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Mamma Carlotta legt wieder los: der zweite Kriminalfall für die quirlige Hobbyermittlerin
Mit italienischem Feuer, ohne falsche Scheu und der richtigen Spürnase ermittelt Mamma Carlotta erneut auf Sylt – und es wird wieder ausgesprochen komisch.
Nach dem fulminanten Erfolg von »Die Tote am Watt« konnten es unzählige Krimifans kaum erwarten, mit Mamma Carlotta in den nächsten Sylt-Krimi zu starten. Bestsellerautorin Gisa Pauly hat ihnen den Gefallen gern getan und in »Gestrandet« einen besonders verzwickten Fall für die vorlaute Italienerin an der Nordsee konstruiert.
Als eine Frau ermordet wird und am versiegelten Tatort auch noch eine weitere Leiche auftaucht, muss Kommissar Erik Wolf sein ganzes Können als Ermittler aktivieren. Und vor allem die Nerven bewahren: Seine italienische Schwiegermutter ist mal wieder zu Besuch, erkennt in der zweiten Toten eine Reisebekanntschaft und mischt sich unverzüglich in die Ermittlungen ein.
Eine echte Geduldsprobe für Kommissar Wolf – und ein Heidenspaß für alle, die Regionalkrimis mit Herz, Verstand und Humor lieben.
»Gisa Pauly hat mit der redseligen Italienerin eine Sylter Prominente geschaffen, die vor Sympathie strotzt.« – Recklinghäuser Zeitung
Mamma Carlottas unverzüglicher Weg an die Spitze der Bestsellerlisten ist kein Zufall. Gisa Pauly hat viel Herzblut in die Erschaffung ihrer liebenswerten Nervensäge mit italienischen Wurzeln gesteckt und vermischt südländisches Feuer mit kühler Cosy Crime an der Nordsee.
Die Jagd nach dem Mörder wird mit Mamma Carlotta fast zur Nebensache
Seit mehr als 15 Jahren liefert Gisa Pauly mit ihren Regionalkrimis immer wieder Nachschub für eine riesige Lesergemeinde. Und es ist zum Glück kein Ende in Sicht.
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Mehrere Kapitel dieses Buches sind auf der Insel Juist entstanden, auf der ich zwei Wochen im Rahmen des Stipendiums "Tatort Töwerland" als Gast der Insel leben und arbeiten durfte. Ich danke der Jury und besonders Inka Extra, die mich in der Villa Charlotte gehegt und gepflegt hat.
Außerdem danke ich meinem Sohn Jan, der als Polizeibeamter auch diesmal dafür gesorgt hat, dass sich kein Ermittlungsfehler einschlich, und meiner Freundin Gisela Tinnermann, die geduldig alles gelesen hat, was ich ihr vorlegte.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
7. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-96080-9
© 2008 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München Umschlagabbildung: www.Epicimages.ie / Flickr / Getty Images (Hintergrund) und Laurence Ladougne / plainpicture (Beine) Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Carlotta Capella begann die zweite Reise ihres Lebens in strahlender Laune. Sie strahlte, als ihre Kinder sich mit sorgenvollen Gesichtern und langatmigen Ermahnungen von ihr verabschiedeten, sie strahlte, als ihre Enkel sie baten, mit vielen Geschichten zurückzukommen, und sie strahlte, während die gleichaltrigen Frauen ihres Dorfes ein letztes Mal ihre Zweifel an der Unternehmung vorbrachten. Sie strahlte sogar noch, als sie ihren Ältesten, der sie nach Rom zum Flughafen gebracht hatte, ein letztes Mal an sich drückte, und die Bodenstewardessen strahlte sie so lange an, bis eine von ihnen bereit war, sich anzuhören, wie Carlotta Capella in ihrem umbrischen Dorf aufgebrochen war, um die Familie ihrer verstorbenen Tochter zu besuchen: »Vor ein paar Monaten war ich schon einmal auf Sylt. Das war, als dort zwei grausame Morde geschahen. Terribile! Aber mein Schwiegersohn hat die Morde aufgeklärt.«
Eigentlich wollte Mamma Carlotta noch erwähnen, welche Rolle sie selbst bei der Ermittlungsarbeit gespielt hatte, aber leider kam es dazu nicht mehr, weil die Wartenden hinter ihr darauf drängten, auch endlich abgefertigt zu werden.
Als sie ihren Platz im Flugzeug einnahm, ging erneut ein Strahlen über ihr Gesicht. Denn sie stellte fest, dass ihre Sitznachbarin eine Frau in ihrem Alter war, und Carlotta Capella kannte keine Frau in den Fünfzigern, die nicht gerne plauderte oder sich durch die Plauderei einer anderen die Zeit vertreiben ließ. Jedenfalls war das in ihrem umbrischen Dorf so. Und die Erfahrung, dass diese Bereitschaft nördlich des italienischen Stiefels abnahm, hatte sie mittlerweile erfolgreich verdrängt. Was gab es Schöneres, als einer Reisebekanntschaft die eigene Familiengeschichte zu erzählen und zu erfahren, welches Glück und Leid eine andere Familie erlebt hatte?
Donata Zöllner hatte zunächst zurückhaltend auf Mamma Carlottas Freundlichkeit reagiert, taute dann aber allmählich auf. Vielleicht, weil sie erkannte, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. Sie würde sich anhören müssen, was Carlotta zu erzählen hatte, würde selbst wenig zu Wort kommen, und wenn das Flugzeug in Hamburg zur Landung ansetzte, viel mehr erfahren haben, als sie wissen wollte.
Genau so kam es. Carlotta Capella erzählte von ihren sieben Kindern, den Schwieger- und Enkelkindern, von ihrem armen Dino, der zwanzig Jahre lang ein Pflegefall gewesen war, bis der Himmel ein Einsehen gehabt und ihn zu sich genommen hatte, von ihrer Tochter Lucia, die in der Nähe von Niebüll einem Autounfall zum Opfer gefallen war, von den armen Halbwaisen, die sie hinterlassen hatte, und dem bewundernswerten Schwiegersohn, der die Sylter Verbrecher das Fürchten lehrte.
Als der Flug zur Hälfte vorbei war, machte Donata Zöllner einen etwas erschöpften Eindruck. Daraufhin beschloss Carlotta, die Rolle der Erzählerin mit der der Zuhörerin zu vertauschen. »Wollen Sie in Hamburg Verwandte besuchen?«
Donata Zöllner zögerte. »Ich bleibe nicht in Hamburg«, sagte sie dann. »Ich werde mit dem Zug nach Sylt weiterfahren.«
»Wir haben dasselbe Ziel? Das ist ja … portentoso! Einfach herrlich!« Dann erkundigte Carlotta sich, ob Donata ganz allein Urlaub auf Sylt machen würde.
»Ich will keinen Urlaub machen, sondern auf Sylt eine alte Bekannte besuchen«, erwiderte Donata Zöllner lächelnd. »Ich habe sie sehr lange nicht gesehen.«
Mamma Carlotta war entzückt. Eine alte Bekanntschaft aufleben zu lassen, das war ja noch interessanter, als eine Freundschaft über Jahrzehnte zu bewahren. »Wie wunderbar!« Und als sie hörte, dass Donata Zöllner ihre Freundin Magdalena im zarten Alter von sechzehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen. »Benissimo! Hoffentlich werden Sie sich überhaupt wiedererkennen.«
Erik Wolf trat von einem Bein aufs andere. Er fühlte sich unwohl, und das gleich aus mehreren Gründen. Ein multiples Unbehagen, das seine Mundwinkel nach unten zog und in seine Stirn zwei senkrechte Falten grub. Ich will hier weg!, dachte er. Ich will meine Ruhe!
Menschenansammlungen waren ihm verhasst, grelle Lautsprecherdurchsagen, eilige, nervöse, unbeherrschte Zeitgenossen ebenfalls. Überdimensionierte Räume konnte er nicht leiden, hochglänzende Fußböden machten ihm Angst, und beim Anblick landender und startender Flugzeuge schmerzte ihn die Sehnsucht nach seiner Insel, nach seinem kleinen Haus, nach den knarrenden Fußböden und den klappernden Fensterläden so sehr, dass er glaubte, es nicht aushalten zu können.
Als er seine Schwiegermutter von Weitem sah, seufzte er und richtete sich mühsam auf. Er war nicht überrascht, als sie an der Seite einer Dame in die Ankunftshalle trat, mit der sie in ein inniges Gespräch vertieft war. Mamma Carlotta und ihre Freude am Erzählen, er kannte es zur Genüge! Er brauchte nur an ihren ersten Aufenthalt in Wenningstedt zu denken. Seine Schwiegermutter hatte während der beiden Wochen mehr Bekanntschaften gemacht als er selbst in zwei Jahren. Die Kassiererin von Feinkost Meyer hatte noch gestern nach ihr gefragt, und der Bäcker, bei dem Erik seine Brötchen kaufte, ließ jedes Mal Grüße an sie ausrichten.
Er beobachtete ihre großen Gesten, die jeden Norddeutschen befremdeten, runzelte die Stirn beim Anblick ihrer vibrierenden Löckchen und litt einen winzigen Augenblick an der Frage, ob auch Lucia sich unter der Witwenschaft derart entfaltet hätte, wenn nicht sie, sondern er das Opfer dieses schrecklichen Autounfalls geworden wäre.
Erik versuchte den bedrückenden Gedanken abzuschütteln. Nein, nicht an Lucia denken! Es war schwer genug, dass sie in den folgenden zwei Wochen fast so nah sein würde wie unmittelbar nach ihrem Tod. Die mühsam verheilte Wunde würde wieder aufbrechen, wenn Erik in Carlottas Augen sah, die die gleiche Farbe hatten wie Lucias, wenn er Carlottas Grübchen sah, an denen er sich bei Lucia nicht hatte sattsehen können, wenn er die helle Stimme seiner Schwiegermutter hörte und das Lachen, das dunkel und rau war. Genau wie bei Lucia.
Mürrisch sah er Carlotta entgegen. Die italienische Mamma, die er früher gekannt hatte, in ihrer schwarzen Kleidung, mit dem pflegeleichten Haarknoten, in ihrer Umgebung, in der schnelles und lautes Reden nicht unangenehm auffiel, hätte er unbefangener willkommen geheißen als diese aufgeblühte Witwe, die Lippenstift und Lockenstab im Gepäck hatte, ein längs gestreiftes Kleid trug, als wäre es ihr wichtig, die Figur zu strecken, und über der Schulter einen kleinen Lederrucksack.
Er seufzte, als sie strahlend auf ihn zukam, und seufzte noch einmal, als sie die Arme öffnete und schon zehn Meter bevor sie ihn erreichte mit den Händen wedelte, als wollte sie ihn in ihre Umarmung locken. »Enrico!«
Dass er sich nicht locken ließ, verstand sich von selbst. Aber dass er trotzdem an ihre Brust gezerrt wurde, leider auch.
Als er sich Mamma Carlottas Begleitung zuwandte, hatte er das unangenehme Gefühl, dass seine Schwiegermutter seinem Gesicht das Muster ihres Kleides aufgedrückt hatte.
Donata Zöllner, die ihm von seiner Schwiegermutter begeistert vorgestellt wurde, erwies sich zum Glück als angenehm wortkarg. So hatte Erik nichts dagegen, sie in seinem Wagen mit nach Sylt zu nehmen. Mamma Carlotta schien großen Wert darauf zu legen, ihrer Reisebekanntschaft diese Gefälligkeit zu erweisen, und ihm war es lieb, denn Donata Zöllner würde ihm einen Teil der anstrengenden Konversation abnehmen. Das konnte nur von Vorteil sein.
Dass diese elegante, sehr distinguiert wirkende Frau wusste, worauf sie sich einließ, setzte er voraus. Wenn sie nach dem gemeinsam verbrachten Flug nichts dagegen hatte, das Zusammensein mit Carlotta Capella zu verlängern, gehörte sie wohl zu denen, die sich an lärmender Unterhaltung erfreuten und nichts dabei fanden, etwas über den Lebenslauf eines italienischen Weinbauern zu erfahren, der siebzehn Kinder von drei Frauen hatte, oder eines Dorfgeistlichen, der den Messwein selbst trank und den Gläubigen Apfelsaft unterschob.
Donata Zöllner schien es sogar zu genießen. Erik warf gelegentlich einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass das Lächeln in ihrem Gesicht selbst in Niebüll noch nicht verschwunden war.
Vor der Verladerampe schlossen sie sich einer langen Autoschlange an und warteten auf den Zug, der sie über den Hindenburgdamm nach Sylt bringen sollte. Sie stiegen aus, um während des Wartens die Luft und die Sonne zu genießen. Dichte Wolken zogen über den Himmel, tief hingen sie, aber sie waren nicht bedrohlich. Hell und bauschig wie dicke Zuckerwatte sahen sie aus, wie Schaumberge in der Badewanne.
»Ein schöner Himmel! Nicht so ein langweiliges Blau wie in Italia«, stellte Mama Carlotta fest.
Erik schenkte ihr ein erstes warmes Lächeln. Dass sie im kalten Norden etwas fand, was dem sonnigen Süden überlegen war, ließ ihn hoffen.
»Warum haben Sie ausgerechnet das Hotel Feddersen gebucht?«, fragte er Donata Zöllner, während Mamma Carlotta sich mit einem älteren Ehepaar bekannt machte, das ihren italienischen Akzent bemerkt und vor Kurzem Urlaub in Umbrien gemacht hatte. »Waren die guten Häuser schon besetzt?«
Obwohl Erik von eleganter Kleidung nicht viel verstand, hatte er doch gleich erkannt, dass das helle Kostüm, das Donata Zöllner trug, teuer gewesen war und ihr Schmuck und ihre Handtasche vermutlich so viel wert waren wie sein alter Ford.
»Ich habe es in den guten Häusern nicht versucht«, entgegnete Donata leise, als schämte sie sich ihrer schlechten Wahl.
»Ja, in der Hauptsaison ist es schwierig«, gab Erik zurück und blickte in den Himmel, als wollte er sich vergewissern, dass das Wetter dem Juli Ehre machte. In Wirklichkeit jedoch sah er immer in den Himmel, wenn er in Niebüll auf den Autozug wartete. Auf dieser Geraden, die zum Horizont führte, konnte er seine Insel bereits erahnen. Und er genoss es, den Möwen nachzublicken, die das gleiche Ziel hatten, aber vor ihm da sein würden.
»Ob das Hotel Feddersen das Richtige für Sie ist …?« Er vollendete den Satz nicht.
Mamma Carlotta stellte gerade fest, dass das Ehepaar auf seiner Umbrienreise in einem Ort übernachtet hatte, in dem ihre Großcousine väterlicherseits wohnte. Grund genug, vor lauter Freude noch schneller zu reden und noch größere Gesten in die Luft zu schreiben.
Donata Zöllner lächelte, als wollte sie Erik verzeihen, dass er sie für eine Frau hielt, für die das Beste gerade gut genug war. Aber ihr Lächeln zeigte auch, dass er recht gehabt hatte. »Ich bleibe ja nur ein paar Tage«, meinte sie. »Es wäre unhöflich gewesen, woanders zu wohnen. Ich fahre nach Sylt, um meine alte Freundin Magdalena zu besuchen. Ihr Neffe ist der Besitzer des Hotels Feddersen.«
»Magdalena Feddersen?« Jetzt ging es Erik beinahe so wie seiner Schwiegermutter, die vor Freude außer Rand und Band war, wenn sie jemanden kennenlernte, der einen anderen kannte, der wiederum mit jemandem verwandt war, den Carlotta kannte. Aber natürlich äußerte sich Eriks Freude anders: Er lächelte und strich seinen Schnurrbart glatt, sein Höchstmaß an sichtbarer emotionaler Bewegung. »Ich kenne sie recht gut. Auch ihren Neffen und seine Frau.«
»Magdalena hat Glück gehabt«, sagte Donata. »Sie ist auf dem Aktienmarkt reich geworden.«
»Stimmt, 1997 war das, glaube ich. Da setzte plötzlich alle Welt auf den Neuen Markt. Ein paar, die es richtig gemacht haben, sind Millionäre geworden, andere haben viel oder sogar alles verloren.«
Donata Zöllner nickte. »Magdalena hat klug investiert und rechtzeitig wieder verkauft.«
»Ihr Neffe leider nicht«, ergänzte Erik. »Mathis hat damals alles verloren. Seitdem geht sein Hotel den Bach runter. Er müsste renovieren und investieren. Aber wovon?«
Donata nickte. »Magdalena hat mir am Telefon davon erzählt. Noch kurz vor dem großen Crash hatte sie ihren Neffen beschworen, seine Aktien zu verkaufen. Aber er wollte nicht auf sie hören. Er glaubte, die Kurse würden bald wieder anziehen.«
Erik warf seiner Schwiegermutter einen nervösen Blick zu. Aber die hatte gerade die Entdeckung gemacht, dass das Ehepaar in seinem Urlaub sogar in der Trattoria gegessen hatte, die der Mann ihrer Großcousine mit Gemüse belieferte. Darüber hatte sie ihren Schwiegersohn vergessen und ihn einer Konversation überlassen, die ihn anstrengte.
Er redete nicht gern mit Zufallsbekanntschaften, erzählte ungern von sich und wollte von fremden Intimitäten nichts wissen. Aber da er Donata sympathisch fand, gab er sich Mühe. »Haben Sie Ihre Freundin lange nicht getroffen?«, erkundigte er sich.
»Wir waren noch sehr jung, als wir uns das letzte Mal sahen«, antwortete Donata und sah lange einer Möwe nach, die ihre Flügel spreizte und sich auf den Wind legte. »Und die Umstände waren nicht gerade erfreulich. Aber das war in einem anderen Leben …«
Die Möwe war längst zu einem winzigen Punkt am Himmel geworden, Teil eines Schwarms anderer winziger Punkte. Aber Donata starrte trotzdem noch hinauf. Sie ließ sogar zu, dass ihre sorgfältig frisierten Haare von einem frechen Windstoß aus der Form gebracht wurden.
Erik beobachtete, wie seine Schwiegermutter mit dem Austausch von Adressen eine gerade mal neun Minuten alte Bekanntschaft besiegelte. »Du kennst diese Leute doch gar nicht«, brummte er in Mamma Carlottas Strahlen hinein.
Aber ihr Strahlen verlor keinen einzigen Funken. »Sie werden mich besuchen, wenn sie noch einmal nach Umbrien kommen.«
Erik warf Donata Zöllner einen Blick zu, in der Hoffnung, in ihren Augen ein kleines Lächeln zu finden, das sie in der Beurteilung italienischer Lebensart zu seiner Komplizin machte. Aber Donata sah erneut in den Himmel, als wollte sie von nun an trotz der Gesellschaft ihrer Reisebegleiter allein bleiben.
Dann kamen einige der Autofahrer aus dem Bistro, und schon rumpelten die ersten Wagen auf den Autozug. Donata wühlte in ihrer Tasche herum, bis sie fand, was sie suchte: ein Buch, das sie aufschlug, kaum dass sie sich im Fond des Wagens niedergelassen hatte. Erik sah ungläubig in den Rückspiegel. Sie wollte lesen, während der Sylt-Shuttle dem Meer entgegenfuhr? Während die würzige Nordseeluft durchs geöffnete Fenster drang? Während der Zug gemächlich in See stach, verfolgt von kreischenden Möwen?
Ja, sie tat es wirklich. Und damit verlor sie einen Teil der Sympathie, die Erik ihr entgegengebracht hatte. Seiner Schwiegermutter hätte er nachsehen können, wenn sie angesichts des Friedens, der über dem Watt lag, in laute Verzückung ausgebrochen wäre, statt still die Schönheit des Wattenmeeres zu genießen. Aber ungerührt die Seiten umblättern, während sich vor den Fenstern dieser Frieden ausdehnte? Nein, das war nicht zu entschuldigen.
Erik lächelte Mamma Carlotta an und bereute nun, dass er nicht mit ihr allein geblieben war. Sie erkannte wie er den Frieden, der über dem Watt lag, er spiegelte sich in ihren Augen. Sie genoss ihn und verzichtete sogar darauf, fröstelnd die Arme um den Oberkörper zu schlagen, weil die Sylter Sonne nur eine müde Verwandte jener Sonne war, die auf Umbrien hinabbrannte.
Mamma Carlotta verbrachte ihren ersten Tag auf Sylt in einem Wechselbad der Gefühle. Sie schäumte über vor Glück, als sie ihre beiden Enkelkinder in die Arme schließen konnte, und weinte, während sie alles betrachtete, was sie an Lucia erinnerte. Sie kniff in Carolins Wangen, damit sie ihre Blässe verloren, und zupfte ihre Haare aus dem Gummiband, damit sie locker auf Carolins Schultern fielen. »Ecco! So bist du noch hübscher!« Dann schob sie Felix’ Käppi in eine völlig uncoole Position und unternahm sogar den Versuch, seine Hose, deren Schrittnaht zwischen den Knien baumelte, in die Höhe zu ziehen. »Madonna! Warum straft mich der Himmel mit einem Enkelsohn, der aussieht wie ein Landstreicher?«
Felix genoss jeden einzelnen ihrer Gefühlsausbrüche, drehte den Schirm seines Käppis zurück und zog seine Hose wieder an den richtigen Platz. Carolin dagegen zwang ihre Haare in das Gummiband zurück und wandte sich ab, wenn ihre Nonna die Arme öffnete, um jedes Enkelkind zu umschlingen. Genau so hatte sie es gemacht, wenn die emotionalen Ausschweifungen ihrer Mutter sie bedrängt hatten. Während Felix sich auch als Vierzehnjähriger noch gerne herzen, küssen und mit vielen Kosenamen überschütten ließ, zog Carolin sich an die Seite ihres Vaters zurück und war zufrieden mit der Hand, die er ihr auf die Schulter legte.
Erik sah schon nach wenigen Stunden völlig entkräftet aus. Als Mamma Carlotta beschloss, einen Besuch an Lucias Grab zu machen, erklärte er hastig, er müsse im Kommissariat nach dem Rechten sehen. Doch kaum erwähnte seine Schwiegermutter, dass sie auf dem Rückweg vom Friedhof bei Feinkost Meyer fürs Abendessen einkaufen würde, versprach er, pünktlich zurück zu sein.
Das versicherte auch Felix, der zur Freude seiner Großmutter etwas angezogen hatte, was jedem Jungen gut stand, in Umbrien wie auf Sylt: ein Fußballtrikot.
»Ich bin Stürmer«, erzählte er stolz. »Und unser Trainer hat gesagt, ich könnte es noch weit bringen. Am Sonntag ist ein wichtiges Spiel, wir müssen jeden Tag trainieren.«
Als Erik nach Hause kam, war Mamma Carlottas Glück, zu dem unbedingt eine gehörige Portion Sentimentalität gehörte, vollkommen. Der Besuch an Lucias Grab hatte den Blick auf das Wunderbare gelenkt, das ihre Tochter hinterlassen hatte. Und während Carlotta Gemüse schnippelte, Fisch entgrätete und das Fleisch mit Knoblauch einrieb, war Lucia so gegenwärtig, dass das Glück, sie gehabt zu haben, das Unglück, sie verloren zu haben, erträglich machte.
Als sie am späten Abend ins Gästezimmer hinaufstieg, das einmal Lucias Nähzimmer gewesen war, konnte sie sich vor das Bild ihrer Tochter setzen, ohne zu weinen, konnte feststellen, wie ähnlich Felix seiner Mutter war, ohne zu seufzen, und Lucia sogar von ihren Sorgen erzählen, ohne dass ihre Stimme vor Empörung zitterte.
»Man muss ihn verstehen. Natürlich trauert er noch um dich, aber ist es nicht normal, dass ein Mann sich wieder nach der Nähe einer Frau sehnt?« Sie nahm das Bild ihrer Tochter in beide Hände und strich sanft über den Silberrahmen. »Aber doch nicht diese Frau! Du musst das verhindern, Lucia! Gib mir ein Zeichen, dass du dich darum kümmern wirst. Wenn die Wolken morgen früh tief hängen, dann weiß ich, dass du uns nahe bist. Dann kann ich sicher sein, dass du uns helfen wirst. Enrico darf sich nicht in diese Frau verlieben! Nicht in diese!«
Sie hatte es gleich gespürt. Für die Liebe hatte sie einen sechsten Sinn, das war in ihrem Dorf überall bekannt. Hatte sie nicht die Verlobung der hübschen Krankengymnastin mit dem Sohn des größten Weinbauern schon vorhergesagt, ehe die beiden sich selbst über ihre Gefühle klar geworden waren? Und die Affäre des Bäckers mit der Frau des Notars hatte sie auch bemerkt, lange bevor der Notar seine Frau zum Teufel jagte.
Als die blonde junge Frau mit dem schmalen, blassen Gesicht aus dem Hotel Feddersen trat, war eine Veränderung in Erik vorgegangen. So wie es bei dem Bäcker zu beobachten gewesen war, wenn die Frau des Notars bei ihm einkaufte. Winzig nur, aber Mamma Carlotta zögerte mit der Deutung dieser Nuancen keine Sekunde. Sie sah das sanfte Rot, das in Eriks Wangen stieg, bemerkte, wie er die Hände aus den Hosentaschen nahm und sich den Schnauzer glatt strich und dass er die Sonnenbrille, die er beim Autofahren getragen hatte, auf den Kopf schob, wie es der prahlerische junge Mann getan hatte, der in einem schwarzen Cabrio an ihnen vorbeigebraust war. Und dann begrüßte Erik die junge Frau mit einem Lächeln, das Carlotta erst ein einziges Mal an ihrem Schwiegersohn gesehen hatte. Damals, als er in ihr Dorf gekommen war und ihre Tochter Lucia zum ersten Mal erblickt hatte …
Mamma Carlotta war fassungslos, als sich herausstellte, dass sie Valerie Feddersen vor sich hatte, die Frau des Hotelbesitzers. Wie konnte Erik sich in eine verheiratete Frau verlieben! Carlotta nahm sich vor, ihm bei nächster Gelegenheit ins Gewissen zu reden. Andererseits – war ihm überhaupt klar, was mit ihm geschah? Oder hatte er bisher nicht mehr als eine wundersame Anziehungskraft gespürt, ohne zu ahnen, welches Gefühl dahintersteckte? Dann war es falsch, ihn darauf hinzuweisen und ihn womöglich zu nötigen, Stellung zu beziehen. Nein, besser war es wahrscheinlich, erst einmal abzuwarten und den Schwiegersohn genau zu beobachten.
Mit der gebührenden Schroffheit begrüßte Mamma Carlotta Valerie Feddersen und wurde erst zugänglicher, als sie hörte, dass sie mit Lucia befreundet gewesen war.
»Lucia, Angela und ich wollten einmal gemeinsam in Umbrien Urlaub machen. Aber dann wurde Angelas Vater krank, und so wurde nichts daraus.«
Mamma Carlotta erinnerte sich. Damals hatte sie sich über diese Pläne gefreut, heute war sie froh, dass sie nicht eine Frau bei sich beherbergt hatte, die ihrem Schwiegersohn Jahre später den Kopf verdrehen würde.
Erik zeigte auf die Tasche, die Valerie in der Hand hielt. »Willst du verreisen?«
»Nur bis morgen«, lächelte sie. »Ich werde nach Niebüll fahren, Angela hat Musicalkarten.« Lächelnd wandte sie sich an Mamma Carlotta. »Angela Reitz, Sie erinnern sich? Sie war es, die mit Lucia und mir nach Umbrien fahren wollte.«
Mamma Carlotta nickte gnädig und betrachtete Valerie, die gar nicht bemerkte, welches Interesse sie erregte. Lediglich Erik sah ein paarmal nervös zu seiner Schwiegermutter. Entweder beunruhigte ihn ihre ungewöhnliche Schweigsamkeit oder der scharfe Blick, mit dem sie Valerie musterte.
»Dann wirst du sicherlich über Nacht in Niebüll bleiben«, meinte er.
»Natürlich«, gab Valerie zurück. »Ich schlafe bei Angela. Morgen Vormittag komme ich zurück.«
Valerie ging auf den rostroten Golf zu, an dessen Heck ein Abziehbild klebte: Bochum, ich komm aus dir! Sie war sehr hübsch mit ihrer schlanken, biegsamen Figur, den langen, blonden Haaren, die glatt und glänzend auf ihren Rücken fielen. Natürlich nicht so hübsch wie Lucia, ergänzte Carlotta heimlich, aber Valeries hellblaue Augen waren sicherlich nicht weniger ausdrucksvoll als Lucias, die Erik liebevoll »Brombeerlichter« genannt hatte.
Donata Zöllner erschien plötzlich hinter ihnen. »Ich habe eingecheckt und werde jetzt mein Zimmer beziehen«, sagte sie und streckte Erik die Hand hin. »Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.« Mamma Carlotta reichte sie das Buch, das sie während der Fahrt im Autozug zu Ende gelesen hatte. »Ich leihe es Ihnen. Ein Roman von Gero Fürst, sehr spannend. Erst ganz am Ende begreift der Leser den Zusammenhang zwischen der Haupthandlung und den Nebenhandlungen.«
»Haupt- und Nebenhandlungen?«, wiederholte Carlotta ehrfürchtig, dann nahm sie das Buch freudestrahlend entgegen, und als Donata in Aussicht stellte, einen der nächsten Tage gemeinsam zu verbringen, kannte ihr Glück keine Grenzen.
»Ich werde Sie anrufen«, sagte Donata Zöllner und ging ins Hotel zurück.
»Eigentlich wollte ich Mathis noch begrüßen«, murmelte Erik. Aber dann zog er seine Schwiegermutter zu seinem Wagen. »Das ist nicht so wichtig.«
Der rostrote Golf verschwand gerade um die Ecke, als ein etwa zwölfjähriger Junge aus dem Hotel gelaufen kam. »Mama!«, rief er und sah sich suchend um.
Erik winkte ihm zu. »Deine Mutter ist schon weg, Ole.«
Der Junge winkte zurück, dann senkte er den Kopf und ging enttäuscht ins Hotel zurück.
Mamma Carlotta sah ihren Schwiegersohn vorwurfsvoll an. Das wurde ja immer schöner! Nicht nur, dass diese Frau verheiratet war, sie war sogar Mutter eines Sohnes! Dio mio! In den beiden Wochen, die vor ihr lagen, würde es viel zu tun geben.
Die Tür öffnete sich lautlos. Carolin erschien im Raum, so leise, dass Mamma Carlotta zusammenzuckte, als ihre Enkelin plötzlich neben ihr stand.
»Carolina! Du schläfst noch nicht?«
Carolin schüttelte den Kopf. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Sie hielt ihrer Großmutter ein Blatt hin, das dicht beschrieben war.
»Was ist das?«, fragte Mamma Carlotta erstaunt.
»Eine Kurzgeschichte«, flüsterte Carolin, als hätte sie Angst, dieses Wort laut auszusprechen. Und noch leiser fügte sie an: »Ich habe sie selbst geschrieben.«
Mamma Carlotta erstarrte. Und wie immer, wenn sie intellektuellen Kräften gegenüberstand, verstummte sie vor Erfurcht. Zumindest für einige Augenblicke.
»Du willst nicht mehr Lehrerin werden?«, brachte sie schließlich hervor.
Carolin schüttelte den Kopf. »Schriftstellerin will ich werden. Ich habe mich auch für einen Ferienkurs in kreativem Schreiben angemeldet. Ein richtiges Buch will ich schreiben, ein ganz dickes.« Und mit kräftiger Stimme ergänzte sie: »Ich schaffe das.«
»Glaubst du wirklich?« Mamma Carlotta, die ihre sämtlichen Enkelkinder für außerordentlich begabt hielt und ihnen alles zutraute, versagte angesichts dieser Pläne der Optimismus. »Ein ganzes Buch! Mit zweihundert oder dreihundert Seiten oder sogar noch mehr! Und auf jeder Seite müssen viele kluge Gedanken stehen.« Sie erinnerte sich an das, was Donata Zöllner ihr gesagt hatte. »Und du musst etwas von den Haupt- und Nebenhandlungen wissen.« Sie wies auf das Buch, das neben ihrem Bett darauf wartete, sie literarisch zu erbauen. »Sieh mal, diesen Roman hat mir meine Reisebekanntschaft geliehen.«
Carolin griff danach. Ihre Augen leuchteten, als wollte sie beweisen, dass tatsächlich ein italienisches Erbe in ihr schlummerte. »Gero Fürst ist mein Lieblingsautor.« Sie setzte sich zu ihrer Großmutter und schien nicht zu merken, dass ihr erneut das Haar aus dem Gummiband gezogen wurde. »Er ist gelegentlich auf Sylt, wusstest du das? Er hat hier ein kleines Haus, in das er sich zurückzieht, wenn er an einem Roman arbeitet.« Carolins Blick heftete sich auf das Foto ihrer Mutter. »Mama hat auch so gern Bücher von Gero Fürst gelesen.«
Erik erwachte, als der Wind die Gardine ins Zimmer bauschte, die sich am Fenstergriff verfing und einen wilden Tanz mit dem Sonnenlicht begann. Er rieb sich die Augen, dann drehte er sich zur Wand und versuchte, das Helle, das durch die geschlossenen Lider drang, zu ignorieren. Aber er spürte schon bald, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Die Luft, die ins Zimmer drang, roch nach Sommer und Sonne und nach dem salzigen Wind, der sich frühmorgens am Meer aufmachte und den neuen Tag auf die Insel trug. Sie roch sogar schon nach Fischlieferungen, Backstuben und nach …
Erik richtete sich auf. Ja, sie roch auch nach Kaffee! Er sah auf die Uhr, es war kurz vor sieben. Mamma Carlotta war schon auf den Beinen? Deprimiert ließ er sich zurücksinken. Er selbst hatte immer zwei Tage gebraucht, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen, wenn er mit Lucia und den Kindern einen Besuch in Umbrien gemacht hatte. Und er war fünfzehn Jahre jünger als seine Schwiegermutter!
Mühsam rappelte er sich auf. Es war immer das Gleiche! In Mamma Carlottas Gegenwart fühlte er sich alt, unbeweglich und fade. Vielleicht war das der Grund, warum er so ungern nach Umbrien gefahren war? Wenn Lucia die Koffer packte, hatte er manchmal heimlich gehofft, ein Mord auf der Insel könnte seinen Italienurlaub abwenden. Aber niemals hatte es auch nur das kleinste Kapitalverbrechen gegeben, wenn Lucia beschloss, mit ihm in ihre Heimat zu reisen.
Er stellte den Wecker ab, noch bevor er klingeln konnte. Warum nur hatte er so schlecht geschlafen? Die Antwort fiel ihm ein, als er einen Blick aus dem Fenster warf. Bei seinen Nachbarn war in der Nacht eine laute Party gefeiert worden. Das Ehepaar Kemmertöns hatte im letzten Winter die Garage ausgebaut und daraus zwei weitere Ferienwohnungen gemacht. Mit Gartenbenutzung! So stand es auf dem Schild, das sie am Straßenrand aufgestellt hatten. Und die Touristen, die zurzeit dort Urlaub machten, nutzten den Garten ausgiebig. Vor allem nachts, wenn der werktätige Sylter seine Ruhe haben wollte.
»Wäre die Hauptsaison doch endlich vorbei!«, knurrte Erik, als er sich auf den Weg ins Bad machte.
Besonders die Stimme einer Frau hatte ihm den Schlaf geraubt. Eine Stimme mit italienischem Akzent, die oft minutenlang allein zu hören gewesen war. Einschläfernd und deswegen einigermaßen erträglich. Aber nach diesen Minuten hatte regelmäßig donnerndes Gelächter eingesetzt, sodass Erik froh gewesen war, als ein lautes »Ciao!« und »Buona notte!« zu hören und endlich Ruhe gewesen war. Diese Italienerinnen! Anscheinend waren sie alle gleich. Lucia hatte auch gern die Nacht zum Tage gemacht. Und er hatte ihr oft vorgehalten, dass sie nachts noch schneller redete als tagsüber.
Auf einmal hörte er das Telefon schrillen. Ein Anruf um diese Zeit? Das konnte mehrere Gründe haben: Jemand hatte sich verwählt, auf Sylt war ein schweres Verbrechen oder in Umbrien etwas Spektakuläres geschehen. Wenn dort ein Sturm die Feigenernte bedrohte, wenn ein Tourist die Zimmerrechnung nicht bezahlte oder ein Gewitter den Pfarrer erschreckte, sodass er mitten in der Nacht die Kirchturmglocke in Gang setzte, dann mussten die Mitglieder der Familie Capella, die fern von Umbrien lebten, darüber in Kenntnis gesetzt werden. Und zwar sofort! Man konnte sich eigentlich glücklich schätzen, dass die italienische Offensive sich bis sieben Uhr morgens Zeit gelassen hatte.
Aber er hatte sich geirrt. »Sören!«, hörte er seine Schwiegermutter rufen, die den Anruf entgegengenommen hatte. »Sie kommen zum Frühstück? Ich werde gleich zum Bäcker laufen und Panini kaufen. Soll ich Konfitüre für Sie besorgen? Mortadella und Parmaschinken? Keine Widerrede!«
Die Kinder würden heute ihren Wecker nicht nötig haben. So wie in Umbrien an Ausschlafen nicht zu denken war, wenn auch nur ein einziges Mitglied der Familie Capella im Haus war, würde es auch hier keine morgendliche Ruhe geben, wenn Mamma Carlotta jemanden fand, mit dem sie reden konnte. Und sollte partout niemand in ihrer Nähe auftauchen wollen, würde sie so lange mit dem Geschirr klappern, bis einer kam, der sie fragte, warum sie einen solchen Lärm machte.
»Was wollte Sören?«, rief Erik die Treppe hinab.
»Bescheid sagen, dass er dich abholt«, schallte es zurück.
»Bescheid sagen, dass er bei uns frühstücken will«, korrigierte Erik brummend. Es konnte ja niemand sehen, dass er lächelte, dass er sich darauf freute, in eine Küche zu kommen, in der jeder Stuhl besetzt war, in der geredet und gelacht wurde, in der die Behaglichkeit duftete.
Mamma Carlotta stellte so geräuschlos wie möglich das Geschirr zusammen. Nur gut, dass sie eine Kopfschmerztablette im Badezimmerschrank gefunden hatte! Und gut, dass sie mit dem Espresso beschäftigt gewesen war, als Erik über den Lärm in Kemmertöns’ Garten geschimpft hatte. So brauchte sie ihn nicht anzusehen, als er von einer Italienerin sprach, die ganz maßgeblich an dem ruhestörenden Lärm beteiligt gewesen war.
Eigentlich hatte sie ja gar nicht die Absicht gehabt, sich zu Kemmertöns’ Feriengästen zu gesellen. Es hatte sich einfach so ergeben. Rein zufällig war sie noch einmal in den Garten gegangen, um ein wenig von der frischen Luft zu schöpfen. Auf Sylt war sie so herrlich erquickend, ganz anders als die Abendluft in Umbrien, die nach dem Gras roch, das die Sonne verbrannt hatte. Und während sie am Zaun entlangspazierte, hatte sie einen friesischen Witz gehört, der sie so amüsierte, dass sie sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Dadurch waren die Feriengäste auf sie aufmerksam geworden, und sie hatte sich für ihr unfreiwilliges Lauschen mit einem italienischen Witz entschuldigt. Hätte sie ablehnen sollen, als man sie daraufhin herüberbat? In ihrem Alter kam man mit wenig Schlaf aus. Aber wie lange dauerte es eigentlich, bis so eine Kopfschmerztablette ihre Wirkung entfaltete?
Sie brauchte frische Luft und beschloss, sich auf den Weg ans Meer zu machen. Dort würde es ihr bald besser gehen. Fietje Tiensch würde in seinem Strandwärterhaus am Ende der Seestraße sitzen und sich freuen, Mamma Carlotta wiederzusehen. Und gegen Mittag würde Tove Griess seine Imbissstube geöffnet haben. Wenn er noch immer den Rotwein aus Montepulciano ausschenkte, sollte sie unbedingt überprüfen, ob er im Juli genauso gut schmeckte wie im April. Außerdem hatte sie in der vergangenen Nacht gelernt, dass ein Kater am besten zu bekämpfen war, wenn man nach dem Aufwachen mit der Sorte Alkohol weitermachte, mit der man in der Nacht aufgehört hatte.
Sie ging auf die Terrasse, hielt ihr Gesicht in die Sonne und stellte fest, dass ein Hochsommertag auf Sylt so anfing wie die allerersten Frühlingstage in Umbrien. Prickelnd wie frisch eingeschenkter Sekt, mit einer Sonne, die auf der Haut perlte. Mamma Carlotta hatte gerade ihre Strickjacke übergezogen, als das Telefon klingelte. Donata Zöllner war am Apparat.
»Was für eine Überraschung!« Mamma Carlotta war begeistert.
»Wie wär’s mit einem Frühstück im Café Lindow?«, fragte Donata. »Da ist es in der Hauptsaison ruhiger als im Kliffkieker oder im Meeresblick.«
»Sehr gerne!« Mamma Carlotta war entzückt. »Aber wollten Sie heute nicht Ihre Freundin besuchen, die Sie so lange nicht gesehen haben?«
»Das hat Zeit bis heute Nachmittag«, gab Donata zurück. »Magdalena ist eine Langschläferin. Ich habe gerade bei ihr angerufen, aber sie hat nicht mal abgenommen.«
Dann beschrieb sie den Weg zum Café Lindow und erklärte, dass sie um halb zehn dortsein würde. Fünf Minuten später hatte Mamma Carlotta Lucias Fahrradschlüssel gefunden, saß sechs Minuten später auf dem Sattel und bog in die Westerlandstraße ein. Es war noch genug Zeit, um das Meer und den Strand zu begrüßen.
Sie bog in die Seestraße ein und fuhr geradewegs auf das Meer zu. Der Strand unterhalb des Kliffs war erst zu sehen, wenn man an Fietjes Strandwärterhaus angekommen war. Mamma Carlotta trat kräftig in die Pedale, die Weite beschwingte sie. Das Gefühl, direkt in den Himmel zu radeln, vermittelte eine Freiheit, die der Gegenwind ihr nicht nehmen konnte.
Voller Bedauern stellte sie fest, dass das Strandwärterhaus leer war. Fietje war anscheinend unterwegs, um am Strand nach dem Rechten zu sehen. Mamma Carlotta stellte sich an die Brüstung der hohen Treppe, sah über das Meer und über den Strand. Fietje würde sie später begrüßen.
Sie wickelte die Strickjacke um ihren Körper und bestaunte die Feriengäste, die sich in Badekleidung an ihr vorbeidrängten. Im Gegensatz zu Mamma Carlotta hatte keiner von ihnen eine Gänsehaut. Inzwischen hatte sich Sonne hinter tief hängenden Wolken verborgen, die in transparenten Fetzen aufs Festland zutrieben. Vor zwei Stunden noch war die Bläue nur von ein paar milchigen Schlieren überzogen gewesen, jetzt jedoch plusterte der Himmel sich auf, die Wolken gaben mit dicken Backen den Ton an.
Mamma Carlotta lächelte in den Himmel hinein. Lucia war ihr nahe, sie hatte das Zeichen gegeben, um das ihre Mutter gebeten hatte. Auch Lucia wollte nicht, dass Erik sich in Valerie Feddersen verliebte. Sie würde dabei helfen, dass er, wenn es schon sein musste, sich in eine Frau verliebte, die frei für ihn war. Besser aber, er ließ es ganz.
Es war zwanzig nach neun. Mamma Carlotta überholte Donata Zöllner, die zu Fuß unterwegs war, sprang vom Fahrrad und ging die letzten Meter neben Donata her.
»Nun müssen Sie mir endlich von Ihrer Familie erzählen«, meinte sie ungeduldig.
Doch Donata ließ sich Zeit mit der Antwort, bis sie im Café Platz genommen und ihr Frühstück bestellt hatten. Zunächst fragte sie: »Wieso sprechen Sie eigentlich so gut Deutsch?«
Mamma Carlotta berichtete ausführlich, dass sie von ihrer Enkelin, als diese noch Lehrerin werden wollte, unterrichtet worden war, dass sie mit ihrer Tochter Lucia viel Deutsch gesprochen hatte, um zu üben, und mit ihrer Nachbarin ebenfalls, die eine gebürtige Deutsche war. Dann wiederholte sie ihre Frage nach Donata Zöllners Familie.
»Mein Mann ist viel unterwegs.«
»Und Ihre Kinder? Sind sie wohlgeraten? Und was ist mit Enkelkindern?« Als sie sah, dass Donatas Augen sich verdunkelten und ihr Gesicht traurig wurde, ahnte sie, was kommen würde.
»Ich hatte nur ein Kind, meinen Sohn Manuel«, begann sie mit leiser Stimme zu erzählen. Ein Sorgenkind sei er gewesen, zunächst von schwacher Gesundheit, später auch von schwachem Ehrgeiz und schwacher Entschlusskraft. Er habe die Schule hingeworfen, die Beziehungen seines Vaters genutzt, habe sich mal hier und mal dort anstellen lassen, es aber nirgendwo lange ausgehalten. »Er versuchte alles Mögliche, aber nichts machte ihm Spaß«, seufzte Donata Zöllner.
Auf Carlottas Frage, wovon er gelebt hatte, wich sie aus, indem sie von Manuels Eheschließung erzählte. »Seine Frau war nicht die Richtige für ihn, das wusste ich gleich.« So war die Hochzeitsfeier kein rechtes Freudenfest geworden, und wie die Mutter es vorausgesagt hatte, geriet die junge Ehe schon bald in eine Krise. Verlegen gab Donata zu, dass daran allerdings nicht die Schwiegertochter, sondern ihr Sohn schuld gewesen sei. »Er hatte eine Affäre, und seine Frau kam dahinter. Sie können sich vorstellen, dass sie nicht begeistert war.«
Oh ja, das konnte Mamma Carlotta sich vorstellen. Schließlich hatte es so etwas auch in ihrem Dorf gegeben. »Ein Carabiniere aus Perugia machte Urlaub in unserer Gegend. Anscheinend brauchte er ein bisschen Amore, um sich zu erholen.« Und da der Klavierlehrerin gerade einige Schüler wegen einer Masernepidemie ausgefallen waren, hatte sie viel Zeit und der Carabiniere leichtes Spiel gehabt. »War das ein Theater, als der Ehemann später von den Nachbarn alles erzählt bekam!«
»Ja, so ähnlich war es bei Manuel und seiner Frau auch«, meinte Donata. »Sie hat ihm eine schreckliche Szene gemacht und ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Aber ihm fiel die Entscheidung schwer, er brauchte erst mal Abstand. Sowohl von seiner Frau als auch von seiner Geliebten.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Beruflich hatte er auch große Schwierigkeiten zu dieser Zeit. Er wollte weg! Nichts mehr sehen von seiner kaputten Ehe, nichts hören von den Forderungen seiner Geliebten und die Augen verschließen vor den beruflichen Problemen. Also beschloss er, zusammen mit einem Freund ein paar Tage Urlaub zu machen. Das war 1999.« Die Tränen traten ihr in die Augen, als sie ergänzte: »Ich habe ihm sogar noch zugeredet. Die beiden wollten ins Aostatal, ich war davon überzeugt, dass Manuel sich dort gut erholen würde. Wir hatten oft gemeinsam dort Urlaub gemacht. Als kleiner Junge hat Manuel die Fahrt durch den Montblanc-Tunnel genossen. Wer konnte ahnen, dass gerade dort …« Donata versagte die Stimme. Sie griff nach ihrer Serviette und tupfte sich die Augen.
Mamma Carlotta starrte sie mit offenem Mund an. »1999? Der Montblanc-Tunnel? Dio mio!«
Obwohl es schon lange her war, konnte sie sich gut an die Fernsehberichte über das Inferno im Montblanc-Tunnel erinnern. Ein mit Margarine und Mehl beladener Laster war in der Mitte des Tunnels in Brand geraten, das Feuer hatte sich in rasender Geschwindigkeit ausgebreitet, giftige Dämpfe und eine unvorstellbare Hitze hatten das sofortige Eingreifen der Feuerwehr verhindert. Am Ende war es kaum möglich gewesen, die rund vierzig Opfer zu identifizieren, die meisten waren zu Asche verbrannt.
»Es gab nicht mal sterbliche Überreste, die wir hätten beerdigen können«, sagte Donata leise. »Weder von Manuel noch von seinem Freund. Nur von dem Wagen, in dem die beiden unterwegs waren, wurde das Nummernschild gefunden. Somit hatten wir Gewissheit über das Schicksal unseres Sohnes.«
Wieder brauchte Donata Zeit, um sich zu fassen. Und auch Mamma Carlotta war angesichts dieser Tragik unfähig, die richtigen Worte zu finden. Schließlich flüsterte sie: »Che disastro! Das ist das Schlimmste, was ich jemals gehört habe.« Mitleidig legte sie eine Hand auf die von Donata. »Ich weiß, wie es ist, ein Kind zu verlieren. Meine Lucia …«
Es war halb elf, als Donata zur Uhr sah und nach ihrem Handy griff. Bittend sah sie Mamma Carlotta an. »Sie gestatten, dass ich noch einmal versuche, Magdalena zu erreichen? Wir haben noch keine Verabredung für den Nachmittag getroffen.«
Um Viertel vor elf versuchte sie es ein weiteres Mal, Punkt elf ein letztes Mal. Aber Magdalena Feddersen meldete sich nicht.
Zehn nach elf erhob sich Erik, ergriff die Akte, die er gerade bearbeitete, und ging mit ihr in den Revierraum des Kommissariats, wo Enno Mierendorf und Rudi Engdahl Dienst taten.
Vor dem Besuchertresen stand eine junge Frau in einem hellen Sommerkleid, eine schwarze Leinenjacke hatte sie über die linke Schulter geworfen, die Sandaletten mit den hohen Absätzen ließen sie größer erscheinen und noch schlanker. Erik kam sich bei ihrem Anblick viel kleiner und breiter vor, als er war.
Er strich sich mit einer unruhigen Bewegung den Schnauzer glatt, ehe er sie ansprach. »Valerie! Du hier?«
Valerie Feddersen fuhr zu ihm herum. Ihr Gesicht war blass und ungeschminkt, ihr Blick ängstlich, die Hand, die sie Erik reichte, vibrierte. Er kannte diese Unruhe an ihr. Seit Lucia sich mit ihr angefreundet hatte, war es sein Wunsch gewesen, ihr die Nervosität zu nehmen, unter der sie litt.
»Mein Auto ist gestohlen worden«, stieß sie hervor. »Du weißt doch, ich bin gestern nach Niebüll gefahren. Zu Angela.«
»Du hast das Auto mitgenommen?« Erik wunderte sich. Die Fahrt über den Hindenburgdamm war im Autozug erheblich teurer als in einem Abteil. Und die Feddersens waren gezwungen, jeden Cent zweimal umzudrehen, ehe er ausgegeben wurde.
Valerie nickte. »Angela wohnt außerhalb, das weißt du doch.«
Erik wusste es nicht. Aber da es den Anschein hatte, dass er es wissen sollte, nickte er.
»Wir sind dann mit meinem Wagen nach Flensburg gefahren. Das Theater des Nordens gastierte dort mit Anatevka!«
»Dein Wagen ist also in Flensburg gestohlen worden?«
Valerie runzelte die Stirn, der Takt, den ihre nervösen Finger auf dem Tresen schlugen, wurde immer schneller. »Nein, in Niebüll, in der Nähe von Angelas Wohnung. Dort habe ich ihn nach unserer Rückkehr abgestellt, aber heute Morgen …« Sie machte eine hilflose Geste. »Heute Morgen war er weg.«
»Du hast den Diebstahl nicht in Niebüll angezeigt?«
Valerie sah Erik schuldbewusst an. »Ist das schlimm? Ich habe einfach nicht daran gedacht. Mir ist erst auf dem Hindenburgdamm eingefallen, dass ich den Diebstahl anzeigen muss.«
Erik beruhigte sie. »Es spielt keine Rolle, ob du hier oder in Niebüll die Anzeige aufgibst.«
»Es wird ja sowieso nichts bringen«, seufzte sie. »Oder glaubst du, dass ich das Auto zurückbekomme?«
Erik zuckte die Achseln. »Gut sind die Aussichten nicht.«
»Also gebe ich diese Anzeige nur auf, damit die Versicherung zahlt.«
Erik hielt sich noch eine Weile im Revierraum auf, während Valerie dem Kollegen Enno Mierendorf genau erklärte, wo sie ihr Auto abgestellt und am Morgen nicht wiedergefunden hatte. Er überlegte, welche dienstliche Aufgabe ihm eine Stunde Außendienst bescheren könnte, in der er Valerie nach Hause bringen konnte. Aber noch ehe ihm etwas eingefallen war, ging das Telefon.
Rudi Engdahl nahm ab, und wenig später stand fest, dass Valerie den Bus nehmen musste. »Nichts anfassen! Lassen Sie alles so, wie es ist. Wir kommen sofort.« Engdahl warf den Hörer auf die Gabel. »Leiche gefunden! Mit Gewalteinwirkung!«
»Ist der Name des Opfers bekannt?«
Er war bekannt. Fünf Minuten später bekam Rudi Engdahl ein dickes Lob von seinem Chef, weil er ihn nicht genannt hatte.
Mamma Carlotta hatte ihr Strahlen eingebüßt. »Da habe ich extra Insalata di funghi gemacht und Spaghetti al sugo di noci! Sogar der Fisch ist vorbereitet – und was passiert? Euer Vater kommt nicht zum Mittagessen nach Hause. Und Sören auch nicht.« Unzufrieden sah sie ihren Enkelkindern beim Essen zu, die sich bemühten, durch besonderen Appetit von den Unterlassungssünden ihres Vaters abzulenken.
Felix hingen die Spaghetti aus den Mundwinkeln, während er ihn verteidigte: »Was soll er machen? Wenn auf Sylt ein Mord passiert, muss er so schnell wie möglich zum Tatort. Wenn ich erst in der Bundesliga spiele, muss ich auch alles stehen und liegen lassen, wenn der Bundestrainer anruft.«
Aber Carlotta hatte sich in ihrem seelischen Tief eingerichtet. »Schon wieder ein Mord!«, jammerte sie. »Was ist das nur für eine Insel, auf der ständig gemordet wird? Überhaupt gefiel mir Sylt im Frühling viel besser. Diese vielen Autos! Diese halbnackten Touristen! Sie machen Ferien, aber eilig haben sie es trotzdem. Bei Feinkost Meyer musste ich mich an der Kasse in eine Schlange von zwanzig Leuten stellen. Und als ich endlich an der Reihe war, hatte die Kassiererin nicht einmal Zeit, mit mir zu plaudern. Ich hatte ihr gerade erzählt, dass ich mich mit einer neuen Bekannten im Café Lindow getroffen hatte, da schrie schon so ein Tourist in unanständig kurzen Hosen, er wolle auch mal drankommen. Terribile! Dabei hat die Kassiererin sich so gefreut, mich wiederzusehen.«
Carolin legte ihrer Nonna tröstend eine Hand auf den Unterarm. »Vielleicht ist der Todesfall gar kein Mord, sondern ein Selbstmord. Oder ein tragischer Unglücksfall! Dann wird Papa bald wieder hier sein.«
Aber Mamma Carlotta überwand ihre Misslaunigkeit erst, als Carolin auf die Kurzgeschichte zu sprechen kam, die sie ihrer Großmutter als Lektüre auf den Nachttisch gelegt hatte. »Gefiel sie dir?«
Prompt wurde aus dem seelischen Tief schweres Schuldbewusstsein. Wie unverzeihlich, einer angehenden Schriftstellerin zu gestehen, dass der übermäßige Konsum von alkoholischen Getränken verhindert hatte, sich mit ihrem Erstlingswerk zu befassen! Mamma Carlotta errötete vor Scham, weil sie nun auch noch erklären musste, wie es dazu gekommen war, und bat die Kinder, ihrem Vater die Ausschweifungen seiner Schwiegermutter zu verheimlichen. »Selbstverständlich dürft ihr nicht lügen. Aber vielleicht … vielleicht fragt er euch ja nicht.«
Immerhin zahlte sich ihr Geständnis aus. Carolin war unter diesen Umständen bereit, ihrer Großmutter zu vergeben, und versicherte mehrmals, dass ihrem Selbstbewusstsein kein Schaden zugefügt worden sei, vorausgesetzt, die Nonna nutze die nächste Gelegenheit, sich von den literarischen Qualitäten ihrer Enkeltochter zu überzeugen. Mamma Carlotta versprach es hoch und heilig und sah zum Ausgleich darüber hinweg, dass die Kinder sich auf äußerst respektlose Weise über ihren Besuch im Nachbargarten amüsierten.
Nach dem Essen holte Carolin eine Zeitschrift und legte sie aufgeschlagen auf Mamma Carlottas Platz. »Ein Bericht über Gero Fürst und über das Buch, das er gerade schreibt. Hier auf Sylt! Es soll ›Mutter des Raben‹ heißen.«
Sie stützte den Kopf auf und sah schwärmerisch die gegenüberliegende Wand an, während ihr Bruder die Augen verdrehte und lautstark verkündete, dass ein Mensch, der sich freiwillig an den Schreibtisch setzte, um etwas zu tun, was der Erledigung von Hausaufgaben sehr ähnlich war, eine Meise haben musste.
»Wenn ich die Schule hinter mir habe, werde ich nie mehr einen Stift in die Hand nehmen«, behauptete er. »Als Profifußballer brauche ich das ja zum Glück nicht. Höchstens, um einen Vertrag zu unterschreiben.«
Doch Carolin und die Großmutter waren ins Leben der Schönen und Reichen eingetaucht und hatten keinen Blick mehr für einen Vierzehnjährigen, der sich zu den Schönen zählte, wenn sein Käppi besonders speckig war und die Schrittnaht seiner Hose so tief wie möglich hing.
»Am nächsten Sonntag spielt meine Mannschaft! Wir können aufsteigen, wenn es gut läuft. Ihr müsst natürlich zuschauen. Ich brauche meine Fans, vielleicht schaffe ich dann den entscheidenden Treffer. Das wäre turbogeil!«
Seine Großmutter murmelte etwas, was sich wie Bestätigung anhörte, und Felix drückte sich aus der Küche in der angenehmen Gewissheit, dass er längst auf dem Fußballplatz sein würde, ehe jemand nach der Erledigung seiner Hausaufgaben fragen konnte.
Mamma Carlotta und Carolin beratschlagten indessen, ob ein Mann wie Gero Fürst bereit sein könnte, einer sechzehnjährigen Sylterin die Tür zu öffnen, die seine Romane signiert haben wollte.
»Ich weiß, wo er wohnt«, sagte Carolin, »aber ich traue mich nicht, bei ihm anzuklopfen. Was ist, wenn ich ihn störe?«
Carlotta hatte noch immer das Gefühl, eine Menge wiedergutmachen zu müssen. »Wir versuchen es einfach«, beschloss sie. »Wir gehen zu ihm und fragen ihn. Das kriegen wir schon hin.«
Carolin sah sie an, als glaubte sie ihr jedes Wort. Das gab Mamma Carlotta die Kraft, selbst daran zu glauben, dass ein Bestsellerautor, der nach Sylt gekommen war, um ungestört an seinem Manuskript arbeiten zu können, sich gern von einer italienischen Mamma stören ließ.
Als Carolin aufstand, um Espresso zu kochen, blätterte Mamma Carlotta weiter. Ohne großes Interesse las sie, dass ein erfolgreicher Fußballspieler sich von seiner Frau scheiden ließ, um die Freundin seines Trainers zu heiraten, und der bekannte Schauspieler Severin Dogas der Star einer neuen Fernsehserie sein würde. Die Dreharbeiten sollten im Herbst beginnen.
»Hör dir das an, Carolin: 1999 sah es fast so aus, als wäre die Karriere von Severin Dogas zu Ende. Der Tod seines Sohnes, der im Montblanc-Tunnel umkam, schien ihm jegliche Kraft geraubt zu haben. Erst ein Jahr später nahm er wieder ein Engagement an und steht seitdem wieder regelmäßig vor der Kamera.« Mamma Carlotta ließ die Zeitung sinken. »Noch so ein bedauernswerter Mensch! Das Kind durch einen Unglücksfall verloren – so wie Donata und wie ich …«
Ende der Leseprobe