Gen Süden - Vivien Gföller - E-Book

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Vivien Gföller

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Beschreibung

Als Lisa Mitte 2021 von Benin mit ihrer kleinen Schwester und ihrer Mutter in die Niederlande flieht, steht der verzweifelten Familie ein schweres Schicksal bevor. Lisa möchte maturieren und studieren, die Mutter vermisst ihren im Krieg verstorbenen Ehemann und stürzt sich in schwere Depressionen. Als die Mutter unerwartet verstirbt, steht Lisa vor mehreren Problemen. Ihre fünfjährige Schwester steht kurz vor der Einschulung und Lisa hat noch sieben Semester ihres Lehramtstudiums vor sich. Dann lernt sie Chris kennen, welcher unsterblich in die attraktive junge Frau verliebt ist. Lisa beginnt sich langsam wohl in den Niederlanden zu fühlen und bezieht eine eigene Wohnung, als ein überstürzter Umzug und eine drastische Verletzung drohen die kleine Familie zu zerspalten und jegliche Karrierechancen aussichtslos erscheinen lassen. Oder etwa nicht?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Leseprobe

Liebe Leserschaft…

Informationen zum Buch

Ich widme dieses Buch meiner Deutschprofessorin Frau Professor Egger-Einspieler, ohne die ich diese Leistung niemals vollbracht hätte

Teil 1

Prolog:

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch. Dieser Satz hatte sich in Lisas Kopf festgeankert. Nachdem ihr Vater ihr ein Märchen vorgelesen hatte und das 4- jährige Mädchen daraufhin zu weinen begonnen hatte, da sie Bambi, der Reh Dame, etwas zu viel Mitgefühl geschenkt hatte, hatte der liebende Vater sie lange trösten müssen. Beim Gedanken an seine kleine, einfühlsame Tochter verzog er sein Gesicht zu einem wehmütigen Lächeln. Ihm war durchaus bewusst, dass diese schöne Zeit nicht mehr ewig währen würde. Deshalb versuchte er jede Minute mit ihr wettzumachen. Seine Lisa. Sein Leben. Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht ausmalen. Lisa hatte einen speziellen Platz in seinem Herzen. Sie sahen sich beide außergewöhnlich ähnlich, sie hatten die gleichen Lachgrübchen, gleiche Augenfarbe, gleiche Nase und sie besaßen beide einen äußert willensstarken Charakter, welcher auch einen gewissen Trotz beherbergte. Zu dieser Zeit wusste er bereits, dass seine Zeit auf dieser Welt bald enden würde. Gewiss wusste er nicht welchen Bruchteil seines Lebensendes er mit seiner Familie noch verbringen dürfen würde.

Kapitel 1

Lisa

Leben und leben lassen. Nachdenklich ließ ich das Buch sinken. Das wäre doch mal ein Satz, den sich der ein oder andere Mensch in meinem Umfeld einprägen sollte. Ich blickte auf die laut tickende Wanduhr der Stadtbibliothek. 13:43 Uhr. Gut, dachte ich. Ich konnte Ann erst um 15:00 frühestens vom Kindergarten abholen, sodass ich noch genug Zeit hatte mein Buch fertigzulesen und meine Notizen der heutigen Vorlesung zu überfliegen. Heute war Dienstag. Dienstags schaffte ich es normalerweise immer pünktlich alle abendlichen Routinen mit Ann abzuschließen, dachte ich. Dienstags war ein guter Tag. Das dachte ich damals zumindest noch.

„Danke Rosie, bis morgen“, ertönte Anns glockenhelle, fröhliche Stimme schon von Weitem. Sie grinste unbeschwert über das ganze Gesicht. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich innerlich fragte, wie es für sie möglich sein konnte nach unserem Verlust, unserem Umzug, eine solch sorglose Laune zu haben. Beinahe sofort verwarf ich diesen Gedanken. Ich schämte mich. Es war taktlos zu glauben meine Schwester hätte all unsere Probleme unverletzt überstanden. Sie war doch noch ein Kind.

Genauso wie ich. Sie konnte sich wahrscheinlich mittlerweile nicht einmal mehr an unsere alte Heimat, geschweige denn an unseren Vater erinnern. Bei diesem Gedanken wurde mir übel. Das Schicksal hatte uns übel mitgespielt, jedoch wurde es langsam aber sicher besser. Ich konnte, dank meines Nebenjobs in einem Café eine 30 Quadratmeter große Wohnung finanzieren und hatte es auch vor einigen Monaten geschafft mit einem Notendurchschnitt von 1,0 zu maturieren. Ich hoffte innerlich, dass Ann in der Lage wäre eine unbeschwerte Kindheit zu führen, trotz oder genau aufgrund dieser Umstände. Sie sah zwar von außen hin aus wie ein normales, schüchternes Mädchen, jedoch war sie so viel mehr.

Ich konnte nicht in Worte fassen, wie sehr mich ihr Verhalten in den letzten Monaten beeindruckt, ja gar überrascht hatte. Nach unserer überstürzten Flucht aus Benin mit unserer Mutter, hatte Ann an extremen Angstzuständen und Schlafentzug gelitten. Nach unserem kurzzeitigen Aufenthalt in Ägypten war es ihr so schlecht gegangen, dass ich gedacht hatte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Wir hatten sie in ein Krankenhaus gebracht, konnte aber nicht lange bleiben, da die Ärzte unbedingt die Einreisepapiere der Erziehungsberechtigten sehen wollte. Die meiner Mutter. Diese Papiere hatte sie bis zum heutigen Tage nicht bekommen. Aus diesem Grund mussten wir auf ärztliche Hilfe verzichten und flohen mit meiner schwerkranken Schwester nach Den Haag in den Niederlanden. Ich konnte mich erinnern, wie qualvoll der Flug für mich gewesen war. Damals hatte ich nicht einsehen können, weshalb meine Mutter diese Dinge getan hatte. Heute wusste ich, dass meine Mutter das Leben Anns auf das Spiel gesetzt hatte, im Austausch für ihre Freiheit. Während des gesamten Fluges hatte ich verzweifelt gebetet, Anns Fieber gemessen, sie versorgt und mich um sie gekümmert.

Im Nachhinein denke ich das in jener Nacht Anns Leben in meinen Händen lag. Meine Mutter hatte nichts getan, um mir zu helfen. Sie hatte sich schlafen gelegt und hatte nicht in geringster Weise versucht, mir zu helfen. Sie hatte: „Wenn Gott sie will, kann kein Arzt und auch nicht du sie auf der Welt halten“, gesagt. Ich konnte mich genau erinnern, dass ich ihr zur damaligen Zeit geglaubt hatte. Damals. Nach jenem schicksalshaften Flug, landeten wir in den Niederlanden, ohne Papiere, Geld oder einer Unterkunft. Man könnte meinen, dass sich meine Mutter wenigstens um unsere Verpflegung im Sinne von Essen, gekümmert hätte. Aber nichts dergleichen war geschehen. Anstatt sich und uns mit Essen, einer Unterkunft oder einer Schulausbildung zu versorgen, hatte meine Mutter ihr restlich, von der Flucht vorhandenes Geld in Medikamenten gesteckt. Und zwar keine Medikamente, die für einen gesundheitlichen Zweck dienten. Bereits vor dem Vorfall mit Ann hatte ich sie verdächtigt, dass sie mehr Medikamente als ein gesunder Körper brauchen könnte, zu sich nahm. Dies hatte meinen Verdacht bestätigt. Also hatte ich mich, als siebzehnjährige Einwanderin, um meine damals zweijährige Schwester, meine Schulausbildung, unsere Gesundheit, eine Unterkunft und unsere medikamentensüchtige Mutter kümmern müssen.

Die ersten paar Monate waren die schwersten gewesen. Ich hatte keinen Job, kaum Geld, keine Bildung, keine Hoffnung gehabt. Dazu kam der Fakt, dass Ann noch immer psychisch schwerkrank gewesen war, was die Lage drastisch verändert hatte. Da ich meine Mutter nicht überzeugen hatte können, Ann ins Krankenhaus zu bringen hatte ich alles, in meiner Macht stehende getan, um Anns Leben zu erhalten. Wie durch ein Wunder hatte Ann ihr Fieber überwunden und hatte, abgesehen von einigen Panikattacken, keine Rückfälle gehabt. „Lisa!“, unterbrach Ann meine bittersüßen Erinnerungen. Ich warf meiner Schwester einen entschuldigenden Blick zu und nahm ihre zierliche Hand in meine. Hand in Hand schlenderten wir durch die Altstadt, um zu unserer, knapp zwei Kilometer von Anns Kindergarten entfernten Wohnung zu gelangen.

Nach Anns Besserung war ich in der Lage gewesen einen Nebenjob zu finden und hatte unsere behagliche Wohnung gefunden. Nach diesem Einzug war es für mich steil bergauf gegangen. Ich konnte, mithilfe einer Arbeitskollegin, ein Stipendium in einer angesehenen Schule ergattern und durfte mich seit vier Monaten eine Studentin an eine der erfolgreichsten Universitäten in den Niederlanden nennen. Schuldbewusst erinnerte ich mich, dass ich vergessen hatte Ann nach ihrem Tag zu fragen. „Ann, wie war denn dein Tag? Hast du bereits viele neue Freunde gefunden?“, fragte ich sie. Ihren Blick starr in die Ferne gerichtet zuckte meine Schwester nur ablehnend mit den Schultern und murmelte mehrere unverständliche Worte. Mein Herz füllte sich mit Sorge. Ann war ein sehr empfindliches, schüchternes Mädchen und ich dachte nicht, dass man sie so einfach im Alltag eines jungen Kindes aufnehmen würde. Ich hatte mit eigenen Augen miterlebt, wie Ann von Kindern ihrer Altersklasse, unbeabsichtigt oder nicht ignoriert wurde. Es könnte gut gewesen sein, dass die Eltern dieser, tendierten nichts mit Ausländern zu interagieren. Ich meine, man konnte es ihnen nicht verübeln. Wir waren schon eine eigenartige Familie. Kein Vater. Keine in der Realität lebende Mutter. Ein 20-jähriges Familienoberhaupt und ein fünfjähriges Mädchen mit Panikattacken und einer extremen introvertierten Art. „Guten Tag die Damen“, grüßte uns unser freundlicher Nachbar/Vermieter Adrian. Der, von Lachfältchen gezeichneter Pensionist war einer der ersten Personen gewesen, der uns in unseren Krisenzeiten Unterschlupf gewährt hatte. Gegen einen kleinen Aufpreis von knappen 200 Euro, durften wir einen Teil seines gigantischen Anwesens im Herzen von Den Haag bewohnen. Ich war den alten Mann vom ganzen Herzen dankbar. Ohne seine Hilfe hätten wir den ersten Winter, als Obdachlose auf der Straße verbringen müssen. Was wiederum Anns Ende gewesen wäre. Ann liebte Adrian wie einen Vater. Es versetzte mir einen kleinen Stich, sie jeden Tag zu ihm hinrennen zu sehen, aber sie hatte ein Recht auf diese kleinen Glücksmomente im Leben. Es bereitete Adrian eine sichtliche Freude das kleine Mädchen zu bespaßen. Seine Tochter war in einem Autounfall vor sieben Jahren aufgrund von inneren Gehirnblutungen verstorben. Vermutlich sah er Ann als Geschenk des Himmels. Gar zu oft beteuerte er wie dankbar er wäre, dass wir ihm im Haushalt, Garten, Lebensmitteleinkauf und vielen weiteren alltäglichen Dingen, zu denen er nicht mehr imstande war, aufgrund seiner Gesundheit und seines Alters auszuführen. Anfangs hatte es sich falsch angefühlt in einem derart teureren Viertel einer wohlhabenden Stadt zu wohnen und eine sehr geringe Summe an Geld zahlen zu müssen, um in diesem wunderbaren Haus zu wohnen. Ich hatte mir selbst geschworen nach meinem Studium und nachdem ich einen geeigneten Job gefunden hatte, ihm alles, was er jemals für uns getan hatte und haben würde, zurückzuzahlen würde. Dies wäre nur fair. „Opa Adri“, rief Ann laut aus und befreite ihre Hand aus meiner. Schmunzelnd betrachtete ich sie, wie sie mit unbeholfenen Laufschritten zu Adrian rannte, der sie in einer Hocke sitzend erwartete. Die beiden schlossen sich in die Arme und ich merkte, wie unfassbar froh ich war, dass Ann, neben mir in einem fremden Land eine Bezugsperson gefunden hatte. „Anni mein kleines Mädchen, wie war dein Tag?“, fragte der alte Mann mit rauer Stimme. Ein Wortschwall explodierte nahezu aus Anns Mund, als sie zu erzählen begann. Es war ein alltägliches Ritual geworden, dass Ann Adrian vor der Haustür auf einer Bank im Sonnenlicht von ihrem Tag erzählte.

Meistens hörte ich ihnen zu, da sie bei ihm viel redseliger war als bei mir und da ich weder Lust noch Energie hatte, nach einem langen Studientag meiner Mutter gegenüberzutreten. Zumindest nicht allein. Es deprimierte mich meine ehemals robuste, starke Mutter, welche mein Leben lang mein größtes Vorbild gewesen war, so zu sehen. Nach unserem Einzug hatte ich dafür gesorgt, dass sie ein behagliches Bett, Essen und genug Bücher zum Lesen hatte. Warum Bücher? Sie war schon immer eine begeisterte Leserin gewesen, schon zu den Zeiten, als sie in Benin gelebt hatte und als einzige in ihrer Familie Lesen gelernt hatte, um Medizin zu studieren. Es war in unserem ehemaligen Heimatland eine wahre Meisterleistung gewesen, da sie die erste in unserem Dorf gewesen war, die eine Universität in England besucht hatte. Dort hatte sie meinen Vater kennengelernt. Sie war auch die erste Frau in Benin gewesen die eine Universität überhaupt hatte besuchen dürfen. An jenem Tag jedoch wartete ich nicht auf Anns Resümee des Tages, sondern betrat das große Gebäude. In der Eingangshalle streifte ich mir die Schuhe ab und hing meine Jacke auf einen, aus edlem Eichenholz geschnitzten Knauf und blieb kurz stehen, um die atemberaubende Schönheit dieses Hauses ganz wahrnehmen zu können. Dieses Haus vermochte zwar vielleicht nicht spektakulär oder modern sein, aber es war ein Zuhaue. Mein Zuhause.

Ich klopfte leise an der Tür unseres Apartments, falls meine Mutter schliefe. Als keine Reaktion kam, spähte ich vorsichtig durch das Schlüsselloch. Von meiner Mutter war weit und breit nichts zu sehen. Unter normalen Umständen hätte ich sie nie eingeladen bei uns zu wohnen, allein schon wegen welcher Last, die sie mir als Minderjährige mit der Verantwortung eines Kleinkindes aufgebürdet hatte.

Jedoch war sie sehr stark auf Hilfe angewiesen. Und auch wenn ich nicht die finanziellen Mittel weder Zusage meiner Mutter bekommen hatte medizinischen Rat aufzusuchen, war es das Mindeste, was ich tun konnte. Ich verabscheute sie und trotz allem war sie immer noch meine Mutter. Eine Person mit welcher ich nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Meine Mutter hatte an dem unerwarteten Tod meines Vaters am meisten gelitten. Sie hatte es anfangs nicht wirklich realisieren können, als der Brief uns zugesandt wurde, in welchem stand, dass unser Vater unglücklicherweise bei einer Offensive an der Front verunglückt war und später im örtlichen Krankenhaus gestorben war. Dieser verfluchte Krieg. Unzählige Menschen waren bei diesem unnötigen Blutvergießen für Nichts und wieder nichts gestorben. Zu viele.

Die Wohnung war spärlich eingerichtet. Obwohl nur wenige Möbel im Raum vorhanden waren, fühlte man sich hier immer wohl. Zumindest vertrat ich diese Meinung standhaft. Ann hingegen würde, wenn sie die Möglichkeit hätte, das gesamte Haus mit Glitzer und Schickimicki-Möbeln auskleiden. In diesem Punkt waren wir sehr verschieden. Eine kühle Sommerbrise zog durch das gekippte Fenster. Jetzt, im Mai, wo die Tage endlich länger wurden, waren wir in der Lage unsere Wohnung tagsüber durchzulüften. In zwei schnellen Schritten hatte ich den Eingangsbereich durchquert und steuerte das Wohnzimmer an. Leise öffnete ich die Tür, in der Hoffnung, dass meine Mutter wach sei, um mit ihr sprechen zu können. Tatsächlich! Sie saß mit blutunterlaufenen Augen am Esstisch und umklammerte mit beiden Händen eine Teetasse. Sie schien meine Anwesenheit nicht einmal bemerkt zu haben. Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu, sodass Ann nicht in unser Gespräch hereinplatzen konnte. Ich setzte mich meiner Mutter gegenüber auf einen kleinen Holzstuhl und versuchte einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

„Mami, wir müssen reden“, sagte ich mit gefasster Stimme. Meine Mutter starrte an mir vorbei auf die Wand. Bereits seit mehreren Tagen hatte ich versucht mit ihr über meine Pläne für die Zukunft zu reden. Aber entweder sie ignorierte mich bewusst, oder sie hatte Wahrnehmungserscheinungen aufgrund der Medikamente die sich zu sich nahm. Ich seufzte leise und stand auf. Ich würde sie sowieso nicht dazu bringen können, ihre Medikamente aufzugeben. Ohne meiner Mutter eines Blickes zu würdigen, stolzierte ich gekränkt aus dem Wohnzimmer. Demnächst würde Anns Geburtstag stattfinden. Kurz darauf würde ihre Einschulung stattfinden, vor der ich ehrlich gesagt etwas Angst hatte. Aufgrund von Anns besonderer Art hatte sie in ihrem jetzigen Kindergarten keine wirklichen Freunde gehabt und ich bezweifelte, dass sie imstande sein würde eine Freundschaft in der Volksschule zu knüpfen.

Kohlrabi, sieben Äpfel, Hafermilch, Kartoffeln, Frischkäse, Milch, Zucchini, frisches Schwarzbrot und drei Bananen. Nachdenklich ließ ich meinen Blick über das Band des Supermarktes schweifen. Meine ursprüngliche Idee war es gewesen, mir und Ann Spaghetti zu kochen, aber da weder Ann noch ich Lust auf Kochen hatten, hatte ich beschlossen, dass es heute belegte Brötchen geben würde. „22,41 Euro, bar oder mit Karte?“, sagte die etwas gelangweilt klingende Kassiererin. „Bar bitte“, antwortete ich, abgelenkt von dem Werbeplakat, auf welchem für eine Studiengebührenerhöhung geworben würde. Ich schüttelte meinen Kopf. In den Niederlanden gab es zu viele reiche Familien. Ich war aufgrund meines, nur mühsam erlangten Stipendiums sowieso bereits eine Außenseiterin.

Gereizt nestelte ich einen zerknitterten Geldschein aus meiner Hosentasche und übergab diesen, der Frau. Sie bedachte mich mit einem tadelnden Blick und strich den Schein glatt, bevor sie ihn in die Kasse einordnete. Hastig schnappte ich mir meine Sachen und verließ das Geschäft. Draußen dämmerte es bereits. Am Horizont konnte man einen atemberaubenden Sonnuntergang beobachten und mir stockte für ein kurzer Moment der Atem. Hier in Europa war es zu jeder Tageszeit wunderschön. Ich empfand diese Abende nicht als eine Selbstverständlichkeit. Nach unserer Ankunft war ich so sehr in meiner Trauer versunken gewesen, dass ich die wunderbaren Orange-, Rot- und Blautöne des Himmels nicht bemerkt hatte. Es schien, als hätte ich die Schönheit dieses Landes, erst nach unserer finanziellen Stabilität bemerkt. Ich liebte es hier und hoffte, dass wir für längere Zeit hierbleiben könnten, würden. Wenig wusste ich, welche Veränderungen das Leben für uns in der Zukunft bereithalten würde.

Zuhause angekommen empfing mich Ann freudestrahlend. Lächelnd umarmte ich sie zurück und strich ihr nachdenklich übers Haar. „Na, hast du schon Hunger? Heute gibt’s dein Lieblingsessen.“ Entzückt jubilierte sie und es versetzte mir einen kleinen Stich, dass dieses Gericht noch immer ihr Favorit war. In Benin hatten wir Schwarzbrot beinahe jeden Tag gegessen, da mein Vater als Soldat nichts anderes in der Armee bekommen würde und er sich so auf diese vorbereiten hatte wollten.

Kopfschüttelnd schob ich diesen Gedanken anderswo hin. Mein Blick fiel auf Ann. Sie war in den letzten drei Jahren viel gealtert. Die Zeit war im Flug vergangen und es schien mir so, als wäre Ann weiser geworden. Es machte mir Angst zu sehen, wie schnell sie aufwuchs. Wenn ich mir die anderen Kinder in Anns Alter ansah, empfand ich sie nicht wie Ann. Ich vermutete, dass es auch daran lag, dass Ann für mich der schönste und beste Mensch auf der Erde war und dies auch immer sein würde. Dieses Gefühl kannten vermutlich alle Eltern. Ich konnte mich auch als ein Elternteil betiteln, da meine Mutter nichts mehr als eine leblose Hülle geworden war. Ann war seit drei Jahren meine volle Verantwortung. Und ich bereute diese Entscheidung keine Sekunde lang. Gegen die Vergangenheit war ich machtlos. Es half nicht sich mit ihr herumzuplagen, wenn man nicht in der Lage sie zu ändern. Ändern konnte ich an unserer Vergangenheit nichts, so viel stand fest. Ich trug meine Lebensmittel in die Küche, in der meine Mutter in der gleichen Position wie vor einer Stunde, Löcher in die Decke starrte. Ich ignorierte sie und bereitete das Abendessen vor. Wusch das Schneidbrett. Zerschnitt das Gemüse. Schnitt das Brot in einheitlich große Stücke auf. Deckte den Tisch. Räumte den Geschirrspüler ein. Stellte Butter, Salz und Pfeffer auf den Tisch. Füllte die Wassergläser. Den Tisch hatte ich für drei Personen gedeckt. Obwohl meine Mutter unter normalen Umständen nicht mit uns aß, versuchte ich es jeden Tag aufs Neue. Für einen Therapeut hatte ich zu wenig finanzielle Mittel und eine therapeutische Behandlung würde meine Mutter nicht machen wollten. Davon war ich überzeugt. Wie jeden Abend rief ich Ann von unten, die noch mit Adrian ein Brettspiel spielte und fragte meine Mutter, ob sie mit uns äße. Zu zweit setzten wir uns, nachdem meine Mutter nichts geantwortet hatte, an den großen Holztisch und aßen schweigsam unser Abendbrot.

„Ann dein Kindergarten würde übermorgen einen Ausflug machen. Möchtest du mit?“, unterbrach ich das Schweigen. Anfangs hatte ich sie immer versucht zu überzeugen, an jedem Ausflug teilzunehmen, allerdings war dieser Versuch nach hinten losgegangen. Achselzuckend antwortete Ann: „Ich weiß nicht.“ Ich wartete auf eine weitere Antwort und als keine kam, sagte ich: „Ok dann gehst du nicht mit und gehst mit mir in die Universitätsbibliothek. Am Donnerstag habe ich keine Vorlesungen. Passt das?“

Ich hatte eigentlich schon Vorlesungen am Donnerstag, jedoch hatte ich meinen Professor bereits vorgewarnt, dass ich höchstwahrscheinlich nicht da sein würde. Eine Freundin hatte versprochen mir ihre Notizen zu schicken und so hatte sich das Thema mehr oder weniger erledigt. Sichtlich erleichtert widmete sich meine Schwester ihrem Essen und wir verbrachten die restliche Zeit am Tisch mit Schweigen. Mit Ann konnte man schweigen. Normalerweise wäre es mir unangenehm gewesen kein Wort mit meinem vis-a-vis zu wechseln. Nach dem Abendessen half mir Ann den Tisch aufzuräumen und die Teller in den Geschirrspüler zu stellen. Ich wischte noch kurz den Tisch, um mich danach zu Ann ins Schlafzimmer zu gesellen. Abends las ich ihr immer ein Märchen vor dem Schlafengehen vor. Heute war Rapunzel dran. Ich legte mich zu meiner Schwester ins Bett und begann zu lesen: „Es war einmal vor langer, langer Zeit in einem fernen Königreich ein junges Mädchen……

Kapitel 2

Lisa

Am nächsten Tag klingelte mein Wecker pünktlich um 5:30 Uhr. Gähnend putzte ich mir im Stockdunklen meine Zähne und machte mir einen heißen Kamillentee. Frühmorgens recherchierte ich gerne auf dem Balkon und konnte dabei auch den Sonnenaufgang beobachten. Ich streifte mir eine Jogginghose über und tauschte mein Schlafhemd mit einem schlichten schwarzen Top. Später würde ich mich nochmals umziehen, wenn ich zur Uni ging und Ann in den Kindegarten brachte. Aber für jetzt reichte es. Ich überlegte kurz mir etwas Kleines zum Frühstück zu machen, verwarf diesen Gedanke aber sofort wieder. Ich wollte nicht, dass Ann alleine essen musste. So wie ich meine Mutter kannte, war sie gestern auf dem Stuhl eingeschlafen und ich wollte Ann keine Angst einflößen. Ich holte meine Notizen aus der Uni und setzte mich mit meinem alten Laptop auf die kleine Bank am Balkon und versank nach wenigen Sekunden in meinen Notizen. Ich saß sicher eine Stunde schon dort als meine Beine langsam steif wurden und mein Rücken zu schmerzen begann. Um meinen Körper nicht überzustrapazieren, packte ich meine Sachen und begab mich ins Haus. Zu meinem Erstaunen saß Ann bereits am Esstisch und wippte erwartungsvoll mit ihren Beinen. Meine Mutter war weit und breit nicht zu sehen. Unmerklich atmete ich erleichtert aus. Normalerweise schlief Ann bei jeder Gelegenheit aus und ich hatte Mühen sie aus dem Bett zu bekommen. „Guten Morgen Ann, was machst du denn schon auf?“, fragte ich sie und umarmte sie kurz. „Guten Morgen“, antwortete sie freudestrahlend. „Ich kann es nicht erwarten in den Kindergarten zu gehen. Ich habe gestern ein Mädchen namens Lina kennengelernt. Sie ist aus Schweden.“ Interessant. Ich freute mich für meine kleine Schwester. Hoffentlich war diese Lina nett. Nein!

Mehr als nett. Ann hatte die besten Freunde der Welt verdient. Und noch mehr. Es zerstörte mich innerlich, dass meine wunderbare, kleine Schwester keinen Anschluss zu Gleichaltrigen gefunden hatte. „Wunderbar, mein Schatz.“ Ann schien sichtlich erleichtert zu sein, mir erzählt zu haben, was ihr auf dem Herzen gelegen war. „Was möchtest du frühstücken? Haferflocken oder einen frischen Obstsalat?“, fragte ich sie. Aufgrund ihres noch sehr schwachen Immunsystems versuchte ich meiner Schwester eine gesunde und vitaminreiche Ernährung bieten zu können. Ann überlegte kurz und entschied sich dann für den frischen Obstsalat.

Glücklicherweise hatte Adrian eine große Vorliebe für jegliche Obstsorten und so konnten wir immer und zu jeder Zeit Obst verspeisen. Ich ließ Ann mehrere Früchte auswählen. Sie selektierte einen Apfel, eine Banane, ein paar Himbeeren und eine Drachenfrucht. Sorgfältig schnitt ich diese in kleine Vierecke und servierte sie zehn Minuten später meiner Schwester. Gemeinsam genossen wir die morgendliche Ruhe und verspeisten den Obstsalat. Einen Teil des Frühstückes trennte ich in einer anderen Schüssel und stellte sie in den Kühlschrank. Sollte meine Mutter Hunger haben könnte sie ihn fertigessen. Danach flocht ich Ann einen französischen Zopf. Ich liebte es ihre Haare zu frisieren. Sie hatte wunderschöne hellblonde, seidige Haare, welche die unseres Vaters sehr ähnelten. Ich zog mir noch rasch eine schwarze Anzugshose, ein weißes, schlichtes Hemd und einen olivengrünen Mantel an. Wir verließen das Haus pünktlich um 7:30.

Anns Kindergarten öffnete erst um acht, sodass es mit meinen Vorlesungen meist knapp wurde. Heute würde die erste Vorlesung um zehn stattfinden. Folglich hatte ich genügend Zeit Ann abzuliefern, mir einen Kaffee zu holen und zu lernen. Wir gingen in die Tiefgarage und setzten uns in meinen alten Mazda 323. Ich hatte dieses Auto vor etwas weniger als einem Jahr von einem Freund für einen Spottpreis von 7500 Euro erwerben können. Es war in beinahe einwandfreien Zustand gewesen und war erst ein Jahr alt gewesen. Ann liebte dieses Auto. Es mochte vielleicht kein moderner Mercedes sein, aber er brachte uns zuverlässig von A nach B. Meine Schwester wiederholte nur zu gern, dass sie in meinem Alter das gleiche Auto fahren würde.

„Lisa, wann sind wir endlich da?“, seufzte Ann. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Seit einer Stunde standen wir im Berufsstau und ich hatte alle Hände voll zu tun mit hysterischen, aggressiven Autofahrern und einem quengelnden Kleinkind auf der Rückbank meines Autos. „Bald sind wir da“, murmelte ich kraftlos mehr zu mir als zu Ann. Wenn das so weiterging, würde ich die ersten Vorlesungen verpassen. Und Anns Kindergarten schloss in einer halben Stunde. Ich sah auf die Uhr des Armaturenbretts. Die Zeiger zeigte 8:30. Ich wollte gerade meine Unterrichtsnotizen zum Lernen herausholen, als sich der Stau langsam auflöste.

Innerhalb von fünf Minuten konnten wir die Ursache des Staues erkennen. Vier Klimakleber hatten sich scheinbar auf der Autobahn festgeklebt und hatten den Verkehr aufgehalten. Ich konnte die Umrisse drei Polizeiwägen erkennen, als ich in der Ausfahrt einbog. Anns Kindergarten lag einen Kilometer außerhalb der Stadt, am Rande des letzten Bezirks. An diesem angekommen begleitete ich sie zur Eingangstür und wünschte ihr einen schönen Tag.

Nachdenklich sah ich ihr hinterher. Mit schnellen Schritten, ohne sich nach mir umzusehen wie normalerweise ging sie mit einer neuen Euphorie durch die „Bärengruppe“- Tür.