Gewaltprävention im Alltag - Dirk Zeuge - E-Book

Gewaltprävention im Alltag E-Book

Dirk Zeuge

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Viele Selbstverteidigungskurse beschränken sich auf die Vermittlung praxisbezogener Techniken. Die Vorstufen der sich aufbauenden Eskalationsspirale werden jedoch übersehen. Denn "Selbstverteidigung" beginnt bereits, bevor es zur körperlichen Auseinandersetzung kommt. Dieses Buch richtet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Was erwartet Sie in diesem Buch: •Umgang mit den unterschiedlichen Stufen der Aufmerksamkeit •Kommunikationschancen •Rechtsgrundlagen (Notwehr, Körperverletzung, u.a.) •Alltagsrisiken und -chancen •Hilfsmittel zur Selbstverteidigung Mit diesem Buch werden Sie entdecken, welche Möglichkeiten es gibt, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen, damit Sie KEIN Opfer von Gewalt werden.

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Seitenzahl: 163

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Dirk Zeuge

Gewaltprävention im Alltag

Eigensicherung, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung

Bildnachweis Umschlag:

depositphotos.de

Impressum

Dirk Zeuge

Gewaltprävention im Alltag

Eigensicherung, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung

© 2021 Dirk Zeuge

www.sicherheit-im-alltag.de

Umschlag, Illustration:

Anja Krummeck

Lektorat, Korrektorat:

Lana Kramer, lektormeister.de

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-347-42046-5

Hardcover

978-3-347-42047-2

e-Book

978-3-347-42048-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Über mich

Einleitung

Selbstverteidigung

Eigensicherung

Cooper-Farbcode

Weiß

Gelb

Orange

Rot

Schwarz

Handlungsoptionen

Selbstbehauptung

Kommunikation

Männliche Kommunikation

Weibliche Kommunikation

Verbale Kommunikation

Offene vs. geschlossene Fragen

Stimme

Nonverbale Kommunikation

Deeskalation / Konfliktmanagement

Social Engineering

Distanzen

Die öffentliche Zone

Die soziale Zone (gesellschaftliche Distanz)

Die persönliche Zone

Die intime Zone

Ausnahmen und kulturelle Unterschiede

Der psychologische Zaun

Rechtsgrundlagen

Körperverletzung

Notwehr

Überschreitung der Notwehr

Gefährliche Körperverletzung

Ermittlungsverfahren

Statistiken

Täter-Opfer-Beziehungen bei sexueller Gewalt

Wehren lohnt sich

Mentale Vorbereitung / Mindset / Kampfgeist

Mentale Einstimmung

Selbstinstruktion

Emotionale Steuerung

Intervention auf der körperlichen Ebene

Prävention im Alltag

Hilfe bekommen

Am Arbeitsplatz

Gewalt

Sexuelle Belästigung

Taharrusch dschama'i

Messerangriffe

K.o.-Tropfen

Bahnhof

Amoklauf

Pistole

Zivilcourage

Hilfsmittel

Reizgase

CS-Gas

Pfefferspray

Elektroschocker

Schreckschusswaffe

Schutzalarmgeräte

Sicherheitsschirm

Kubotan

Tactical Pen

Tactical Light

Grundsätzliches

Vorbereitung

Kampfsport vs. Kampfkunst

Autodidaktisches Training

Selbstverteidigungskurse

Selbstverteidigungskonzepte

Schluss

Hilfsangebote

Hilfetelefon für Frauen

Heimwegtelefon

Weißer Ring

Quellenverzeichnis

Literatur

Online:

Urteile / Entscheidungen:

Graphiken & Bilder

Über mich

Lieber Leser,

bereits in meiner Jugendzeit faszinierten mich die Kampfkünste. Inspiriert durch Bruce Lee und die vielen anderen Kampfkünstler begann meine Karriere auf dem „Tatami“ (Japanisch: Matte) im Jahr 1994.

Zuerst übte ich mich unter den wachen Augen von Roland Herr im „Jiu-Jitsu“ bevor ich mich, knapp zweieinhalb Jahre später, dem Karate zuwandte.

Im September 2007 legte ich die Prüfung zum Schwarzgurt (1. Dan) unter Ochi Hideo Sensei ab. 2012 folgte die Graduierung zum 2. Dan und im August 2018 zum 3. Dan.

Seit 2010 bin ich als Dozent und Trainer im Bereich Gewaltprävention, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung tätig. Die hierfür notwendige Weiterbildung absolvierte ich bei Roland Herr (6. Dan Jiu-Jitsu). Roland war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 als Einsatztrainer und Ausbilder bei der Polizei in Baden-Württemberg tätig. 2012 folgte die Weiterbildung zum „Zertifizierten Gewaltschutztrainer“ beim Karate-Verband Baden-Württemberg. Seit 2019 bin ich zudem Mitglied beim Verband für Gewaltprävention und Selbstschutz e.V.

Die Grundlage meines Trainings und meiner Recherchen waren schon immer die Themen Eigenschutz, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung. Immer stellte sich die zentrale Frage: Was kann ich tun, damit gewalttätige Situationen vermieden werden können?

Unter ganzheitlichen Gesichtspunkten betrachtet, umfasst der Selbstverteidigungsaspekt meines Erachtens mehr als die reine „körperliche“ Verteidigung. Es gibt nämlich auch die Möglichkeit, sich bereits vorher (im Rahmen der Eigensicherung und der Selbstbehauptung) gegen Gewalt zu schützen. Ziel ist es, Gefahren frühzeitig zu erkennen. Denn nur dann können die Maßnahmen ergriffen werden, die notwendig sind, um Gewalt und körperliche Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Die eigentliche Selbstverteidigung stellt dabei die Ultima Ratio dar.

Einleitung

„Der Gewalt auszuweichen ist Stärke.“

Laotse

Gewalt ist ein Thema, welches uns auf unterschiedlichen Ebenen begegnen kann. Ob es sich dabei um Mobbing, Gewalt am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, im privaten Umfeld oder auch um häusliche Gewalt handelt, zusammenfassend es kann festgestellt werden, dass die Welt weit weniger friedlich ist, als wir sie gerne hätten.

Spätestens wenn wir unsere eigenen sicheren vier Wände verlassen, erwarten uns vielfältige Gefahren. Doch auch in unseren privaten Räumlichkeiten kann es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.

Nach den Vorfällen zum Jahreswechsel 2015/2016 in Köln hatten Selbstverteidigungskurse Hochkonjunktur. Kampfsportvereine jeglicher Couleur begannen, Selbstverteidigungskurse anzubieten. Bestimmt hatte jeder Verein, jede Schule und jeder Anbieter die beste Absicht, nämlich die Vermittlung der Grundlagen, die notwendig sind, sich präventiv und effektiv zu verteidigen.

Gleichzeitig hofften Vereine und Schulen1, ihre Mitgliederzahlen nachhaltig zu steigern. Es konnte der subjektive Eindruck gewonnen werden, dass besonders einige Vertreter der „klassischen Kampfkünste“, wie bspw. Karate, Jūdō2, Taekwondo und andere, sich diesen positiven Effekt erhofften. Ein legitimer Wunsch.

Problematisch wird es dann, wenn Kurse lediglich schnell aus dem Boden gestampft werden und diese sich nur bedingt oder überhaupt nicht an bestimmte Normen halten. Das Landeskriminalamt in Niedersachsen hat unter der Federführung der Kriminalhauptkommissarin Paul ein Regelwerk entwickelt, an denen sich Dozenten, Vereine und Schulen orientieren können und sollen.3

In diesem Ratgeber werden sämtliche Standards zu Selbstverteidigungskursen erläutert. Diese umfassen – neben inhaltlichen Themen – auch weitere Details wie z. B. Gruppengröße, inhaltlicher und zeitliche Umfang sowie den Umgang mit den Kursteilnehmern.4

Für den interessierten Laien, der sich für dieses Themengebiet interessiert und sich fortbilden lassen möchte, ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten. Wer richtet sich nach welchen Standards und welchen Umfang sollte ein solcher Kurs haben? Reicht die Vermittlung von Selbstverteidigungstechniken aus? Gibt es noch andere wichtige Punkte, die angesprochen werden müssen?

Hinzu kommt, dass es auf der Anbieterseite Kampfsportler5 gibt, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sie sich mit der von ihnen ausgeübten Sportart selbst verteidigen können. Dies mag sogar der Fall sein, scheint es gleichzeitig so zu sein, dass einige Anbieter keinen Blick darauf werfen, was sich VOR einer Gewaltsituation ereignet. Der Fokus wird fast einzig und allein auf die Vermittlung einer Vielzahl von Techniken gelegt.

Themen wie Eigensicherung und Selbstbehauptung werden zum Teil kaum oder im schlechtesten Falle überhaupt nicht behandelt. Hinzu kommt, dass gefährliche Situationen einer besonderen Dynamik unterliegen und sich somit permanent verändern.

Der Blick wird somit eben nicht auf die realen Erfordernisse und die natürlichen Bewegungsabläufe der Teilnehmer gelenkt. Vielmehr orientiert sich das Konzept an den Trainingsmethoden, die seit Jahren in der ausgeübten Kampfsportart verwendet werden. Diese richten sich im schlechtesten Fall an den Erfordernissen des Wettkampfsports aus, nicht jedoch an denen der Straße.

In der Literatur lässt sich eine Vielzahl von Büchern finden, die die Unsicherheit und das erhöhte Sicherheitsgefühl der Menschen bedienen möchte. Dabei belassen es manche Autoren bei einer sehr kurzen (ich möchte fast schreiben: mangelhaften) Einführung in die theoretischen Grundlagen zu diesem Thema. Wesentliche Aspekte, wie bspw. Eigensicherung und Selbstbehauptung sowie die damit verbundenen Möglichkeiten der Prävention werden vernachlässigt oder gänzlich ignoriert. Stattdessen wendet man sich bereits nach wenigen Seiten der Praxis zu, indem eine Vielzahl von Fotoreihen mit unterschiedlichen Selbstverteidigungstechniken gezeigt wird.

Zudem gibt es Bücher, in denen die oben bereits erwähnten Begriffe „Eigensicherung“ und „Selbstbehauptung“ nicht einmal verwendet werden. Des Weiteren werden andere Aspekte wie Kommunikation oder auch Rechtsgrundlagen nicht angesprochen.

Es sind jedoch gerade diese Punkte, die uns helfen können, Gewalt präventiv zu begegnen! Fast immer geht einer körperlichen Auseinandersetzung eine Vielzahl an unterschiedlichen Warnsignalen voraus. Diese gilt es zu erkennen und soll in diesem Buch näher behandelt werden. Ziel ist es, eine Gefahr frühzeitig zu identifizieren, damit Maßnahmen ergriffen werden können, die notwendig sind, um körperlicher Gewalt zu entfliehen bzw. dieser präventiv zu begegnen. Durch eine gute Umgebungsaufmerksamkeit und richtiges Verhalten gelingt es oftmals, Gewalt zu vermeiden. Hierzu ist kein jahrelanges Kampfkunsttraining notwendig. Wie meinte Morihei Ueshiba (Begründer des Aikidō)? „Der beste Kampf ist der, den man nicht kämpft.“

Unglücklicherweise werden diese Themengebiete in SV-Kursen teilweise nur eingeschränkt behandelt. Ob aus Zeitmangel, geringer Priorisierung, Unkenntnis oder anderen Gründen, das sei einmal dahingestellt. Fakt ist, dass dieses Wissen dann den Teilnehmern nicht zur Verfügung steht und deshalb in einer Notsituation auch nicht abgerufen werden kann.

Dieser Ratgeber soll Abhilfe schaffen und die evtl. vorhandene Wissenslücke schließen. Es wird aufzeigen, wie den Gefahren präventiv begegnet werden kann und welche Möglichkeiten es hierfür gibt.

1 Mit Vereinen und Schulen sind grundsätzlich Kampfsport-Vereine und/oder Kampfsportschulen gemeint.

1 Bei japanischen Fachtermini wird die entsprechende Schreibweise verwendet.

3 Booklet zur Information Interessierter außerhalb der Polizei – Standards polizeilicher Selbstbehauptungs-/Selbstverteidigungstrainings, LKA Niedersachsen, Hannover 2005, Susanne Paul.

4 In diesem Buch wird die maskuline Form verwendet. Gleichwohl sind alle Menschen angesprochen.

5 Die Begriffe Kampfsport und Kampfkunst werden in diesem Buch synonym verwendet.

Selbstverteidigung

„Ich fürchte nicht den Mann,

der 10.000 Kicks einmal geübt hat,

aber ich fürchte mich vor dem,

der einen Kick 10.000-mal geübt hat.

“ Bruce Lee

Was ist eigentlich unter Selbstverteidigung zu verstehen? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter dem Begriff der kampfbezogene Aspekt verstanden. In diesem Kontext geht es fast immer darum, einen gewalttätigen, körperlichen Angriff abzuwehren. Diese Definition umfasst den Begriff recht eng und schließt andere Themenbereiche aus. Zudem ignoriert dieser Terminus, dass eine gewalttätige Situation eben nicht plötzlich gegeben ist. Vielmehr spitzt sich die Lage mehr und mehr zu, bis es „plötzlich“ zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommt.

Durch das Ignorieren der Vorphasen und den entsprechenden Warnsignalen hat es dann oftmals den Anschein, dass das Opfer keine Chance hatte, diese gewalttätige Situation zu vermeiden. Dies ist jedoch ein Irrtum. Häufig senden Täter unbewusst unterschiedliche Signale aus, die auf eine drohende Gefahr hindeuten. Diese gilt es zu erkennen. Denn dann ist es möglich, frühzeitig die Maßnahmen zu ergreifen die notwendig sind, um gefährliche Konflikte zu vermeiden.

Bei manchen Selbstverteidigungskursen (häufig ist dies bei Kursen für Frauen zu beobachten) wird der Schwerpunkt fast ausschließlich auf Verteidigungstechniken gelegt. Gleichzeitig neigt manch ein Dozent dazu, den Teilnehmern möglichst viele Techniken zeigen und beibringen zu wollen. Der Gedanke ist dabei, dem Kursteilnehmer ein breites Spektrum an Wissen und Können mitgeben zu wollen. Jedoch wird vergessen, dass sich eine Routine bzw. ein Automatismus nur durch eine Vielzahl an Wiederholung erreicht werden kann. Besser wäre es, wenige, aber realitätsbezogene Techniken immer wieder zu üben, damit der Drill möglichst schnell verinnerlicht wird.

Die Erfahrung zeigt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, Techniken nachhaltig im Unterbewusstsein zu verankern. Dies geschieht entweder durch viele hunderte, tausende Wiederholungen, wie es beispielsweise im traditionellen Karate der Fall ist. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Teilnehmer unter Stress gesetzt wird. Nun muss er die geübten Techniken unter Druck und vor allem ohne nachzudenken abrufen.

In Anbetracht der Kürze der Zeit wird in Kursen i. d. R. die zweite Variante genutzt. Hierzu werden unterschiedliche Situationen möglichst realitätsnah simuliert. Der oder die Teilnehmer haben dann die Aufgabe, sich gegen einen (oder auch mehrere) Angreifer zur Wehr zu setzen. Teilweise wird, auch um den Druck zu erhöhen, aber auch um Verletzungsrisiken zu minimieren, Vollschutzanzüge verwendet.

Diese Methode beinhaltet aber auch ein mögliches Risiko. Nämlich, dass sich in einem Kurs Teilnehmer befinden, die in der Vergangenheit bereits Opfer von Gewalttaten wurden. Es ist daher wichtig, dass sich die Teilnehmer im Vorfeld des Kursbeginns dem Dozenten vertrauensvoll öffnen bzw. öffnen können. Es muss vermieden werden, dass alte Wunden neu aufgerissen werden.

Es sind daher beide, der Dozent als auch der Teilnehmer, gefordert. Zum einen der Teilnehmer, der den Trainer über seine Erfahrung berichten sollte. Zum anderen der Dozent selbst, der nach solchen negativen Erlebnissen fragen sollte! Gleichzeitig sollte der Dozent den Teilnehmern die Möglichkeit einräumen, dass sich Trainierende ihm unter vier Augen offenbaren können. Selbstredend sind die Grenzen der Teilnehmer zu akzeptieren, zu respektieren und dürfen nicht überschritten werden.

An dieser Stelle möchte ich anführen, dass häufig die Sinnhaftigkeit von Selbstverteidigungskursen angezweifelt wird. Erfahrene Kampfsportler, die oftmals über Jahre eine oder mehrere Kampfsportarten trainieren, äußern ihre Bedenken in Bezug auf solche Kurse. Wie soll es denn möglich sein, dass ein Teilnehmer eines solchen Kurses sich nach wenigen Stunden verteidigen können soll, wenn man doch selbst viele Jahre hart trainiert?!

Verständlich. Doch zugleich zeigt die Fragestellung auf, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Die Vielzahl von Kampfsportlern lernen, sich einem (reglementierten Wett-)Kampf zu stellen und (unter diesen Bedingungen) zu kämpfen. Personen, die sich in Selbstverteidigung üben oder gar einen solchen Kurs besuchen, haben jedoch das Ziel, den Kampf zu vermeiden und suchen stattdessen den Sieg in der Flucht.

Ein Kampfsportler konzentriert sich im Training zumeist nur auf die Kampfphase, während es im SV-Training auch um die Analyse von realistischen Bedrohungslagen geht. Es geht darum, zu schauen, wie Täter sich verhalten, wie sie ihre Opfer aussuchen. Ebenso um die Entwicklung des Problembewusstseins sowie eines Plans (Stichwort: roter Faden), wie man einer solchen Bedrohungslage begegnen kann. Aus diesen Gründen sind die körperlichen Fähigkeiten wie bspw. Fitness, Ausdauer oder Kraft weniger wichtig als im Kampfsport. Darüber hinaus wird in guten SV-Kursen mehr Wert auf Simulations- und auch Szenarientraining gelegt. Selbstredend ist es immer besser, wenn eine gute und solide Grundfitness vorhanden ist. Dies erleichtert auch die Flucht.

All diese Unterschiede zeigen auf, dass ein Selbstverteidigungskurs nie das Ziel hat bzw. haben kann, aus einer Person einen Kämpfer zu machen. Denn um einen Kämpfer oder auch guter Kampfsportler zu werden, bedarf es eben eines regelmäßigen und intensiven Trainings in einer oder mehreren Kampfsportarten.

Es geht vielmehr darum, die Sinne des Teilnehmers zu schärfen, das Selbstbewusstsein zu stärken und Strategien und Taktiken zu entwickeln und zu üben, die es einem erlauben, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen, diese zu vermeiden oder mithilfe von einfach zu erlernenden Techniken UND mithilfe eines Überraschungsmoments zu entkommen. Nur unter diesen Gesichtspunkten machen Selbstverteidigungskurse Sinn.

Daher ist ein SV-Kurs von seinem didaktischen Aufbau nicht geeignet, um einen tieferen Einblick in eine Kampfsportart zu geben. Ziel eines solchen Selbstverteidigungskurses muss es sein, dass den Teilnehmern ein roter Faden an die Hand gegeben wird, um im Ernstfall einen taktischen und strategischen Vorteil gegenüber einem Angreifer zu haben. Mithilfe dieses Vorteils sowie einigen wenigen (max. 4 bis 6) Selbstverteidigungstechniken kann das kurze Zeitfenster des Überraschungsmoments genutzt werden, um die Flucht zu ergreifen. Die Flucht bzw. das Verlassen einer Gefahrenzone sollte immer das Ziel sein.

Nur dann, wenn es keine andere Möglichkeit gibt (ist beispielsweise eine Deeskalations-Strategie gescheitert) und das eigene und/oder das Leben der Familie auf dem Spiel steht, gilt es zu kämpfen, und zwar mit allen verfügbaren Mitteln und darüber hinaus mit klarer Entschlossenheit!

In diesem Ratgeber werden keine Techniken i. S. v. „auf Angriff A erfolgt Verteidigung B“ in einer Bildreihenfolge gezeigt. Solche Bücher gibt es zur Genüge. Vielmehr wird der Blick auf den nachfolgenden Seiten auf die anderen Aspekte, wie Eigensicherung, Selbstbehauptung, Rechtsgrundlagen, dem Mindset u. a. geworfen.

Eigensicherung

Ein wichtiger Aspekt für alle Hilfskräfte ist die Vermeidung von riskanten Einzelaktionen. Hilfsorganisationen aber auch Polizei und Militär haben Leitfäden, wie und unter welchen Bedingungen Leben gerettet werden können. Es gilt der Grundsatz, das eigene Leben und die Gesundheit vorrangig zu schützen. Denn es macht keinen Sinn, wenn man aus Unvorsichtigkeit selbst verletzt wird und somit Hilfe benötigt. Der wichtigste Aspekt ist daher der Eigenschutz.

In anderen Berufen wird der Eigenschutz zumeist auch über Arbeitsschutzgesetze abgedeckt, die vorrangig immer das Ziel haben, die Gesundheit und das Leben des Mitarbeiters zu schützen.

Doch wie ist es im privaten Umfeld? Kümmern wir uns im zivilen Leben um unseren Eigenschutz? Betrachten wir eine mögliche Definition:

„Die Eigensicherung ist der aktive Schutz über geeignete vorbeugende Maßnahmen, die Gefahren für Leib oder Leben abzuwenden.“6

Kernbotschaft stellt „der aktive Schutz“ dar. Jeder einzelne von uns ist gefordert, sich selbst, für seine eigene Sicherheit einzusetzen aber auch mit der Thematik auseinanderzusetzen. Dies bedeutet, dass wir uns in die Lage versetzen müssen, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen und auch richtig einzuschätzen. Alles, was diese Aktivität stört, ist zu unterlassen. Als Beispiel soll hier die mögliche Ablenkung durch den permanenten Blick auf das Smartphone genannt werden oder aber auch das Musikhören im öffentlichen Raum. Durch solche oder andere Störfaktoren werden Warnsignale übersehen bzw. Geräusche (wie bspw. eine heranfahrende Straßenbahn) überhört.

Demgegenüber steht der passive Part der Eigensicherung, der als Eigenschutz bezeichnet wird. Unter Eigenschutz wird die Schutzausstattung bei Einsatz- und Sicherheitskräften verstanden. Die Ausstattung gehört zu den präventiven Hilfsmitteln und umfasst bspw. schusssichere Westen, Feuerwehrhelme, feuerfeste Kleidung etc.

Noch einmal zurück zur Definition: Neben dem aktiven Schutz gehören zur Eigensicherung alle „geeigneten [und] vorbeugenden Maßnahmen“, die notwendig sind, um Gefahren abzuwenden. Zuhause könnte man darunter bspw. einbruchshemmende Mittel für die Wohnung verstehen, wie Alarmanlagen, Sicherheitstüren und -fenster etc.

Sind wir außerhalb unserer Wohnung unterwegs, umfasst die Eigensicherung die Hilfsmittel, die uns dazu befähigen sollen, den Eigenschutz aufrecht zu erhalten. Wichtiger als die Hilfsmittel ist jedoch der aktive Teil der Eigensicherung, also unsere Umgebungsaufmerksamkeit und daraus resultierend unsere Wachsamkeit.

Nur unsere eigene Aufmerksamkeit kann verhindern, dass wir Opfer eines Unfalls oder einer Gewalttat werden. Somit wird klar, dass Eigensicherung bereits ein Thema wird, sobald wir die Wohnung verlassen und eine Straße überqueren wollen. Oder gehen Sie unbedacht über die Straße und riskieren es, dass ein Fahrzeug, welches mit hoher Geschwindigkeit heranrast, Sie erfasst? Ein anderes, gern genommenes Beispiel ist jenes, bei dem Sie des nachts durch den Park gehen, in welchem sich häufig zweifelhafte Gestalten aufhalten.

Doch wie kann das Umgebungsbewusstsein bzw. die eigene Aufmerksamkeit und somit die Überlebensfähigkeit (Survivalbility) geschärft werden? Hierzu bietet sich der von Jeff Cooper entwickelte Farbcode an, der im folgenden Kapitel erläutert wird.

Cooper-Farbcode

John Dean „Jeff“ Cooper († 25.09.2006) war ein ehemaliger US-Militär des US-Marine-Corps und anerkannter Schusswaffenexperte. Als Fachmann wurde er beauftragt, Zivilisten, Polizisten und Soldaten im Umgang mit Schusswaffen zu schulen. Cooper vertrat die Ansicht, dass der wichtigste Punkt, um einer tödlichen Konfrontation zu begegnen, nicht die Kampftechnik oder die Waffe, sondern die Gefechtsbereitschaft sei. In militärischen Einheiten wird diese in unterschiedliche Stufen der Wachsamkeit untergliedert. Steigt die Gefährdungslage an, so muss gleichzeitig die Bereitschaft zunehmen, Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um die Gefahr abzuwenden.

Bezogen auf die zivile Selbstverteidigung vertrat Cooper die Ansicht, dass dazu ein gesundes Umgebungsbewusstsein notwendig ist. Damit ist die Fähigkeit gemeint, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen, um Situationen mit Gefahrenpotential zu erkennen und auch einschätzen zu können. Wird eine mögliche Gefahrensituation erkannt, muss die Bereitschaft gegeben sein, die Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um aus dieser gefährlichen Situation zu entkommen: sei es zu flüchten, sich zu verstecken oder zu kämpfen.

Cooper entwickelte einen Farbcode, um den Status der EIGENEN Aufmerksamkeit abzubilden:

Weiß

Sie schenken Ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit, da Sie eine Gefährdung ausschließen. Bei einer möglichen Attacke sind Sie daher völlig unvorbereitet und werden überrascht.

Die heutige Technikhörigkeit oder auch -abhängigkeit führt dazu, dass sich Menschen vollkommen von ihrer Umgebung abschotten. Als Beispiel sei hier das Smartphone genannt. Menschen laufen durch die Gegend und hören Musik. Dazu verwenden sie die modernsten Kopfhörer, die die Umgebungsgeräusche unterdrücken und für sie somit ausblenden. Gleichzeitig schreiben sie in den sozialen Medien oder „zocken“ ihre Lieblingsspiele. Mit gesenktem Blick und der Aufmerksamkeit auf dem Display wird die Straßenbahn nicht bemerkt, die direkt auf Kollisionskurs ist, weil das Display so viel Spannendes zu bieten hat. Das Gehör wird derweil von Musik eingelullt und ist nicht in der Lage, die aufheulende Sirene der Straßenbahn zu erfassen und zu melden, da es beschäftigt ist, die Musik zu erfassen.

Selbst eine Plauderei mit einem Bekannten oder das Tippen einer SMS führt zu einer geringeren Achtsamkeit. In Folge dieser Ablenkung werden potentielle Gefahren zu spät oder im schlechtesten Fall überhaupt nicht bemerkt. Das Ergebnis kann glimpflich, nämlich verletzungsfrei, ausgehen oder zu schwersten Verletzungen oder gar zum Tod führen.

Vielleicht klingt es in Ihren Ohren so, dass das Gefahrenpotential aufgebauscht und das Risiko übertrieben dargestellt wird. Dennoch: Eine kaum vorhandene Aufmerksamkeit gegenüber dem unmittelbaren Umfeld kann dazu führen, dass sich der Betroffene scheinbar urplötzlich in einer Situation wiederfindet, die er nicht erwartet hatte. Dass dies immer wieder vorkommt, belegen Aussagen von Opfern. So war der oder die Täter „plötzlich da“. Es klingt, als ob die Situation überfallartig entstanden ist.

Bei sich zu Hause, wenn Sie in der gewohnten und sicheren Umgebung sind, dürfen Sie im Status weiß verweilen.

Gelb

Sind Sie außerhalb der Wohnung, also jenseits Ihrer gewohnten, sicheren Umgebung, sollten Sie Ihre Aufmerksamkeit anpassen und erhöhen. Da keine Bedrohung vorliegt, befinden Sie sich in einem aufmerksamen und zugleich entspannten Zustand.

Die Umgebung wird aufmerksam ohne Panik wahrgenommen. Man ist sich bewusst, dass heute der Tag sein könnte, an dem man sich verteidigen muss. Mit dieser entspannten Grundwahrnehmung wird die Umgebung aufmerksam „gescannt“. Es werden fortlaufend Informationen aufgenommen, was um einen herum geschieht.