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Dieser Band enthält die folgenden Novellen des Meisters der Schauerliteratur: Der Tugendpreis Abgeblitzt Tollwut? Das Modell Die Baronin Ein Handel Der Mörder Die Martin Eine Gesellschaft Die Beichte Scheidung Vergeltung Irrfahrten eines Mädchens Das Fenster
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Seitenzahl: 170
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Geschichten für schlaflose Nächte, Band 11
Inhalt:
Henri René Albert Guy de Maupassant – Biografie und Bibliografie
Der Tugendpreis
Abgeblitzt
Tollwut?
Das Modell
Die Baronin
Ein Handel
Der Mörder
Die Martin
Eine Gesellschaft
Die Beichte
Scheidung
Vergeltung
Irrfahrten eines Mädchens
Das Fenster
Geschichten für schlaflose Nächte, Band 11, G. de Maupassant
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster, Deutschland
ISBN: 9783849624330
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Thaut Images - Fotolia.com
Franz. Romanschriftsteller, geb. 5. Aug. 1850 auf Schloß Miromesnil in der Normandie, gest. 7. Juli 1893 in Paris, begann seine Laufbahn als Ministerialbeamter. Für den angehenden Schriftsteller war Gustave Flaubert, ein Vetter seiner Mutter, gebornen Le Pottevin, ein treuer, unnachsichtiger Berater, der sogleich erkannte, daß in der Novellistik seine Stärke lag. Bekannt wurde M. nicht durch die Gedichte »Des Vers« (1880), sondern erst durch die 1870 in Rouen spielende musterhafte Novelle »Boule de Suif«, das Glanzstück der von Zola und seinen Schülern vereinigten »Soirées de Médan« (1880). Durch Objektivität und scharfe Hervorhebung des charakteristischen Merkmals zeichnete sich M. vor den übrigen Naturalisten, auch vor Zola selbst, aus. Seine Novellen sind im ganzen seinen Romanen überlegen, weil die hastige Produktion von 27 Bänden innerhalb 10 Jahren die planmäßige Arbeit erschwerte. Hervorragend sind immerhin die beklemmend traurige Ehegeschichte »Une Vie« (1883) und der Journalistenroman »Bel-Ami« (1885). Es folgten »Mont-Oriol« (1887), »Pierre et Jean« (1888) und endlich die einen unheilvollen Einfluß Bourgets verratenden sentimentalen Romane »Fort comme la Mort« (1889) und »Notre cœur« (1890). Unter den 20 Novellenbänden ragen besonders hervor: »La Maison Tellier« (1881), »Miss Harriet« (1884), »Monsieur Parent« (1885), »Le Horla« (1887), »L'inutile Beauté« (1890). Die Novelle »Musotte« dramatisierte M. mit J. Normand 1891 mit großem Erfolg. Der direkt für die Bühne geschriebene Zweiakter »La Paix du Ménage« (1893) gelang weniger. M. verfiel, wie sein älterer Bruder und mehrere andre Verwandte, in Wahnsinn, machte in Cannes einen Selbstmordversuch und starb in der Privatanstalt Blanche zu Paris. Eine illustrierte Gesamtausgabe seiner Werke erschien in 27 Bänden 1900–04. Von den zahlreichen Übersetzungen nennen wir die von H. v. Ompteda (»Gesammelte Werke«, Berl. 1898–1903, 20 Bde.). Ein Denkmal wurde ihm 1897 im Parc Monceaux zu Paris gesetzt.Vgl. A. Lumbroso, Souvenirs sur M., sa dernière maladie, sa mort (Par. 1905).
Wir waren eben durch Gisors gekommen. Ich war aufgewacht, als ich die Schaffner den Namen der Stadt ausrufen hörte, und wollte eben wieder einnicken, als ein furchtbarer Stoß mich auf die dicke Dame schleuderte, die mir gegenüber saß.
An der Maschine war ein Rad gebrochen, und sie lag quer über den Schienen; der Tender und der Gepäckwagen waren ebenfalls entgleist, hatten sich neben die sterbende gelegt, die fauchte, stöhnte, pfiff und spie, wie ein Pferd, das auf der Straße gestürzt ist und dessen Flanken schlagen, dessen Brust zittert, dessen Nüstern rauchen, dessen ganzer Körper bebt, aber das nicht mehr der geringsten Bewegung fähig scheint, um aufzustehen und weiter zu laufen.
Es gab weder Tote noch Verwundete, nur ein paar leicht Verletzte, denn der Zug war noch nicht recht im Gang gewesen. Und wir sahen nun verzweifelt das große, verstümmelte Eisenvieh, das uns nicht mehr ziehen konnte und das vielleicht nun auf lange Zeit den Weg versperrte, daliegen. Auf lange Zeit, denn es mußte wahrscheinlich aus Paris telegraphisch ein Hilfszug herbeigerufen werden.
Es war zehn Uhr morgens, und ich entschloß mich sofort nach Gisors zurück zu gehen und dort zu frühstücken.
Als ich den Bahndamm hinunterschritt, sagte ich zu mir: Gisors? Gisors? Da kenne ich doch jemand, – aber wen denn? Gisors? Ich muß doch irgend einen Bekannten hier haben.
Plötzlich kam mir ein Name in die Erinnerung. Albert Marambot.
Ein einstiger Schulfreund, den ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte und der in Gisors Arzt war. Er hatte mich oft eingeladen, ich hatte immer versprochen zu kommen, war aber nie gekommen. Jetzt konnte ich die Gelegenheit benutzen.
Den ersten Vorübergehenden fragte ich – Wissen Sie, wo Herr Dr. Marambot wohnt? – Er antwortete sofort mit dem gedehnten Accent des Normannen: – Rue Dauphine. – Ich sah in der That an der Thür des mir bezeichneten Hauses eine große Kupferplatte, auf der der Name meines einstigen Schulfreundes graviert stand. Ich klingelte. Aber das Mädchen, strohblond, mit langsamen Bewegungen, sagte mit thörichtem Ausdruck: – Er ist nicht da, er ist nicht da.
Ich hörte Bestecke klappern und Gläser klirren und rief:
– He Marambot! – Eine Thür ging auf, und ein dicker Mann mit Backenbart und zufriedener Miene, eine Serviette in der Hand, erschien.
Ich hätte ihn ganz bestimmt nicht wieder erkannt. Er sah aus wie fünfundvierzig Jahr, und in einer Sekunde erschien vor mir das ganze Provinzleben, das schwer, dick und alt macht. In einem einzigen Geistesblitz, schneller als meine Bewegung, ihm die Hand entgegenzustrecken, kannte ich seine ganze Existenz, seine Lebensweise, seinen geistigen Horizont, seine Weltanschauung. Ich erriet, daß er gern lange bei Tisch saß, was ihm seinen Schmerbauch eingetragen hatte, daß er nachher stumpfsinnig schlief in durch Cognacbegießung erschwerter Verdauung und sah, wie er schläfrig seine Kranken anblickte, immer im Gedanken an das Huhn, das auf dem Herde briet. Ich hörte die ganze Unterhaltung über Küchendinge, über Apfel- und Beeren-Wein, Schnaps, über die Art, gewisse Speisen zuzubereiten, Saucen, schön, rund und voll zu machen, all das stand vor mir, als ich seine dicken, runden Backen sah, seine schweren Lippen und den toten Blick der Augen.
Ich sagte zu ihm:
– Erkennst Du mich denn nicht? Ich bin Raoul Aubertin.
Er öffnete die Arme und hätte mich beinah erwürgt. Dann war sein erstes Wort:
– Du hast doch hoffentlich noch nicht gefrühstückt?
– Nein.
– So ein Glück! Ich bin eben bei Tisch, und habe gerade wundervolle Forellen.
Fünf Minuten später frühstückte ich mit ihm. Ich fragte ihn:
– Bist Du Junggeselle geblieben?
– Allerdings.
– Und befindest Du Dich denn wohl hier?
– Ich langweile mich nicht, ich bin beschäftigt. Ich habe Patienten und Freunde, ich esse gut, ich lache gern, ich gehe auf die Jagd – so ist's ganz nett.
– Kommt Dir denn das Dasein in der kleinen Stadt nicht etwas eintönig vor?
– Nein, lieber Freund, wenn man sich zu beschäftigen weiß ... Im übrigen ist's in einer kleinen Stadt genau so wie in einer großen. Die Ereignisse und Freuden sind dünner gesät, aber man mißt ihnen einen größeren Wert bei, man hat weniger Beziehungen, aber man sieht sich häufiger. Wenn man alle Fenster in einer Straße kennt, so beschäftigt einen jedes einzelne mehr, als eine ganze Straße in Paris.
Weißt Du, solch eine kleine Stadt ist sehr amüsant, sehr amüsant. Sieh mal zum Beispiel Gisors. Ich kenne es in- und auswendig von den ersten Anfängen bis heute. Du hast keine Ahnung, wie seltsam die Geschichte dieser Stadt ist.
– Bist Du aus Gisors?
– Ich? Nein, ich bin aus Gournay, der Nachbarstadt und Rivalin. Gournay ist neben Gisors, was Lucullus neben Cicero war: hier ist alles auf Ruhm erpicht, und man spricht von den »Ehrgeizigen von Gisors,« in Gournay ist alles für gutes Leben und es heißt: »die Schlemmer von Gournay.«
Gisors verachtet Gournay, aber Gournay macht sich über Gisors lustig. Es ist furchtbar komisch hier bei uns.
Ich bemerkte, daß ich wirklich etwas Vorzügliches aß, weiche Eier in einem Fleischgelee, das durch Kräuter schmackhaft gemacht und leicht gefroren war.
Ich sagte, mit der Zunge schnalzend, um Marambot zu schmeicheln: – Das schmeckt fein.
Er lächelte: – Zwei Sachen sind dazu nötig, gutes Gelee, das ist schwer zu bekommen, und gute Eier. Oh, gute Eier sind so selten! Das Gelbe muß etwas rötlich sein, so richtig schmackhaft. Ich habe zwei Hühnerhöfe, einen für Eierproduktion und einen für Geflügelmästung. Meine Leghühner füttere ich auf ganz besondere Art. Ich habe so meine Ideen darüber. In dem Ei, wie im Fleisch des Huhnes, des Ochsen oder des Hammels, in der Milch, in allem findet man wieder und muß ihn auch schmecken den Kern, die Quintessenz der ganzen bisherigen Nahrung des Tieres. Man könnte so viel besser essen, wenn man sich mehr darum kümmerte.
Ich lachte:
– Du bist also Feinschmecker?
– Ja wahrhaftig! Nur dumme Menschen sind keine Feinschmecker. Feinschmecker ist man, wie man Künstler, Gelehrter oder Dichter ist. Der Geschmack, lieber Freund, ist ein zarter Sinn, der verbesserungsfähig ist und gehütet werden muß, wie Auge und Ohr. Wer keinen Geschmack hat, dem fehlt etwas Wunderbares, die Fähigkeit, die Qualität der Nahrungsmittel zu unterscheiden, so wie man vielleicht die Schönheiten eines Buches oder Kunstwerkes nicht unterscheiden kann. Wer keinen Geschmack hat, dem fehlt ein wichtiger Sinn, ein wesentlicher Teil der menschlichen Überlegenheit, der gehört einer der unzähligen Arten von Krüppeln an, den thörichten, linkischen Menschen, aus denen sich unsere Rasse zusammensetzt. Solche Leute sind »zungendumm« mit einem Wort, so wie man gehirndumm sein kann. Ein Mensch, der eine Languste von einem Hummer nicht unterscheiden kann, einen Häring, diesen wunderbaren Fisch, der als Köstlichstes alle Meeresdüfte in sich trägt, von einer Makrele nicht unterscheiden kann oder von einem Wittling, und eine gewöhnliche Birne nicht von einer Duchesse, ist etwa so wie einer, der Balzac mit Eugen Sue verwechseln würde oder eine Symfonie von Beethoven mit dem Armeemarsch irgend eines Militärmusikdirigenten, und den Apollo von Belvedere mit der Bildsäule des Generals de Blanmont.
– Wer ist denn der General de Blanmont?
– Ach so, das weißt Du ja nicht. Na, man sieht schon, daß Du nicht aus Gisors bist. Lieber Freund, ich habe Dir vorhin gesagt, daß man die Einwohner dieser Stadt die Ehrgeizigen von Gisors nennt, und nie hat jemand diesen Beinamen mehr verdient. Aber zuerst wollen wir frühstücken, und ich werde von der Stadt erst sprechen, wenn ich sie Dir gleichzeitig zeigen kann.
Von Zeit zu Zeit unterbrach er sich, um langsam ein Glas Wein zu trinken, das er zärtlich anblickte, wenn er es auf den Tisch setzte.
Mit der um den Hals gebundenen Serviette, den roten Backen, den gierigen Augen, dem um den arbeitenden Mund sich ausbreitenden Backenbart, war er wirklich komisch anzusehen.
Ich mußte essen, bis ich nicht mehr konnte. Als ich dann wieder zum Bahnhof gehen wollte, nahm er mich beim Arm und zog mich durch die Straßen. Die Stadt hat einen netten Provinzcharakter und wird von ihrer Festung überragt, dem wundervollsten, militärischen Bauwerk des siebenten Jahrhunderts in Frankreich. Sie liegt ihrerseits wieder über einem langen, grünen Thal, in dem die schweren Kühe der Normandie weiden und wiederkäuen auf den grünen Wiesen.
Der Doktor sagte zu mir: – Gisors, Stadt von viertausend Einwohnern an der Eure, wird schon bei Caesar erwähnt: Cäsaris ostium – Cäsartium – Cäsortium – Gisortium – Gisors. Ich werde Dich aber nicht zum römischen Lager führen, dessen Spuren man noch genau sieht.
Ich lachte und antwortete: – Lieber Freund, Du scheinst eine ganz eigene Krankheit zu haben, die solltest Du als Arzt mal genau studieren. Man nennt sie Kirchturmkrankheit.
Er hielt inne:
– Der Kirchturmgeist, lieber Freund, ist nichts anderes, als der natürliche Patriotismus. Ich liebe mein Haus, meine Stadt und meine Provinz über alles, weil ich dort die Sitten meines Dorfes wiederfinde. Aber wenn ich die Grenze liebe und sie verteidige, und wenn ich mich ärgere, wenn der Nachbar den Fuß darübersetzt, so geschieht das, weil ich mich in meinem Haus bedroht fühle, weil die Grenze, die ich nicht kenne, meine Provinz ist. So bin ich, – ein Normanne, ein wahrer Normanne, und trotz meines Hasses gegen die Deutschen und meines Rachedurstes, verachte ich sie nicht, hasse ich sie nicht aus Instinkt, wie den Engländer, unsern wirklichen Feind, den Erbfeind und natürlichen Feind des Normannen, weil der Engländer auf diesem Boden, wo meine Vorfahren gewohnt haben, eingebrochen ist, ihn verwüstet und zerstört hat zwanzig Mal, und mir die Abneigung gegen dieses perfide Volk von Jugend auf eingeflößt worden ist durch meinen Vater. Sieh mal da, das ist die Bildsäule des Generals.
– Welches Generals?
– Des General de Blanmont. Wir mußten eine Statue haben! Wir sind nicht umsonst die Ehrgeizigen von Gisors, und da haben wir den General de Blanmont entdeckt. Sieh nur mal in das Schaufenster dieser Buchhandlung.
Er führte mich an das Fenster eines Buchladens, wo ein paar Dutzend rote, gelbe, blaue Bücher den Blick auf sich zogen.
Als ich die Titel las, packte mich fast ein Lachkrampf. Sie hießen: »Gisors, sein Ursprung, seine Zukunft von M.X. ..., Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften.«
»Geschichte von Gisors von Pfarrer N. ...«
»Gisors von Cäsar bis auf unsere Tage von M.B. ... Grundbesitzer.«
»Gisors und seine Umgebung von Dr. C.D. ...«
»Gisors und seine Berühmtheit von einem Kenner.«
– Lieber Freund, – sagte Marambot, – kein Jahr geht vorüber, nicht ein Jahr hörst Du wohl, ohne daß hier eine neue Geschichte von Gisors erscheint. Es giebt deren schon dreiundzwanzig.
– Ja, und die Berühmtheiten von Gisors? – fragte ich.
– Ach, die kann ich Dir nicht alle aufzählen. Ich will Dir nur ein paar nennen. Da haben wir zuerst den General de Blanmont gehabt, dann den Baron Davillier, den berühmten Keramiker, den Erforscher Spaniens und der Balearen, der die wunderbaren spanisch-arabischen Fayancen den Kennern zugängig machte, dann in der Litteratur einen Journalisten von großem Verdienst, der heut schon tot ist, Karl Brainne, und unter den Lebenden den sehr bemerkenswerten Herausgeber der »Rouener Neusten Nachrichten« Karl Lapierre und noch viele andere, viele andere.
Wir folgten einer langen, sich leise senkenden Straße, auf der in ihrer ganzen Ausdehnung die Junisonne glühte, so daß die Leute in ihren Häusern geblieben waren.
Plötzlich erschien am anderen Ende der Straße ein Mann, ein Betrunkener, der hin- und hertaumelte.
Er kam daher, den Kopf vorgestreckt, mit schlenkernden Armen, eingedrückten Knieen, machte einmal drei, sechs oder zehn schnelle Schritte und blieb dann halten. Wenn seine kurze Anspannung der Thatkraft ihn bis auf die Mitte der Straße gebracht hatte, blieb er stehen, schwankte, ob er hinfallen oder sich zum zweiten Male aufraffen sollte, dann rannte er plötzlich in irgend einer Richtung wieder davon. Nun stieß er an ein Haus, an dem er kleben zu bleiben schien, als ob er hinein wollte mitten durch die Wand, durch den Anprall flog er herum, stierte vor sich hin mit offenem Mund, blinzelte im Sonnenschein, gab sich einen Stoß, so daß sein Rücken von der Mauer abkam, und setzte sich wieder in Bewegung.
Bellend folgte ihm ein kleiner gelber Hund, blieb stehen, wenn er stehen blieb und lief weiter, wenn er weiterging.
– Da sieh mal, – sagte Marambot, – das ist der Inhaber des Tugendpreises der Frau Husson. Ich war sehr erstaunt und fragte: – Tugendpreis der Frau Husson? Was soll denn das heißen?
Der Arzt begann zu lachen:
– Ach, so nennen wir bei uns die Betrunkenen. Das kommt von einer alten Geschichte, die jetzt beinah Legende geworden ist, obgleich sie von A bis Z wahr ist.
– Das ist wohl eine sehr komische Geschichte?
– Ja, sehr komisch.
– Das mußt Du mir erzählen.
– Sehr gern. Früher gab es in dieser Stadt eine alte Dame, die sehr tugendhaft war und Beschützerin der Tugend zugleich. Sie hieß Frau Husson. Ich nenne Dir wirkliche Namen und nicht Namen, die ich jetzt erfinde. Frau Husson beschäftigte sich hauptsächlich mit Wohlthätigkeit, half den Armen und unterstützte die, die es wert waren. Sie war klein, machte winzige, trippelnde Schrittchen, trug eine Perrücke und ging immer in schwarzer Seide, war sehr feierlich und höflich und stand sich ausgezeichnet mit dem lieben Gott in Gestalt des Pfarrers Malou. Sie hatte einen tiefen Abscheu, einen natürlichen Abscheu vor dem Laster und besonders vor dem Laster, das die Kirche Unzucht nennt. Schwangerschaften vor der Ehe brachten sie zur Verzweiflung, empörten sie derart, daß sie ganz außer sich geriet.
Es war gerade die Zeit, in der in der Umgegend von Paris die Rosenjungfrauen gekrönt wurden, und da kam Frau Husson auf die Idee, in Gisors auch eine Rosenjungfrau zu besitzen.
Sie teilte es dem Pfarrer Malou mit, der sofort eine Kandidatinnenliste aufstellte.
Aber Frau Housson wurde durch ein altes, Fränzchen genanntes, Dienstmädchen bedient, das ebenso unerträglich war wie ihre Herrin.
Sobald der Priester fort war, rief Frau Husson die Dienerin und sagte zu ihr:
– Hier, Fränzchen, ist die Liste der Mädchen, die mir der Pfarrer für den Tugendpreis vorgeschlagen hat. Jetzt suche mal 'rauszubekommen, was man von ihnen in der Gegend denkt.
Und Fränzchen machte sich auf den Weg. Sie sammelte allen Klatsch, alle Geschichten, jeden Verdacht, jede Niederträchtigkeit, und um nichts zu vergessen, schrieb sie das in ihr Küchenbuch mit den Ausgaben zusammen und gab es jeden Morgen Frau Husson, die nun, nachdem sie die Brille auf ihre scharfe Nase gesetzt, las:
Brot — vier Sous
Milch — zwei Sous
Butter — acht Sous
Malwine Levesque hat voriges Jahr ein Techtelmechtel mit Mathurkn Poilu gehabt.
Kalbfleisch — fünfundzwanzig Sous
Salz — ein Sou
Rosalie Vatinel ist am 20. Juli in der Abenddämmerung von der Plättfrau, Frau Onésime, im Riboudetwäldchen mit Cäsar Piénoir getroffen worden.
Radieschen — ein Sou
Essig — zwei Sous
Sauerampfer — zwei Sous
Josefine Durdent. Man soll nur nicht glauben, daß sie nichts gemacht hat, denn sie schreibt sich mit dem Sohn von Oportun, der in Rouen in Dienst ist und der ihr eine Haube durch die Post geschickt hat.
Keine einzige blieb nach dieser genauen Erkundigung makellos. Fränzchen befragte alle Welt, die Nachbarn, die Lieferanten, den Lehrer, die Nonnen in der Schule und las allen Klatsch zusammen.
Da es nun auf der ganzen Welt gar kein Mädchen giebt, über das die alten Weiber nicht getratscht hatten, fand sich denn auch im ganzen Lande nicht eine einzige, über die nicht geredet worden wäre.
Nun wollte aber Frau Husson, daß die Rosenjungfrau von Gisors, wie die Gattin des Cäsar, nicht einmal im Gerede gewesen sein dürfte, und war verzweifelt, niedergeschlagen, ganz erschrocken, angesichts des Küchenbuches ihrer Dienerin.
Nun wurde der Kreis für die Preisträgerin weiter gezogen bis zu den nächstliegenden Dörfern.
Aber man fand keine. Der Ortsvorstand wurde gefragt. Die, die er nannte, konnten ebensowenig den Preis bekommen. Die Mädchen, die Dr. Barbesol namhaft machte, hatten auch kein Glück, trotz seiner wissenschaftlich erhärteten Urteile.
Da sagte eines Morgens Fränzchen, die vom Einkaufen heimkehrte:
– Sehen Sie, Frau Husson, wenn Sie jemand krönen wollen, giebts nur einen in der Gegend: Isidor.
Frau Husson überlegte. Sie kannte Isidor wohl, den Sohn der Obstfrau Virginie. Seine sprichwörtliche Jungfräulichkeit wurde seit mehreren Jahren schon in Gisors belacht und diente zu allerlei spaßigen Unterhaltungen und zum Amüsement der Mädchen, denen es Scherz machte, ihn zu necken. Er war fünfundzwanzig Jahr, groß, linkisch, langsam, furchtsam; er half der Mutter im Geschäft und putzte den ganzen Tag Früchte oder Gemüse auf einem Stuhl vor der Thür.
Er hatte vor Unterröcken eine krankhafte Angst, so daß er die Augen niederschlug, sobald ihn eine Käuferin lächelnd ansah. Und diese bekannte Befangenheit brachte es dahin, daß alle Witzbolde in der Gegend ihren Ulk mit ihm trieben.
Bei Zoten oder Anspielungen wurde er so schnell rot, daß ihn Dr. Barbesol »den Schamthermometer« genannt hatte. War er wissend oder war er es nicht? fragten sich die Nachbarn lachend. War es nur die einfache Scheu vor unbekannten schamvollen Ereignissen oder der Abscheu vor der häßlichen Berührung, die die Liebe erfordert, wodurch der Sohn der Obstfrau Virginie so bewegt schien? Die Straßenjungen liefen an der Bude vorbei und brüllten Schmutzereien, damit er die Augen niederschlagen sollte. Den Mädchen machte es Scherz, immer wieder vorüberzugehen und Dinge zu flüstern, die ihn ins Haus trieben. Die Frechsten provozierten ihn öffentlich, um zu lachen, sich zu unterhalten, proponierten ihm ein Stelldichein und kamen ihm in unglaublicher Weise entgegen.
Frau Husson überlegte also.
Isidor war allerdings von außergewöhnlicher, notorisch unerschütterlicher Tugend. Niemand, auch die größten Zweifler, die Ungläubigsten hätten es nicht gewagt, Isidor der leisesten Verletzung der Moral zu beschuldigen. Man hatte ihn auch nie im Wirtshaus gesehen, man traf ihn nie abends auf der Straße, um acht Uhr ging er zu Bett und stand um vier Uhr auf, – er war die Vollendung selbst, eine Perle.
Aber Frau Husson zögerte noch. Der Gedanke, statt einer Rosenjungfrau einen Rosenjüngling zu erwählen, kam ihr doch eigen vor, und sie beschloß, erst mal den Pfarrer Malou um Rat zu fragen.