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Susanne Fröhlich

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Beschreibung

Hochzeit mit Hindernissen: Andrea Schnidt traut sich auch ein 2. Mal! »Getraut« ist der 12. humorvolle Roman von Bestseller-Autorin Susanne Fröhlich um die Kult-Alltagsheldin Andrea Schnidt. Spätestens als Andrea Schnidt ihren Schwiegervater Rudi und seine Inge im nur gaaaanz leicht tüllüberdosierten Hochzeitsoutfit sieht, weiß sie es einmal wieder: für eine junge Liebe ist man nie zu alt. Und auch nicht für eine neue Perspektive. Die findet Andrea ausgerechnet in einem professionellen Frauenversteher, der verspricht, die emotionalen Lücken zu schließen, die Männer so in Frauenherzen hinterlassen. Ein höchst erfolgreiches Geschäftsmodell. Schließlich ist ihr Paul nicht der einzige, der es sich in der Beziehungshängematte etwas zu bequem macht. Und dann sind da noch die lieben Kinder – seine und ihre – die sich als Spitzenkräfte im Zumutungenproduzierenden Gewerbe erweisen.  Mit ihrem empathischen Humor und ihren aus dem Leben gegriffenen Figuren begeistert Susanne Fröhlich Millionen von Leser*innen und landet regelmäßig auf den Bestseller-Listen. Die humorvollen Romane um Andrea Schnidt sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Frisch gepresst - Frisch gemacht! - Familienpackung - Treuepunkte - Lieblingsstücke - Lackschaden - Aufgebügelt - Wundertüte - Feuerprobe - Verzogen - Abgetaucht - Getraut

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Seitenzahl: 395

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Getraut

Roman

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Über dieses Buch

Kult-Heldin Andrea Schnidt in Bestform

Eine Frau ist nie zu alt für einen Traum aus Tüll – das erfährt Andrea Schnidt, als sie mit Ex-Schwiegervater Rudi und seiner IreneHochzeit feiern will. Aber auch, dass der Weg zum Glück bisweilen mit einem Müllsack-Outfit beschritten werden muss. Ja, es geht wieder rund im Leben der Kult-Heldin. Sie landet mit einer einsamen Bäckerin in einer Turteltauben-Klinik, wird von einer völlig Fremden zur Lieblingsschwiegertochter ernannt und erfährt, dass manche Männer wirklich zu gut sind, um wahr zu sein. Wenigstens erlebt Andrea mit ihrem Paul einen unverhofften Honeymoon. Und da sind ja auch noch seine Ex Bea und die Tochter Alexa, mit Karriereziel ‚Influencerin‘, Arbeitsplatz Dubai….

»Eine Frau ist nie zu alt für junges Glück«

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Leseprobe »Geparkt«

Kapitel 1

Verdammt noch emal, ich bin geliefert. Aber so was von. Des verzeiht die mir nie. Des is de Horror.«

Es ist 0:15 Uhr in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, und Rudi weiß, dass er ein riesiges Problem hat. Und das ist fast noch untertrieben. Er schaut auf seinen Hund und schüttelt den Kopf. »Ach, Willich, was mach ich bloß!« Aber auch der Hund weiß keinen Rat.

Dabei hätte Rudi eigentlich allen Grund zur Freude. Seine Eintracht hat, ganz wider Erwarten, das Europa-League-Finale gewonnen. In einem furiosen Spiel und nach einem superspannenden Elfmeterschießen. Er sollte feiern und noch ein paar Bierchen trinken. Mit sich selbst auf die Eintracht anstoßen. Er hätte nicht gedacht, dass er das noch mal erlebt. Aber statt es krachen zu lassen, sitzt Rudi da und ist ratlos. Er hätte Irene sagen müssen, was los ist, hätte sie zumindest warnen müssen, vor dem, was passieren könnte. Aber er hat das für aussichtslos gehalten. Für unmöglich geradezu. Die Eintracht: Europa-League-Sieger. Da hätte doch keiner drauf gewettet. Und dann – um ehrlich zu sein, hat er den Passus schlicht vergessen.

Morgen ist seine Hochzeit. Wäre seine Hochzeit gewesen. Er muss fast grinsen, so bizarr ist die Lage. Die Eintracht versaut ihm seine Trauung. Kickt ihn mit dem Sieg nachgerade in die Bindungskatastrophe.

»Sollte die Eintracht das Finale gewinnen, verschieben sich die geplanten Trauungen wegen der Feierlichkeiten am Römerberg. Wir hoffen auf Ihr Verständnis.« Irgendwas in der Art hatte in der Mail vor einigen Wochen gestanden.

Rudi hätte durchaus Verständnis, aber er bezweifelt, dass Irene da genauso tickt. Sie ist seit Monaten in heller Aufregung. Plant, organisiert und freut sich. Als er sie gefragt hat, ob sie seine Frau werden will, hat sie nur gesagt: »Endlich. Ich hätt net gedacht, des isch des noch erleben derf.« Für ihn hätte es nicht sein müssen. Er war schon mal verheiratet, und seit seine Inge tot ist, hat er nie mehr das Bedürfnis gehabt, einen Ring am Finger zu tragen. Aber Irene war hartnäckig, egal, wie sehr sich Rudi gesträubt hat. »Wozu?«, hat er immer wieder gefragt, »wozu soll des gut sein, mir sin zusamme, un mehr braucht es doch net.«

Irgendwann hat er eingelenkt, ist, ob ihrer Ausdauer und Beharrlichkeit, eingeknickt und hat sie gefragt. Mit Ring und allem Drum und Dran. Ihr strahlendes Gesicht in diesem Moment war es wert. Bis zu dem Moment, in dem sie gemerkt hat, dass der Verlobungsring, den er ihr an den Finger gesteckt hat, von seiner verstorbenen Frau Inge war. »Ich hab en verwahrt bis aane kommt, die ihn ebenso verdient, wie es die Inge verdient hatte!«, rechtfertigte er sich und fand das eigentlich eine ziemlich geschickte Argumentation. »Ich mein, also auch wesche der Nachhaltigkeit un so, macht es doch Sinn, ich hab en aach polieren lasse. Un es is en scheene Ring. Odä? Soll der weiter in de Schublade vor sich hin modern? So dicke ham mer es doch net.«

Irene hatte kurz was von »Sparbrötchen und Resteverwertung« gezischt, sich dann aber doch gefreut. Sie wusste, wen sie sich da geangelt hatte. »Klaaner Mann mit ebenso klaanem Portemonnaie, aber dadefür mit em riesige Herz«, hatte er bei einer ihrer ersten Verabredungen offensiv gesagt. Rudi ist ein Mann für klare Verhältnisse. »Mer muss doch wisse, worauf mer sich einlässt!« Insofern wusste Irene, dass ein Ring mit morz Bling-Bling nicht drin war. »Dafür könne mer uns, weil mer da günstisch wegkomme, aach e klaane Hochzeitsreise leiste!«, hatte er argumentativ noch mal nachgelegt. Da war das Strahlen auf ihrem Gesicht wieder da. Manchmal ist es mit den Frauen gar nicht so schwer, hatte Rudi gedacht.

 

Und jetzt, um 1:30 Uhr, sitzt er im Wohnzimmer, im Fernseher laufen noch immer Interviews mit ekstatischen Fans, und weiß nicht weiter. Irene, mit der er die kleine Wohnung teilt, schläft auswärts, weil man die letzte Nacht vor der Ehe getrennt verbringt. Außerdem soll er keinesfalls ihr Kleid vor dem großen Moment sehen. Sie will alles perfekt machen. Rudi findet das hochgradig albern, weiß aber schon, wann man besser den Mund hält. Er richtet sich nur nicht immer danach. In dem Fall hält er es fast für goldig, wie sie auf Konventionen pocht. Albern, aber irgendwie auch süß. Diese Ernsthaftigkeit, mit der sie das Ereignis angeht, schmeichelt ihm.

Irene übernachtet bei seiner Ex-Schwiegertochter Andrea. Sollte er anrufen oder besser direkt hinfahren? Mitten in der Nacht mit den Öffentlichen durch Frankfurt zu fahren, darauf hat er wenig Lust. Seit die Großfamilie ihn überzeugt, besser gesagt, fast gezwungen hat, den Führerschein abzugeben, ist Rudi mit seinen siebenundachtzig Jahren auf die Bahn angewiesen. Hätte er sich bloß nie auf den Deal (Führerschein gegen Monatskarte für die Öffis) eingelassen. Nur weil sein Auto mal ein paar winzige Beulen hatte und er nicht genau sagen konnte, woher die stammten. Kleinlich geradezu, die versammelte Bagage. Da kann er doch nix dafür, wenn ihm irgendein Trottel ins Auto fährt und sich dann vom Acker macht. Schließlich hat er seit bald siebzig Jahren den Führerschein. Nie war was Gravierendes. Und jetzt entscheiden andere, die gerade mal die Hälfte der Zeit im Besitz einer Fahrerlaubnis sind, ob er noch fahrtauglich ist. Das ärgert ihn noch immer. Diese latente Entmündigung, als wäre man im Alter automatisch auch dusselig. Statt die Erfahrung zu ehren. Er mag es nicht, wie ein Kind behandelt zu werden. Aber im Moment würde er sich sehr gerne wie ein Kind einfach verstecken und warten, bis der Ärger sich verzogen hat.

Jetzt hat er also den Salat. Aber anrufen, um diese Zeit? Andrea, Paul und seine Irene wecken und das mit dieser Hiobsbotschaft? Allein der Gedanke lässt Rudi erschaudern. Einerseits. Andererseits ist er der Typ, der ein Pflaster mit einem Ratsch abzieht.

Er beschließt, sich und den anderen noch die Nacht und Irene die Vorfreude zu gönnen und morgen ganz früh hinzufahren, um Bescheid zu geben. Sich den geballten Vorwürfen zu stellen.

All die Gäste, die Vorbereitungen, das Essen. Die Hochzeitsreise? Wie soll er das so kurzfristig abblasen? Was das kosten wird? So langsam wird er sauer. Nicht auf die Eintracht, aber auf die Stadt. Wieso vergeben die Standesamttermine, wenn unklar ist, ob sie die halten können? Welcher Idiot hat das verbockt? Der soll das gefälligst auch bezahlen! So üppig sind seine Vermögensverhältnisse nicht.

Er macht seinen Computer an, um nach der Mail zu suchen. Da ist nichts. Nach einer halbstündigen Suche fällt ihm ein, dass er Mails nach dem Lesen immer löscht. Um nicht so viel Müll auf dem Computer zu haben. Das hat er jetzt von seinem Ordnungsstreben. »Wie mer es macht, is es verkehrt!«, fährt ihm durch den Kopf. Aber zu viel Aufregung ist bei seinem Blutdruck sicherlich nicht gut, auch das weiß Rudi, und deshalb geht er, begleitet von Fangesängen, Gegröle und Hupkonzerten erst mal ins Bett.

»Isch kann ja nix defür, un ändern kann isch es jetzt aach net mer«, murmelt er noch, kurz bevor er einnickt.

Kapitel 2

Die gibt einfach keine Ruhe, soll ich noch mal rübergehen?«, frage ich Paul. Es hört sich an, als scharrte ein Eichhörnchen in unserem Gästezimmer herum.

»Andrea, es ist 2:10 Uhr, lass sie rumkruschpeln, sie ist aufgeregt und weiß Gott erwachsen.« Er kuschelt sich an mich ran und drückt mir einen kleinen Kuss auf den Mund. »Morgen haben wir es geschafft, und übermorgen sind die beiden auf Hochzeitsreise. Ich bin froh, wenn das Theater vorbei ist. Die sind ja schlimmer als zwei Siebzehnjährige.«

»Immerhin trauen sie sich!«, antworte ich nur und versuche, dabei so heiter wie möglich zu klingen.

Paul und ich sind nicht verheiratet. Vor gut zwei Jahren hat Paul mal, fast wie nebenbei, gesagt: »Immerhin will ich dich heiraten!« Mehr ist daraus bisher nicht geworden. Die Absichtserklärung hatte viel Schönes, aber eigentlich dachte ich, da kommt noch was. Ein Ring zum Beispiel und ein richtiger Antrag. Und jetzt feiert morgen mein siebenundachtzigjähriger Ex-Schwiegervater seine Hochzeit. Vor mir! Ich gönne es ihm und vor allem Irene, aber ein bisschen nagt sie in und an mir, die kleine Hochzeitseifersucht.

Paul ignoriert meinen »Immerhin trauen sie sich«-Kommentar. Das kann er vortrefflich. Aussagen, die ihm nicht genehm sind, überhört er geflissentlich. So als würde sein Gehör nur temporär funktionieren. Scheint eine Männerspezialität zu sein. Konnte auch mein Ex-Mann Christoph, der Sohn von Rudi, dem morgigen Bräutigam, ausgezeichnet.

Paul stöhnt: »Und dazu das Gehupe da draußen! Ich verstehe ja sehr, dass man sich freut, aber der Lärm nervt.« Ein kleiner Satz – und schon ist das leidige Thema passé.

 

Wir haben das Spiel geguckt. Also Paul und ich. Irene konnte ich nicht überreden. »Ich bin net mit em Herze debei, un mein Kopp is ganz wo annerster. Un isch muss meine Ansprache noch ema übe, damit isch sie auswendig kann. Mer will doch net mit em Zettelsche dastehn.« Mit jedem Jahr Rudi an ihrer Seite hat sich ihr Hessisch verstärkt. Sie will den letzten Abend als Singlefrau nützen, um noch ein bisschen Frisuren auszuprobieren. Während sie die Rede durchgeht und sich vorbereitet. Auch mental. Was das genau bedeutet, hat sie nicht weiter ausgeführt. Dabei kommt Claudia, meine Tochter, morgen früh schon gegen 8:00 Uhr, um sie herzurichten.

Irenes Aussehen ist also in professionellen Händen, immerhin arbeitet meine Tochter seit Jahren als Visagistin. »Schenk ich dir zur Hochzeit, ein komplettes Braut-Make-up«, hatte sie Irene vor drei Wochen erklärt. Wirklich begeistert erschien Irene nicht, dabei wäre etwas anderes als ihr Standard, himmelblauer Lidschatten, den sie seit den Endsechzigern treu trägt, eine gute Idee. »Ich will genau aussehen wie immä, nur halt gut! Also besser«, hatte sie zu Claudia in ihrer bestechenden Logik gesagt. »Wird erledigt. Die werden Augen machen!«, hatte Claudia versprochen.

 

Halvar, mein Enkel, der Sohn von Claudia, wird Blumen streuen, und Mark, mein Sohn, kümmert sich um die Häppchen. Danach geht’s zum Essen ins Restaurant in Sachsenhausen, wo er auch seine Kochlehre absolviert. Ich freue mich für Irene und Rudi, aber ein wenig graut es mir vor dem Tag. Christoph, mein Ex, kommt mit seiner neuen Frau Annika Luisa, genannt Lu, die so neu auch nicht mehr ist, aber immerhin so aussieht. »Schnee von gestern!«, findet Paul und meint, ich solle mir nicht immer so einen Kopf machen. »Die sieht irre gut aus, aber was soll’s. Kann uns doch egal sein.« Das war nicht ganz das, was ich gern gehört hätte. Nicht immer will man ehrliche Aussagen. Jedenfalls habe ich outfitmäßig für morgen alles gegeben. Obwohl es nicht meine Hochzeit ist und man der Braut ja auch tunlichst nicht die Schau stehlen soll. Ob das allerdings auch bei einer Seniorenhochzeit gilt, kann ich nicht wirklich sagen. Niemand, bis auf ihre Trauzeugin Hanni, eine alte Freundin, durfte bisher Irenes Kleid sehen, aber ich weiß immerhin, dass es weiß ist. »Isch wollte immer in Weiß heiraten, und es is mir worscht, egal ob annere des seltsam finden. Es is meine Hochzeit. Un sehr wahrscheinlich net nur die erste, sondern aach die letzte. Des sach ich ma so, obwohl ich ne Optimistin bin. Un es is mein Kleid. Un in unserm Alter muss mer verdammt oft Schwarz trache.«

Ich mag an Irene, dass sie ihren eigenen Kopf hat. Sie schert sich nicht besonders darum, was ›man‹ macht oder nicht macht, deshalb hat mich ihr Traditionsgetue rund um ihre Hochzeit auch ein wenig gewundert. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen. Obwohl wir uns prima verstehen und ich Stillschweigen versprochen habe, hat sie nicht mal mir ihr Kleid gezeigt. Sie ist eine kleine Frau, und dass sie gerne ordentlich isst, sieht man. Rudi, der in wenigen Stunden ihr Ehemann sein wird, frotzelt sie oft mit dem Thema. Irene macht nahezu ständig Diät und grämt sich um jedes vermeintliche Pfund zu viel. Ich kenne das Thema nur zu gut. Spiele zwar nicht in Irenes Liga, aber sehr weit bin ich davon auch nicht entfernt. Jedenfalls nicht weit genug, um mir Witzchen erlauben zu können.

Ich stehe auf und klopfe an die Tür des Gästezimmers. »Irene, brauchst du was? Ein Glas Wasser, einen Wein zum Runterkommen oder eine Baldriantablette zum Schlafen? Oder magst du reden? Suchst du was? Soll ich was begutachten?«, frage ich.

»Komm ja net rein!«, antwortet die zukünftige Frau meines Ex-Schwiegervaters. »Isch bin nur en bissche uffgerescht. Mehr net. Moin um die Zeit bin isch verheiratet. Wer hätte da noch druff gewettet?« Sie kichert.

»Sollen wir zusammen im Wohnzimmer noch einen kleinen Absacker zur Beruhigung trinken?«, biete ich ihr an. Es scheint keinen Unterschied zu machen, ob man mit achtundzwanzig oder mit Anfang achtzig heiratet. Vielleicht hat man im Alter tatsächlich sogar mehr Grund zur Aufregung. Immerhin wird auch ihr mehr als klar sein, dass das ihre letzte Möglichkeit ist. »Alkohol hat Zucker, un isch nehm zurzeit – bis zur Hochzeit kaan Zucker zu mir. Weißt de doch. Un kaane Kohlenhydrate. Des Kleid würd mir des net verzeihe. Un uff de letzte Meter werd isch jetzt aach net mehr sündige. Des wär en schlechtes Omen. Aber nett, des de fragst Andrea. Un außerdem – du weißt ja. Isch will misch net vor morsche zeige. Un isch hab des Kleid eben noch ema korz übergezoge. Mer trägt so en Kleid ja viel zu wenisch. Gott bin isch froh, wenn isch wiedä esse kann.« Sie seufzt ein wenig theatralisch.

»Alles gut, aber sieh zu, dass du noch ein bisschen Schlaf bekommst, nicht dass du morgen den großen Tag verpennst! Gute Nacht, Irene. Es wird großartig werden!«

Insgeheim bin ich froh, dass ich ins Bett kann und nicht die nächsten Stunden noch eine nervöse Braut bespaßen muss.

Kapitel 3

Um Punkt 8:00 Uhr klingelt Claudia mit ihrem Aufhübsch-Equipment. Irene hat sich noch immer nicht gezeigt. Ich durfte ihr einen Kaffee vor die Tür stellen, und als sie ins Bad gehuscht ist, mussten wir die Wohnzimmertür schließen. »Ihr seht mich erst am Standesamt! Überraschung für alle! Augen zu! Net gucke!«

Um 12:00 Uhr ist die Trauung. Im kleinen Kreis. Im Alter von Rudi und Irene ist die Freundesdichte überschaubar. »Die sterbe weg wie die Fliege!«, pflegt Rudi relativ unsentimental zu sagen. Er hat sich für all die Beerdigungen rings um ihn herum sogar extra noch mal einen Anzug gekauft. Den wollte er jetzt auch zur Hochzeit tragen, aber Irene ist ausgeflippt, als sie davon gehört hat. »Des Ding kannst de zu meiner Beerdigung anhabe, da is es mir worscht, aber des is unsere Hochzeit, un mir sin noch net tot. Du kannst komme, wie de willst, aber wehe, du hast den Anzug an! Dann is die Hochzeit gelaufe! Was wer en des för ein Omen?«

Rudi hasst jegliche Verschwendung, aber er hat sich, nachdem alle in seinem Umfeld auf Irenes Seite standen, gefügt und sich einen neuen Anzug gekauft. Secondhand, aber das hat er tunlichst für sich behalten. Okay, fast. Er hat es mir erzählt. Ganz den Mund zu halten, fällt Rudi dann doch schwer.

 

Es kommen ein paar wenige verbliebene Freunde zur Trauung, aber immerhin wird die kleine Familie fast komplett aufwarten. Rudis Sohn Christoph, mein Ex, nebst Gattin, Paul, mein Lebensgefährte, und ich, sowie meine Kinder.

Pauls Tochter Alexa wäre gern dabei gewesen, aber sie lebt, zu Pauls großem Entsetzen, in Dubai. Als Influencerin. »Werbetusse« nennt es Paul an schlechten Tagen. Alexas Idee, nach Dubai in die Vereinigten Arabischen Emirate zu ziehen, hält er noch immer für schwachsinnig. »Was will sie in einem solchen Land? Frauenfeindlich, homophob und dekadent. Keine gute Mischung.« Ich bin seiner Meinung, weiß aber auch, dass zu viel Widerspruch bei Kindern zum genauen Gegenteil führt.

Das habe ich bei meinen Kindern lernen müssen. Es bestärkt sie im Willen, es erst recht zu tun. Also lieber sanft sagen, dass man etwas für keine wirklich gute Idee hält, und darauf hoffen, dass die Einsicht eines Tages über sie kommt. Aus heiterem Himmel sozusagen. Obwohl sie ausreichend heiteren Himmel hat, scheint Alexa allerdings noch weit von jedweder Einsicht entfernt. Sie postet, quasi rund um die Uhr, ekstatische Bilder und Storys. Die Wetterlage ist ihr Hauptthema. Keine große Überraschung, dass in Dubai häufig die Sonne scheint. Unverfänglich ist es noch dazu.

Ihr Freund Luis, der wiederum der biologische Vater meines Enkels Halvar ist (ich weiß, das hört sich sehr verworren an), hält noch die Stellung in Deutschland, will aber möglichst bald nachkommen. Seine Eltern bestehen aber darauf, dass er zumindest sein Erstes Staatsexamen vorher macht. Luis studiert Medizin und plant, sein Praktisches Jahr dann in Dubai zu machen. »Das ist ja das Gute am Studium, man kann überall arbeiten. Und die Emiratis stehen auf deutsche Ärzte«, hat er Alexa versichert. Die beiden haben während Corona eine Menge Geld mit Masken verdient. Selbst genähten, hippen Schutzmasken. Als die Stoffmasken nicht mehr für tauglich erachtet wurden, haben sie umgesattelt. Jetzt wirbt Alexa, die immerhin hundertachtzigtausend Follower hat, für alles, was Geld bringt. Von Nahrungsergänzungsmittelchen über Armbändchen und magnetische Wimpern. Es ist erstaunlich, womit man Geld verdienen kann. Es ist eine Welt, die ich nicht kenne, mit Dingen, von denen ich teilweise noch nie gehört habe. Ich bin skeptisch, was die Langzeitperspektive angeht, habe Zweifel, dass man mit vierzig noch Magnetwimpern erfolgreich verticken kann. Paul ist außer sich. »Die hat Potenzial und macht so einen Scheiß!«, beschwert er sich nahezu täglich. Ja, es ist Scheiß, aber immerhin lukrativer Scheiß. Scheiß, der zumindest ihr Leben finanziert.

Ihr Studium hat sie abgebrochen, erwägt aber, wenn sie denn mal Zeit hat, ein Fernstudium. Zum Glück ist sie nicht mein Kind, sondern das von Paul. Obwohl wir uns in den letzten Jahren ein wenig nähergekommen sind. Aber im Kern ist und bleibt sie ein verwöhntes Mädchen. Was ich natürlich nicht laut ausspreche. Es bringt ja nichts und verärgert Paul, der so froh darüber ist, dass sich Alexa und ich endlich besser verstehen. Der Haken an den sogenannten Beutekindern ist, dass man sich kümmern muss, aber nicht miterziehen darf. Kein besonders guter Deal. Immer nett sein und nie schimpfen. Sobald man sich einschaltet, läuft man Gefahr: »Du bist nicht meine Mutter, du hast mir gar nichts zu sagen!«, zu hören. Ich versuche demzufolge, mich nicht einzumischen, äußere mich nur, wenn Paul mich explizit fragt. Jedenfalls bei ihm. Bei meinen Freundinnen muss ich mir allerdings manchmal Luft verschaffen. Wahrscheinlich geht es ihm bei meinen Kindern ähnlich. Auch bei denen gäbe es einiges zu sagen.

Mein Sohn Mark hat, nach ausgiebigem Rumliegen, diverse Studiumsanläufe unternommen, um sich dann für eine Kochlehre zu entscheiden. Zum Entsetzen seines Vaters. Mein Ex hält nur ein Studium für den richtigen Berufsweg. Ich bin von Marks Berufswahl auch nicht überzeugt, aber weniger aus Dünkel, eher weil ich denke, dass er nicht einschätzen kann, wie arbeitsintensiv der Beruf des Kochs ist. Und Arbeit ist nichts, was mein Sohn besonders schätzt. Jedenfalls ist das mein bisheriger Eindruck. Er liegt einfach gerne. Da ich insgeheim auch zu einer gewissen Faulheit neige, kann ich ihn durchaus verstehen. Aber lebenslanges Durchfüttern ist leider nicht im Angebot. Bisher läuft die Lehre besser, als ich es erwartet habe. Er hat große Ambitionen. Sternekoch fände er super. Kombiniert mit einer eigenen Fernsehsendung. Oder wenigstens ein hippes cooles Szenelokal. Bisher putzt er Gemüse, zupft Kräuter, und an guten Tagen darf er mal was auf dem Teller anrichten. Bis zu den Sternen scheint es mir doch noch ein ziemlich weiter Weg. Aber ich bin froh, dass er Ambitionen zeigt, und hoffe, dass er dranbleibt.

Kapitel 4

Es ist inzwischen 9:00 Uhr, und Claudia kommt aus dem Gästezimmer. »Geschafft! Die Braut wäre so weit!«, sagt sie nur und lässt sich aufs Sofa sinken. Sie zwinkert mir zu. Unsere Wohnung ist hellhörig.

»Hat alles geklappt?«, frage ich.

Sie nickt: »Die Braut ist zufrieden, sie gefällt sich. Und das ist ja bekanntlich das Entscheidende. Ohne Blau auf den Lidern ging allerdings nichts.«

Ich verstehe Irene.

Es klingelt.

Vor der Tür steht Rudi, ohne seinen Anzug, und er wirkt aufgebracht. »Rudi, wir treffen uns am Römer, eine halbe Stunde vor der Trauung. Was ist denn los? Was willst du hier?«, begrüße ich meinen Ex-Schwiegervater, der vollkommen konfus wirkt.

»Mer könne net heirate!«, sagt er nur mit gebrochener Stimme und wirkt fast, als würde er gleich weinen. Was soll das heißen? Wir können nicht heiraten? Ist er noch verheiratet? Hat er einer anderen was versprochen? Hat er Last-Minute-Panik? Irgendeine schlimme Krankheit?

»Rudi beruhige dich, setz dich erst mal, willst du einen Kaffee?« Claudia nimmt ihren Opa fest in den Arm. »Das ist normal, diese Aufregung, vor dem Jawort kriegen viele noch mal die Flatter!«

»Des is es net, es geht aanfach net. Jedenfalls net heut!«, brummt Rudi, als wären wir die, die irgendwie auf der Leitung stehen. Er macht den Eindruck, als stünde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. »Wo is en die Irene, isch muss mit der spreche. Ach, es tut mer so leid. Des is werklisch en Schock gewese.«

»Du setzt dich jetzt mal hin, kommst ein bisschen runter, gehst heim, ziehst dich um, machst dich hübsch und bist dann um 11:15 Uhr wie verabredet am Römer. Die Claudia kann dich sicher mitnehmen, oder wollte dich nicht dein Sohn abholen? Wo ist denn das Problem? Ist was mit dem Anzug?« Ich drücke Rudi sanft ins Sofa. »Soll ich Paul in der Praxis anrufen, damit er dir was zur Beruhigung gibt?«, frage ich Rudi.

»Kapiert ihr es net, isch bin net meschugge, sondern die Hochzeit fällt aus. Es geht net«, wird Rudi jetzt lauter.

»Was is en los, is de Rudi da?«, mischt sich nun auch Irene ein. Selbstverständlich, ohne sich zu zeigen.

»Irene, isch muss mit dir spreche. Isch hab schlechte Nachrichte!«, ruft Rudi und geht Richtung Gästezimmer. »Derf isch reinkomme?«, fragt er noch und öffnet die Tür, ohne die Antwort abzuwarten.

»Des bringt Unglück, du derfst mich net vor der Trauung sehe!«, schreit Irene und kauert sich in voller Hochzeitsmontur hinters Bett. Man sieht nur noch einen weißen Tüllwust. Sehr viel Tüll für eine so kleine Frau.

»Irene, mer könne net heirate! Es tut mer leid!«, gesteht Rudi. »Komm ema her, isch erklärs dir.«

»Du hast alles versaut. Isch will dich nie mehr sehn. Wie kannst du mir des antun!«, schluchzt es aus dem Stoffmeer. »Des is de schlimmste Moment in meim Lebe. Des verzeih isch dir nie. Sitzeglasse schon im Kleid. Wochelang nix gegesse för nix un wiedä nix.« Sie weint inzwischen. »Das Make-up ist jetzt auf jeden Fall hin«, bemerkt Claudia nur trocken.

»Rudi, was tust du da?«, frage ich meinen verwirrten Ex-Schwiegervater. »Was ist passiert?«

Er geht ums Bett rum und hockt sich neben seine »Eben-noch-Braut.« »De Fußball is schuld! Also genauer gesagt die Eintracht.«

Mir dämmert es. Ich fange an zu verstehen. Bei Irene sieht es nicht danach aus. »Verschwinde aanfach nur. Isch verbrenn des Kleid un will dich nie mehr wiedä sehn. Un spar dir irgendwelsche bekloppten Ausreden. Du wolltst ja nie werklisch heirate. Aber das hättest de dir aach früher überlege könne. Des is die Demütigung meines Lebens. Des is des Pendant dadezu, am Altar stehen gelassen zu wern.« Irene ist richtig in Rage. Da geht auch grammatikalisch einiges durcheinander. »Des in maam Alter. Da hätt isch sehr gut druff verzichte könne. Die Hanni hat mich gewarnt, die hat immer gesacht, du wärst en Filou. Hätt isch ma druff gehört.«

»Irene, hör mir doch mal eine Minute zu. Die habe alle Hochzeiten heut abgesagt. Weil die Eintracht des Europa-League-Finale gewonne hat. De Römerberg wird voll mit Fans sein. Es is net maane Schuld. Isch mach kaan Rückzieher. Es wird nur verschobe. Alle Termine. Heut findet gar kaane Trauung statt. Es trifft net nur uns.« Das Tüllwesen bewegt sich und schnieft: »Des schaff isch net. Isch hab misch so uffs Esse gefreut. Isch kann des net, ich hab geschworn, Diät bis zum Jawort zu halte. Un mein Kleid habt ihr jetzt aach gesehe.«

»Was machen wir jetzt? Die Gäste, das Essen und alles? Eure Reise?«, versuche ich die Logistik in den Fokus zu rücken.

»Des treibt uns in de Ruin! Zu all dem noch dezu«, schluchzt Irene. »Erst net geheiratet wern, nix ordentliches zu esse seit Woche, un noch dezu quasi pleite. Des mer des zustößt, des is de blanke Horror.«

Rudi bemüht sich, seine aufgebrachte Fast-Ehefrau zu beruhigen: »Uffgeschobe is ja net uffgehobe. Mer hole des nach. Schatzi.«

»Schatzi nützt mer grad gar nix. Alles is versaut. Es sollte der Tag in meim Lebe werden, und jetzt des.«

Ich kann Irene verstehen. Alles in ihrer Planung, von der harten Diät übers Kleid und die Einladungen, alles war auf Tag X, auf heute ausgerichtet. Und jetzt macht ihr ein Fußballsieg alles zunichte. »Abä habe die net Bescheid gesacht, vorher? Des könne die doch net mache?«, will Irene wissen. Eine kluge Frage und nicht unbegründet.

Claudia unterbricht, noch bevor Rudi antworten kann. Sie ahnt mit Sicherheit, dass das hier für ihren geliebten Opa nicht gut laufen könnte. »Egal, warum und wieso, wir müssen jetzt handeln. Ich habe einen Vorschlag, aber er ist ein bisschen skurril.« »Lass hören«, sage ich schnell, während Irene noch mal lautstark schnieft.

»Ich überarbeite Irene noch mal ein wenig, Rudi geht nach Hause, schießt sich in seinen Anzug, und du Mama, rufst alle Gäste und Mark an. Treffpunkt Restaurant. Wir tun einfach so, als wäre alles gelaufen wie geplant. Nur die Trauung fällt aus. Aber wir feiern die Hochzeit, im Herzen seid ihr ja eh längst verheiratet. Und den schlichten Akt holt ihr nach. Und dann fahrt ihr wie vorgesehen in die Flitterwochen. Muss doch niemand wissen, dass ihr noch gar nicht offiziell verheiratet seid. Wir machen die Fotos und alles. Ihr tauscht Ringe, wir essen, halten Reden, nur die kleine Ansprache des Standesbeamten fehlt.«

»Also eine Fake-Hochzeit?«, frage ich vorsichtig nach.

»Na ja, ein bisschen vielleicht«, gibt meine Tochter zu.

»Mir spiele Hochzeit, ohne zu heirate?«, Irene ist irritiert.

»Das muss außer uns ja keiner wissen«, schlägt meine Tochter Claudia vor, »wir bestellen alle ins Restaurant und behaupten, die Trauung durfte nur im kleinsten Rahmen – also nur mit dem Paar an sich – stattfinden. Wegen des Spiels. Und des Menschenaufkommens. Muss ja keiner so im Detail wissen. Und dann feiern wir so exzessiv, dass wir es nachher selbst auch nicht mehr so genau wissen.« Sie lacht.

Rudi schlingt seine Arme um sie. »Isch habs immä gewusst, du bist aanfach so en schlaues Mädsche. Kommst ganz nach em Opa. Des is genial. Raffiniert und ausgebufft.«

»Isch verstehs net so richtig, aber heißt des, ich derf esse, un wir tun so, als wern mer verheiratet? Mir spiele des nur?«, hinterfragt Irene den Plan.

»Ja. Und damit das klappt, müssen wir sofort loslegen. Das Restaurant ist für 13:30 gebucht. Ich rufe Mark an, dass er die Häppchen fürs Standesamt auch im Restaurant serviert. Und Mama, du schickst eine Sammel-Whatsapp an die restlichen Gäste. Römer zu – bitte um 13:30 Uhr zum Goldenen Krug in Sachsenhausen kommen. Wir freuen uns! Irene, bist du einverstanden, sonst müssen wir alles schleunigst abblasen?«, will ich von der Zukünftigen meines Ex-Schwiegervaters wissen.

»Des Kleid is hin, vollkomme zerknittert, un die Claudia hat ordentlich damit zu tun, des se des hier (sie zeigt auf ihr Gesicht) wieder hinkriescht. Aber isch bin debei. Ich hab mich so uffs Esse gefreut. Fast mehr als uff die Hochzeit.« Sie verzieht ihren Mund zu einer Art Lächeln. Endlich. »Un jetzt raus mit dir!«, pflaumt sie Rudi an. »Noch hast de den weiße Traum ja net in seiner ganze Pracht gesehe. Un wenn mer dann tatsächlich ema heirate, irschendwann, dann will isch en neues Kleid. Un du zahlst es.«

Kapitel 5

Inzwischen ist es kurz nach 10:00 und Rudi auf dem Weg nach Hause, um sich in sein – gewissermaßen – Fake-Hochzeitsoutfit zu werfen. Claudia arbeitet mit vollem Einsatz an Irenes Gesicht, um die Spuren des Entsetzens zu tilgen, und ich versuche mich, nachdem ich zig Whatsapp-Nachrichten verschickt habe, mit meinem Dampfsteamer am Kleid, das durch Irenes Kauerhaltung reichlich verkrumpelt ist. Das Hochzeitskleid ist, jetzt wo es am Bügel vor mir hängt, freundlich gesagt, gewagt. Unten wie schon erwähnt ein Berg Tüll, der ausreichen würde, um Christo-like ein Reihenhaus zu umhüllen, mit Glitzer und kleinen Pailletten. Motto: Mehr ist mehr. Oben eine sehr enge und sehr dekolletierte Korsage und dazu eine Art weißes Jäckchen. Mit Jäckchen erinnert es an ein Kommunionkleid oder an ein gigantisches fluffiges explodiertes Baiser.

»Es is en Traum des Kleid, gell?«, fragt Irene, während ich sehr froh über meinen Dampfsteamer bin. »Was willst du denn damit? Das ist mal wieder so ein typischer Andrea-Kauf! Nimmt Platz weg, steht rum und ist unnötig«, hat Paul nur gesagt, als ich das Teil voller Stolz vor wenigen Wochen nach Hause gebracht habe. Es war so reduziert, dass ich es einfach nicht im Regal lassen konnte. Vor allem, weil es der Letzte war. Ich bin, das muss ich gestehen, ein bisschen anfällig für »Schnäppchen« dieser Art. Aber schon jetzt hat er sich quasi amortisiert. Ich hätte mich niemals mit einem Bügeleisen an diesen Tüllberg gewagt. Außerdem denke ich, dass ich mein Schnäppchen in nächster Zeit brauchen werde. Ich hoffe, mir damit das Bügeln zu ersparen. Da ich vorhabe, beruflich wieder aktiver zu sein, und auch schon konkrete Pläne habe, werde ich meine Hosenanzüge reanimieren müssen.

Kapitel 6

Um kurz vor 12:00 Uhr steht Rudi samt Hund Willich in seinem Anzug vor der Tür. Mit einem kleinen Blumenstrauß in der Hand. Man sieht und riecht, er hat alles gegeben. Auch an Eau de Toilette. Er ist ein sehr alter Mann, früher hätte man Greis gesagt, und wirkt wie ein Junge, dem die Einschulung bevorsteht. Freudig erregt. Rosige Wangen. Ich bin spontan gerührt. Willich hat eine dicke rote Samtschleife um den Hals, an der eine kleine Box baumelt.

»Jetzt wird doch alles irschendwie noch gut!«, strahlt ihn Irene an.

»Du bist wunnerschön! Was hab isch en Glück mit dir. Alle wern mich beneide. Isch fühl misch direkt verheiratet!«, sagt er sehr ernst, während er seine Braut gründlich mustert, und man hat den Eindruck, eine Ladung Glück strömt ihm aus allen Poren. Sie fallen sich in die Arme. Wie sie so dastehen, ineinander verschlungen, jedenfalls soweit es die Tüllmasse zulässt, diese beiden kleinen alten Menschen, kommen mir die Tränen. Eine Last-Minute-Seniorenhochzeit, selbst wenn sie in diesem speziellen Fall rein formell betrachtet gar keine ist, hat etwas noch Bewegenderes als eine »normale« Hochzeit. Sich zu trauen, wo die Endlichkeit so greifbar ist. Im Alter zu heiraten heißt, ich will diesen Weg, auch wenn er kurz sein kann und gepflastert mit Dingen wie Rollator, Pflegeversicherung und Patientenverfügung, mit dir gehen. Ja zu sagen, wenn der Verlust und die Trauer absehbar sind, finde ich ergreifend. Eine solche Entscheidung ist Optimismus und Hoffnung in Personalunion. Verbindlichkeit auf den letzten, oftmals beschwerlichen Metern. Das ist einfach schön.

 

»Kommen denn alle?«, erkundigt sich Rudi. »Hat des geklappt? Wisse alle Bescheid, des se net zum Römer fahrn, sondern gleich ins Restaurant? Und habe se dir geglaubt?«

»Ja«, antworte ich und gestehe nicht, dass ich – allen – bis auf Hanni, Irenes bester Freundin, und Ludwig, Rudis gutem Freund, die Wahrheit gesagt habe. Aber es wissen auch alle Bescheid, dass das Brautpaar denkt, keiner wüsste Bescheid. Ein Doppelbluff sozusagen. Es gibt Rudi und seiner Irene ein besseres Gefühl und erspart ihnen noch dazu einiges an Fragen. Der eine oder andere der Gäste wird mit Sicherheit mitbekommen haben, dass heute auf dem Römer sicherlich keine Trauungen stattfinden. Aber ich wollte mit meiner kleinen Notlüge Irene und Rudi weitere Aufregung ersparen. Und wer weiß, vielleicht rücken sie ja im Laufe der Feierlichkeiten doch noch selbst mit der Wahrheit heraus.

Rudi und Irene erscheinen tatsächlich erleichtert. »Verrückt is des ja schon, aber immerhin auch sicherlisch einzigartig. Ganz was Besonneres«, fängt Irene sogar an, den Reiz des Tricks zu genießen. »Da hat se recht, des hat net jedä!«, stimmt ihr Rudi zu.

»Lasst uns fahren!«, unterbreche ich die Turteltäubchen. »Je schneller, je besser. Ihr glaubt net, was isch för en Hunger hab!«, juchzt Irene.

Obwohl wir durch den Main von der Innenstadt getrennt sind, brauchen wir für nicht mal drei Kilometer fast vierzig Minuten. Die Stadt, nördlich und südlich des Mains, ist ein einziges Fahnenmeer. Man hat das Gefühl, wir drei sind die Einzigen, die kein Eintracht-Trikot tragen. Paul wird direkt aus der Praxis zum Restaurant fahren und hat sich schon vor Tagen seinen Anzug dorthin mitgenommen. »Hier geht gar nichts! Nehme die U-Bahn nach Sachsenhausen!«, schreibt er mir, als wir auf der Suche nach einem Parkplatz ums Restaurant kreisen.

Ich beschließe, Rudi und seine Braut, deren Kleid überall zu sein scheint, die halbe Windschutzscheibe ist von Flattertüll bedeckt, schon mal rauszulassen. »Geht vor, ich parke den Wagen und bringe den Hund mit. Bis gleich!«, sage ich, und Rudi muss Irene fast rauszerren. Das Kleid verhält sich wie Hefeteig. Es breitet sich stetig aus.

»Kaan Stress, Andrea, mir trinke schon mal aaner uff dich. Un danke. För alles. Du bist die beste Ex-Schwiegertochter, wo es gibt. Ohne dich wern mer vollkommen verratzt gewese.«

Was für eine Schnapsidee war es, mit dem Auto zu fahren. Wir hätten ein Taxi rufen sollen. Natürlich gibt es weit und breit keinen Parkplatz. Nicht mal im Halteverbot. Das Restaurant liegt in der Nähe des Eisernen Steges, und über den kommt man direkt zum Römer. Kein Wunder, dass jede Menge Menschen hier ihr Auto abgestellt haben, um zum Empfang auf dem Römerberg zu laufen. Ich entschließe mich, heimzufahren und dann mit dem Fahrrad zurückzukehren. Ich kann das Auto ja schlecht mitten auf der Straße stehen lassen. Ich hoffe, dass Willich in der Lage ist, an der Leine dem Rad zu folgen. Immerhin finde ich zu Hause sofort einen Parkplatz. Wenigstens das klappt. Es wird allen so gehen. Allen Gästen. Frankfurt ist im Ausnahmezustand. Dann gibt es eben später Essen, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Ob Willich schon mal Fahrradbegleithund war? Ich wage es zu bezweifeln. Rudi fährt kein Fahrrad mehr. »In meim Alter bräucht ich wiedä Stützräder, weil mein Kreislauf ja net der Stabilste is und ich uff em Rad schnell ema wackel«, hat er selbst gewitzelt. Aber weit ist es ja nicht, und Willich hört nicht schlecht. Prinzip Hoffnung.

Der Hund zeigt sich vorbildlich, bis wir an einem kleinen Park vorbeifahren. Er zieht und zerrt, fast so, als wolle er rufen: Bitte anhalten, da ist was Interessantes. Oder vielleicht muss er auch einfach nur mal und hat das Grün dafür auserkoren. Durch seinen plötzlichen Stopp zwingt er mich zu einer Vollbremsung. Ich kann das Rad gerade noch gegen einen Laternenpfahl lehnen, so sehr drängelt Willich. Er scheint es eilig zu haben. Auf die paar Minuten kommt es nun auch nicht mehr an, entscheide ich. Außerdem ist Willich kein Schoßhündchen, und wenn er nicht weiterwill, habe ich keinerlei Handhabe. Ich lasse ihn von der Leine, weil ich weiß, dass er einigermaßen hört und auch kein Hund ist, der direkt abhaut. Vor allem weiß ich, dass er nicht gerne sein Geschäft erledigt, wenn er angeleint ist. Er stürmt zum nächsten Baum, und dann passiert es. Eine Colliehündin rast auf ihn zu, springt an ihm hoch, und die beiden wirken wie ein einziges Fellknäuel. Ist das Schockverliebtheit oder ein Kampf? Ich laufe auf die beiden zu und sehe nur noch, wie bei dem Gerangel die Schleife um Willichs Hals reißt und aus dem Maul des Collies hängt. Mitsamt dem Kästchen. Um Himmels willen, da sind die Trauringe drin. Eine sehr gut gekleidete elegante Frau um die vierzig, die mehr nach Sektempfang als Hundespaziergang aussieht, schreit nach dem Collie. Wie oft habe ich mir gewünscht, dass Hunde hören, diesmal wäre es mir entschieden lieber, der hier würde es nicht tun. Aber das Leben hält sich selten an meine Wünsche, und so ist es auch diesmal. Kaum erreiche ich Willich, dreht sich der Collie um und rast davon. Mit dem Kästchen.

Ich schnappe Willich und renne hinterher. Dabei rufe ich nur: »Bitte stehen bleiben, Ihr Hund hat da was! Ein Kästchen!« Auch wenn das mit Sicherheit komplett bekloppt geklungen hat, die Frau bleibt stehen. »Hallo, also mein Hund, der eigentlich gar nicht meiner ist, der hatte Ringe um den Hals, er ist der Ringbringer sozusagen. Die hat Ihr Hund jetzt im Maul.« Die Halterin schaut mich überrascht an. Kein Wunder bei dem Unsinn, den ich da von mir gegeben habe. »Bane, bei Fuß. Komm zu Mami«, ruft sie die edle Hündin zu sich. Sie erkennt meinen fragenden Blick. »Bane. Das ist Hawaiianisch und bedeutet ›Lang ersehntes Kind‹.«

Ich glaube, da hätte jede Psychotherapeutin gut zu tun. Mutti und »Lang ersehntes Kind«. Aber bitte: Jede, wie sie mag. »Das Kästchen! Schnell. Bitte. Ich habe es ein wenig eilig!«, bleibe ich bei meinem Thema. Ich traue mich nicht, einem fremden Hund ins Maul zu fassen. Mal davon abgesehen, dass das lang ersehnte Kind den Karton schon gut eingespeichelt hat. »Schön Sitz, mach mir die Freude und sei ein gutes Mädchen!«, redet Banes Mutti auf ihren Hund ein. »Sie mag es nicht, wenn man ihr was aus dem Mund nimmt!«, sagt sie freundlich und guckt mich an.

»Darauf kann ich jetzt leider keine Rücksicht nehmen, das sind Trauringe da drin, und das Brautpaar wartet seit einer guten halben Stunde darauf, dass ich komme. Mit Hund und Ringen. Wenn Sie denn so nett wären! Oder beißt Ihre Bane?« Hört sich nach einer Abkürzung von Banane an. Aber das kann mir im Moment egal sein. Ich strecke meine Hand Richtung Banes Maul aus.

»Sie beißt nur, wenn sie das Gefühl hat, ungerecht behandelt zu werden, da ist sie sensibel! An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun!«, warnt sie mich, und weil ich tief in meinem Inneren ein Schisser bin, ziehe ich meine Hand sofort ängstlich zurück.

»Bane, Liebling, ich muss jetzt mal an dein Schnäuzchen ran, nicht erschrecken, Mami hat dich lieb!« Man sieht dieser Frau nicht an, wie gestört sie ist. Unheimlich. Aber sie macht es. Nähert sich dem Maul des Hundes, während sie mit der anderen Hand den Kopf des Tieres krault. Bane merkt, was los ist, erkennt die Absicht, schnappt und schluckt. Das Kästchen ist weg und mit ihm die Ringe.

Auch das noch! Erst keine Trauung und jetzt noch nicht mal Ringe. Alles, was oben reingeht, kommt auch wieder unten beziehungsweise hinten raus, schießt es mir durch den Kopf. »Bane, das war ein bisschen frech. Die Mutti hat Aua.« Sie hält dem Hund ihre Hand vor die Augen.

»Wie oft macht Ihr Hund am Tag? Wann hat der das verdaut?«, frage ich, wissend, dass es leckerere Themen gibt.

»Das kommt ein bisschen darauf an, sie hat einen sehr sensiblen Magen-Darm-Trakt. Das ist allerdings oft bei Sternzeichen Jungfrau. Die neigen zum Perfektionismus, und wenn etwas schiefgeht, schlägt es ihnen auf den Magen.«

Der Hund ist Sternzeichen Jungfrau! Bei der piept es ja richtig. »Ich gebe Ihnen meine Nummer, und Sie melden sich, sobald das Kästchen wieder raus ist, geht das?«, will ich wissen. Wie soll ich das bloß Rudi und Irene erklären?

»Manchmal hat sie mehrere Tage kaum Verdauung!«, gibt die Frau zu bedenken.

»Dann müssen wir das beschleunigen und ihr ein Abführmittel geben. Könnten Sie das machen?«, frage ich.

»Wir nehmen so was nicht. Nur homöopathische Mittel. Sonst lassen wir nichts in unseren Körper!«, weist sie mich streng zurecht.

Jetzt bin ich mit meiner Geduld so langsam am Ende. »Entschuldigen Sie, aber Ihr Hund hat meinem Hund was vom Hals gerissen und es gefressen. Sie werden sicher verstehen, dass ich das wiederhaben will. Vor allem weil es nicht um ein Stück Fleischwurst geht!«

»Fleischwurst bekommt Bane nicht, sie mag Rindertartar«, fährt sie mir über den Mund.

»Ist mir vollkommen wurscht, und wenn der Hund Kaviar frisst, ich will nur die Ringe. Und zwar zackig.« Ich hoffe, das war jetzt deutlich genug.

»Wenn man etwas will, sollte man freundlich sein, haben Sie das in Ihrer Kinderstube nicht mitbekommen?«, antwortet sie pikiert.

Ich ändere meine Taktik, obwohl ich am liebsten sagen würde: »Ich lasse dem Hund sonst den Bauch aufschneiden. Jetzt und hier. Ohne Narkose. Mein Mann ist Arzt.« Gut, er ist mein Lebensgefährte und nicht mein Mann (wunder Punkt), und er ist Orthopäde und mitnichten Tierarzt und er wäre sicherlich nicht begeistert über diese Aufgabe. Aber ich lasse das Drohen. Bringt doch nichts. »Bitte, das Brautpaar ist alt, die Ringe sind ihr Ein und Alles! Das müssen Sie doch verstehen?«

Sie schaut auf ihre Hand. Ihre eheringlose Hand. Ich weiß nicht, welcher Film jetzt in ihrem Kopf abläuft, aber ihr Gesicht wird weicher. »Ich verstehe, was machen wir jetzt? Soll ich mich melden, wenn es bei Bane so weit ist? Ich meine, damit Sie dann rausholen, was Ihnen gehört?«

Das war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe. Ich dachte, sie wird wühlen, abspülen und mir dann die Ringe zurückgeben. Ich wollte eigentlich ungern einen Haufen Hundescheiße in Empfang nehmen. Aber man muss nehmen, was man kriegt. Vor allem habe ich nicht die Zeit, hier den genauen Zustand der Ware bei der Übergabe ewig zu diskutieren. »Ich bräuchte Ihre Telefonnummer und Sie meine, damit wir das organisieren können!«

Sie holt ihr Handy aus einer gigantischen Handtasche. Fast schon eine kleine Reisetasche. Sie sieht meinen Blick. »Ja, ist eine Birkin, von Hermès, falls Ihnen das was sagt. Das ist alles, was mir aus meiner Ehe geblieben ist. Und natürlich Bane.«

Wenn ich jetzt nachfrage, komme ich hier überhaupt nicht mehr weg, so viel ist klar. Da hat sich offensichtlich einiges an Verbitterung aufgestaut. Ich gebe Banes »Mutti« meine Nummer, und sie ruft an, damit auch ich ihre habe.

»Ragnhild von Hohhausen«, stellt sie sich vor.

»Andrea Schnidt«, erwidere ich, und mir ist schlagartig bewusst, wie profan mein Name im Vergleich mit ihrem klingt. »So, ich muss los und dem Brautpaar erklären, dass ihre Ringe leider auf dem Weg in den Verdauungstrakt eines Collies sind«, verabschiede ich mich von der seltsamen Frau von und zu. Willich kann sich von Bane kaum trennen. »Du bist schuld. Deine Leidenschaft hat uns in diese Situation gebracht!«, schimpfe ich, während ich ihn von seinem Objekt der Begierde wegzerre.

 

Auf den letzten Metern bis zum Restaurant geht mir wirklich die Düse. Was sage ich nur? Die Wahrheit? Würde man einen Ehering tragen, der quasi aus der Scheiße kommt? Diese Ehe steht unter einem ausgesprochen seltsamen Stern. Erst keine Trauung und jetzt keine Ringe. Ich werde behaupten, dass ich die Ringe für die eigentliche Zeremonie verwahrt habe. Wegen der Konvention und so. Ich hoffe sehr, das klappt. Und vor allem, dass Bane sich bald von ihnen trennt.

Aber vielleicht hilft mir auch das hohe Alter des Paars, und sie vergessen die Ringe in all der Aufregung.

 

Im Restaurant stehen alle versammelt. Mit dem obligatorischen Glas Sekt in der Hand. Ich lasse den Blick schweifen. Mein Paul sieht merkwürdig aus. Er trägt seinen Arztkittel über einer Anzughose. Ist das hier alles Verstehen Sie Spaß? Die Hochzeit, die Ringe und jetzt noch Pauls Outfit. Sind alle um mich herum verrückt geworden? »Paul, was soll das für ein Look sein, hältst du hier noch Sprechstunde ab?«, frage ich leise.

Er deutet auf eine kleine Plastiktüte in der Garderobe. »Hemd und Jackett hatte ich ja extra in der Praxis mit, jetzt sind sie da drin, aber leider unbrauchbar geworden.«

»Was soll das genau heißen?«, frage ich zurück.

»Ich bin angekotzt worden, von einem sehr betrunkenen, sehr zutraulichen Eintracht-Fan in der Bahn. Aber zum Glück hatte ich den Kittel mit, weil der in die Wäsche muss. Immerhin riecht er selbst so noch besser als der Rest meiner Klamotten da in der Tüte. Der hat mich wirklich voll erwischt. War ihm auch peinlich.«

»Aber du kannst hier doch nicht im Kittel stehen, als wärst du aus der Bereitschaft gerufen worden?«, entgegne ich.

»Wäre dir oben ohne lieber?«, fragt er pragmatisch.

Mein Ex kommt mit seiner Gattin auf uns zu. »Ungewöhnliches Outfit!«, begrüßt er Paul. »Machst du zum Nachtisch Sprechstunde?« Er lacht hämisch, und ich könnte ihm direkt eine scheuern. Annika-Lu seine »neue« Frau kichert. Die beiden sehen aus wie aus einem Hochglanzmagazin entsprungen. Eher Vogue als Brigitte. Er, im tadellosen tiefdunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und Einstecktuch, polierte Schuhe, gegelte Haare, und sie, im kornblumenblauen Etuikleid, das unterschwellig »teuer« schreit.

Es gibt Frauen, da kann man machen, was man will, man verliert immer. Lu, wie mein Ex sie nennt, hat einen Grad an Perfektion, der unschlagbar ist. Ähnlich wie die Ex von Paul, Bea. Die zwei verderben die Moral aller normalen Frauen. Allein ihr Anblick stresst. Noch dazu wirkt Lu null bemüht, eher so, als wäre das ihr gewöhnlicher Zustand. Es hat, das muss ich neidvoll zugeben, etwas absolut Unangestrengtes.

Paul klärt die beiden über seine missliche Lage auf. »Ach du je!«, kommentiert Christoph, mein Ex, »aber ich habe ein Ersatzhemd für den Fall der Fälle, das kann ich dir gerne leihen. Hat halt mein Monogram aufgestickt, aber daran soll’s ja nicht scheitern. Besser als der da (er deutet auf den leicht angeschmuddelten Kittel) ist es allemal.«

Paul freut sich. »Supernett von dir, hoffentlich passt es«, gibt er zu bedenken. Das war jetzt ein kleiner Seitenhieb von meinem Paul. Christoph ist im Schulterbereich sehr viel schmaler als er.

Christoph ignoriert die Bemerkung souverän und holt seinen Kleidersack aus der Garderobe. »Da müffelt es ziemlich!«, stellt er fest.

»Die Tüte mit meinen Sachen!«, erklärt Paul.

»Schmeiß das weg, das willst du ja wohl nie mehr tragen!«, rät ihm mein Ex.

Paul zuckt nur lapidar mit den Schultern. »Es ist mein einziges Jackett, das schmeiß ich garantiert nicht weg. Reinigen sollte ja genügen.«

»Allein zu wissen, dass ein Wildfremder sich darauf übergeben hat, ist so ekelhaft, das könnte ich nie mehr tragen. Vielleicht lohnt sich da mal die Anschaffung eines weiteren Anzugs«, schlägt Christoph vor.

»Ich bin froh, einen Beruf zu haben, wo ich die Dinger nicht brauche!«, lacht Paul nur und schert sich nicht die Bohne wegen der Bemerkung.

Ich hingegen bin sofort auf hundertachtzig. Das kann mein Ex. Mich aufregen. Dieser arrogante Tonfall. Diese Überheblichkeit. War der früher schon so, oder hat er sich so sehr verändert? Habe ich es nur nicht bemerkt, oder wollte ich es nicht bemerken? »Zieh dich um und probiere das Hemd, es scheint hier loszugehen mit dem Essen!«, unterbreche ich die Situation und meine Gedanken.