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Germanische Superhelden Der Leipziger Autor Reiner Tetzner hat die germanischen Heldensagen Mittel- und Nordeuropas aus den Quellen neu erzählt: Die berühmte Nibelungensage mit Siegfrieds Kampf gegen den Drachen liest sich ebenso fesselnd wie die spektakulären Abenteuer der mittelalterlichen Sagenfiguren Wieland der Schmied und Dietrich von Bern.
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Seitenzahl: 410
Reclam
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962348
1996, 2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Waltraude. Rollenbild aus Richard Wagners Oper Die Wallküre, Bayreuth 1876. Farblithographie nach Karl Emil Doepler. – akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962348-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014555-5
www.reclam.de
Der Hort der Nibelungen
Kriemhild am Hofe zu Worms
Siegfrieds Herkunft
Siegfried kommt nach Worms
Kampf gegen die Sachsen
Siegfried besiegt den Drachen und gewinnt den Hort
Siegfried begegnet Kriemhild
Gunter wirbt um Brünhild
Brünhilds und Siegfrieds frühe Eide
Gunter gewinnt Brünhild im Kampfspiel
Siegfried fährt ins Nibelungenland
Siegfried reitet als Bote nach Worms
Gunter feiert mit Brünhild Hochzeit
Siegfried fährt mit Kriemhild in sein Reich
Gunter lädt Siegfried und Kriemhild nach Worms ein
Die Fahrt zum Fest
Brünhild und Kriemhild verfeinden sich
Siegfried wird verraten
Hagen durchbohrt Siegfried mit dem Speer
Totenklage und Begräbnis Siegfrieds
Brünhild wählt den Tod
Der Nibelungenhort wird nach Worms gebracht
Etzel lässt um Kriemhild werben
Kriemhild fährt zu König Etzel
Kriemhilds Empfang und Hochzeit
Die Burgunden werden eingeladen
Schwämmel und Wärbel überbringen die Botschaft
Die Burgunden fahren zu den Hunnen
Der Kampf in Bayern
Empfang in Bechlaren
Ankunft bei den Hunnen
Kriemhild will Hagen töten lassen
Hagen und Volker halten Schildwache
Das Kampfspiel
Die burgundischen Knappen werden überfallen
Der Kampf im Saal
Die Toten werden aus dem Saal geworfen
Der Mordbrand
Rüdeger fällt
Der Kampf mit Dietrichs Recken
Dietrich greift ein
Gunters und Hagens Schicksal
Kriemhilds Ende
Wieland der Schmied
Dietrich von Bern
Hildebrant und Dietrich
Heime kommt zu Dietrich und fordert ihn heraus
Witege auf dem Wege nach Bern
Dietrich und Witege im Zweikampf
Ecke und Fasolt
Dietleib
Zwergenkönig Laurin
Der Kampf gegen Herzog Rimstein
Der Ratgeber Sifka treibt Ermrichs Söhne in den Tod
Der Angriff auf die Harlungen
Ermrich vertreibt Dietrich von Bern
Dietrich bereitet eine Heerfahrt gegen Ermrich vor
Die Schlacht
Dietrich kehrt heim
Hildebrant und Hadubrant
Dietrich gewinnt sein Reich zurück
Anhang
Glossar
Literaturhinweise
Nachwort
Erzählt wird aus alter Zeit von einem Königreich, das nicht untergehen würde, vom Kampf um einen Hort, dessen Besitz Macht über die Welt verleihen konnte, von einer Liebe, deren Verrat nur durch den Tod zu sühnen war, von Taten und Untaten.
Neben Dietrich von Bern gilt Siegfried als berühmtester Held. Als kunstfertigsten Schmied kennen wir Wieland. Große Königinnen waren Brünhild und Kriemhild. Fahrende Sänger dichteten Preislieder, verwoben sie mit Strophen über Taten anderer Großer. Manches wurde vergessen oder überdauerte nur bruchstückhaft in Handschriften. Auch bei dem späteren Lied über die Nibelungen bleibt vieles dunkel. Wir folgen dieser Quelle, kehren aber auch zu ältester Kunde zurück. So sehen wir tieferen Grund für den Tod der Helden und Königinnen, ohne ihr Schicksal je ganz aufzuhellen.
Jenes große Königreich, von dem erzählt wird, hatten die Burgunden am Rhein gegründet. Von seiner Macht und seinem Ruhm sprechen wir noch heute. Drei junge Könige regierten in Worms. Aber ihre Schwester Kriemhild sollte noch berühmter werden. Wie keine andere Königstochter war sie über alle Maßen schön. Manche Mächtige des Reiches meinten, nun habe das Königsgeschlecht für ewig Bestand. Aber gerade ihre Schönheit sollte eine größere Gefahr werden als das stärkste feindliche Heer. Kriemhild war so reizvoll und anmutig, dass die kühnsten Helden sie zur Frau begehrten, sie war so schön, dass mancher junge Kämpfer für sie in den Tod gehen wollte.
Aber je heftiger die Freier sie begehrten, desto schroffer wehrte Kriemhild ab. Auch wegen eines Traumes, den sie keinen Tag vergaß:
Sie ziehe einen Falken auf, hatte sie geträumt, der sei stark, schön und wild, den liebte sie über alle Maßen. Da packten ihn vor ihren Augen zwei Adler mit ihren Klauen und zerfleischten ihn.
Tränenüberströmt hatte sie ihrer Mutter, Königin Ute, berichtet.
»Der Falke, den du zähmtest, ist ein edler Mann«, deutete die Königin den Traum, »sobald du ihn gefunden, wird er dir wieder entrissen.«
»Was redet Ihr von einem Mann, liebe Mutter, nun will ich erst recht keinen Helden lieben und so schön bleiben bis an meinen Tod.«
»Nun sei nicht voreilig«, entgegnete die Mutter, »Glück erfährst du nur durch die Liebe eines Mannes; neben ihm zu liegen macht dich noch schöner.«
Kriemhild bat die Mutter zu schweigen und verbannte die Liebe aus ihrem Sinn, wies kühnste Bewerber ab. Nach Jahren meinte sie endlich, keinem Mann mehr zu erliegen. Da kam jener Falke, den sie im Traum gesehen; der berühmteste aller Helden und von göttlicher Abstammung.
So begannen also Glück, Verrat und Tod, und niemand konnte sie aufhalten. So mächtig und glanzvoll das Königshaus auch war, so berühmt das Geschlecht der Burgunden, dem Kriemhild angehörte, so tapfer und weise ihre Brüder, die Könige Gunter, Gernot und der junge Giselher. Sie waren Helden von unmäßiger Kraft und Kühnheit, mit auserwählter Tatkraft und Freigebigkeit.
Den drei Königen und ihrer Mutter, Königin Ute – Vater Dankrat lebte nicht mehr –, waren mächtige Herren untertan wie Hagen von Tronje und sein Bruder Dankwart. Auch Ortwin von Metz, die Markgrafen Gero und Eckewart und Volker von Alzey gehörten dazu. Rumold war der Küchenmeister, Sindold der Mundschenk und Hunold der Kämmerer. Dankwart war der Marschall und Ortwin der Truchsess der Könige. Den Glanz des Hofes vermehrten noch viele berühmte Männer, deren Namen nicht alle genannt werden können.
Jener Held, der Kriemhilds Falke werden sollte, war der Sohn des mächtigen Königs Siegmund. Nach jüngeren Berichten herrschte er mit seiner Frau Sieglind in der stark befestigten Stadt Xanten am Rhein. Dort lud der König, als Siegfried waffenfähig war, bei einer Sonnenwende zum Fest der Schwertleite. Mit vierhundert Knappen wurde Siegfried wehrfähig und somit mündig.
Für das Fest hatten schöne Mädchen goldene Borten auf Gewänder genäht und sie mit blitzenden Edelsteinen besetzt. Fröhlicher Lärm der Kampfspiele verhallte nicht. Speere splitterten, Schläge auf Schilde dröhnten in den Höfen. Anmutige Frauen bangten um die Kämpfer. Nach dem Wettstreit lagen zerschlagene Schildbuckel umher, Edelsteine glitzerten zerbrochen im Grase. Eine Zeitlang wagte keiner, diese Zeugen der glücklichen Tage zu berühren.
Sieben Tage ließen König Siegmund und Königin Sieglind tafeln und edle Weine ausschenken. Musik erklang. Gaukler waren bestellt. Nie war ein König freigebiger. Um des Sohnes willen wurden an die zahlreichen Gäste rotes Gold, Rosse, Ringe und Kleider verteilt. Die Geschenke stoben dem Königspaar aus den Händen, als bräche am folgenden Morgen dessen letzter Tag an.
Mächtige Fürsten im Reiche wünschten nun Siegfried als jungen König. Aber solange seine Eltern lebten, wollte er die Krone nicht tragen. Nur wenn seinem Land feindliche Gewalt drohe, werde er seine Stärke nutzen. In ferne Länder wolle er ziehen und sein Schwert erproben.
Aus frühester Zeit wird über Siegfrieds Herkunft noch Bedeutenderes berichtet. Sein Großvater sei König Völsung, Siegfried gehöre also zum berühmten Königsgeschlecht der Völsungen. Und Sigi, der Vater dieses Königs Völsung, sei ein Sohn Odins gewesen, heißt es. Da dieser Sigi und seine Frau kinderlos blieben, wandten sie sich an Odin und dessen Frau Frigg. Daraufhin sandte Odin eine Walküre, die sich dem König in Krähengestalt näherte und einen Apfel auf seine Knie warf. Sigi gab seiner Frau davon zu essen. Bald wurde die Königin schwanger. Doch da fiel eine Krankheit sie an und drohte das Kind zu ersticken. Da wurde ihr der Bauch geöffnet in einer Art, die heute Kaiserschnitt genannt wird, und der Sohn gerettet. Der Knabe war groß und kräftig, wurde Völsung genannt und küsste seine Mutter, bevor sie starb.
Später, als Völsung, Siegfrieds Großvater, erwachsen und selber König war und schon seinen Sohn Siegmund hatte, ließ er eine prächtige Halle errichten, in deren Mitte eine riesige Eiche stand. Zu einem Festmahl lud er berühmte und mächtige Männer. In der Nähe der Eiche brannten große Feuer. Speisen und Met gab es reichlich. Da trat vor die fröhlich lärmenden Gäste ein hochgewachsener Mann mit weitem blauen Mantel und breitem Schlapphut. Auch an seiner Einäugigkeit erkannten alle Gott Odin. Die Männer verstummten. Nicht einmal das Schlucken aus den Trinkhörnern war mehr zu hören. Odin zog ein Schwert und stieß es so tief in den Stamm der Eiche, dass nur noch der Griff zu sehen war. Vor Staunen schien den Männern der Metrausch verflogen, da sagte der Einäugige:
»Wer das Schwert aus dem Stamm zieht, dem schenke ich es. Keine Waffe ist besser als diese.«
Nun versuchten nacheinander die stärksten Recken ihr Glück; aber keinem gelang, am Schwert auch nur zu rütteln. Und als der letzte aufgegeben hatte, trat Siegmund, der junge Sohn Völsungs, an die Eiche und zog das Schwert mit einer einzigen Bewegung aus dem Holz. Niemand hatte je eine so prächtige Waffe gesehen. So erhielt Siegfrieds Vater aus Odins Hand das berühmte Siegschwert.
Auch mit dessen Hilfe wurde König Siegmund der größte Held seiner Zeit. Er siegte in zahlreichen Schlachten und herrschte viele Jahre als mächtiger König. Als er dann alt war, kam es zu einer großen Schlacht gegen die Söhne jenes Herrschers, die seinen Vater, König Völsung, getötet hatten. Siegmund sei unempfindlich gegen Gift, hieß es, sowohl von außen auf der Haut als auch von innen durch Trank oder Speise. Wie in früheren Kämpfen drang Siegmund auch diesmal mit Odins Siegschwert mitten durch das Heer der Gegner und brachte es in Verwirrung, zerhieb zahllose Schilde und Panzer der Feinde. Wie gewohnt prallten Speere und Pfeile von seinem Schild und seiner Brünne ab. Keiner konnte auch an diesem Tage jene Recken zählen, die der König fällte. Seine Arme waren blutig bis zur Achsel. Siegmunds Heer brachte das jener Söhne in Bedrängnis; sein Sieg schien auch diesmal gewiss. Da stellte sich König Siegmund ein Mann in den Weg und hob gegen ihn seinen Speer. Der Mann trug einen blauen Mantel, einen herabhängenden Hut und war einäugig. Siegmund wehrte sich, hieb mit seinem Schwert gegen den Speer. Aber der brach es in zwei Stücke. Damit brachen auch Siegmunds Glück und Kampfesmut. Er wurde schwer verwundet und verlor die Schlacht. Die Feinde glaubten, keiner der berühmten Völsungen hätte überlebt. Aber jene junge Frau, mit der sich der alte König noch vermählt hatte, trug ein Kind von ihm.
Nach dem alten Bericht hieß diese Frau Hördis und war eine Walküre. Nach der Schlacht ging sie auf die Kampfstätte, fand Siegmund und wollte ihn heilen. Der König lag in seinem Blute und wehrte die Pflege ab:
»Odin brach mein Schwert, nun habe ich weder zu kämpfen noch zu leben. Du trägst einen Knaben in dir, wende alle Sorgfalt auf ihn, er wird der Mächtigste und Berühmteste unseres Geschlechts sein, und er heiße Siegfried. Lasst ihm aus meinen beiden Schwertstücken ein neues schmieden und nennt es Gram.«
So sprach König Siegmund und starb bei Sonnenaufgang.
Nach diesen alten Berichten unterlag Siegfrieds Vater auf dem Schlachtfeld vor der Geburt des Sohnes. Aus jüngerer Zeit wird von Siegmund als König in Xanten erzählt, mit Siegfried an seiner Seite. Aber in allen Überlieferungen zeichnet sich Siegfried durch außergewöhnliche Kraft aus, und die trieb ihn wohl auch nach Worms.
Bis Siegfried von Kriemhild Kunde erhielt, lebte er unbeschwert. Die Königstochter sei über alle Maßen schön und reizvoll, so anziehend und begehrt, hieß es, wie keine vor ihr. Und er hörte, wie Werber aus allen Ländern an den Burgundenhof schwärmten. Dass Kriemhild auch die mächtigsten und kühnsten abwies, forderte Siegfried umso mehr heraus.
Als König Siegmund davon hörte, versuchte er seinem Sohn diese Werbung auszureden.
»Mein Herz ist so voll Liebe zu Kriemhild, ich kann von ihr nicht lassen«, beteuerte Siegfried, »darf ich sie nicht freien, werde ich nimmer eine Frau wählen.«
»Ist es nicht zu wenden, so will ich dir beistehen«, kam der Vater ihm entgegen, »aber schon von einem allein an Gunters Hof droht dir Gefahr. Hagen von Tronje ist hochmütig und heimtückisch, er duldet keinen Mächtigen an seiner Seite.«
»Wenn ich mit Freundlichkeit nichts erreiche«, entgegnete Siegfried, »erzwing ich mir Land und Leute mit meinem Schwert.«
»Erführen die Burgunden davon, dürftest du niemals nach Worms«, warnte Siegmund, »ich kenne die Könige Gunter und Gernot. Mit Gewalt gewinnst du nie Kriemhilds Herz. Aber willst du doch mit einem Heer ausziehen, werde ich alle meine Freunde aufbieten.«
»Mit starker Mannschaft nach Worms zu reiten, danach ist mir nicht. Allein will ich Kriemhild gewinnen. Gib mir zwölf Gefährten, Vater, rüste sie aus, dann werde ich losziehen.«
Als Königin Sieglind von Siegfrieds Absicht erfuhr, weinte sie und sah ihren Sohn schon von Gunters Mannen bedroht.
»Keine Tränen, Mutter«, bat Siegfried, »verhelft mir und meinem Gefolge zu solchem Gewand, dass es uns zur Ehre gereicht.«
»Kannst du von der Schönen nicht lassen«, beteuerte die Mutter, »sollst du die beste Kleidung haben, die je ein Held trug.«
Schöne Frauen wirkten und nähten Tag und Nacht. Siegmund ließ glänzende Brünnen und feste Helme zurichten und neue Schilde fertigen. Die waren breit und schön. Das Zaumzeug glänzte rot von Gold, das Riemenzeug seiden. Die Gewänder prangten goldfarben. Die Schwertspitzen der Recken reichten bis an die Sporen. Siegfrieds Speer war zwei Spannen breit.
Beim Abschied von Xanten trauerten die Helden bei Hofe, und zahlreiche Frauen weinten. Sie ahnten Leid und Tod. Siegfried gelang es nicht, sie zu trösten.
Am siebenten Morgen ritten die Helden an den Ufersand zu Worms. Rüstung und Gewänder leuchteten golden. Als ob sie aus einer anderen Welt oder gar von den Göttern kämen, so schien es dem Volk, das sich sammelte und Siegfrieds Zug in die Hofburg folgte. Nie wurden hier herrlicher Gerüstete gesehen. Siegfrieds Schild war mit rotem Gold überzogen und mit einem Drachen bemalt. Der Held trug eine Goldbrünne, und alle seine Waffen waren goldgeschmückt, heißt es in alten Erzählungen. Siegfrieds Haar war braun und fiel in langen Locken herab, sein Bart stand dicht und kurz. Er hatte ein knochiges Gesicht, seine Augen waren so scharf, dass nur wenige wagten, ihn anzublicken. Seine Schultern waren so breit wie die von zwei Männern. Er redete sehr gewandt. Freunden zu helfen galt ihm als eine Lust. Für sie nahm er gern Feinden ihr Gut ab.
Recken und Knechte des Königs eilten ihnen entgegen, nahmen ihnen, der Sitte gemäß, Schilde und Zaumzeug ab. Aber als ihre Pferde in den Stall geführt werden sollten, wehrte Siegfried ab:
»Lasst sie stehen, bald reiten wir weiter. Aber wo finde ich König Gunter?«
Einer, der es wusste, geleitete sie.
Inzwischen war dem König die Ankunft der Fremden gemeldet worden. Gunter blickte aus dem Fenster und sah sie im Hofe mit ihren glänzenden Gewändern und silberfarbenen Brünnen. Dass ihm keiner sagen konnte, woher sie kamen, ärgerte den König. Ortwin von Metz war bei ihm und meinte, man solle seinen Onkel Hagen von Tronje rufen, der habe Kenntnis von fremden Reichen und deren Herrschern.
Also trat Hagen mit seinem Gefolge vor den König. Nach dessen Frage blickte der Tronjer lange aus dem Fenster auf die Fremden und sagte:
»Ihre Rüstungen glänzen, und wie stolz die Helden gehen, es müssen Fürsten oder deren Boten sein. Zwar habe ich Siegfried nie gesehen, aber jener dort, der steht so königlich und blickt so unerschrocken, das ist der berühmte Held.«
»Was weißt du über ihn?«, fragte Gunter.
»Er besitzt den Nibelungenhort, einen unermesslichen Schatz. Siegfried ist der reichste Held in allen Landen. Er gewann ihn, indem er die kühnen Nibelungen erschlug, Schilbung und Nibelung, zwei Söhne eines mächtigen Königs.«
»Wie kam es dazu?«, forschte Gunter weiter.
»Siegfried ritt allein an einem Berg vorbei, wurde mir erzählt, wo der ganze Schatz aus einer Höhle herausgetragen und ausgebreitet worden war. Schilbung und Nibelung gedachten dieses Erbe zu teilen. Als die Recken den Fremden vorbeireiten sahen, begrüßten sie ihn:
Seht, da kommt der starke Siegfried, der Held von Niederland.
Da Schilbung und Nibelung den Schatz nicht gerecht zu teilen vermochten, baten sie Siegfried darum. Er wehrte sich, gab aber schließlich ihrem Drängen nach. Siegfried sah so viele Edelsteine ausgebreitet, erzählt man sich, und dazu rotes Gold in solcher Fülle, dass hundert schwere Wagen es nicht hätten tragen können.
Die Brüder belohnten Siegfried für seine Arbeit im voraus mit dem Nibelungenschwert. Aber dem Helden aus Xanten war es nicht gelungen, den unermesslichen Schatz gerecht zu teilen. Da wurden die Brüder sehr zornig und griffen Siegfried an. Der erschlug zwölf Riesen, die zu dem Gefolge der beiden Königssöhne gehörten, und siebenhundert Nibelungen. Ohne dieses zauberische Schwert Balmung hätte er das nicht vermocht. Auch Schilbung und Nibelung fielen durch ihr voreiliges Geschenk. Der starke Zwerg Alberich wollte seine Herren rächen und lief wie ein wilder Löwe gegen Siegfried an. Der geriet durch die Kraft des Zwerges in große Not, aber schließlich gelang es ihm, Alberich den Tarnmantel zu entreißen und an sich zu bringen. Damit war die Macht des Zwerges gebrochen, er musste sich Siegfried unterwerfen. Darin folgten ihm auch die übrigen Nibelungen. Die sich gegen ihn gewehrt hatten, lagen alle erschlagen. Siegfried ließ den Schatz wieder in den Berg hineintragen. So fiel ihm mit den Ländern und Burgen auch der Nibelungenhort zu. Alberich musste Eide schwören, Siegfried wie ein Knecht zu dienen, und wurde dafür zum Hüter des Hortes bestimmt. Das sind einige Taten Siegfrieds, von denen ich weiß«, berichtete Hagen.
König Gunter und seinen Brüdern klangen noch Hagens Worte im Ohr, als der riet:
»Empfangen wir den Helden mit Ehren, sonst ziehen wir uns seinen Hass zu; er blickt sehr streitbar.«
Der König stimmte zu. Sie gingen hinunter in den Hof und begrüßten die Gäste höflich.
Der Held aus Xanten verneigte sich dankend vor dem König und seinen Begleitern.
»Woher kommt Ihr?«, fragte König Gunter. »Und warum habt Ihr den Weg nach Worms gewählt?«
»Das will ich unverhohlen sagen«, erwiderte Siegfried. »Mir wurde in Xanten berichtet, Ihr habt die tapfersten Helden, die je ein König um sich scharte. Und Ihr rühmt Euch selber, kühner als jeder andere König zu sein. Auch ich sollte eine Krone tragen. Aber damit das die Leute mit Recht von mir sagen können, will ich mein Haupt dafür aufs Spiel setzen. König Gunter, ich fordere Euch heraus, im Kampf will ich Euch abzwingen Euer Land und Eure Burgen.«
Gunters Männer betrachteten Siegfried hasserfüllt. Und verwundert entgegnete der König:
»Womit hätte ich das verdient? Was mein Vater in Ehren erworben und bewahrt, durch die Kraft nur eines Mannes zu verlieren? Wie könnten wir das dulden?«
»Ich lasse nicht davon ab«, beharrte Siegfried, »auch ich setze mein Land und meine Burgen, meine Leute, mein Erbe aufs Spiel. Wer von uns beiden siegt, der sei Herr über Land und Leute hier wie dort.« Vielleicht kam der Held von Xanten in dem Gefühl, der mächtigste Mann auf Erden zu sein.
»Uns widerstrebt«, warf Gernot ein, »ein Land zu gewinnen, indem wir einen Helden erschlagen. Wir sind lange hier ansässig und reich genug.«
Auch Ortwin von Metz geriet in Wut und rief: »Siegfried hat kein Recht, den König herauszufordern. Damit er seinen Hochmut verliert, trete ich ihm allein entgegen.«
»Deine Hand kann nicht an gegen mich!«, erwiderte Siegfried zornig, »ich bin ein großer König, du eines Königs Gefolgsmann. Nicht zwölf von deinesgleichen kämen an gegen mich.«
Da rief Ortwin von Metz nach seinem Schwert. Hagen von Tronje stand noch schweigend dabei, was König Gunter leid war. Gernot versuchte entschlossen zu vermitteln:
»Dämpft Euren Zorn, noch hat Siegfried sein Schwert nicht gezogen. Folgt meinem Rat, beenden wir den Streit, lasst uns Siegfried zum Freund gewinnen.«
»Warum eigentlich«, mischte endlich Hagen sich ein, »ritt der Held von Niederland in Waffen gegen uns? Das hätte er besser gelassen, meine Herren haben ihm nichts getan.«
»Wenn Euch meine Rede kränkt, Herr Hagen«, entgegnete Siegfried heftig, »kann meine Hand gewaltig bei den Burgunden dreinschlagen.«
»Haltet ein!«, rief Gernot und verbot seinen Recken jedes weitere Wort, das Siegfried noch mehr hätte aufbringen können. So wurde Siegfrieds Zorn gedämpft. Und der Held dachte wieder an die herrliche Kriemhild; schließlich war er ihretwegen nach Worms gezogen.
»Wozu sollten wir kämpfen?«, schlichtete Gernot, »lägen einige Helden in ihrem Blut, brächte uns das keine Ehre.«
Noch widersetzte sich Siegfried dem Ausgleich und reizte seine Gegner: »Warum zögert Herr Hagen, sein Schwert zu ziehen? Und fürchtet sich Herr Ortwin?«
Gernot gelang nur mit großer Mühe, die Aufgereizten zurückzuhalten und seinen Mannen jedes weitere Wort zu verbieten.
»Ihr sollt uns willkommen sein!«, rief plötzlich Giselher, noch fast ein Kind. Die helle Stimme des jüngsten Königssohnes dämpfte die Streitlust. »Meinen Verwandten und mir«, sagte er, »wird es eine Freude sein, Eure Wünsche zu erfüllen.«
»Schenkt ein«, gebot der König. Wein wurde gereicht. Die Gäste nahmen den Willkommenstrunk an. Und König Gunter sprach:
»Alles, was wir haben – fordert Ihr’s nur in Ehren –, sei gewährt. Gern teilen wir mit Euch Leben und Gut.«
Dadurch wurde Siegfried noch mehr besänftigt. Die Gäste erhielten die beste Herberge. Und man ließ ihnen ihre Waffen. Die Burgunden erwiesen ihnen größere Ehren, als ich zu erzählen vermag. Siegfrieds Wesensart und sein Mut brachten ihm nur Ruhm am Hofe König Gunters. Keiner vermochte ihn zu hassen. Und was sie auch begannen, ob sie Steine schleuderten oder den Speer warfen, Siegfried übertraf sie in allem. Die Frauen schauten aus ihren Fenstern auf die Kämpfer. Manche von ihnen schloss Siegfried ins Herz. Auch Kriemhild spähte nach Siegfried und gestand sich heimlich ihre Neigung. Bald lockte kein Zeitvertreib sie mehr. Siegfried hieb und stritt nur um der schönen Königstochter willen, auf deren Liebe sein ganzer Sinn gerichtet war. Aber obwohl er darauf bedacht war, ihr zu begegnen, bekam er sie nicht zu Gesicht. Hätte er geahnt, wie sie hinter ihren Fenstern darauf lauerte, ihn über den Hof reiten zu sehen, wäre ihm leichter zumute gewesen. Ritten die drei Könige aus in ihr Land, begleitete auch Siegfried sie. Und Kriemhild blickte betrübt auf den leeren Hof. So lebte der Held aus dem Niederland ein Jahr bei den Königen in Worms, ohne von ihrer Schwester auch nur eine Strähne ihres Haares zu sehen. Und Siegfried ahnte nicht, wie viel Liebe und Leid er noch durch sie erfahren würde.
Als der Held aus Xanten so ein Jahr am burgundischen Hofe gelebt hatte, wurde der Landesfrieden gebrochen. In die Burg preschten Boten der Könige Lüdeger aus Sachsen und Lüdegast aus Dänemark. Beide waren mächtige Verbündete und wollten das blühende Burgundenland überfallen. König Gunter hieß die Boten willkommen und erfuhr von ihnen, die Burgunden hätten ihre Könige gereizt, deshalb würden sie mit starker Heeresmacht dieses Land überziehen und zahllose Helme und Brünnen zerhauen. Wolle der König aber verhandeln, werde der Angriff abgewendet.
Gunter nahm sich Zeit zur Beratung, er ließ Hagen und Gernot rufen.
»Mögen die Feinde kommen«, meinte Gernot; »und wem der Tod bestimmt ist, der wird fallen.«
Lüdeger und Lüdegast seien zwar allzu hochmütig und herrschsüchtig, gab Hagen zu bedenken, aber in wenigen Tagen könnten die Burgunden ihr Heer nicht sammeln. Er schlug vor, Siegfrieds Rat einzuholen.
Als sich Gunter und Siegfried begegneten, fragte der den König: »Wo ist Euer Frohsinn, Euer Lachen, das durch die Säle hallte?«
»Nur wahre Freunde weihe ich ein«, erwiderte Gunter.
Siegfried erbleichte und errötete und sagte: »Wenn Ihr Freunde sucht, will ich einer sein und Euch beistehen bis zu meinem Tod.«
»Das lohne Euch Euer Gott, Herr Siegfried«, erwiderte König Gunter und berichtete von den Botschaften; bisher hätten noch keine Feinde gewagt, in sein Reich einzufallen.
»Ruft Eure Recken«, riet Siegfried, »und kämen die Feinde mit dreißigtausend; mit tausend Mann griffe ich sie an und siegte.« König Gunter dankte ihm.
»Ich habe nur meine zwölf Gefährten«, bedauerte Siegfried, »also gebt mir tausend Mann; auch Hagen und Ortwin mögen uns helfen, und Dankwart und Sindold, und Volker soll die Fahne tragen.«
König Gunter ließ die Boten rufen, beschenkte sie reich und erklärte:
»Sagt meinen starken Feinden, sie mögen daheim bleiben; fallen sie aber in mein Land ein, geht es übel für sie aus.«
Über diesen Bericht geriet der Dänenkönig in großen Zorn und hielt die Burgunden für hochmütig. Aber als er von dem Helden aus Xanten an Gunters Hofe hörte, ließ er noch mehr Leute aufbieten, bis er ein Heer von zwanzigtausend Mann versammelt hatte. Auch Lüdeger von Sachsen verstärkte daraufhin seine Rüstungen und brachte sein Heer auf vierzigtausend Kämpfer.
»Bleibt am besten daheim bei den Frauen«, riet Siegfried dem König, »ich stehe für Euer Ansehen und Gut und werde den Feinden ihren Hochmut austreiben.«
Dann brach Siegfried mit tausend Burgunden von Worms auf. Hagens Mannen folgten dem Aufgebot; er war einer der Anführer. Auch Gernot zog mit in den Kampf, so wie Dankwart, Ortwin, Volker, Sindold und Hunold.
Ihr Weg führte vom Rhein durch Hessen nach Sachsen, deren Land sie mit Raub und Brand überzogen.
Als die Schlacht mit den feindlichen Heeren bevorstand, fragte Siegfried, wer das Gesinde führen solle.
Alle rieten, Dankwart die Knechte zu unterstellen und Ortwin die Nachhut. Und ehe Siegfried allein ausritt, das Heer der Feinde zu erspähen, übertrug er Gernot und Hagen den Befehl.
Bald entdeckte Siegfried das feindliche Heer auf einem Felde; dass es so groß war, ließ seinen Kampfesmut noch wachsen.
Auch von den Gegnern befand sich ein Held auf Vorposten, auch bei ihnen war es der Feldherr selber, der Dänenkönig Lüdegast. Beide trafen aufeinander und blickten sich feindselig an. Dann sprengte Lüdegast mit seinem Schild von lichtem Golde gegen Siegfried übers Feld. Beide neigten die Speere auf die Schilde des Gegners und ritten aufeinander los. Nach dem Aufschlag der Waffen preschten die Könige aneinander vorüber, als tobe ein Sturm. Dann griffen sie zu den Schwertern. Und Siegfried hieb gegen Lüdegast, dass aus dessen Helm rote Funken stoben wie der Brand eines Feuers. Auch Siegfrieds Schild dröhnte unter den Schlägen von Lüdegasts Schwert.
Daraufhin sprengten dreißig dänische Späher zu ihrem König heran. Ehe sie eingreifen konnten, schlug Siegfried ihm drei tiefe Wunden. Lüdegast bat um sein Leben und bot sein Land. Als Siegfried den Dänenkönig wegführen wollte, griffen dessen dreißig Gefährten ihn an. Er musste sie alle erschlagen; nur um die Botschaft ins feindliche Lager zu bringen, ließ er einen am Leben. Mit von Blut gerötetem Helm ritt der Däne davon.
Siegfried brachte den Dänenkönig ins Lager der Burgunden und übergab ihn Hagen. Dann machten sich die Burgunden zum Kampf fertig. Siegfried führte ihr Heer. Es war mit tausend Mann viel kleiner als das der Gegner, aber seine Anführer waren Helden wie Hagen von Tronje, Volker von Alzey, König Gernot. Und die zwölf Helden von Xanten am Rhein kämpften mit Siegfried. Die Hufe ihrer Pferde wirbelten so viel Staub auf, dass die Spitzen ihrer Speere grau wurden.
Im Heer der Sachsen blitzten noch weit mehr geschliffene Schwerter, das Feld schien überflutet von funkelndem und schimmerndem Metall.
Dann prallten die Heere aufeinander; die Burgunden drangen in die Scharen der Feinde ein. Gernot und Sindold streckten manchen Gegner nieder. Volker, Hagen und Ortwin löschten ihre Kriegswut mit Bächen von Blut, die sie den Dänen und Sachsen aus den Gliedern schlugen. Vom Zusammenprall krachten Schilde, Speerschäfte brachen, Schwerter klirrten. Wo Siegfried focht, blieb kein Gegner auf seinem Pferd. Dreimal kämpfte er sich durch das Heer der Sachsen; Hagen und andere Gefährten dicht an seiner Seite. Auf beiden Seiten fielen viele Tapfere. Blutüberströmte Sättel blieben leer. Dann stieß Lüdeger, König der Sachsen, auf den Anführer der Burgunden. Beide begannen miteinander zu kämpfen. Lüdeger meinte, König Gernot habe seinen Bruder gefangen genommen und die neunundzwanzig Dänen erschlagen. Aus Rache führte er so heftige Schläge gegen Siegfried, dass dessen Pferd strauchelte. Gernot und Hagen und die anderen Gefährten schlugen eine Gasse durch die Reihen der Sachsen und kämpften sich an Siegfrieds Seite. Feindliche Schilde wurden zerhauen, ihre Träger sanken blutüberströmt vom Pferd. Verwundet lagen auch viele Burgunden auf dem Schlachtfeld.
Lüdeger und Siegfried schlugen unerbittlich aufeinander ein. Als Siegfrieds Pferd zu Boden gehen musste, war das eine große Tat des Sachsenkönigs, denn Grani war kein gewöhnliches Reittier. Dann gelang es Lüdeger, Siegfrieds Arm zu treffen. Obwohl der Hieb hart war, blieb Siegfried unverwundet und versetzte ihm dafür einen so derben Schlag mit Balmung, dass Lüdegers Schildgespänge wegflog. Der Sachsenkönig sah, wie der Anführer der Burgunden und seine Gefährten sich Gassen durch die Reihen seiner Männer schlugen, und nichts konnte sie aufhalten. Da erkannte er auf dem Schild seines Gegners die Krone, das Zeichen von Siegfried. Nun wusste er, wen er vor sich hatte und wie aussichtslos es war, weiter gegen den berühmten Helden und seine Recken zu kämpfen.
»Senkt die Waffen!«, erscholl weithin Lüdegers Stimme, »der Sohn König Siegmunds führt die Feinde, der Unverwundbare mit Balmung, den sandte uns der Teufel!«
So meinte der König der Sachsen. Aber ich will daran erinnern, dass es in älteren Erzählungen heißt, der Held aus Xanten habe seine Kraft aus seiner Herkunft von König Völsung, und Odin selbst habe seinem Vater Siegmund das berühmte Siegschwert verliehen, das dort Gram heißt und hier Balmung. Wie Siegfried in alter Zeit unverwundbar wurde, soll bald erzählt werden.
Auf dem Schlachtfeld ließen die Sachsen die Fahne senken. Der Kampflärm verstummte. Nach gemeinsamem Rat wurde die Schlacht abgebrochen. Weit und breit lagen genug Tote. Durchbohrte Schilde und zerbeulte Helme wurden abgelegt. Die Burgunden gewährten Frieden. Dafür mussten König Lüdegast und König Lüdeger als Geiseln mit nach Worms.
Gernot und Hagen wählten fünfhundert stattliche Gegner als Geiseln und brachten sie ebenfalls nach Worms.
Verwundete wurden auf Tragen gebettet, die Toten beklagt und würdevoll bestattet. Sieglos ritten die Dänen heim. Die Sachsen hatten zwar tapfer gestritten, sie hatten aber auch die meisten Gefallenen und klagten am lautesten.
Gernot sandte Boten nach Worms. Einen ließ Kriemhild heimlich zu sich rufen, um etwas über ihren Helden zu erfahren.
»Nun gib mir Bericht«, forschte die Schwester der drei Könige, »wie kämpfte mein Bruder Gernot? Was widerfuhr seinen Gefährten? Fiel jemand? Wer war der Tapferste?«
»Niemand war feige oder schwach«, berichtete der Bote, »aber keiner brach so siegreich in das feindliche Heer ein wie Siegfried, der Held aus dem Niederlande. Mit Balmung vollbrachte er auf seinem Pferd Grani wahre Wunder. Noch nie führte jemand zwei Könige und fünfhundert Vornehme als Geiseln nach Worms.« Dagegen verblassten die Taten der anderen burgundischen Recken.
Kriemhild gelang es nur mit Mühe, ihre Freude über Siegfrieds Taten zu verbergen. Ihr Gesicht glühte vor Liebe und Hochstimmung. Den Boten lohnte sie die Nachricht mit kostbaren Gewändern und zehn Mark roten Goldes.
Neben den anderen Schönen stand auch Kriemhild am Fenster der Burg und sah das Heer der Burgunden heimkehren. Der König ritt ihnen entgegen, dankte seinen Mannen für den Sieg und begrüßte auch die Fremden. Nur sechzig seiner Leute wurden erschlagen, erfuhr er. Mancher Recke, der am König vorbeizog, hob seinen zerhauenen Schild oder Helm. Auch die Verletzten, die auf ihren Tragen vorbeigeschaukelt wurden, lachten voll Freude über den Sieg.
Die Fremden erhielten Herberge bei den Bürgern der Stadt. Der König wandte sich an Lüdegast: »Obwohl ich durch Eure Schuld großen Schaden nahm, seid mir willkommen. Doch meine Freunde standen mir bei.«
»Dankt ihnen, denn so vornehme Geiseln hat noch kein König gewonnen«, erwiderte Lüdegast. »Wir bieten reiches Gut für Gnade und Schonung.«
Zwar erlaubte der König, dass die Fremden sich frei bewegen konnten, aber er forderte eine Bürgschaft, das Land nicht ohne seine Erlaubnis zu verlassen. Der Sachsenkönig gelobte das mit Handschlag.
Die Gesunden feierten bei reichlich Wein und Met; die Heermüden lärmten wieder fröhlich. Die Verwundeten wurden in den Herbergen sorgsam gepflegt, kundige Ärzte mit ungewogenem Silber und Gold besoldet.
Gespaltene Schilde und zersplitterte Speere wurden gezeigt und in die Rüstkammer getragen, aber damit die Schönen nicht in Tränen ausbrachen, viele blutige Sättel heimlich beiseitegeschafft.
Wer von den Gefährten heim wollte, wurde reich beschenkt entlassen und auf sechs Wochen später zu einem großen Fest geladen. Bis dahin würden die Verwundeten genesen sein.
Auch Siegfried dachte an Heimkehr. Gunter erfuhr davon und bat den Helden aus Xanten zu bleiben. Allein wegen Kriemhild hielt es ihn in Worms. Als Königssohn lehnte er Lohn und Geschenke für seine Taten ab. Umso größere Gunst gewann er von Gunter und seinen Gefährten.
Jetzt soll erzählt werden, was aus sehr früher Zeit noch über Siegfried bekannt ist.
Als der junge Völsung heranwuchs, riet der König ihm, ein Ross zu wählen. Daraufhin ging Siegfried zu einer Herde, die im Wald gehalten wurde. Dort begegnete ihm das erste Mal ein Mann mit langem Barte, einem breiten Schlapphut und nur einem Auge.
»Lasst uns die Pferde in den Fluss treiben«, rief der Graubärtige. Siegfried half ihm dabei. Nur ein Hengst schwamm nicht an Land. Der war grau, jung, groß von Wuchs und noch unberitten. »Der stammt von dem achtbeinigen Sleipnir«, meinte der Fremde, »wird er sorgfältig aufgezogen, übertrifft er alle anderen Pferde.« Als Siegfried den Grauen für sich gewählt hatte, verschwand der Einäugige. Der junge Völsung nannte den Hengst Grani.
Der König bestimmte für Siegfried als Pflegevater den Schmied Regin. Siegfried wurde nun eingeführt in Runenkunde, das Brettspiel und mancherlei anderes. Als berühmter Schmied verstand sich Regin vor allem auf das Fertigen ungewöhnlich harter Schwerter. Der Schmied war sehr klug und zauberkundig, aber auch erfüllt von altem Hass.
»Warum bist du so verbittert?«, fragte Siegfried.
»Mein Bruder Fafnir«, erzählte Regin, »hat unseren Vater erschlagen und sich das ganze Erbe angeeignet. Es besteht aus einem unermesslich großen Goldschatz. Mein Bruder verweigert mir meinen Anteil an diesem Hort und hat sich in einen Drachen verwandelt. In dieser Gestalt verbreitet er Furcht und Schrecken. Der Drache gilt als unüberwindbar. Erschlägst du ihn dennoch, erwirbst du großen Ruhm und den Hort dazu.« Siegfried ließ sich zwar mehr über den Hort erzählen und wie der entstanden war, noch zeigte er aber keine Lust auf dieses Abenteuer. Regin sprach immer wieder von Fafnir, wie er wohlig auf seinem Schatz liege und gegen alle, die sich näherten, Feuer speie. Auch wegen seines Schreckenshelms, bei dessen Anblick jedermann erstarre und keine Waffe heben könne, gelte er als unbesiegbar.
»Wenn du den Drachen tötest«, lockte Regin, »wird dein Ruhm den aller Könige überdauern.«
»Ich werde dir zu deinem Recht verhelfen«, versicherte Siegfried, »schmiede mir ein Schwert, dann werde ich gegen Fafnir antreten.«
Nachdem Regin das getan hatte, wollte Siegfried die Waffe erproben und hieb damit auf den Amboss, dass die Klinge zerbrach.
»Schmiede ein besseres Schwert«, verlangte der junge Völsung. Aber auch das zweite brach am Amboss in Stücke.
Würde es je gelingen, eine so harte Waffe zu schmieden, die dem schweren Amboss standhielt? Daraufhin wandte sich Siegfried an seine Mutter wegen des Schwertes, das einst Odin seinem Vater verliehen und später in zwei Stücke geschlagen hatte. Daraus schmiedete Regin ein neues Schwert. Als er es hämmerte, schien den Schmiedegesellen, als brenne Feuer aus den Schneiden. Mit der fertigen Waffe spaltete Siegfried den Amboss bis auf den Grund. Dann ging der junge Völsung mit dem blanken Schwert an den Rhein und warf eine Wollflocke in die Strömung; die Schneiden schnitten sie mühelos. Siegfried lobte die Arbeit des Schmiedes.
»Nun erfülle dein Versprechen und töte Fafnir«, mahnte Regin. »Der Drache speit sein Gift auch gegen friedfertige Waldgänger.«
»Erlitt jemand Schaden?«, vergewisserte sich Siegfried.
»Fafnir griff eine Siedlung an, gierig auf das Gold von Händlern. Siegfried, keiner hat jetzt eine bessere Waffe als du.«
»Die Söhne Hundings, die meinen Vater töteten, würden lachen, gewänne ich, statt mich zu rächen, lieber rote Ringe«, erwiderte der junge Völsung.
Nach diesem alten Bericht bat Siegfried den König um Hilfe. Eine starke Flotte wurde ausgerüstet. Siegfried befehligte das größte Schiff mit dem prächtigsten Drachenkopf am Vordersteven. Guter Wind blähte die Segel, bis Sturm nach einigen Tagen die See toben ließ, als ob ihr Blut schäume. Der junge Völsung befahl, die Segel nicht einzuholen, sondern noch höher zu setzen. Als sie an einem Vorgebirge vorüberbrausten, stand ein Mann auf einem Fels, anscheinend unberührt vom Sturm, und bat, ins Schiff aufgenommen zu werden. Die wogende See schäumte höher als die aufragenden Schnäbel am Vorder- und Hinterschiff. Trotzdem ließen Siegfried und Regin den Mann an Bord. In der sprühenden Gischt waren seine Umrisse kaum zu erkennen gewesen. Als er ins Schiff sprang, sahen sie seinen blauen Mantel, trotz Sturm nicht aufgebläht, und den breiten Schlapphut locker auf seinem Kopf. Schon während der Einäugige an Bord ging, besänftigte er die See.
Der Fremde nannte sich Hnikar, das heißt ›der Aufhetzer‹, oder Fjölnir, ›der Vielweise‹. Der Einäugige gab bereitwillig Rat und wies hin auf für Götter und Menschen bedeutungsvolle Vorzeichen:
»In eurer Fahrtrichtung fliegen dunkle Raben, und bei der Esche wirst du heute den Wolf hören. Ihr werdet die Feinde zuerst erblicken«, verkündete der Hochgewachsene im blauen Mantel und verriet Siegfried ein geheimes Mittel für den Sieg. »Lass die Kämpfer nicht wie üblich in langgezogener Schlachtordnung, sondern keilförmig angreifen, dann wirst du die Feinde überwinden.«
Als sie im Reich der Hundingssöhne landeten, verschwand der Fremde. Und es geschah genau so, wie er es vorausgesagt hatte, weil Siegfried seinem Rat folgte. In der großen Schlacht mit den Hundingssöhnen wurden viele Schilde zerschlagen, Brünnen zerschmettert, Helme und Schädel gespalten. Siegfried hieb sich mit seinem Schwert Gram mitten durch das Heer der Feinde, streckte zahllose Reiter samt Rossen nieder. Seine beiden Arme waren blutig bis zur Achsel. Keiner hatte je einen Mann so kämpfen gesehen. Mit seinem neuen Schwert fällte Siegfried auch die Hundingssöhne. Dann segelte der junge Völsung mit seinem siegreichen Heer heim.
Nun reizte Regin den Erfolgreichen erneut und drängte ihn, den als unüberwindbar geltenden Drachen zu töten. Also ritten Siegfried und Regin zur Gnitaheide, wo sich Fafnir aufhielt. Die meiste Zeit lag der Drache auf seinem Golde. Nur hin und wieder kroch er hinunter zum Fluss; die Klippe, von der er trank, war dreißig Klafter hoch.
Siegfried und Regin standen neben der Spur des Unholdes.
»Du sagst, der Drache ist nicht groß«, hielt Siegfried dem Schmied vor, »aber die Schleifspur ist breit und tief wie ein Graben.«
»Mache in seiner Spur eine Grube«, verlangte Regin, »kriecht der Wurm zum Wasser, stoße mit dem Schwert von unten zu.«
»Was geschieht, wenn das Blut auf mich niederstürzt?«, meinte Siegfried.
»Springe rasch heraus«, riet Regin.
Siegfried begann zu graben, und Regin schlug sich abseits in den Wald.
Da kam ein einäugiger Mann mit breitem Schlapphut und fragte den jungen Völsung nach seinem Tun.
Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, berichtete Siegfried.
»Nur eine einzige Grube?«, verwunderte sich der Einäugige.
»Du wirst im Blut des Drachen ertrinken«, warnte er, »mache mehrere Gruben, damit es sich verteilt. Und setze dich dorthin und stoße dem Unhold das Schwert ins Herz.«
Siegfried tat, was der Alte riet. Als der Drache herankroch, bebte die Erde. Sand bröckelte von den Grubenrändern, morsche Stämme krachten. Der Unhold funkelte, sein Maul klaffte unersättlich. Obwohl er Gift vor sich herschnob, fürchtete sich Siegfried nicht, duckte sich vor dem Getöse in die Grube und stieß zur rechten Zeit sein Schwert Gram in den linken Bug Fafnirs, so tief, dass es bis zum Knauf eindrang.
Als der riesige Wurm seine Todeswunde fühlte, bebte die Erde noch einmal. Drachenblut schoss auf den jungen Völsung, floss aber rasch in die anderen Gruben ab. Der Drache schlug vor Schmerz und Wut so wild mit Kopf und Schwanz um sich, dass Äste splitterten. Der junge Völsung riss das Schwert aus dem Leib des Drachen und sprang aus einer anderen Grube, die nicht von dessen Leib bedeckt war. Draußen wischte er seine Waffe ab.
Nun standen sich Siegfried und der Drache gegenüber. Das Gift blieb in dessen Nüstern stecken.
»Wer bist du? Wer ist dein Vater?«, fragte Fafnir entsetzt.
»Ich habe weder Vater noch Mutter«, behauptete der junge Völsung. Erführe ein Sterbender seinen Namen und verfluchte ihn, so könnte das Unglück bringen, fürchtete er.
»Wer stiftete dich an zu dieser Tat?« Fafnir war fassungslos. »Jeder fürchtet sich vor mir. Ich bin stärker als alle. Mein Helm schreckt jeden.«
»Ich kam allein her, nur mit meinem Mut«, behauptete Siegfried, »mir halfen nur meine Hände und mein Schwert.«
Der Drache wurde schwächer. Der junge Völsung stand in dessen Blutlache neben den Gruben.
»Ich rate dir«, kam die Stimme des Drachen, nun schon leiser, »schwing dich auf dein Pferd und reite schnell weg von hier.«
»Nein, ich dringe in deine Höhle vor und hole den Hort«, entgegnete Siegfried.
»Der glutrote Schatz wird von deinem Blut genässt werden, das klingende Gold dich töten«, warnte der Drache.
»Die Nornen bestimmen mein Schicksal«, beharrte der junge Völsung.
»Obwohl du bereits die Küste siehst, dich außer Gefahr glaubst, wirst du untergehen«, mahnte der Drache, »keine Vorsicht wird dich retten.«
»Für den, der sterben soll, ist immer Lebensgefahr«, entgegnete Siegfried lachend.
»Ich hielt mich für den Stärksten«, warnte der Drache noch seinen Bezwinger, »glaubte mich sicher, hielt mich für unbesiegbar.« Im Todeskampf kamen noch die Worte: »So wie mein Bruder Regin mich verriet, wird er dich töten!«
Dann sackte der schwere Körper zusammen und ließ einen Teil der Gruben einstürzen. Unablässig floss weiter warmes Blut dem jungen Völsung zwischen die Füße. Als er merkte, dass das Drachenblut ihm wohltat, entkleidete er sich, stieg in eine der Gruben und badete darin. Ein Lindenblatt fiel und legte sich zwischen seine Schultern. Diese Stelle blieb unverhornt, und das machte den Helden verwundbar.
Als die Gefahr vorbei war, kam der Schmied aus den Büschen und rief:
»Heil dir, Siegfried, du fälltest den gefährlichsten Feind! Solange die Welt besteht, bleibt diese Tat im Gedächtnis der Menschen.«
Regin besah den mächtigen Körper und die ungeheure Menge Blutes und sagte: »Aber du hast meinen Bruder erschlagen, und ich bin nicht schuldlos.«
»Du krochst in Gebüsch und dichtes Heidekraut, wo Himmel und Erde nicht mehr zu unterscheiden sind. Aber ich wäre im Drachenblut fast ertrunken«, hielt Siegfried ihm entgegen.
»Wer hat Gram geschmiedet?«, erwiderte Regin.
»Ohne den Mut eines Mannes rostet das beste Schwert«, beharrte der junge Völsung.
Regin sah Siegfried fast feindselig an und wiederholte: »Du hast meinen Bruder erschlagen, aber ich bin nicht schuldlos.«
Dieser Vorwurf nährte Siegfrieds Misstrauen gegen den Schmied.
Regin schnitt mit seinem Schwert seinem Bruder das Herz heraus und bat den jungen Völsung, es zu braten. Dann trank Regin Fafnirs Blut; das Blut wilder Tiere verleihe magische Kräfte, so glaubte man.
Siegfried entfachte ein Feuer, steckte das große Drachenherz an einen Stecken und briet es. Als der Saft aus dem Fleische quoll, berührte er es, um zu sehen, ob es schon gar wäre. Dabei verbrannte er sich den Finger und steckte ihn in den Mund. Als das Herzblut des Drachen an seine Zunge kam, verstand er mit einem Male die Sprache der Vögel. Während er das Herz weiterbriet, lauschte er den Vogelstimmen.
»Regin will ihn töten, wie kann er dem trauen?«, zwitscherte eine Meise.
»Er soll selber Fafnirs Herz essen, da wird er weiser als alle anderen«, riet eine zweite Meise.
»Siegfried steht allein der Hort zu, er soll ihn nehmen«, wisperte eine dritte Meise, »damit kann er die stärkste Frau der Welt freien.«
»Wird Siegfried abwarten, bis Regin ihm den Kopf abschlägt?«, warnte eine vierte Meise.
Der junge Völsung sann darüber nach, wie Odin ihm durch den Rat, mehrere Gruben auszuheben, das Leben gerettet hatte. Als Regin ihm wieder feindselig begegnete, kam er dem Schmied zuvor und schlug ihm mit Gram den Kopf ab. Dann aß der junge Völsung das frischgebratene Drachenherz.
Siegfried ritt mit Grani zur Höhle des Drachen, fand den Schreckenshelm, die Goldbrünne und viele Kostbarkeiten. Er packte so viel Gold und Edelsteine von dem Hort in Kisten, wie es kein gewöhnliches Pferd schleppen konnte. Aber Grani nahm die Last auf und trabte mit Siegfried davon. Damit endet diese frühe Erzählung über den Hort und Siegfrieds Unverwundbarkeit.
Nun setzen wir den späteren Bericht über Siegfried bei den Burgunden fort. Nach dem Sieg über die Sachsen wurden am Ufersand zu Worms für ein großes Fest Sitze, Polsterbänke und Tische errichtet. Hier hoffte Siegfried, endlich seine über alle Maßen Schöne zu schauen. Auch Kriemhild bereitete sich auf das Fest in der Erwartung vor, dem Bewunderten ins Angesicht zu blicken.
Täglich kamen aus dem ganzen Land Gäste. Wer auf des Königs Einladung hin eintraf, konnte Ross und kostbares Gewand als Geschenk erhalten. Gernot und Giselher nahmen unablässig neu Ankommende in Empfang. Mächtige des Landes ritten in herrlichen Gewändern auf goldroten Sätteln, trugen mit kostbaren Steinen verzierte Schilde. Die höchsten und angesehensten Fürsten erschienen, zweiunddreißig an der Zahl.
Die Schönen bei Hofe bereiteten sich mit Eifer vor, suchten einander durch edlen Schmuck und prächtige Kleider zu übertreffen. Verwundete genasen in der Vorfreude rascher. Die noch darniederlagen, verloren die Schmerzen.
An einem Pfingstmorgen öffneten sich die Gemächer bei Hofe. Königlich gekleidet kam Gunter mit seinem Gefolge. Fünftausend und mehr Gäste waren zum Siegesfest erschienen. Inzwischen hatte König Gunter erfahren, dass Siegfried seine Schwester Kriemhild liebte. Auch Ortwin von Metz schien das zu wissen und wandte sich an den König:
»Lasst zur Feier unseres Sieges und zur Ehre der Gäste das Glanzvollste zeigen, was wir besitzen, die Schönheit unserer Frauen und Mädchen.«
Dieser Vorschlag gefiel dem König.
Die Bediensteten wählten aus den Schreinen die prunkvollsten Gewänder. Dann traten Kriemhild und Ute vor den Hofstaat, goldglitzernd und mit Spangen geschmückt. Gunter hieß hundert Recken mit Schwertern in der Hand an der Seite seiner Schwester gehen. Viele anmutige Mädchen folgten ihr. Auch Ute hatte über hundert schöne Frauen um sich.
Die Recken drängten sich um den festlichen Zug. Mancher Held wollte von den Frauen gesehen und bewundert werden, hätte dafür gern auf Land und Besitz verzichtet.
Wie das Morgenrot aus trüben Wolken bricht, so erschien die liebliche Kriemhild. Erfahrene Männer hielten bei dem Anblick den Atem an. Kriemhilds edelsteinbesetztes Gewand blitzte von Feuer und Schönheit. Auch davon lag rosenroter Schein auf ihrem Gesicht. Keiner hatte auf der Welt je Schöneres gesehen. So wie der lichte Mond zwischen den Wolken die Sterne überstrahlt, stand Kriemhild vor dem Zug der Frauen.
Die Männer drängten sich, die Schöne zu schauen. Bei ihrem Anblick wurde Siegfried blass und rot und dachte: Wie konnte ich wagen, sie zu lieben? Aber gelingt es mir nicht, sie zu gewinnen, will ich lieber tot sein. Wie von einem großen Meister auf Pergament gemalt, so stand der verliebte Siegfried aus Xanten. Noch nie wurde ein so stolzer und schöner Held gesehen.
Da riet Gernot seinem Bruder: »Vergeltet es ihm, der uns so treu gedient hat, vor allen anderen. Lasst Kriemhild vor Siegfried kommen und sie, die noch keinen grüßte, den Helden aus Xanten willkommen heißen. So gewinnen wir ihn für immer als Freund.«
Als Siegfried davon erfuhr, verflog sein Schmerz. Und als Kriemhild den Erwählten ansah, wurde er glühend rot im Gesicht.
»Seid willkommen, königlicher Held!«, sagte Kriemhild.
Er verbeugte sich eifrig, bis sie seine Hand fasste und beide nebeneinander einhergingen. Sie sahen sich heimlich mit Liebesblicken an. Ob sie einander aus Zuneigung die Hand drückten, ist mir unbekannt. Aber ich kann kaum glauben, dass sie es unterließen. Erzählt wird, wie er über ihre weiße Hand strich und dass Kriemhild ihm ihre Neigung zeigte. Siegfried hatte noch nie so hohe Freude empfunden.
Mancher Recke beneidete Siegfried und wünschte sich, an seiner Statt neben ihr zu gehen oder gar zu liegen. Die Liebe der beiden war so offensichtlich, dass alle es bemerkten.
Dann wurde Kriemhild erlaubt, den Helden von Xanten zu küssen.
»Mancher musste dieses Glück, wie ich«, sagte Lüdegast, der König von Dänemark, »mit schweren Wunden bezahlen, oder gar mit dem Leben. Bleibe Siegfried immer meinem Königreich fern!«
Dann zog Kriemhild mit ihrem Gefolge zur Andacht ins Münster. Die Gäste traten zur Seite. Auch Siegfried musste sich von ihr lösen; der Gesang der Messe erschien ihm endlos. Als Kriemhild wieder ins Freie trat, ließ sie die Wartenden zu sich bitten und dankte Siegfried für seinen Sieg über die Sachsen:
»Ihr habt verdient, dass die Kämpfer Euch so treu ergeben sind.«
Er sah Kriemhild liebevoll an und erwiderte:
»Ich will Euch immer zu Diensten sein und nicht eher ruhen, bis ich alles getan habe, was Ihr wünscht; nur für Euer Glück, meine Herrin Kriemhild.«
An den zwölf Tagen des Festes sah man Siegfried an der Seite der schönen Kriemhild. Alle bei Hofe erwiesen ihm Ehre. Vor allen anderen bemühten sich Hagen und Ortwin um ihn. Die Verwundeten genasen. Auserlesene Speisen und Getränke wurden gereicht. Der König zeigte sich sehr freigebig und beteuerte: »Verschmäht meine Geschenke nicht, ich will mit Euch teilen.«
Als der Lärm des Festes verstummt war, baten die Helden aus Dänemark vor ihrem Ritt in die Heimat um Vergebung. Lüdegast war von seinen Wunden geheilt, auch der Herrscher der Sachsen war genesen. Für Frieden und ihre Freilassung boten sie so viel Gold, wie fünfhundert Pferde tragen können.
»Das wäre von Übel«, warnte Siegfried, »entlasst sie frei und versichert Euch durch ihr königliches Wort und ihren Handschlag, dass sie nie wieder in Euer Land einfallen. So gewinnt Ihr sie als Verbündete und Freunde.«
Gunter folgte diesem Rat und ließ den fremden Herrschern mitteilen, ihr Gold begehre hier keiner. Umso reicher beschenkte er seine Getreuen vor deren Aufbruch. Ohne abzuwiegen, wurde verteilt, fünfhundert Goldmark und mehr. Manche trugen Schilde voller Schätze nach Hause. Dazu hatte Gernot geraten.
Vor ihrer Abreise machten die Gäste Königin Ute und Kriemhild ihre Aufwartung.
Siegfried dachte, Kriemhild zu gewinnen sei unerreichbar, und rüstete zur Heimkehr. Giselher hielt ihn mit den Worten zurück:
»Wohin wollt Ihr reiten? Bleibt bei König Gunter und seinen Recken. Und hier locken viele schöne Frauen.« Ob er Kriemhild genannt hat, wissen wir nicht.