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Die Liebe, wie wir sie heute erleben, ist anders als die unserer Eltern. Und sie ist noch einmal grundlegend anders, als es die Liebe unserer Großeltern war. Wir erwarten mehr voneinander – ob im täglichen Gespräch oder in der Sexualität. Der renommierte Paarberater und Bestsellerautor Christian Thiel weiß: So wie die Liebe sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, so wird sie sich auch in den kommenden verändern. Das 21. Jahrhundert wird der Schauplatz dieser Veränderungen sein. Statt einer beziehungsunfähigen Generation wächst eine neue heran, die der Paarbeziehung wieder eine entscheidende Rolle einräumen wird und der ein Wert wie Treue wichtig ist. Ohne positive Zuwendung stirbt eine Beziehung, sagt Christian Thiel. Seit 2020 betreibt er zusammen mit der Singleberaterin Anna Peinelt den Postcast : "Die Sache mit der Liebe" https://www.welt.de/podcasts/die-sache-mit-der-liebe/
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Seitenzahl: 296
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Christian Thiel
Generation beziehungsstark
Wie wir in Zukunft lieben werden
Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke | Agentur für Autoren und Verlage
www.AenneGlienkeAgentur.de
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
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E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-451-60107-1
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82730-3
1. Die Zukunft der Liebe
2. Interessieren
Warum die Neugier auf den anderen der Liebe Stabilität gibt
3. Verstehen
Warum Verständnis das wichtigste Partnerschaftsvitamin ist
4. Wissen
Wieso wir in Zukunft mehr über die Liebe lernen und mehr von der Liebe wissen werden
5. Kritisieren
Wieso wir Komplimente lieben und Kritik verabscheuen
6. Beraten
Warum eine Geschichte der Paarberatung mit den Schaumstoffschlägern des Dr. Bach beginnt
7. Berühren
Warum kein Sex auch keine Lösung ist
8. Entlieben
Die Zukunft des Liebeskummers
9. Betrügen
Wieso zwei Männer weniger sind als einer und zwei Frauen weniger als eine
10. Trennen
Warum der Rosenkrieg einer der größten Feinde der Liebe ist
11. Wählen
Wieso die Partnersuche in Wahrheit eine Wahl ist und warum die deutsche Vorabendserie uns das mit der Wahl sehr schwer macht
12. Entwickeln
Wieso die Liebe nicht nur eine Aufgabe für zwei, sondern eine Entwicklungsgemeinschaft ist
Nachwort – Die Zukunft der Liebe
Warum das Leben auf der Überholspur anstrengend und kein Sex auch keine Lösung ist
Über den Autor
Am Fahrbahnrand stehen zwei zwölfjährige Mädchen und schauen auf die Radfahrer, die vorbeikommen. Als sie mich sehen, ruft eine der beiden: »Das Leben ist Liebe – und Positivität!« Es ist der erste Frühsommer der Coronapandemie. Die Lockerungen nach dem Lockdown verführen zu Gefühlsausbrüchen. Wie einfach es doch mit der Liebe ist! Sie ist die entscheidende Größe im menschlichen Leben. Zwölfjährige Mädchen ahnen das bereits.
Das 21. Jahrhundert – es ist ganz ohne Frage ihr Jahrhundert. Sie werden in ihm ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe machen. Sie werden das erste Mal küssen, sich verlieben, werden (möglicherweise) eine Familie gründen, vielleicht auch eine Scheidung erleben und sich anschließend (sehr wahrscheinlich) wieder neu binden. Sie sind, so die These dieses Buches, die Generation beziehungsstark.
Wie einfach es doch ist, die Liebe in ihrem Kern zu beschreiben. Sie besteht – aus Positivität. Füreinander da sein, anerkennende Worte, helfende Taten, eine Umarmung, weil sie gerade gebraucht wird, und ein tröstendes Wort, weil es noch viel nötiger ist. Das ist Liebe.
Von der menschlichen Sexualität war jetzt noch gar nicht die Rede. Auch sie spielt eine wichtige Rolle bei der partnerschaftlichen Variante der Liebe. Aber am langen Ende ist auch sie ein intensives Füreinander-da-Sein, das unseren Körper mit positiv stimmenden Hormonen wie Dopamin (Glück!) und Oxytocin (Bindung!) überflutet. Positivität eben.
Liebe als Positivität zu sehen, das ist eine ausgesprochen moderne und wissenschaftlich valide Sicht auf die Liebe, eine Sicht, die im 21. Jahrhundert an Einfluss gewinnen wird. Die Generation beziehungsstark wird die erste sein, die das innere Wesen der Liebe kennt und versteht. Sie wird die erste sein, die von den Erkenntnissen der psychologischen Forschung zur Liebe in den vergangenen Jahrzehnten in vollem Umfang profitiert.
Natürlich sind da jede Menge Gefühle mit im Spiel, wenn wir uns binden. Aus sich heraus haben Gefühle aber keinen Bestand. »I don’t trust my inner feelings, inner feelings come and go«, beschreibt der Lyriker und Sänger Leonard Cohen in einem seiner Lieder das Phänomen. Was der Musiker ahnt, hat die Wissenschaft in den letzten Jahren untermauert: Gefühle bedürfen der regelmäßigen Bestätigung. Durch Positivität. Passiert das, dann ist eine Liebe glücklich und stabil. Unterbleibt es aber, dann sind Unglück oder Trennung die Folge – oder beides.
Ohne Zweifel begleitet die Liebe uns Menschen schon seit langer Zeit. Die große Hilflosigkeit von Säuglingen und die sehr lange Kindheit von Menschenjungen erfordern die enge Kooperation beider Eltern. Das begünstigte die Liebe schon zu Zeiten, da der Mensch sich als Jäger und Sammler die Savanne als Lebensraum eroberte. Die Liebe ist alt. Sehr alt. Sie bestimmt unser Leben seit vielen Millionen Jahren. Und doch hatte die Liebe zu allen Zeiten ihre ganz eigenen Gesetze und Regeln. Das hat auch mit dem Verhältnis von Männern und Frauen zueinander zu tun. Agrargesellschaften neigen dazu, ein großes Machtungleichgewicht zugunsten der Männer aufzubauen. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Liebe. Industriegesellschaften tendieren hingegen auf lange Sicht zu einem gleichberechtigten Verhältnis der Geschlechter zueinander.
Unser Leben hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten, seit dem Beginn der Industrialisierung, dramatisch verändert. Und dieses Tempo der Veränderung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten noch einmal beschleunigt. Warum also sollte die Liebe gleichgeblieben sein? In den letzten fünfzig Jahren haben sich Partnerschaften in westlichen Ländern stärker verändert als in den 500 Jahren davor.
Das hat zwei ganz einfache Gründe. Der erste besteht in den Fortschritten bei der Empfängnisverhütung. Sie hat Frauen freier gemacht – und die menschliche Sexualität auch. Der zweite sind die modernen Scheidungsgesetze, die in vielen Ländern erlassen wurden.
Die Liebe, so wie wir sie heute erleben, sie ist anders als die unserer Eltern. Und sie ist noch einmal grundlegend anders, als es die Liebe unserer Großeltern war. Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen hat sich in dieser Zeit sehr deutlich reduziert. Zudem erwarten wir heute mehr voneinander – in täglichen Gesprächen ebenso wie in der gemeinsamen Sexualität. Beide Geschlechter tun das, Männer wie Frauen. Und beide tun das zurecht. Die Liebe profitiert davon.
Die Grundthese dieses Buches lautet: So wie die Liebe sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, so wird sie sich auch in den kommenden weiterhin verändern. Das 21. Jahrhundert wird der Schauplatz dieser Veränderungen sein. Eine der wichtigsten: Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen wird weiterhin abnehmen.
Der Tiefenpsychologe Alfred Adler kritisierte schon Ende der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts das große Machtgefälle zwischen Männern und Frauen: »In unseren gegenwärtigen Verhältnissen sind viele Männer und sogar viele Frauen überzeugt, dass es dem Mann zukommt, zu herrschen und zu befehlen, die Führerrolle zu spielen, Macht auszuüben. Aus diesem Grund haben wir so viele unglückliche Ehen.« Das war eine kluge Erkenntnis des berühmten Therapeuten. Gut möglich, dass er nicht ganz alleine zu dieser Auffassung gekommen ist. Seine Frau, Raissa Timofejewna,war eine russische Feministin. Adler freute sich auf den Tag, an dem das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern abgebaut sein würde. Er erwartete eine höhere Zufriedenheit von Männern und Frauen in der Partnerschaft.
Mit dieser Annahme sollte Alfred Adler recht behalten. Der Abbau des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen hat der Liebe gutgetan. »Die Liebe ist eine Aufgabe für zwei«, pflegte er zu sagen. Zwei Menschen müssen gleichberechtigt kooperieren. Hat einer das Sagen, dann wird der andere sich rächen, er oder sie wird schwierig werden, und die Kooperation misslingt.
Alfred Adler freute sich auf die Beziehung auf Augenhöhe. Ich habe wenig Zweifel, dass er die Fortschritte, die wir in diesem Punkt erreicht haben, begrüßen würde. Ganz zufrieden wäre er aber nicht. Noch immer folgen auch moderne Paare in vielen Punkten der hierarchischen Wahl. Er ist größer als sie. Er verdient in aller Regel auch mehr und hat beruflich die bessere Position. Und noch immer sind seine Chancen, beruflich voranzukommen, viel größer als ihre. Die Generation beziehungsstark wird dieses Machtgefälle weiter einebnen. Die Begegnung auf Augenhöhe ist und bleibt eine wesentliche Bedingung für das partnerschaftliche Glück im 21. Jahrhundert.
Willkommen in der Realität eines sich stets verändernden Verhältnisses zwischen Männern und Frauen, tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen und eines grundlegenden Wandels in unserem Verhältnis zur Sexualität. Willkommen im Wandel der Liebe.
Dieser Wandel ist in der Vergangenheit nicht ohne Probleme erfolgt. Die Einführung der Ehescheidung ohne Schuldfeststellung hat konservativen Kommentatoren seinerzeit die Zornesröte ins Gesicht getrieben. Frauen die sich von ihren Männern einfach so scheiden lassen dürfen – der Untergang des Abendlandes drohte. Wirtschaftlich unabhängige Frauen würden ihre Männer – angeblich – in Scharen verlassen. Auch das würde dem Abendland im Allgemeinen und der Liebe im Besonderen den Todesstoß versetzen.
Nichts davon ist passiert. Der Liebe, es geht ihr gut. In gewisser Weise geht es ihr sogar besser denn je. Verflogen ist der Mehltau und das Aneinander-vorbei-Leben früherer Generationen. Davon hat die Sexualität ganz deutlich profitiert. Sie wurde besser. Für Männer wie für Frauen. Wirtschaftlich unabhängige Frauen – was ist aus ihnen nur geworden? Das konservative Vorurteil hat sich als tatsächliches Vorurteil erwiesen und als eine Angst von Männern, vor dem Verlust von Vorrechten und Privilegien. Wirtschaftlich gut gestellte Frauen lassen sich seltener scheiden als die, die von ihren Partnern abhängig sind, genau so, wie Alfred Adler es erwartet hat. Die Begegnung auf Augenhöhe ist der Liebe gut bekommen. Da, wo Frauen nicht auf Augenhöhe sind, leidet die Liebe noch heute.
Dieses Buch will einen Blick werfen auf die Aufgaben, die in der Liebe vor uns liegen, auf die Lösungen, die sich anbieten, und auf die Schritte, die wir tun müssen, um die Zukunft der Liebe zu gestalten. Fest steht: Die nächste Generation wird wiederum zu ganz anderen Lösungen finden. Das ist ihre Aufgabe: für die Ehe, für das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Familie, für die partnerschaftliche Sexualität und auch für das Sich-Verlieben, das bei uns Menschen häufig den Start der Liebe markiert.
Die Präriewühlmaus verliebt sich ebenso wenig wie der Gorilla oder die Fledermaus, bevor sie sich fortpflanzen. Menschen aber tun das. Und sie erleben dabei einen Rausch der Gefühle, der sie für Monate, wenn nicht gar für Jahre begleitet und ihren Blick auf die Welt, auf den Partner oder die Partnerin ausgesprochen positiv einfärbt. Rosarot. Daran wird sich in den kommenden Jahrzehnten nichts ändern.
Die Fähigkeit des Menschen, sich zu verlieben, sie hat auch Schattenseiten. Im Leben früherer Generationen spielte Liebeskummer keine große Rolle. Das hat sich heute gründlich geändert. Wir entscheiden selber, an wen wir unser Herz hängen – ungeschützt. Viele moderne Phänomene wie On-Off-Beziehungen oder Internetbeziehungen, bei denen wir das Gegenüber leider, leider nie zu Gesicht bekommen, waren so früher nicht möglich. Auch die heute allgegenwärtige Scheidung gab es so früher nicht. Der Spielraum für Liebeskummer ist deutlich größer geworden, größer, als er in der Vergangenheit je war.
Ohne krachende Niederlagen in der Liebe, ohne verweinte Nächte und tiefe Seufzer beim Gedanken an den oder die Ex erreicht heute kaum jemand mehr sein Ziel einer stabilen Partnerschaft. Die stabile und glückliche Liebe ist der angestrebte Schlusspunkt – der Liebeskummer hingegen ist der Preis, den wir bezahlen. Wir werden lernen müssen, besser mit ihm umzugehen.
Was lässt sich außerdem noch gesichert über die Zukunft der Liebe im 21. Jahrhundert sagen? Hat die Liebe in einer sich schnell wandelnden Welt überhaupt eine Zukunft? Oder treten unverbindliche Kontakte über Tinder, Gelegenheitssex nach durchtanzten Nächten und Lebensabschnittsgefährten an ihre Stelle?
Die Annahme von einer abnehmenden Bedeutung der Liebe hat es in den vergangenen Jahrzehnten schon oft gegeben. Bücher über die »Generation beziehungsunfähig« werden oft und gerne geschrieben. Und gelesen werden sie ebenso gern. Nichts davon ist eingetreten. Wir erleben stattdessen das Gegenteil. Eine Partnerschaft als Wert steht heute hoch im Kurs bei Umfragen wie zum Beispiel der bekannten Shell-Jugendstudie. Eine Partnerschaft gibt Halt – und das ist gerade in einer schnelllebigen Zeit besonders wichtig, in der immer mehr Menschen weit entfernt von Eltern, Großeltern und althergebrachten Traditionen leben.
Vor hundert Jahren blieben sehr viel mehr Menschen dauerhaft Single als heute, oft aus finanziellen Gründen. Sie konnten sich eine Familiengründung nicht leisten. Heute ist eine Partnerschaft ein universeller Wert, den jeder anstreben und erreichen kann, unabhängig von seinem Einkommen.
Die Medien, sie lieben den voyeuristischen Blick auf polyamore Liebesmodelle oder Swingerclubs. All das gibt es heute – und doch bleibt es ein Randphänomen. Die Liebe, die gute, gelingende Partnerschaft, sie wird im 21. Jahrhundert noch wichtiger für den Lebensverlauf von Menschen, als sie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war.
Die These dieses Buches ist: Die Liebe bekommt im 21. Jahrhundert eine noch stärkere Bedeutung.
Die beiden jungen Mädchen wenden sich dem nächsten Radfahrer zu und rufen auch ihm enthusiastisch ihren Spruch zu: Das Leben ist Liebe und Positivität. Die größere von ihnen ist besonders engagiert. Sie steht einen Schritt vor ihrer Freundin.
Verläuft ihr Leben so, wie eine durchschnittliche Biografie derzeit verläuft, dann wird sie mit fünfzehn oder sechzehn Jahren das erste Mal einen Jungen küssen, möglicherweise aber auch ein Mädchen. Mit siebzehn oder achtzehn Jahren hat sie das erste Mal Sex.
Nach einer langen Ausbildung und mehreren Beziehungsversuchen heiratet sie mit 32 Jahren. Und bekommt Kinder. Fünfzehn Jahre später ist die Ehe gescheitert – es kommt zur Trennung. Wie gut diese Trennung verläuft, das hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell sie sich wiederum in das Abenteuer der Liebe stürzen wird. Rosenkriege, wie viele Paare sie sich im 20. Jahrhundert noch geliefert haben, sind selten geworden zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Generation beziehungsstark hat gelernt, Trennungen durch Mediation zu erleichtern und unnötige Konfrontationen zu vermeiden. Auch die Politik hat dann begriffen, dass Paare, die sich in einer Trennung befinden, vor allem gute Vermittler brauchen – und dass der Gang zum Rechtsanwalt die Konflikte der frisch Getrennten unnötig eskaliert. Zum Nachteil der Kinder.
Nach einigen Jahren des Singleseins bindet sie sich erneut, diesmal deutlich länger, deutlich glücklicher und deutlich stabiler. Und trotzdem wird sie mit 78 Jahren wiederum Single sein. Ihr Partner ist nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Zwei Jahre später lernt sie den nächsten Partner kennen. Das Leben im Alter ganz alleine verbringen? Lieber nicht! Im Jahr 2101 stirbt sie schließlich. Ihr letzter Partner ist bei ihr. Die Kinder, die Enkel und Urenkel haben sich in den Tagen davor von ihr verabschiedet.
Ob sie sich im Jahr 2101 an ihren Gefühlsausbruch im Jahr 2020 noch erinnern kann? Und was wird sie dann, mit immerhin 93 Jahren, wohl vom Leben und von der Liebe sagen? Vermutlich noch immer: »Das Leben ist Liebe – und Positivität.«
Sie hat starke Bindungen erlebt. Sie hat erlebt, dass eine Partnerschaft das Leben bereichert und ihm Stabilität gibt. Ihre beiden langjährigen Partnerschaften waren besser als die ihrer Eltern. Und sie waren viel besser als die ihrer Großeltern. Sie hatte Glück. Sie gehört zur Generation beziehungsstark, die von der Begegnung auf Augenhöhe ebenso profitiert hat wie von den Ergebnissen der Forschungen der Psychologie zur Liebe.
Aber nicht nur die Psychologie wird ihren Beitrag zur Generation beziehungsstark leisten. Wir als Gesellschaft müssen lernen, dass Eltern mit Kindern weniger arbeiten wollen und weniger arbeiten sollten. Das betrifft die Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften. Ein Arbeitsalltag mit fünfzig oder gar sechzig Wochenstunden verträgt sich nicht mit einem geregelten Familienleben. Und schon gar nicht verträgt er sich mit dem von vielen Eltern gewünschten zweiten Kind. Nach einem Kind ist heute oft Schluss mit der Familienplanung. Freiwillig? Nein, die Belastung ist einfach zu groß. Wer eine starke Liebe will, der muss für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen.
Die Generation beziehungsstark wird neu über das Geschlechterverhältnis nachdenken – und zu besseren Lösungen finden. Sie wird über die Probleme nachdenken, die Kritik am Partner für Beziehungen nach sich zieht. Sie wird lernen, das Wesen der Untreue besser zu verstehen. Sie wird begreifen, dass Liebesmythen uns den Blick auf die Realität verstellen und dass die nicht nachlassende Neugier auf den Partner oder die Partnerin eine der wichtigsten Zutaten für das Glück in der Liebe ist. Sie wird dabei von den Forschungsergebnissen der Psychologie in den vergangenen Jahrzehnten profitieren.
Ein guter Grund für Optimismus: Die Generation beziehungsstark verfügt über mehr valides Wissen zur Liebe als jede Generation vor ihr. John Gottman (Seattle/USA) hat die Liebe in Jahrzehnten der Forschung akribisch vermessen. Terri Orbuch (Michigan/USA) kann auf eine der größten Langzeitstudien der Welt zur Liebe zurückblicken. Pepper Schwartz (Seattle/USA) und James Witte (Virginia/USA) haben mit The Normal Bar eine der umfangreichsten weltweiten Studien zur sexuellen Zufriedenheit mit rund 100 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern konzipiert und ausgewertet. Sie und viele andere Forscherinnen und Forscher haben die Grundlagen gelegt zu einer Wissenschaft von der Liebe. Keiner Generation zuvor stand so viel Wissen über die Liebe zur Verfügung. Die Generation beziehungsstark wird sie nutzen. Zu ihrem Vorteil. Und zum Vorteil der Liebe.
Die Liebe, sie braucht mehr Raum in unserem Leben. Wir müssen uns mehr für sie interessieren, wenn Bindungen im 21. Jahrhundert wirklich stärker werden sollen denn je. Wir müssen neugierig sein, neugierig auf die Liebe. Neugierig aber auch auf den Menschen, mit dem wir unsere Liebe leben wollen. Wir müssen uns interessieren. Das ist der Dreh- und Angelpunkt einer jeden Liebe.
Der Psychologe, Paartherapeut und Buchautor Prof. Dr. Guy Bodenmann (Mit ganzem Herzen lieben. Commitment – wie Ihre Beziehung langfristig glücklich bleibt) hat in den Neunzigerjahren bei John Gottman in Seattle gelernt und gearbeitet.
Wie sind Sie als Mitarbeiter zu John Gottman gekommen?
Ich habe damals in der Stressforschung gearbeitet und mich hat die Frage beschäftigt, wie sich Stress auf die Kommunikation von Paaren auswirkt. Das übliche wissenschaftliche Instrument, um etwas über Beziehungen herauszufinden, war damals der Fragebogen. Doch damit bekommt man nie so gute Informationen wie bei der Beobachtung von Paaren. Deshalb bin ich zu John Gottman nach Seattle gegangen – er hatte sich auf die Beobachtung von Paaren spezialisiert. Sein Forschungsschwerpunkt war die Konfliktkommunikation. Er analysierte, wie Paare miteinander vor laufender Kamera streiten. Es war eine hochinspirierende Zeit, eines der spannendsten Jahre meiner Laufbahn.
Wie wurde bei John Gottman gearbeitet?
Wir haben zunächst einmal sein Kodiersystem gelernt, mit dessen Hilfe Paargespräche analysiert werden, das Specific Affect Coding System. Paare wurden im Lab von John Gottman während des Konfliktgesprächs auf Video aufgenommen, das anschließend in allen Einzelheiten ausgewertet wurde. Sekunde für Sekunde wurde analysiert, wer wie kommuniziert.
Mit dem Specific Affect Coding System?
Ja. Um zehn Minuten eines Paargespräches zu analysieren, brauchte man drei Stunden. Die Fragen, um die es dabei ging, waren: Welches Wort gibt das andere? Welche positiven, neutralen oder negativen Sätze werden verwendet? Wann und an welcher Stelle entgleist das Gespräch? John Gottman war wegweisend in dieser Form der Analyse von Paargesprächen. Und diese Forschung hat auch der Paartherapie und generell der Arbeit mit Paaren Impulse gegeben.
Können Sie dafür ein konkretes Beispiel geben? Was hat Paarberatung von der Forschung gelernt?
Wenn jemand sagt: »Du bist immer müde, nie kann man mit dir was machen«, dann ist dies eine sogenannte verallgemeinernde Kritik. Kommt so etwas bei einem Paar häufiger vor, dann kann das eine Scheidung vorhersagen. Wenn man weiß, welche Verhaltensweisen im Gespräch besonders problematisch sind, kann man die Paare in der Therapie darauf hinweisen und ihnen aufzeigen, welche »Fehler« sie selbst machen.
Man kann nun Paare trainieren, diese verallgemeinernden Du-Botschaften zu unterlassen und stattdessen von sich und seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu sprechen: »Es stört mich, dass wir so wenig miteinander machen. Wir sitzen fast nur noch zuhause. Ich brauche mehr Nahrung von außen. Ich würde gerne wieder mal mit dir ins Kino gehen.«
Sie sind im deutschsprachigen Raum auch für das Programm Paarlife bekannt, das Paaren bei der Krisenkommunikation helfen soll. Sind solche partnerschaftlichen Lernprogramme ein Baustein, um die Liebe besser vor dem Scheitern zu schützen?
Ich denke schon. Die entscheidende Frage ist allerdings: Wie bekommen wir Paare dazu, solche Angebote auch wahrzunehmen? In Deutschland wurde es über die Kirchen versucht, die Ehevorbereitungskurse anbieten. Nicht jeder, nicht jede ist für ein kirchliches Programm zu erwärmen. Wir habe ein Online-Format zur Pflege der Partnerschaft entwickelt (www.paarlife.ch/paarlife-online-training/). In der Coronakrise wurde das breit publik gemacht. Die Nutzerzahlen sind merklich in die Höhe gestiegen. Aber danach gingen die Zahlen wieder zurück. Nur durch eine starke Medienpräsenz lässt sich eine hohe Nutzung erreichen.
Könnte es helfen, schon in der Schule mit einem Unterrichtsfach »Liebe« anzufangen?
Ich bin skeptisch. Streit ist immer paarspezifisch. Er entsteht zwischen zwei Menschen. So gesehen bringt es in meinen Augen nicht so viel, Streitkompetenzen unabhängig von einer Partnerschaft zu vermitteln. Wir müssen vielmehr diejenigen erreichen, die in einer Partnerschaft leben, und sie anleiten, wie sie mit ihrem Partner besser kommunizieren können.
»Schau mal, das Boot«, sagt sie zu ihm. Ob er auf ihre Worte eingeht oder nicht, das entscheidet jetzt gleich über Wohl und Wehe seiner Liebe. »Stör mich nicht, ich muss gerade was lesen«, sagt er und schaut weiter auf sein Smartphone. Oder er reagiert einfach gar nicht. Oh weh, das sieht nicht gut aus für die Zukunft seiner Partnerschaft.
Den Partner oder die Partnerin nicht zu beachten, das ist das absolute Gegenstück zu dem Übermaß an Interesse und Bewunderung, die wir in der Zeit der Verliebtheit so sehr genossen haben. Die Neugier des anderen hat uns das Gefühl gegeben, dass er oder sie sich ernsthaft für uns interessiert. Verliebte reagieren manchmal regelrecht enthusiastisch auf das, was der andere sagt. »Wow – was für ein tolles Boot. Man möchte am liebsten gleich an Bord gehen und bis ans Ende der Welt reisen! Nur wir beide!« Zugegeben, so enthusiastisch reagieren beinah nur Verliebte. Nur wir beide; bis ans Ende der Welt – wir haben Resonanz gefunden. Und das stärkt die Liebe.
»Schau mal, das Boot«, sagt sie zu ihm. Was ist mit dem Boot, das so gemächlich vor sich hin segelt? Was bewegt sie gerade, dass sie diesen Satz sagt? Ihre Worte sind ein Kontaktangebot, ein bid, wie der bekannteste Partnerschaftsforscher der Welt, John Gottman, dazu sagt. Ein bid for connection. Ein Angebot, Kontakt herzustellen.
John Gottman hat in den Siebzigerjahren mit seiner Forschung begonnen, kurz nachdem in den USA die ersten modernen Scheidungsgesetze erlassen worden waren. Er wollte sich nicht auf Meinungsumfragen verlassen und nutzte für seine Forschungen die Möglichkeiten der genauen Beobachtung und Auswertung des Gesprächsverhaltens von Paaren mithilfe von Videoaufzeichnungen. Dabei zählt, was wir sagen und wie wir es sagen. Hinzu kommt unsere Mimik und Gestik.
Nach Jahren der Forschung war John Gottman so weit, dass er nach der Auswertung eines ganzstündigen Paargesprächs mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen konnte, ob ein Paar in fünfzehn Jahren noch zusammen sein wird. Bei einer Gesprächslänge von fünfzehn Minuten kam er auf eine Erfolgsquote von neunzig Prozent. Fünfzehn bis sechzig Minuten – mehr braucht es nicht, um festzustellen, ob eine Liebe hält. Oder scheitert. Wie ist so etwas nur möglich?
»Wir beobachten in den Videos, wie sich ein Paar darüber austauscht, wie der Tag gewesen ist«, sagt John Gottman. »Dabei zeigt sich, ob sie wirklich aneinander interessiert sind. Ob ihnen das, was der Partner während des Tages erlebt hat, tatsächlich etwas bedeutet.« Die Neugier ist also einer der entscheidenden Schlüssel für eine glückliche Partnerschaft.
Das mit der Neugier und dem Sich-Interessieren gilt nicht nur bei dem Gespräch über den Tag, das John Gottman in seinen Videos oft ausgewertet hat. Es gilt auch in ganz alltäglichen Situationen. Beziehungen sind glücklich und stabil, wenn wir bei unserem Partner oder unserer Partnerin Resonanz finden. Wenn er, wenn sie sich für uns interessiert. Für unsere Gedanken. Für unsere Gefühle. Für das, was uns beschäftigt.
»Schau mal, das Boot«, sagt sie zu ihm. Löst das Boot bei ihr Sehnsucht nach einer Weltumsegelung aus? Dann möchte sie, dass ihr Partner das versteht und sich für ihre Sehnsucht interessiert. Erinnert es sie an ein ähnliches Boot, das sie zusammen mit ihm im letzten Sommerurlaub in der Karibik gesehen hat? Dann möchte sie, dass sich ihr Partner mit ihr zusammen an diesen Urlaub erinnert. »Stimmt, ja, es sieht wirklich ganz so aus wie das Boot im Urlaub!« Ihr Wunsch nach Kontakt, ihr bid, hatte Erfolg. Und bestärkt so die Liebe.
Keine Resonanz zu finden hingegen beschädigt die Liebe. Einerlei ob er gar nicht reagiert oder unwirsch darauf verweist, dass das Smartphone gerade vorgeht – bleiben bids unerwidert, dann leidet die Liebe. Wir sind nicht in einer Beziehung, um einfach so ignoriert zu werden.
John Gottman hat den Weg in die Hölle einer unglücklichen Partnerschaft ebenso vermessen wie den in den Himmel einer glücklichen und stabilen Beziehung. Eines der Ergebnisse seiner Jahrzehnte dauernden Forschungen lautet: Bleiben die Wünsche nach Verbundenheit, die bids of connection, unbeantwortet, geht eine Ehe einen schwierigen Weg, ein Weg, der Paaren das Miteinander unerträglich schwer macht.
Unser Gefühlsleben reagiert auf dieses Verhalten. Eines Tages wird es rebellieren. Es ist sauer – und antwortet mit Nörgeln und mit Kritik. Es will nicht mehr so weitermachen – und geht den Weg der Trennung. Es verliebt sich in einen anderen – und geht den Weg der emotionalen und sexuellen Untreue. Drei Varianten, auf zu wenig Interesse des Partners oder der Partnerin zu reagieren.
John Gottman spricht nicht von der Hölle der Partnerschaft, so wie ich das gerade getan habe. Sein Wort ist das von den desasters. Das Gegenteil davon, die Paare, die glücklich und zufrieden sind, das sind in seinen Worten die masters. Sie schaffen es im Alltag wieder und wieder, auf die bids des anderen einzugehen. Und werden damit glücklich. Glück, partnerschaftliches Glück, ist für John Gottman somit messbar. Er kann eine Grafik aus ihm machen, was naheliegt, da John Gottman nicht nur Psychologe ist, sondern auch Mathematiker.
Was ist auf einer solche Grafik zu sehen? Es sind auf- oder auch absteigende Kurven. Paare mit einem geringen Trennungsrisiko wenden sich häufig einander zu. Und sie tun das im Verlauf ihrer Partnerschaft immer öfter. Die Kurven steigen nach oben. Paare mit einem hohen Trennungsrisiko dagegen wenden sich mit zunehmender Dauer der Beziehung seltener einander zu – und immer häufiger voneinander ab. Sie interessieren sich nicht mehr füreinander. Der Verlauf der Kurven zeigt deutlich nach unten.
Das kann im Grundsatz zwei sehr unterschiedliche Ursachen haben. Der erste lautet: Sie passen nicht wirklich zueinander. Entsprechend schwer fällt es ihnen, sich wirklich füreinander zu interessieren. Möglicherweise haben sie beim Kennenlernen eher auf die erotische Anziehung zueinander vertraut, die seelische Nähe aber vernachlässigt. Der zweite Grund: Sie vernachlässigen sich und ihre Beziehung. Und sie geraten genau dadurch im Laufe der Jahre in eine Krise. Weil sie ihre Liebe für selbstverständlich halten und nicht wissen, dass sie tägliche Pflege braucht.
Viele Paare, die zu mir in die Beratung kommen, wundern sich, dass ihre Beziehung schleichend schlechter und schlechter wird und im Chaos von scheinbar unvermeidlichen Streits, sexuellem Desinteresse und einem ständigen Gegeneinander zu versinken droht. Ich wundere mich nicht. In meinen Augen ist so etwas in unserer Kultur ganz einfach. Wir brauchen nur dem Grundmythos über die Liebe zu folgen, die angeblich wie ein wertvoller Edelstein ist, den wir nur finden müssen, und dann ist alles gut.
Folgen wir in unserem Verhalten diesem Mythos, dann ist der Niedergang einer Beziehung nur schwer aufzuhalten. Der Mythos erzählt uns nichts davon, dass wir uns auch nach dem Finden des Edelsteins noch für unser Gegenüber interessieren müssen. Der Mythos weiß nichts von der Neugier auf den anderen, die ihm auch nach Jahren und Jahrzehnten noch das Gefühl gibt, etwas Besonderes für mich zu sein. Er weiß nichts davon, dass eine Liebe nur dann lebendig bleibt, wenn wir uns für den anderen interessieren. Das macht diesen Mythos in meinen Augen so gefährlich.
Mythen haben in unserem Leben eine wichtige Funktion. Sie füllen unsere Wissenslücken auf. Mythen geben uns also Auskunft über die Realität, wenn wir gerade kein valides Wissen haben und vielleicht auch gar nicht haben können oder wollen. Das ist unproblematisch, wenn es um für unser Leben unwichtige Dinge geht wie etwa die Frage, ob die Sonne sich um die Erde dreht. Oder ob sich das Ganze andersherum verhält, die Erde sich also um die Sonne dreht. Oder gar um sich selber. Für Astronomen und Raketenbauer sind diese Fragen wichtig. Für den Rest der Menschheit ist es unerheblich.
Bei der Liebe ist das anders. Sie hat einen großen Einfluss auf unser Leben. Erfolg oder Misserfolg in der Liebe können davon abhängen, ob wir etwas einfach so für richtig halten oder ob wir es wissen. Wer heute in der Liebe Mythen folgt, der gibt sich oft schlicht nicht die Mühe, etwas über die Realität zu erfahren. Besonders Männer, die sich für rational halten, weigern sich gerne, sich mit menschlichen Gefühlen zu beschäftigen. Das macht sie anfällig für Liebesmythen aller Art. Sie füllen ihre Wissenslücken mit Annahmen und mit Mythen auf. Finden Sie das rational? Ich nicht. Wer noch immer glaubt, die Erde sei eine Scheibe oder die Sonne drehe sich um die Erde, den lachen wir aus. Wer noch immer glaubt, die Liebe sei ein Edelstein, den wir nur finden müssen, der bekommt einen Filmvertrag in Hollywood – und wird in Talkshows eingeladen.
Schon das Märchen erzählt wieder und wieder genau die Geschichte von dem wertvollen Edelstein. In Wahrheit ist die Liebe kein Edelstein. Sie ist vielmehr wie ein Brot. Soll es frisch sein, dann muss es jeden Tag aufs Neue gebacken werden. Es ist genau dieses Wissen, das unsere Kultur uns vorenthält – und das die Wissenschaft und auch die Beratung doch ein ums andere Mal bestätigen.
Wir müssen uns jeden Tag für den anderen oder für die andere interessieren. Das ist der absolute Kern einer guten Liebe. Die beiden entscheidenden Sätze im Leben einer Partnerschaft heißen deshalb nicht »Schatz, was gibt es zum Abendessen?« oder »Ich fahr noch schnell den Einkauf erledigen und hol die Kinder ab«, sondern:
Wie geht es dir?Was kann ich für dich tun?Auch ein jovial geäußertes »Na, wie geht’s? Alles gut?« deutet nicht auf echtes Interesse hin. Dauerhaft glücklich und stabil ist meine Partnerschaft nur dann, wenn mich die Antwort auch wirklich interessiert. Der andere braucht uns dann ganz besonders, wenn es ihm nicht gut geht, wenn düstere Gedanken in ihm wohnen und schlechte Gefühle ihn beschäftigen. Jetzt schlägt die Stunde der Masters.
John Gottman hat das in einem Interview mit dem bekannten Paartherapeuten Oskar Holzberg für die Zeitschrift Brigitte so ausgedrückt: »Bist du für mich da? Teilst du deine Gefühle mit? Sprichst du mit mir, wenn ich traurig bin? Wirst du nicht ärgerlich auf meine Stimmungen reagieren?« Das echte Interesse für das emotionale Befinden und das Wohlergehen des Partners oder der Partnerin ist es, was das Brot jeden Tag frisch sein lässt. All jene aber, die sich nicht ernsthaft für die Gefühle ihres Gegenübers interessieren, das sind die Desasters. Der Edelstein, den sie ihrer Überzeugung nach gefunden haben, wird mit der Zeit immer unansehnlicher. Oder in meinen Worten ausgedrückt: Ihr Brot wird altbacken. Interesse ist keine Einbahnstraße. »Teilst du deine Gefühle mit mir?« – so lautet einer der Sätze, die John Gottman zum Thema des Interessierens gesagt hat. Wir müssen uns für die Gefühle des anderen interessieren. Wir müssen allerdings auch bereit sein, von unseren eigenen Gefühlen zu berichten. Wir müssen sie mit dem anderen teilen. Das ist Liebe.
»Schatz, was gibt es zum Abendessen?« oder »Ich fahr noch schnell den Einkauf erledigen und hol die Kinder ab« – das ist ein Team. Eine Zweckgemeinschaft. Manchmal auch nur eine WG. Und mehr nicht.
Für echte Neugier gibt es einen Gradmesser. Der Partnerin oder dem Partner zuzuhören, das ist das eine. Aber das alleine reicht nicht. Fragen stellen ist das andere. »Wie war dein Tag?« Doch auch das reicht noch nicht aus, um Nähe, um Intimität im Gespräch zu erreichen. Intimität entsteht durch Nachfragen. Neugieriges Nachfragen.
Erklären Sie das doch mal einem Single, der sich über die erfolglosen Verabredungen beklagt, die er stets und immer hat. Junge Männer prahlen bei diesen Gelegenheiten gerne mit ihrem tollen, hippen Leben. Snowboard fahren im Zillertal. Trecking im Himalaya. Urlaub in Kambodscha. Sie wollen die Frau, die ihnen gegenübersitzt, beeindrucken. Das ist ein Fehler. Solche Gespräche signalisieren kein Interesse am anderen. Fragen und Nachfragen hingegen erzeugen Nähe.
Oder erläutern Sie das mit dem Nachfragen einem Freund, der sich über die mangelnde Verbundenheit mit seiner Frau wundert. »Hallo Schatz, ich bin ja so geschafft. Ich schau noch schnell in meine Mails. Es war ja so viel los auf Arbeit, du glaubst gar nicht, was der Johannes wieder angestellt hat. Ich erzähle es dir später.« Haben Sie da irgendetwas von einem ernsthaften Interesse am Gegenüber bemerkt? Intimität entsteht durch Nachfragen. »Wie war dein Tag? Wann kam die neue Lieferung? Oh, so spät – da hattet ihr aber mächtig zu tun, oder?«
Die Neugier und das Sich-Interessieren falle Männern schwer, liest man immer wieder. Ich habe da meine Zweifel. Die Neugier auf das, was ihre Frau erlebt und zu erzählen hat, die fällt vielen Männern erkennbar schwer. Ich hatte mal einen Klienten, der konnte sich nicht einmal den Namen der Klasse merken, in der seine Frau Klassenlehrerin war. War es etwa die 8a? Oder doch die 9d? Das Urlaubsziel seiner Arbeitskollegin aber wusste er sehr genau. Und wo ihr Flugzeug sich gerade befand, das wusste er ebenfalls. Wofür hat man denn ein Smartphone und eine Flugzeug-Positions-App! Alles ganz einfach. Das mit dem Namen der Klasse seiner Frau aber, das war schwierig. Auf diese Weise entsteht Intimität mit der Kollegin. Für sie kann er sich ohne Probleme interessieren. Aber nicht für seine Ehefrau. Erstaunt es Sie zu erfahren, dass seine Frau schon lange eifersüchtig auf die Kollegin ist? Die Kollegin bekommt, was die Ehefrau sich von Herzen wünscht und nicht bekommt – Interesse. Echtes Interesse.
Wir wünschen uns dieses Interesse des Partners oder der Partnerin. Jeden Tag. Ganz besonders wünschen wir es uns, wenn unsere Chancen, es zu bekommen, gerade eher schlecht stehen – weil wir als Paar unterschiedlicher Überzeugungen sind oder unterschiedliche Wünsche und Erwartungen an das Leben haben. Doch gerade dann braucht die stabile und gute Liebe das Verständnis des anderen. Es kann viel bewirken, wenn wir uns ernsthaft für den Partner oder die Partnerin interessieren und die Neugier dafür nutzen, ihn und seine Weltsicht zu verstehen. Auch und gerade dann, wenn es uns schwerfällt.
Die Erzieherin Hanna (38) hat erst in letzter Zeit das Thema des Interesses für sich und ihre Partnersuche entdeckt.
Wie hat sich Ihr Blick auf die Partnersuche durch die Beschäftigung mit der Frage »Wer passt zu mir?« geändert?
Ich treffe jetzt viel weniger Männer als vorher. Und ich überlege auch länger, ob es sich lohnt. Das hat allerdings zur Folge, dass ich jetzt länger Single bin als jemals zuvor. Ich habe jetzt seit achtzehn Monaten keinen Mann mehr geküsst. Das gab es, seit ich erwachsen bin, noch nie.
Wie lange waren Sie früher Single?
Äußerstenfalls mal drei oder vier Monate. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ich bin einigen Männer regelrecht nachgelaufen. Ich dachte immer, dass er zu mir passt. In Wahrheit wusste ich gar nicht, worauf ich achten sollte, und habe den Mann schlicht idealisiert. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ich wollte vor allem überhaupt jemanden haben. Ich wollte nicht alleine sein.
So ein Suchmuster wird oft schwierig, wenn wir Mitte dreißig sind. Wir wollen dann gerne mal eine längere Partnerschaft erleben. Und dann ist da ja