche eine gründliche und dauernde Verbesserung ihrer sozialen Lage unmöglich ist«. Solche Sätze stecken voller Fortschrittsoptimismus. Es geht den Ökonomen, die ihrer jungen Disziplin Nationalökonomie erst einen festen Platz in der Wissenschaft erobern müssen, darum, Entwicklungsgesetze zu entdecken und zu beschreiben. Sie sehen – wie auch Karl Marx – in der Wirtschaft mehr als nur die Wirkung des Kapitals. Ökonomie umfasst »alle Aspekte menschlichen Lebens in der Gesellschaft« (Gordon Craig). Hildebrands Buch erscheint 1848, im Jahr der Revolution.

Abermals verleiht eine Revolution in Frankreich die entscheidenden Impulse. Die deutsche Märzrevolution bricht vielversprechend aus. Der Wissenschaftler Hildebrand wird zum Politiker. Er sitzt vom 31. März bis zum 4. April 1848 als einer von sechsundzwanzig kurhessischen Delegierten unter insgesamt 574 Männern – Frauen sind nicht vorgesehen – im Vorparlament, das die Wahl zur ersten deutschen Nationalversammlung vorbereiten will.

Das Vorparlament selbst ist keineswegs demokratisch zustande gekommen. Wie auch! Erfunden hat es eine Heidelberger Versammlung liberaler und demokratischer Revolutionäre. Deren Siebenerausschuss hat die Mitglieder des Vorparlaments ausgesucht. Demokraten und Liberale bilden die Urkonstellation des späteren Parteiensystems. Die nach heutiger Auffassung linken Demokraten fordern eine Republik, die Liberalen begnügen sich mit Gewaltenteilung zwischen demokratischem Parlament und Monarch.

Die beiden Seiten können sich nicht einigen. Der radikaldemokratische Antrag, das Vorparlament bereits als vorläufiges Parlament Deutschlands anzuerkennen, eine Regierung einzusetzen und die Monarchie abzuschaffen, wird abgelehnt. Auch die Liberalen scheitern mit ihren Verfassungsplänen – die Demokraten drohen mit Auszug.

Die Nationalversammlung tritt am 18. Mai zusammen. Hildebrand gehört ihr an, er sitzt im volkswirtschaftlichen Ausschuss und im Ausschuss für Schul- und Kirchenangelegenheiten. Dieses Parlament verabschiedet zwar eine Verfassung – die Paulskirchenverfassung von 1849 –, doch die wichtigsten deutschen Staaten lehnen sie ab.

Zunächst geben die deutschen Staaten vielen Forderungen nach. Allerdings werden die meisten Reformen nach dem Scheitern der Revolution wieder einkassiert. Die Reaktion folgt der Revolution auf dem Fuß. Hauptgrund des Scheiterns: der Machtkampf zwischen Preußen und Österreich. Die süddeutschen Königreiche bevorzugen einen Staatenbund unter Einbeziehung von Wien. Als sie sich gegen Preußen nicht durchsetzen, rufen sie ihre Abgeordneten zurück. Gemäßigte liberale Parlamentarier wiederum legen ihr Mandat angesichts gewaltsamer Aufstände etwa in Baden und Sachsen nieder. Zurück bleiben überwiegend linke Abgeordnete. Auf Druck von Preußen will die Stadt Frankfurt sie ausweisen. Das Rumpfparlament zieht deshalb um nach Stuttgart, denn Württemberg hat als erstes Königreich die Reichsverfassung anerkannt und liegt außerhalb der Machtsphäre Preußens.

Es ist der harte Kern der Revolution, der weitermacht. Hildebrand gehört dazu. In Stuttgart tagen 154 Unentwegte. Doch angesichts der revolutionären Unruhen im nahen Baden und in der Pfalz sowie heranrückender preußischer Truppen bereut das Königreich Württemberg die Einladung an die Demokraten und sperrt sie aus. Das Rumpfparlament ruft zur Steuerverweigerung und zum militärischen Widerstand auf. Am 18. Juni 1849 treiben württembergische Dragoner die Abgeordneten auseinander, ohne Blutvergießen, doch werden die nicht württembergischen Abgeordneten, also auch Bruno Hildebrand, des Landes verwiesen. Zwar ist der größte Teil der badischen Armee auf die Seite der Revolution gewechselt, sie unterliegt jedoch wenige Tage später den preußischen Truppen. Die vom Rumpfparlament eingesetzte provisorische Reichsregentschaft zieht sich nach Freiburg zurück, muss aber auch dort den preußischen Truppen weichen und flieht in die Schweiz. Der letzte vergebliche Versuch, die Revolution zu retten, ist zerstoben.

Hildebrand sitzt danach zwar noch bis 1850 im kurhessischen Landtag, aber die Sache spitzt sich für ihn weiter zu. Sein leidenschaftlichster Gegner ist seit Jahren schon Ludwig Hassenpflug, ein Fanatiker, der den absolutistischen Staat gegen alle Ideale der Achtundvierziger verteidigt und den selbst der hessische Kurfürst bereits für zu radikal gehalten hat – er ist übrigens verheiratet mit Lotte Grimm, Schwester von Jakob und Wilhelm.

Hassenpflug ist bereits 1831 Justiz- und Innenminister gewesen, de facto Regierungschef, mit dem Auftrag, die relativ liberale kurhessische Verfassung von 1831 auszuhebeln. Keine Gelegenheit hat er seinerzeit ausgelassen, sich mit der Ständeversammlung anzulegen, bis 1837 alle Versuche, ihn abzusetzen, überstanden. Verloren hat er erst, als er sich mit seinem Landesherrn auf einem ganz anderen Feld angelegt hat. Der fundamentalistische Pietist hat es gewagt, die zweite Ehe des Fürsten mit einer geschiedenen Frau als Bigamie zu verurteilen. Danach wurde er am Hof nicht mehr geduldet. Im reaktionären Preußen hat der Reaktionär Zuflucht gefunden.

Nun aber, 1850, nach der gescheiterten Revolution, wird er nach Hessen zurückgerufen – um erneut alle demokratischen Errungenschaften auszumerzen. Der Scharfmacher Hassenpflug stößt mit der Ständeversammlung zusammen, also auch mit dem Abgeordneten Hildebrand. Das Parlament weigert sich, Steuern zu bewilligen. Der Kurfürst löst die Versammlung auf und versucht, die Verfassung mit dem Kriegsrecht auszuhebeln. Dummerweise ist das Offizierskorps jedoch bereits auf die Verfassung vereidigt. Nahezu alle kurhessischen Offiziere reichen deshalb nun ihre Entlassungsgesuche ein. Sie verweigern sich dem geplanten Militäreinsatz, besser gesagt: dem vom Fürsten befohlenen Putsch. Der hessische Fürst ruft deshalb Bundestruppen zu Hilfe. So besetzen fünfundzwanzigtausend gegenrevolutionäre bayerische und österreichische Soldaten zunächst den Süden Kurhessens. Als »Strafbayern« werden sie von der Bevölkerung gehasst und verspottet.

Es kommt um ein Haar zum Krieg gegen Preußen, das in Nordhessen bereits einmarschiert – nicht um die liberale Verfassung zu schützen, sondern weil die Strafaktion im Süden die empfindliche Machtbalance in Deutschland zwischen Preußen und Österreich zu verändern droht. Österreich verlangt den sofortigen Abzug der Preußen. Deren König befiehlt die Mobilmachung. Bei einem Scharmützel in der Nähe von Fulda werden vier österreichische Soldaten verwundet und der Schimmel eines preußischen Trompeters getötet. Was wie eine Farce klingt, ist hochbrisant. Preußen lenkt schließlich militärisch ein. Im November wird die Olmützer Punktation unterzeichnet. Damit wird in Kurhessen ein österreichischer Feldmarschall als Bundeskommissar eingesetzt. »Strafbayern« kontrollieren die wichtigsten Städte und brechen die liberale Opposition. Die Bundesexekution richtet sich nicht nur gegen die Regierung Kurhessens, sondern gegen die Bewegung der Bürger, zu deren Führern Bruno Friedrich Hildebrand zählt. Das hat Konsequenzen.

Bedroht von einem Hochverratsprozess schreibt er Ende 1851 an seine Eltern: »Den 16. Oktober wurde in Kassel von Hassenpflug beschlossen, mich wegen Stuttgart vor Gericht zu stellen und verhaften zu lassen. An demselben Tage wurde ich aber noch von guten Freunden aus dem Ministerium von dem Beschlusse benachrichtigt und an demselben Abende reiste ich noch mit der Eisenbahn von Marburg fort.« Er kommt zunächst bei Freunden in Frankfurt unter, wird in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

Wie vor ihm schon so viele, Richard Wagner etwa, der bereits nach dem Dresdner Maiaufstand 1849 in die Eidgenossenschaft geflohen ist, oder einige Jahre später nach Umwegen auch dessen Freund Gottfried Semper, der nicht nur Opernhäuser, sondern auch Barrikaden gebaut hat, entkommt Hildebrand nach Zürich. Hassenpflug triumphiert am Ende auch nicht. Vielseitig angefeindet tritt er zurück und endet im selbstgewählten Marburger »Exil«.

Es wimmelt dort von deutschen Exilanten. Über den Hildebrands wohnt zum Beispiel Georg Herwegh, der neben Heinrich Heine populärste deutsche Lyriker, ein mit Karl Marx und Friedrich Engels verbundener Sozialist und Anführer von Freischärlern in der badischen Revolution.

In Zürich findet Bruno zunächst eine Anstellung an der Universität als schlecht bezahlter Dozent, nicht als Professor. Die Karriere des Aufmüpfigen aber nimmt jetzt richtig Fahrt auf. Auch in der Schweiz ist er als politischer Flüchtling nicht unumstritten, es wird heftig gegen ihn polemisiert. Doch er setzt sich durch, gründet in Zürich mit Martin Escher-Lind die Nordostbahn in der Schweiz, macht sich dabei vor allem mit dem Finanzierungsplan Verdienste. Vier Jahre später ist er auch noch an der Gründung der Ostwestbahn beteiligt. Er wirkt in beiden Unternehmen als einer der Direktoren. Hildebrand wird zum erfolgreichen Eisenbahnpionier, nicht anders als Friedrich List in Deutschland. Er erhält schließlich das Schweizer Ehrenbürgerrecht. Damit werden auch seine sieben Kinder, vier Jungen und drei Mädchen, Schweizer. Dies wird 1938 seinem Enkel Dietrich von Hildebrand auf der Flucht vor den Nazis das Leben retten.

1856 wird Hildebrand Professor in Bern. Dort gründet er das Statistische Bureau der Schweiz, eine Spar- und Leihbank sowie eine Witwenkasse. Sein Sohn Adolf legt später Wert auf die Feststellung, »dass er das alles für die wirtschaftliche Entwicklung der Länder tat, nicht aus Spekulation für Privatzwecke … Er hatte meist den Schaden davon und oft auch wenig Dank bei den Finanzleuten, denn der Nutzen kam erst später zur Geltung.« Ohne Gegenwind geht es auch in der Schweiz nicht ab. Bruno gerät mit Schweizer Behörden in Konflikt. Zurückhaltung gehört nicht zu seinen Talenten.

Als der Druck zu groß ist, kündigt er in Bern, zieht vorübergehend in den Schwarzwald nach Badenweiler, ehe ihn 1861 ein Ruf aus Jena erreicht, wo Karl Marx zwanzig Jahre zuvor seinen Doktortitel erworben hat. Ordinarius der Staatswissenschaften ist er nun. Versehen mit dem Titel eines Geheimen Regierungsrats wird Professor Hildebrand noch zweimal zum Rektor ernannt, zuletzt 1871, dem Jahr der Reichsgründung.

Er sammelt Ämter und Ehren: als Direktor des Statistischen Bureaus der thüringischen Staaten, und bis zu seinem Tod auch als Direktor der Thüringer Saale-Bahn, an deren Gründung er ebenfalls beteiligt ist. Er vertritt Jena im Weimarer Landtag; von der Politik kann und will er nicht lassen.

Ludwig »Lazarus« Braunfels (1810–1885)

Erst Staatsfeind, dann Stütze der Gesellschaft. So ließe sich auch die Karriere des anderen Stammvaters dieser Familiengeschichte zusammenfassen. Beide setzen sich ein für den Wandel, gehen persönliche Risiken ein und profitieren am Ende davon. In den bewegten Jahren der politischen wie der Industriellen Revolution repräsentieren beide den Aufstieg des Bürgertums.

Lazarus Braunfels ist ein Mann von mehreren staunenswerten Talenten. Er ist Jurist, Journalist, Unternehmer, Literat. Sein Leben ist die Geschichte einer Emanzipation. Er befreit sich aus den gesellschaftlichen Fesseln, die der jüdische Glauben zweifellos bedeutet. Fast alle Juden unterstützen die Revolution. Braunfels steht nicht nur, aber auch auf der Seite der Demokraten, weil er als Jude nicht länger diskriminiert werden will. Die Demokratie verspricht endlich wieder die Gleichstellung. Die Juden hatten unter Napoleons Herrschaft ja schon einmal Bürgerrechte erhalten.

Lazarus Braunfels kommt am 22. April 1810 zur Welt. Sein Vater ist Philipp oder Feidel Joseph Braunfels, ein Handelsmann, geboren 1772 in Darmstadt, gestorben 1848 in Frankfurt. Seine Mutter ist Jette, geborene Geiger, Gütle genannt. Sie wiederum ist die Tochter von Michael Lazarus Geiger und Schiffre Selig. Der berühmte Rabbiner Abraham Geiger ist ihr Stiefbruder.

Jurist und Journalist, Literat und Demokrat, Jude und Protestant: Ludwig Braunfels.

Die Vorfahren des Vaters waren nach mündlicher Familienüberlieferung Gastwirte in Braunfels am östlichen Rand des Taunus. Die Berufsgruppe spielt in der frühen bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands eine Schlüsselrolle, weil ihre Stuben öffentliche Orte sind, an denen Geschäfte beschlossen und politische Entscheidungen diskutiert werden, in denen gestritten, sondiert und verhandelt wird. In Wirtshäusern werden Ideen, Nachrichten und Gerüchte verbreitet, Bündnisse geschmiedet, Unruhen angezettelt, ihre Rädelsführer bespitzelt. Das Wirtshaus ist ein Ort der Gedankenfreiheit. Auch die Fraktionen des ersten deutschen Parlaments, der Frankfurter Paulskirche, werden nach den Wirtshäusern benannt, in denen sie tagen. Falls Hildebrand und Braunfels einander begegnet sind, dann gewiss in einem Wirtshaus.

In Frankfurt leben zu Lazarus’ Geburt rund vierzigtausend Menschen, gut dreitausend sind Juden, etwa siebeneinhalb Prozent. Die Familie setzt auf Assimilation als Mittel des gesellschaftlichen Aufstiegs. Lazarus Braunfels besucht das Philanthropin, gegründet vom Bankier Mayer Amschel Rothschild und dessen Chefbuchhalter Siegmund Geisenheimer. Das 1804 als Schul- und Erziehungsanstalt für arme jüdische Kinder errichtete Institut ist schon ein Jahr später aus der Judengasse im Ghetto ausgezogen, denn es steht von Anfang an auch nicht jüdischen Schülern offen. »Für Aufklärung und Humanität« lautet der Wahlspruch der Schule. Ihr Direktor und Hauptlehrer Michael Hess setzt sich nicht nur für die Gleichstellung der Juden ein, sondern lehnt auch die Orthodoxie ab. Am Philanthropin werden – damals ganz und gar nicht selbstverständlich – auch Mädchen unterrichtet, nicht in hebräischer, sondern in deutscher Sprache. Es ist die größte, bis heute bestehende jüdische Schule in Deutschland; schließen muss sie nur während der nationalsozialistischen Herrschaft.

Lazarus studiert anschließend in Heidelberg Philosophie und neuere Sprachen, promoviert in Gießen und wird Journalist. Seine erste Stelle als Redakteur findet er von 1833 bis 1837 bei der Rhein- und Moselzeitung in Koblenz. 1835 konvertiert er zum Protestantismus und nennt sich fortan Ludwig. »Aus Überzeugung«, wie er in einem Brief an den Magistrat der Stadt schreibt. Es dürfte sich um eine Behauptung handeln. Es ist weniger Glaubensüberzeugung, die ihn motiviert, Christ zu werden, als die Überzeugung, in der antisemitisch gefärbten Gesellschaft nicht anders voranzukommen. Viele Juden konvertieren aus diesem Grund in dieser Zeit. Zu ihnen zählt in Frankfurt etwa der Journalist Ludwig Börne, 1786 als Juda Löb Baruch im Ghetto geboren. Der Jurist wurde 1815, nach dem Ende der napoleonischen Bestimmungen, entlassen, änderte daraufhin seinen Namen und ließ sich drei Jahre später evangelisch taufen. Der Dichter Heinrich Heine konvertierte im Jahr seines Examens 1825, um seine Berufschancen als Jurist zu verbessern. Religiös unmusikalisch sah er in der Taufe »nichts als eine bloße Nützlichkeitstatsache« und im Taufschein nur das »Entre Billet zur Europäischen Kultur«. Das dürfte bei Ludwig Braunfels nicht viel anders gewesen sein.

Sein Sohn Walter Braunfels, der gefeierte Komponist, wird Jahrzehnte später behaupten: »Mein Vater hatte den scharfen, zersetzenden Verstand seiner (jüdischen) Rasse; daß er aber in sehr jungen Jahren die Taufe nahm, das kann nicht so sehr seine Überzeugung von Christus, als vielmehr sein Bekenntnis zum Deutschtum bedeutet haben.«

Das ist zu bezweifeln. Dass Ludwig tatsächlich »mit Leidenschaft das neue Reich begrüßt« und »ein glühender Bekenner deutscher Geistigkeit und des deutschen Vaterlandes« gewesen sein soll, kann nicht stimmen. Seine Leidenschaft gilt der Demokratie, nicht der preußischen Kaiserherrschaft. Walter kann sich freilich an seinen Vater kaum erinnern, kennt er den Mann mit dem grauen Bart und der großen goldenen Brille doch eigentlich nur aus Erzählungen. Und deshalb ist auch sein Urteil nicht unbedingt zuverlässig. Nichts weist darauf hin, dass Ludwig ein Deutschnationaler gewesen ist. Im Gegenteil: Er kämpft gegen »deutsch-tümelnde« antisemitische Kreise um den Präsidenten des Freien Deutschen Hochstifts Otto Volger, der ihn wiederum als Wortführer »semitisch literarischer Kreise« verunglimpft. Manche Juden halten ihn für einen Abtrünnigen. In einem Brief aus dem Jahr 1845 macht sich Braunfels jedenfalls selbst lustig über das Konvertieren. »Lieber Freund! Fernere Nachrichten, dass die Rabbiner hier waren; dass diese beschlossen haben, dass jeder ehrliche Jude müsse sich taufen lassen – dass sie sich deshalb nicht taufen lassen …« Paul Arnsberg, der große Chronist der Frankfurter Juden, kommentiert die Bemerkung so: »Er will also damit zum Ausdruck bringen: Wären die Juden ehrlich, müssten sie aus dem Judentum austreten.«

Ludwig studiert seit 1838 Recht in Bonn und tritt dort dem Maikäferbund bei. Die Vereinszeitschrift Der Maikäfer zielt satirisch auf das Bonner Spießbürgertum und mausert sich zu einer bemerkenswerten literarischen Stimme des Vormärz. Die Vereinshymne »Maikäfer, flieg!« ist ein durchaus politisches Lied, geht es doch um die Freiheit. Es ist sehr beliebt, steht unter anderem in Clemens Brentanos und Achim von Arnims romantischer Sammlung Des Knaben Wunderhorn und wird vielfach parodiert. Der literarische Zirkel wird 1848 verboten. Überhaupt gilt der Literatur Braunfels’ Hauptinteresse. Er gehört zum Kreis des Jungen Deutschland, eine lose miteinander verbundene Gruppe liberal gesinnter Dichter, die von der Julirevolution in Frankreich (1830), deren Ausläufer nach Deutschland übergreifen, beflügelt worden sind. Ihre Schriften werden 1835 verboten. Er ist eng mit Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) befreundet, der Jahrzehnte später zum antisemitischen Franzosenhasser mutiert; als Dichter des Deutschlandliedes (1841) – »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt« – wird er unsterblich. Doch zu seinen Freunden zählt auch der romantisch-politische Dichter Ferdinand Freiligrath (1810–1876), der in der Nähe von Bonn lebt und als Achtundvierziger ebenfalls nach Zürich ins Exil gehen wird.

1840 lässt sich Braunfels als Anwalt in Frankfurt nieder. Er vertritt Raphael Erlanger, dessen Bankenkonsortium nicht weniger bedeutend ist als das der Rothschilds. Es ist in Wien, Paris und London vertreten. In Deutschland gehören die Landgräfliche Hessische Landesbank sowie die Frankfurter Hypothekenbank dazu. Im Auftrag Bismarcks spielt Erlanger später bei der Eisenbahnfinanzierung eine bedeutende Rolle, zählt 1871 zu den Gründern der Deutschen Eisenbahn-Baugesellschaft. Dem Eisenbahnpionier Bruno Friedrich Hildebrand war Ludwig Braunfels also auch deshalb sicherlich ein Begriff.

Auch nach der Konversion hält er Kontakt zu jüdischen Intellektuellen. Zum Beispiel zu dem sozialistischen jüdischen Schriftsteller Moses Hess (1812–1875). Der fordert die Aufhebung der Klassenunterschiede, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, »freie Liebe« als Grundlage der Ehe sowie Kindererziehung, Gesundheitssorge und Wohlfahrt als staatliche Aufgaben. Gründet in Köln eine der ersten sozialistischen Tageszeitungen. Hess wirbt um Braunfels, versucht ihn 1842 als Redakteur derRheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe zu gewinnen. Braunfels bleibt jedoch lieber in Frankfurt, wo er bereits als Anwalt gut verdient, und schreibt nur einige Beiträge für das Blatt, dessen Redaktionsleitung 1842 ein gewisser Karl Marx übernimmt. Ein Jahr später wird sie verboten. »Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein«, schreibt Marx in seinem Blatt. Von einer freien Presse kann noch keine Rede sein, wie auch Braunfels weiß.

Braunfels sitzt zwar nicht als Delegierter in der Paulskirche, aber er ist auf kommunaler Ebene aktiv. 1848 bis 1849 gehört er in Frankfurt der Verfassungsgebenden Versammlung an. Höhepunkt der Märzrevolution ist am 3. März 1848 die Volksversammlung in der Reitbahn. Am Tag darauf wird die vollständige Pressefreiheit eingeführt und wenig später auch die Freiheit, politische Vereine und Parteien in Frankfurt zu gründen. Doch wird die Revolution niedergeschlagen und werden die neuen Bürgerrechte schnell wieder kassiert, auch die Gleichstellung der Juden. Ins Revolutionsgeschehen involviert, muss auch er eine Zeit lang fliehen, zuerst nach Koblenz, dann nach Paris.

In Frankfurt ist Ludwig Braunfels ein bunter Hund, was eine Karikatur von Paul Herrlich aus dem Jahr 1849 belegt, die ihn, Tischbeins berühmtes Gemälde von Goethe in der römischen Campagna persiflierend, als Isidorius Morgenlaender verspottet. Nach dem Scheitern der Revolution tritt Braunfels zunächst vor allem als Literat hervor. Es ist heute unvorstellbar, dass sich der Rechtsbeistand eines kapitalistischen Bankiers zugleich als Autor sozialistischer Medien einen Namen macht. Wie sind diese Tätigkeitsfelder überhaupt miteinander vereinbar?

Revolutionär und stolzer Bürger: Ludwig Braunfels in einer Karikatur, 1849, nach Tischbeins Gemälde Goethe in der Campagna.

Braunfels ist hochbegabt, doch ein komplizierter Charakter. Heinrich Hoffmann, der Psychiater, Dichter und Autor des Struwwelpeter (1809–1894), ebenfalls ein guter Frankfurter Bekannter, beschreibt ihn als »grenzenlos eitel und sich seines vielseitigen Talents nach allerlei Richtung bewusst«. Finanziell setzt ihn 1852 erst die Heirat mit einer reichen Pforzheimer Witwe in die Lage, all seinen Neigungen nachzugehen. Fanny Hochstätter (1808–1865), geborene Scheyer, ist die Witwe eines bereits 1841 mit nur sechsunddreißig Jahren verstorbenen Lehrers am Philantropin.

Zwischen 1855 und 1859 verfasst Braunfels Theaterkritiken für das Frankfurter Museum, eine Süddeutsche Wochenschrift für Kunst, Literatur und öffentliches Leben eines alten Schulfreundes am Philantropin, Theodor Creizenach. Aus Braunfels’ Feder stammen Gedichte und das Trauerspiel Agnes. Vor allem aber erwirbt er sich als Übersetzer Verdienste. Braunfels überträgt das Nibelungenlied in modernes Deutsch. Er übersetzt Stücke von Molière ins Deutsche und Schillers Wilhelm Tell ins Englische, Dramen von Tirso de Molina aus dem Spanischen ins Deutsche und umgekehrt. Sein Hauptwerk ist die Übersetzung des Romans Don Quijote von Cervantes, trotz zahlreicher Übertragungen ins Deutsche galt seine lange Zeit als die beste. Dafür wird er ehrenhalber zum spanischen Honorarkonsul in Frankfurt ernannt. Seine Übertragung ist noch immer im Buchhandel erhältlich.

Von 1855 bis 1866 sitzt er in der Gesetzgebenden Versammlung der Stradt Frankfurt. Auch als Geschäftsmann wird er wieder aktiv und 1860 einer von fünf Teilhabern der Frankfurter Societäts-Druckerei, in der die einflussreiche Frankfurter Handelszeitung erscheint, die bald darauf Neue Frankfurter Zeitung heißt und als Frankfurter Allgemeine Zeitung bis heute eine der drei großen, überregionalen bürgerlichen Blätter Deutschlands ist.

Das liberale Blatt ist gegen Preußens Dominanz. Braunfels, seine Partner und auch die Freie Stadt Frankfurt stehen an der Seite des Deutschen Bundes unter Führung des Kaisers in Wien. Der freie Geist der Achtundvierziger ist am Main noch lebendig. Sie wollen die Freiheit nicht der nationalen Einheit opfern.

Bismarck schmiedet das Deutsche Reich unter preußischer Führung mit Waffengewalt zusammen. Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 folgt zwei Jahre später der Krieg gegen die Süddeutschen Länder und Österreich, der mit der Schlacht von Königgrätz endet. Die Ursachen der Niederlage sind bekannt. Der Militärstaat Preußen steckt sein Geld in Rüstung (Zündnadelgewehr), Österreich und seine Verbündeten geben es lieber für Kultur aus und benutzen veraltete Vorderlader. Im Juli 1866 annektieren preußische Truppen auch Frankfurt. Es ist das Ende der Freien Reichsstadt. Sie wird der Provinz Hessen-Kassel zugeschlagen und muss dreißig Millionen Gulden Kriegskontribution an Preußen zahlen. Die Frankfurter Zeitung wird vorübergehend verboten. Der Bau des deutschen Nationalstaats endet mit dem Sieg gegen Frankreich (1870/71), dem dritten der Kriege, die in den Geschichtsbüchern euphemistisch als Einigungskriege gefeiert werden.

Nach der Reichsgründung 1871 wird die Frankfurter Zeitung zu einem Forum der außerparlamentarischen, liberal-bürgerlichen Opposition. Da Redakteure sich immer wieder weigern, der Obrigkeit Informanten zu verraten, werden sie zu Zwangshaft verurteilt. Der Advokat und Journalist Braunfels vertritt sie vor Gericht.

Nein, ein Nationalist ist Ludwig Braunfels wirklich nicht, ein Frankfurter Patriot und Demokrat jedoch ganz entschieden. Einer, der sich von der Politik zwar ergreifen, aber nicht herumschubsen lässt. Ludwig Braunfels trifft sich in dieser Hinsicht durchaus mit Adolf Hildebrand, der nach der Reichsgründung lieber in Italien bleibt, was ihm wiederum in Berlin übelgenommen wird, wo er sich mit Kaiser Wilhelm anlegt.

In seinen späten Jahren sehen wir Braunfels als Justitiar der Frankfurter Metallgesellschaft, einem weltweit aktiven Unternehmen für Rohstoffhandel und Bergbau, ebenfalls eine Gründung konvertierter großbürgerlicher Frankfurter Juden. Die Firma kontrolliert in Verbindung mit der konzerneigenen Berg- und Metallbank einen erheblichen Teil des weltweiten Handels mit Buntmetallen. Im Frankfurter Stammhaus wird der tägliche Weltkupferpreis festgelegt. Vor allem hat Braunfels sich um die Finanzierung der Bagdadbahn verdient gemacht. Das Osmanische Reich, der »kranke Mann am Bosporus«, versucht sich aus der Abhängigkeit französischer Banken mithilfe des Deutschen Reichs zu lösen. Deshalb geht der Eisenbahnbau, ein gewaltiges technisches und finanzielles Unternehmen, das das türkische Konya mit Bagdad verbindet, in die Hände einer deutschen Kapitalgesellschaft. Braunfels arbeitet dabei eng mit einem Freund, dem Mitbegründer der Deutschen Bank Georg von Siemens zusammen. Sein Name hat einen Klang in der deutschen Bankenwelt.

1865 stirbt Ludwigs deutlich ältere erste Frau Fanny. Er verliebt sich in die zweiunddreißig Jahre jüngere Helene Spohr (1842–1920), die Großnichte des berühmten Komponisten Louis Spohr. Helene und Ludwig Braunfels sind die Eltern des Komponisten Walter Braunfels, 1882 kommt er zur Welt.

Der wird über seine Eltern schreiben: »In ihm, der des Lebens Mitte damals schon überschritten, brach eine Welt des Entzückens über das geliebte Wesen aus, dass meine Mutter schließlich von ihr überwältigt wurde und sich ihm nicht zu verweigern wagte, obwohl sie gewiss zu dem alten Mann nur Verehrung empfand.« Ausschließlich Verehrung kann es nicht gewesen sein. Denn der zweiten Ehe von Ludwig Braunfels entstammen vier Kinder. Die erste ist 1867 Ottilie, 1873 folgt Helene, 1878 Marie, 1882 schließlich Walter.

Ludwig Braunfels soll gekränkt reagiert haben, »wenn man ihn frug, was er denn da für ein lieb Enkelkind hätte«. Es gibt Gerüchte, der Vater des musikalisch hochbegabten Walter sei gar nicht der hochbetagte Ludwig Braunfels, sondern der nicht minder alte Franz Liszt, mit dem Helene oft in Weimar musiziert hat. Helene ist befreundet mit Clara Schumann, eine Schülerin von Franz Liszt. Beiden begegnen wir auch bei Hildebrand in Florenz. Mutter Helene ist die erste Musiklehrerin ihres Sohnes Walter. Der sagt über seine Mutter, dass er »sie trotz ihrer Musikalität keinen künstlerischen Menschen nennen möchte«.

Wie also kommt das musikalische Talent in die Familie? Ein Wort zu Helenes Großonkel Louis Spohr: Geboren 1784 in Braunschweig, verstorben 1859 in Kassel, war er bereits mit fünfzehn Jahren als Violinvirtuose unterwegs, dann Kapellmeister in Gotha, Wien und Frankfurt, Dresden und schließlich Kassel. In London dirigierte er 1810, dem Geburtsjahr von Lazarus Braunfels, als Erster das Orchester mit einem Taktstock. Er komponierte Oratorien, fünfzehn Violinkonzerte. Seine Violinschule ist ein Klassiker. Neben Carl Maria von Weber und Heinrich Marschner gilt er als Hauptvertreter der romantischen Oper in Deutschland. Spohrs Gene sind mit im Spiel.

Zwei Kinder hat die erste Frau Fanny mit in die Ehe gebracht, Jesaias und Flora. Ludwig Braunfels adoptiert 1861 beide; sie konvertieren ebenfalls zum evangelischen Glauben. Jesaias heißt nun Otto. Seinen leiblichen Vater, er war bereits kurz vor seiner Geburt gestorben, hat er nie kennengelernt.

Adoptivsohn Otto Braunfels (1841–1917), der reichste und geschäftlich erfolgreichste der Familie, wird auch seinem Halbbruder, dem Komponisten Walter Braunfels, ein Millionenvermögen hinterlassen. Allerdings in Kriegsanleihen, die schon bald darauf nichts mehr wert sind.

Otto Braunfels, ein Selfmademan par excellence, wäre ein eigenes Kapitel wert. Ein Mann des Geldes, weniger des Geistes und der Künste, weshalb es im Kontext dieser Geschichte mit wenigen Fakten genug sein soll. Otto absolvierte eine Banklehre in Frankfurt und Paris beim Diamantenhaus Halphen, für das er als Repräsentant nach New York ging, ehe er 1871, dem Jahr der Reichsgründung, als reicher Mann nach Frankfurt zurückkehrte, wo er zum Teilhaber und Seniorchef der Bank Jacob S.H. Stern aufstieg, einer der führenden deutsch-jüdischen Banken.

Der Geheime Kommerzienrat Otto heiratete 1870 Ida, geborene Spohr (1846–1918), die jüngere Schwester von Helene, der Frau von Ludwig. So taucht dieser Name erneut in der Familiengeschichte der Braunfels’ auf. Die Ehe blieb kinderlos. Aber es gab noch andere Spohrs. Otto adoptierte Marie, die Tochter seines jung verstorbenen Schwagers Ferdinand Spohr. Marie wiederum heiratete den Bankier Otto Wolfskehl (1841–1907). Die jüdische Familie dieses angesehenen Anwalts, Bankiers und Landtagsabgeordneten reicht bis in die Zeiten Karls des Großen zurück. Ein Sohn aus dieser Ehe ist der Dichter Karl Wolfskehl, der im Leben von Walter Braunfels noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Otto hinterließ große Stiftungen. Die Otto und Ida Braunfels-Stiftung machte sich unter anderem bei der Gründung der Universität verdient. Eine Straße in Frankfurt-Bockenheim ist nach Otto Braunfels benannt.

IIDie Macht der Schönheit – der Bildhauer Adolf von Hildebrand (1847–1921)

Kindheit in der Schweiz

1847 in Marburg geboren, wächst Adolf nach der Flucht seines Vaters seit 1851 in Zürich auf. Auch die Schule, die er besucht, wird von einem Geflüchteten betrieben. Kinder anderer Exilanten sind seine Klassenkameraden. Hildebrand erzählt in seinen Jugenderinnerungen jedoch kaum etwas über politische Diskussionen und Begegnung mit Revolutionären im Exil, vielmehr von »wonnigen Interessen« ganz anderer Art.

»Ich war damals schon eindrucksfähig für alles, was durch die Sinne ging.« Bereits als Fünfjähriger fühlt er sich angesprochen von den Attraktionen des menschlichen Körpers. »Auch zog ich meine vierjährige Freundin ganz nackt aus und konnte mich nicht an ihr sattsehen, wobei ich sie dann auch von oben bis unten abküßte. Als die Köchin uns einmal dabei antraf, wurden mir diese Studien verboten.« Man könnte das als Ausdruck kindlicher Sexualität erklären, doch Freud ist noch fern und es wäre vermutlich falsch. Die Macht der Schönheit ergreift Adolf, und sie lässt ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr los.

In diesem Zusammenhang überliefert Schwiegertochter Alice von Hildebrand eine bezeichnende Anekdote, die sie von ihrem Mann, Adolfs Sohn Dietrich, aufgeschnappt hat. Nach einem Zoobesuch zieht sich der fünfjährige Adolf nackt aus, steigt auf einen Baum und imitiert einen Affen. Ein puritanisch erzogenes Nachbarkind quittiert den Anblick: »Du Schwein!« Adolf weint und beklagt sich bei seiner Mutter mit den Worten: »Dabei habe ich gar kein Schwein nachgemacht; ich wollte nur ein Affe sein.« Nicht die vermeintlich moralische Verfehlung bereitet ihm Kummer, sondern sein ästhetisches Unvermögen.