Geschichten für schlaflose Nächte, Band 4 - Guy de Maupassant - E-Book

Geschichten für schlaflose Nächte, Band 4 E-Book

Guy de Maupassant

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Dieser Band enthält die folgenden Novellen des Meisters der Schauerliteratur: Das Haus Kirchhofsliebe Auf dem Strom Geschichte einer Magd Daheim Simons Vater Die Landpartie Im Lenz Pauls Frau

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Geschichten für schlaflose Nächte, Band 4

Guy de Maupassant

Inhalt:

Henri René Albert Guy de Maupassant – Biografie und Bibliografie

Das Haus

Kirchhofsliebe

Auf dem Strom

Geschichte einer Magd

Daheim

Simons Vater

Die Landpartie

Im Lenz

Pauls Frau

Geschichten für schlaflose Nächte, Band 4, G. de Maupassant

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster, Deutschland

ISBN: 9783849624262

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Thaut Images - Fotolia.com

Henri René Albert Guy de Maupassant – Biografie und Bibliografie

Franz. Romanschriftsteller, geb. 5. Aug. 1850 auf Schloß Miromesnil in der Normandie, gest. 7. Juli 1893 in Paris, begann seine Laufbahn als Ministerialbeamter. Für den angehenden Schriftsteller war Gustave Flaubert, ein Vetter seiner Mutter, gebornen Le Pottevin, ein treuer, unnachsichtiger Berater, der sogleich erkannte, daß in der Novellistik seine Stärke lag. Bekannt wurde M. nicht durch die Gedichte »Des Vers« (1880), sondern erst durch die 1870 in Rouen spielende musterhafte Novelle »Boule de Suif«, das Glanzstück der von Zola und seinen Schülern vereinigten »Soirées de Médan« (1880). Durch Objektivität und scharfe Hervorhebung des charakteristischen Merkmals zeichnete sich M. vor den übrigen Naturalisten, auch vor Zola selbst, aus. Seine Novellen sind im ganzen seinen Romanen überlegen, weil die hastige Produktion von 27 Bänden innerhalb 10 Jahren die planmäßige Arbeit erschwerte. Hervorragend sind immerhin die beklemmend traurige Ehegeschichte »Une Vie« (1883) und der Journalistenroman »Bel-Ami« (1885). Es folgten »Mont-Oriol« (1887), »Pierre et Jean« (1888) und endlich die einen unheilvollen Einfluß Bourgets verratenden sentimentalen Romane »Fort comme la Mort« (1889) und »Notre cœur« (1890). Unter den 20 Novellenbänden ragen besonders hervor: »La Maison Tellier« (1881), »Miss Harriet« (1884), »Monsieur Parent« (1885), »Le Horla« (1887), »L'inutile Beauté« (1890). Die Novelle »Musotte« dramatisierte M. mit J. Normand 1891 mit großem Erfolg. Der direkt für die Bühne geschriebene Zweiakter »La Paix du Ménage« (1893) gelang weniger. M. verfiel, wie sein älterer Bruder und mehrere andre Verwandte, in Wahnsinn, machte in Cannes einen Selbstmordversuch und starb in der Privatanstalt Blanche zu Paris. Eine illustrierte Gesamtausgabe seiner Werke erschien in 27 Bänden 1900–04. Von den zahlreichen Übersetzungen nennen wir die von H. v. Ompteda (»Gesammelte Werke«, Berl. 1898–1903, 20 Bde.). Ein Denkmal wurde ihm 1897 im Parc Monceaux zu Paris gesetzt.Vgl. A. Lumbroso, Souvenirs sur M., sa dernière maladie, sa mort (Par. 1905).

Das Haus

I

Jeden Abend gegen elf Uhr ging man dort hin, genau so wie ins Cafe.

Immer dieselben sechs bis acht Herren fanden sich da zusammen, keine Nachtschwärmer, sondern ganz ehrbare Kaufleute und junge Herren aus der Stadt. Man trank seinen Chartreuse, neckte ein wenig die Mädchen oder führte eine ernste Unterhaltung mit der Madame, die sich allgemeiner Achtung erfreute.

Dann ging man vor Mitternacht nach Hause. Die jungen Leute blieben manchmal da.

Das Haus war sehr gemütlich, ganz klein, gelb angestrichen und befand sich an einer Straßenecke hinter der Stefanskirche. Von den Fenstern aus sah man auf den Hafen, wo die Schiffe lagen, die ausgeladen wurden, und auf den großen Salzwasserteich, »la Retenue« geheißen. Ganz hinten gewahrte man Höhenzüge mit einer alten grauen Kapelle.

Madame stammte aus einer guten Bauernfamilie aus dem Departement Eure. Sie hatte dieses Geschäft übernommen genau so, als ob sie Modistin oder Wäscherin geworden wäre. Der Makel, der an der Prostitution hängt und sich in den Städten so lebhaft und stark ausdrückt, existiert in der Normandie auf dem Lande nicht. Der Bauer sagt: »es nährt seinen Mann« und sieht sein Kind ebensogern an der Spitze eines Harems von öffentlichen Mädchen, wie als Vorsteherin eines Pensionates für höhere Töchter.

Übrigens war dieses Haus von einem Onkel ererbt. Madame und ihr Mann hatten früher in der Nähe von Ivetot eine Gastwirtschaft gehabt, gaben ihr Geschäft aber sofort auf, da sie das in Fécamp für vorteilhafter hielten. So waren sie eines schönen Morgens angekommen und hatten die Leitung des Etablissements übernommen, dessen Bestand ohne Überwachung seitens eines Besitzers gefährdet schien.

Es waren brave Leute, die sich sofort bei ihrem Personal beliebt zu machen verstanden. Der Herr starb schon nach zwei Jahren am Herzschlage. Sein neuer Beruf ernährte ihn behaglich und verurteilte ihn zur Bewegungslosigkeit. So war er dick geworden. Die Gesundheit hatte ihn sozusagen umgebracht.

Madame wurde seit ihrer Witwenschaft vergeblich von allen Stammgästen des Etablissements begehrt, aber sie galt allgemein für durchaus unnahbar und sogar ihre Pensionäre hatten ihr nichts nachsagen können.

Sie war groß, von gefälligen, runden Formen; ihre Hautfarbe war im Dunkel dieses immer geschlossenen Hauses gebleicht wie unter einem dicken Lack. Um ihre Stirn lief eine kleine Franze falscher gebrannter Lökchen und gab ihr ein jugendliches Aussehen, das einigermaßen von der Reife ihrer Formen abstach. Sie war stets heiter, hatte offene Züge, machte gern einen Spaß, jedoch mit einer Art Zurückhaltung, die ihr der neue Beruf noch nicht genommen. Gewöhnliche Worte kränkten sie immer ein wenig und wenn irgend ein ungezogener Mensch ihr Etablissement beim eigentlichen Namen nannte, ward sie wütend und empört. Sie war feinfühlig, und obwohl sie ihre Mädchen wie Freundinnen behandelte, so liebte sie es doch, merken zu lassen, daß sie von anderem Herkommen sei.

Manchmal unternahm sie mit einem Teil ihrer Pflegebefohlenen einen Ausflug zu Wagen. Dann scherzte und tollte man auf einer Wiese umher, irgendwo am Ufer des kleinen Flusses, der im Thälchen von Valmont fließt. Sie machten dann den Eindruck durchgebrannter Pensionsmädchen, rannten hin und her, scherzten und lachten wie die Kinder. Auf dem Rasen wurde gefrühstückt, Apfelwein dazu getrunken, und bei sinkender Nacht kehrte man süß ermattet und mit stiller Zärtlichkeit im Herzen heim. Dann wurde die Madame im Wagen wie eine liebe, gute, nachsichtige Mutter geküßt.

Das Haus hatte zwei Eingänge. An der Ecke lag eine Art von elendem, kleinem Cafe, das abends den gewöhnlichen Leuten und den Matrosen offen stand. Zwei der Mädchen waren besonders für diesen Teil der Kunden bestimmt. Sie bedienten unter Beihilfe eines kleinen bartlosen Burschen, Namens »Friedrich«, der aber stark war wie ein Bulle, die Gäste und kredenzten auf wackeligen Marmortischen einen Schoppen Wein oder ein Glas Bier. Dann setzten sie sich den Leuten auf den Schoß und animierten sie zum Trinken.

Die anderen drei Damen (es waren im Ganzen fünf) bildeten eine Art von Aristokratie und blieben für die Gäste im ersten Stock reserviert, außer wenn oben niemand war, oder sie unten dringend nötig schienen.

Der Jupitersalon, wo sich die Bürger des Ortes zusammenfanden, war blau tapeziert, und mit einem großen Öldruck »Leda mit dem Schwan« geschmückt. Man gelangte dorthin vermittelst einer kleinen Wendeltreppe, zu der von der Straße aus eine enge niedrige Thür führte, über der die ganze Nacht hindurch hinter einem Gitter eine kleine Laterne leuchtete, wie jene, die in manchen Städten am Fuße der in die Wand eingelassenen Madonnenbilder brennen.

Das Gebäude war feucht und alt und roch etwas nach Moder. Ab und zu wehte ein Duft von Eau de Cologne durch die Gänge. Wenn die Thür nach unten halb offen stand, so hörte man im ganzen oberen Stock ein donnerartiges Getöse: das pöbelhafte Gebrüll der Männer, die im Erdgeschoß saßen. Und dann lief über die Gesichter der Herren in der Bel-Etage ein Ausdruck von Beunruhigung und Ekel.

Madame, die mit ihren Klienten oben auf freundschaftlichem Fuße stand, verließ nie den Salon und interessierte sich sehr für die Neuigkeiten aus der Stadt, die sie von ihnen erfuhr. Ihre ernste Unterhaltung stand in schroffem Gegensatz zu derjenigen der drei Mädchen. Sie war wie eine Art Ruhepunkt in den gewagten Wortspielen der beleibten Rentiers, die sich jeden Abend hier die ganz anständige und höchst harmlose Ausschweifung erlaubten, ein Gläschen Schnaps in Gesellschaft öffentlicher Mädchen zu trinken.

Die drei Damen des ersten Stockes hießen Fernande, Raphaëla und Rosa »die Mähre«.

Da das Personal beschränkt war, so hatte man versucht, es so einzurichten, daß jede von ihnen einen bestimmten Typus repräsentierte, damit jeder Besucher so etwa die Verkörperung seines Ideals finden könnte.

Fernande war die blonde Schönheit, groß, fast fett, üppig, ein Mädchen vom Lande, deren Sommersprossen durchaus nicht verschwinden wollten und deren flachsartiges, spärliches, kurzes Haar farblos war wie gekämmter Hanf.

Raphaëla aus Marseille, die sich in allen Häfen herumgetrieben, verkörperte die unvermeidliche »schöne Jüdin«. Sie war mager, hatte vorspringende Backenknochen mit roten Flecken. Ihr schwarzes Haar, das sie mit Rindermarkpomade glänzend machte, bildete an den Schläfen zwei Kringel. Ihre Augen wären schön gewesen, wenn nicht das rechte auf der Hornhaut einen Fleck gehabt hätte. Ihre krumme Nase bog sich auf ein starkes Gebiß herab, oben mit zwei neuen falschen Zähnen, die von denen im Unterkiefer, welche allmählich eine dunklere, altem Holz ähnliche Färbung angenommen hatten, abstachen.

Rosa »die Mähre« war eine kleine, dicke Fettkugel mit kurzen Beinen. Sie sang von früh bis abends mit dünner Stimme, bald schmutzige, bald sentimentale Lieder, erzählte unendliche thörichte Geschichten und hörte nur auf zu reden, um zu essen und auf zu essen, um zu reden. Den ganzen Tag war sie in Bewegung, geschmeidig wie ein Eichhörnchen trotz ihrer Dicke und der Kleinheit ihrer Pfötchen. Aus allen Ecken klang ihr Lachen, eine ganze Tonleiter von schrillen Tönen, bald von hier, bald von dort, aus einem Zimmer, vom Boden, vom Café herauf und jedesmal lachte sie um nichts.

Die beiden Mädchen im Erdgeschoß, Louise, mit Spitznamen »Cocote«, und Flora, die »Schaukel« genannt, weil sie ein wenig hinkte, sahen wie Köchinnen aus, die sich zum Maskenball angezogen haben. Die eine erschien immer als eine Art Freiheitsgöttin mit einem Gürtel in den Farben der Trikolore, die andere in einem spanischen Phantasiekostüm, geschmückt mit lauter Kupfermünzen, die in ihrem rötlichen Haar bei jedem ungleichmäßigen Schritt klimperten und klirrten. Die beiden, die nicht häßlicher noch hübscher waren als andre – so die richtigen Kellnerinnen – hatten im ganzen Hafen den Spitznamen, »die beiden Pumpen.«

Unter den Mädchen herrschte ein eifersüchtiger Friede. Er ward selten gestört, dank der Vermittelung der Madame und dank ihrer ewig gleich guten Laune.

Da das Etablissement das einzige war in der kleinen Stadt, so erfreute es sich eines regen Zuspruches. Madame hatte es verstanden, ihm sozusagen einen anständigen Anstrich zu geben. Sie war gegen jedermann so liebenswürdig, so zuvorkommend und ihr gutes Herz war so bekannt, daß sie sich einer Art von Hochachtung erfreute. Die Stammgäste bemühten sich alle um sie und jeder fühlte sich sehr gekratzt, wenn sie gegen ihn liebenswürdig war. Begegneten sie einander tagsüber in Geschäften, so sagten sie wohl: »Heute abend, Sie wissen schon!« so, wie man etwa fragt: »Kommen Sie nach Tisch ins Café?«

Kurz, das Etablissement Tellier war eine Art Klub geworden und selten fehlte einer bei den täglichen Zusammenkünften.

Da fand eines Abends gegen Ende Mai der Holzhändler und frühere Bürgermeister Poulin, der heute gerade zuerst kam, die Thür verschlossen. Die kleine Laterne leuchtete nicht mehr hinter ihrem Gitter, man hörte von innen keinen Lärm, alles schien wie erstorben. Er klopfte zuerst ganz leise, darauf stärker. Niemand antwortete. Dann schritt er mit kleinen kurzen Schritten die Straße wieder hinauf, und als er auf den Marktplatz kam, begegnete er dem Schiffsrheder Duvert, der auch das Haus aufsuchen wollte. Sie kehrten zusammen um, aber ohne besseren Erfolg. Da erhob sich in ihrer Nähe plötzlich ein fürchterlicher Skandal und als sie um die Ecke bogen, gewahrten sie eine Anzahl englischer und französischer Matrosen, die mit den Fäusten an die geschlossenen Läden des Cafés donnerten.

Sofort entflohen die beiden Bürger, um nicht kompromittiert zu werden. Aber ein leises ›Pst!‹ ließ sie stillstehen. Es kam von Herrn Tournevau, dem Fischselcher, der sie erkannt hatte und sie anrief. Sie erzählten ihm, was sie wahrgenommen. Das schien ihm um so unangenehmer zu sein, als er verheiratet war, Familienvater und seine Frau ihn sehr überwachte. So konnte er nur Sonnabends dort hinkommen. »Securitatis causa«, wie er sagte. Das bezog sich auf die Thätigkeit der Sanitätspolizei, deren jedes Mal wiederkehrenden Termin ihm sein Freund Dr. Borde verraten. Heute war gerade sein Abend und so sah er sich für die ganze Woche auf das Trockene gesetzt.

Die drei Männer machten einen großen Bogen bis an den Quai und trafen unterwegs den Bankiersohn Herrn Philippe, auch ein Stammgast, und Herrn Pimpesse, den Einnehmer. Nun kehrten alle noch einmal zusammen durch die Jüdenstraße zurück, um einen letzten Versuch zu wagen. Aber die wütenden Matrosen hielten das Haus richtig belagert, schmissen mit Steinen und heulten, sodaß die fünf Besucher des ersten Stockes so schnell als möglich umkehrten und begannen in den nächsten Straßen umherzuirren.

Allmählich trafen sie noch den Versicherungsagenten Dupuis und den Handelsrichter Vasse.

Nun unternahmen sie alle einen langen Spaziergang bis an den Hafen. Dort setzten sie sich der Reihe nach neben einander auf die Granitbrüstung und sahen dem Spiel der Wellen zu. Auf den Wogenköpfen leuchtete der Schaum in der Dunkelheit mit weißem Licht, das wieder verlöschte, als es kaum erschienen und längs der Felsenküste klang durch die Nacht das einförmige Branden der See gegen die Felsen. Als die traurigen Spaziergänger dort eine Weile gesessen, erklärte Herr Dupuis:

– Na, zum Totschreien ist das nicht.

Herr Pimpesse antwortete:

– Das stimmt.

Und sie machten sich langsam wieder auf den Weg.

Nachdem sie die Straße hinabgeschritten, die sich längs des Ufers auf der Höhe hinzieht und »Sous-le-bois« heißt, kamen sie über die Holzbrücke zurück zur Retenue. Dann gingen sie an der Eisenbahn hin und gelangten endlich auf den neuen Marktplatz, wo plötzlich ein Streit ausbrach zwischen dem Einnehmer Pimpesse und dem Fischselcher Tournevau. Es handelte sich um die Eßbarkeit eines Pilzes, den der eine in der Umgegend gefunden haben wollte.

Da sich die Herren durch die Langeweile in gereizter Stimmung befanden, so wäre es vielleicht zu Thätlichkeiten gekommen, wenn sich nicht die übrigen ins Mittel gelegt hätten. Pimpesse ging wütend davon und sofort entstand eine neue Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn Poulin, dem früheren Bürgermeister und dem Versicherungsagenten Dupuis über die Höhe des Gehaltes des Einnehmers und über die Vorteile, die er sich etwa verschaffen könnte. Beleidigende Worte fielen von beiden Seiten. Aber da ertönte plötzlich ein mächtiges Gebrüll und die Matrosenschar, die das Warten vor dem verschlossenen Hause satt bekommen, bog auf den Marktplatz. Sie hatten sich zu zwei und zwei untergehakt, und bildeten so eine lange Prozession. Sie brüllten fürchterlich. Die Bürgersleute retteten sich unter ein Thor, und die heulende Horde verschwand nach der Abtei zu. Lange noch hörte man das immer leiser werdende Geschrei wie ein Gewitter, das sich entfernt; dann ward es still.

Herr Poulin und Herr Dupuis, die auf einander wütend waren, verschwanden nach entgegengesetzten Seiten, ohne sich zu grüßen.

Die übrigen vier setzten sich wieder in Gang, ganz von selbst nach dem Etablissement Tellier. Es lag noch immer in tiefem Schweigen verschlossen da. Ein Betrunkener klopfte beharrlich leise an der Straßenfront des Cafés und blieb dann stehen, um mit gedämpfter Stimme nach ›Friedrich‹ zu rufen. Als er sah, daß ihm niemand antwortete, setzte er sich auf die Schwelle, der Dinge zu warten, die da kommen sollten.

Die Bürger wollten sich zurückziehen, als plötzlich die Matrosenschar wieder am Ende der Straße auftauchte. Die französischen Matrosen gröhlten die Marseillaise, die englischen das »Rule Britannia«. Dann schlugen sie alle wie toll gegen die Mauern, und endlich entfernte sich die ganze Bande nach dem Quai zu, wo zwischen den Matrosen beider Völker eine Schlacht ausbrach, die einem Engländer einen zerbrochenen Arm und einem Franzosen eine zerschlagene Nase eintrug. Der Betrunkene, der vor der Thür sitzen geblieben war, weinte jetzt, als hätte er das heulende Elend bekommen, oder wie ein Kind, dem man den Willen nicht gethan.

Endlich zerstreuten sich die Bürger.

Allmählich ward es ruhiger, ruhig in der lärmdurchtobten Stadt. Ab zu klang hie und da Stimmengetöse, dann verlor es sich in der Weite.

Nur ein Mann irrte noch umher: der Fischselcher Tournevau. Er war zu sehr außer sich, bis zum nächsten Sonnabend warten zu sollen. Und da er nicht begriff, was das bedeutete und sich empört fragte, wie es die Polizei nur dulden könne, daß eine solche öffentliche Volkswohl-Anstalt, die sie überwacht und unter ihren Fittigen geborgen hält, geschlossen wird, so hoffte er immer noch auf irgend einen glücklichen Zufall.

Er kehrte zurück, spähte um die Mauern und wollte den Grund finden. Endlich entdeckte er auf dem Fensterladen eine Karte, die man dort angeklebt. Er zündete schnell ein Streichholz an und las die mit großer, ungleichmäßiger Handschrift hingesetzten Worte: »Wegen Einsegnung geschlossen.«

Da ging er davon, weil er einsah, daß nichts zu machen sei.

Der Betrunkene hatte sich nun quer über die ungastliche Schwelle gestreckt und schlief.

Am anderen Tag fanden alle Stammgäste einer nach dem andern einen Vorwand, mit irgend einem Aktenbündel unter dem Arm, um sich Haltung zu geben, durch die Straße zu gehen, und schnell las jeder die rätselhafte Inschrift: »Wegen Einsegnung geschlossen!«

II

Madame hatte nämlich einen Bruder, der Tischler war in Virville im Departement Eure, ihrem Heimatsort. Als Madame noch in Yvetot das Wirtshaus besaß, hatte sie die Tochter dieses Bruders über die Taufe gehalten. Sie erhielt den Namen Konstanze Rivet; Madame war eine geborene Nivet. Der Tischler, der wußte, daß es seiner Schwester gut ging, verlor sie nicht aus dem Auge, obgleich sie sich selten sahen, da sie beide beschäftigt waren und weit von einander entfernt wohnten. Aber als das junge Mädchen etwa zwölf Jahre geworden und dieses Jahr zur ersten Kommunion gehen sollte, benützte er diese Gelegenheit und schrieb seiner Schwester, daß er auf ihr Erscheinen für die heilige Handlung rechne. Die Großeltern waren tot, so konnte sie ihrer Nichte das nicht abschlagen. Sie nahm an. Ihr Bruder Josef hoffte es durch große Liebenswürdigkeit dahin zu bringen, daß sie ein Testament zu Gunsten der Kleinen mache. Madame hatte nämlich keine Kinder.

Der Beruf seiner Schwester störte ihn nicht im mindesten; übrigens wußte auch in der Gegend niemand weiter davon. Wenn man von ihr sprach, so hieß es nur: »Frau Tellier lebt in Fécamp«, dann konnte man vermuten, daß sie von ihren Renten lebe. Fécamp lag wenigstens zwanzig Meilen von Virville, und für Bauern sind zwanzig Meilen eine größere Entfernung als der Ozean für einen Kulturmenschen. Die Einwohner von Virville waren niemals über Rouen hinausgekommen, und die von Fécamp, einem Ort von dreihundert Häusern, der mitten auf der Ebene, sogar in einem anderen Departement, lag, hatte nie etwas nach Virville gezogen. Kurzum, man wußte nichts.

Aber als die Zeit der ersten Kommunion herannahte, befand sich Madame in großer Verlegenheit. Sie besaß keine Wirtschafterin und mochte das Haus nicht allein lassen, sei es auch nur einen Tag. Dann würde zwischen den Damen oben und unten sicher Streit ausbrechen, Friedrich betränke sich ganz bestimmt, und wenn er einmal einen sitzen hatte, schlug er die Leute tot um ja oder nein. Endlich entschloß sie sich, alle mitzunehmen, nur den Burschen nicht, dem sie bis übermorgen frei gab.

Sie fragte bei ihrem Bruder an. Er machte durchaus keine Schwierigkeiten und erklärte sich sogar bereit, für eine Nacht die ganze Gesellschaft unterzubringen. So führte denn am Sonnabend Morgen der acht Uhr- Kurierzug Madame und ihre Damen in einem Wagen zweiter Klasse davon.

Bis Beuzeville waren sie allein und schwatzten wie die Elstern. Aber auf der Station stieg ein Ehepaar ein. Der Mann war ein alter Bauer in blauer Bluse mit in Fittichen gelegtem Kragen, weiten Ärmeln, die am Gelenk enger wurden und mit kleiner, weißer Stickerei geschmückt waren. Er trug einen altertümlichen, hohen Hut, dessen rötliches Haar ganz struppig war. In der einen Hand hielt er einen riesigen, grünen Regenschirm und in der anderen einen mächtigen Korb, aus dem ganz erschrocken drei Enten guckten. Die Frau saß steif in ihrem ländlichen Staat da und glich mit ihrer spitzen, schnabelähnlichen Nase einer alten Henne. Sie setzte sich ihrem Manne gegenüber und blieb unbeweglich sitzen, weil es ihr Eindruck machte, in so feingekleidete Gesellschaft gekommen zu sein.

Und in der That schillerte das Kupee in allen Farben. Madame war in blauer Seide von Kopf bis zu Fuß, darüber trug sie einen Shawl aus unechtem französischen Cachemir, rot, augenblendend, daß er nur so leuchtete. Fernande hatte ein schottisches Kleid an und rang nach Atem, denn die Taille war von ihren Freundinnen mit aller Gewalt geschnürt, sodaß sie den hängenden Busen in zwei Kugeln in die Höhe drückte, die sich fortwährend bewegten, als wäre etwas Flüssiges unter dem Stoff.

Raphaëla trug zu einem goldfiitterbesetzten Kleide einen Federschmuck im Haar, der ein Nest kleiner Vögel darstellen sollte. Das gab ihr einen orientalischen Anstrich, der zu ihrer Judenphysiognomie gut paßte.

Rosa, »die Mähre«, war in einem Rosakleid mit mächtigen Volants erschienen. Sie sah aus wie ein zu dickes Kind, wie eine fette Zwergin. Die beiden Pumpen schienen sich Costüme aus alten Gardinen zusammengeschneidert zu haben, aus großblumigem Stoff, wie er unter der Restauration Mode gewesen.

Sobald die Damen nicht mehr allein im Wagenabteil saßen, nahmen sie eine würdevolle Haltung an und begannen von ernsten Dingen zu reden, um einen guten Eindruck zu machen. Aber in Bolbec stieg ein blondbärtiger Herr ein, mit Ringen und Uhrkette, der oben in das Netz über seinem Kopf mehrere Packete in Wachsleinwand legte. Er machte den Eindruck eines Witzboldes und ganz guten Kerls. Er grüßte, lächelte und fragte sofort gemütlich:

– Die Damen wechseln wohl die »Kaserne«?

Diese Frage erregte allgemeine Verlegenheit. Endlich gewann Madame die Haltung wieder und antwortete trocken, um die Standesehre zu wahren:

– Sie könnten wohl etwas höflicher sein!

Er entschuldigte sich:

– Pardon, ich wollte sagen das »Kloster«.

Madame fand keine Antwort; vielleicht meinte sie auch, daß ihnen Genüge geschehen. Sie nickte würdevoll und kniff die Lippen zusammen.

Da fing der Herr, der zwischen Rosa der Mähre und dem alten Bauern saß, an, mit den drei Enten zu liebäugeln, deren Köpfe aus dem großen Korb guckten. Als er merkte, daß er bei den Anwesenden Eindruck machte, begann er, die Tiere unter dem Schnabel zu krabbeln und hielt ihnen kleine Reden zu allgemeiner Erheiterung:

– Wir haben unseren kleinen Teich verlassen – quäk, quäk! um einen kleinen Bratspieß kennen zu lernen, quäk, quäk!

Die unglücklichen Tiere wandten den Hals, um seinen Zärtlichkeiten zu entgehen und machten verzweifelte Anstrengungen, ihr korbgeflochtenes Gefängnis zu verlassen. Plötzlich fingen alle drei an, in fürchterlicher Angst zu rufen:

– Quaä! Quäk! Quäk!

Da platzten die Damen heraus, bogen sich vor, schubsten einander, um besser zu sehen. Die Enten erregten ungeheures Interesse, und der Herr setzte mit Feuereifer seine Neckereien fort.

Rosa mischte sich hinein, beugte sich über die Kniee ihres Nachbarn und küßte die drei Enten auf den Schnabel. Sofort wollten alle anderen sie auch küssen, und der Herr setzte die Damen auf seine Kniee, ließ sie wippen, kniff sie und nannte sie plötzlich »Du«.

Das bäuerliche Ehepaar, das noch mehr erschrocken war als sein Geflügel, blickte sich ratlos um und wagte keine Bewegung zu machen. Über die alten, runzeligen Gesichter lief kein Lächeln, sie blieben starr und steif.

Da fing der Herr, der Geschäftsreisender war, an, Ulk zu machen und bot den Damen Hosenträger an. Er nahm ein Packet und öffnete es, aber es war nur eine Falle, denn es enthielt Strumpfbänder.

Er hatte welche in blauer, roter, violetter, rosa mauve, ponceau Seide mit metallenen Schnallen in Gestalt zweier vergoldeter Amoretten, die sich umarmten. Die Mädchen schrieen vor Freude. Dann sahen sie die Warenproben an, mit der den Frauen eigenen Neigung, Toilettengegenstände zu betrachten. Sie befragten sich gegenseitig um ihre Ansicht, flüsterten und wisperten.

Und Madame befühlte lüstern ein paar orangefarbene Strumpfbänder, die breiter und schöner waren als die anderen, sozusagen die richtigen »Madame«-Strumpfbänder.

Der Herr wartete, da er einen Plan hatte. Endlich sagte er:

– Na, Kinder, ihr müßt sie mal anprobieren.

Und sofort brach ein Sturm der Entrüstung los.

Sie klemmten die Kleider zwischen die Beine, als befürchteten sie einen Angriff. Er aber wartete ganz ruhig den richtigen Augenblick ab und sagte:

– Na, wenn ihr nicht wollt, packe ich wieder ein.

Dann fügte er noch hinzu:

– Wer sie anprobieren will, kriegt nach freier Wahl ein Paar geschenkt.

Aber sie wollten nicht, nahmen eine sehr würdige Haltung an und wichen ablehnend zurück. Doch die beiden Pumpen schnitten ein so unglückliches Gesicht, daß er ihnen den Vorschlag noch einmal machte. Vor allem schien Flora, die Schaukel, die Begierde zu quälen, und sie schwankte, was sie thun sollte. Er drang in sie:

– Na, Kleine, nur 'n bissel Mut. Sieh mal die lila an, die passen gut zu Deinem Kleid.

Da faßte sie einen Entschluß, hob den Rock und zeigte ein Bein, dick wie das einer Kuhmagd, das mit einem ordinären, schlecht sitzenden Strumpf bekleidet war. Der Herr beugte sich nieder und machte das Strumpfband zuerst unter dem Knie, dann darüber fest. Dabei kitzelte er sie ein wenig, damit sie schreien sollte. Sobald er fertig war, fragte er weiter:

– Wer will?

Sie riefen alle zusammen:

– Ich! Ich! Ich!

Mit Rosa, der Mähre, fing er an, die ein unförmliches, rundes Ding zum Vorschein brachte, mit dicken Gelenken, ein wahres Wurstbein, wie Raphaëla sagte. Der Reisende, dem Fernandes mächtige Säulen Freude machten, drückte ihr seine Bewunderung aus. Die mageren Beine der schönen Jüdin fanden weniger Beifall. Louise, die Cocote, zog dem Herrn scherzeshalber ihr Kleid über den Kopf. Und Madame war genötigt, Einhalt zu gebieten, um diese unschicklichen Scherze aufhören zu lassen. Endlich hielt Madame selbst ihr Bein hin, einen runden, muskulösen, schönen normannischen Schenkel, und der Reisende, der ganz überrascht und entzückt war, zog höflich seinen Hut, um als richtiger Kavalier diese Prachtwaden zu salutieren.

Die beiden Bauern wußten nicht, wo sie hinblicken sollten und wandten sich zur Seite. Sie sahen jetzt so vollkommen zwei Hühnern ähnlich, daß der Herr mit dem blonden Backenbart aufstand und sie ankrähte:

– Kickeriki!

Das entfesselte einen neuen Orkan von Heiterkeit.

Die Alten stiegen in Motteville aus mit ihrem Korb, ihren Enten und dem Regenschirm, und man hörte, wie die Frau, als sie davongingen, zu ihrem Mann sagte:

– Das ist Luderzeug, das nach dem verfluchten Paris fährt!

Der Handlungsreisende selbst stieg in Rouen aus, nachdem er so zudringlich geworden war, daß Madame sich genötigt gesehen, ihn energisch zurückzuweisen. Sie zog daraus die Lehre: ein anderes Mal werden wir uns hüten, mit dem ersten besten anzubändeln.

In Oissel mußten sie umsteigen und trafen auf der nächsten Station Herrn Josef Rivet, der sie mit einem großen Wagen, auf dem eine Anzahl Stühle standen und vor den ein Schimmel gespannt war, erwartete.

Der Tischler grüßte die Damen höflich und half ihnen sein Gefährt besteigen. Drei setzten sich rückwärts, Raphaëla, Madame und ihr Bruder auf die drei Stühlen vorn, und da Rosa keinen Sitz mehr fand, so nahm sie, so gut es ging, auf dem Schoß der großen Fernande Platz. Dann ging es davon. Aber das ruckweise Anziehen des alten Schinders rüttelte den Wagen so fürchterlich durcheinander, daß die Stühle anfingen zu tanzen, und die Reisenden in die Luft flogen nach rechts und nach links, wie Hampelmänner, mit erschrockenen Gesichtern, mit Angstgeschrei, wenn ab und zu ein noch heftigerer Stoß kam. Sie krampften sich seitwärts am Wagen fest, die Hüte rutschten ihnen in den Nacken, ins Gesicht oder zur Seite, während der Schimmel immer weiter trabte vorgestreckten Halses, indem er ab und zu mit seinem kleinen dünnhaarigen Schwanze nach den Fliegen schlug. Josef Nivet hatte den einen Fuß auf die Deichsel gesetzt, das andere Bein zurückgezogen und hielt mit erhobenen Händen die Zügel, während er fortwährend dabei schnalzte, sodaß der Klepper die Ohren anlegte und seinen Gang etwas beschleunigte.