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Schlechter könnte es nicht laufen: Mila Black, 22, ist als Künstlerin komplett erfolglos und chronisch pleite. Als sie auch noch in eine tiefe Schaffenskrise stürzt, beschließt sie, ein ebenso aufregendes wie verrücktes Experiment zu starten: Für ein Kunst-Projekt arbeitet sie als Luxus-Escort-Girl und macht eine Reise in die Glamourwelt der Superreichen. Paul Wilson, 36, ist smart, sieht gut aus und zählt zu den besten Sex-Coaches von New York. Trotzdem ist er etwas gelangweilt von seinem Job. Bis er eines Tages den Auftrag erhält, das neue Mädchen einer global agierenden Luxus-Escort-Agentur zu coachen. Mila soll der neue Star der Agentur werden. Bedauerlicherweise hat sie keinen blassen Schimmer, wie man Männer verführt. Paul soll ihr helfen und sie zur perfekten Liebhaberin ausbilden. Doch schon bald verfällt er nicht nur Milas frechem Charme, sondern hat auch einen mächtigen Feind: den mysteriösen Jung-Milliardär Tobey Roberts. Der sieht nicht nur unverschämt gut aus, sondern hat auch ein dunkles Geheimnis. Und das will Mila unbedingt enträtseln...
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Seitenzahl: 330
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Sabine Hoffmann
GLAMOURSEX
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Inhaltsverzeichnis
Titel
PROLOG
1.
New York. Zehn Tage vorher
2.
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6.
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New York. Fünf Wochen später
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59.
EPILOG
Impressum neobooks
Wahrscheinlich würde er gleich sterben, dachte Paul und wunderte sich, warum ihn dieser Gedanke so kaltließ. Er musste wirklich vollkommen am Ende sein. Er gab sich noch maximal zwei Minuten, dann würde er höchstwahrscheinlich das Bewusstsein verlieren. Er spürte schon, wie alles um ihn herum langsam verschwamm, wie eine unsichtbare Macht ihn immer stärker nach unten zog. Fremde Menschenstimmen vermengten sich mit dem nicht enden wollenden Hupen von Taxis und dem unaufhörlichen Hämmern eines Presslufthammers.
Er lag rücklings in seiner eigenen Blutlache, in einer Seitenstraße nur hundert Meter entfernt vom Times Square, doch momentan hatte er das Gefühl, sich nicht mitten in New York, sondern mutterseelenallein im Nirgendwo zu befinden.
Er hob seinen Kopf etwas an, versuchte sich mit all seiner Kraft aufzurappeln, sackte aber sofort nach hinten zurück. Ein höllischer Schmerz schoss durch seinen Kopf.
Warum hatten sie ihn nur so zurichten müssen?
Er hatte schließlich keinen Mord oder sonst irgendein schlimmes Verbrechen begangen. Wenngleich er sich eingestehen musste, dass sein Fehler unverzeihlich war.
Schnell verdrängte er den Gedanken. Wenn er schon sterben musste, wollte er zumindest noch einmal an etwas Schönes denken.
Ihre Augen fielen ihm ein.
Noch nie hatte er so klare blaue Augen gesehen.
Und ihre Lippen.
Sie schienen immer zu lächeln.
Wie gern würde er sie noch einmal küssen.
Dann wurde alles um ihn herum schwarz.
So müssen sich die Krokodile in den Everglades fühlen, schoss es Paul durch den Kopf, als die Reporterin der New York Post ihn neugierig musterte.
Seine Assistentin Stacey hatte sie vor ein paar Sekunden in sein Büro geführt. Noch während er sich von seinem Schreibtisch erhoben hatte, um ihr entgegenzulaufen und sie zu begrüßen, hatte er gespürt, wie ihre Augen seinen Körper abtasteten. Wie sie mit schnellem Blick registrierte, was er trug: weißes Hemd, schmal geschnittene graue Designerhose, feine braune Lederschuhe. Sein übliches Büro-Outfit. Klassisch elegant, dabei aber lässig. Und vor allem teuer. Darauf legten seine Patienten größten Wert. Er war groß, hatte eine sportliche Figur. Viele Frauen sagten, er wäre attraktiv. Doch leider schien Paul auf die Reporterin eine gänzlich andere Wirkung zu haben. Er gab es nur ungern zu, aber als sich ihre Blicke trafen, starrte sie ihn so fasziniert und entsetzt zugleich an, als wäre er kein gut aussehender 36-jähriger Mann, sondern ein exotisches Tier.
Forsch streckte sie ihm die Hand entgegen und stellte sich vor. „Liz Whitman, New York Post.“
Er gab ihr die Hand. „Paul Wilson.“ Dabei zwang er sich, sie so freundlich anzulächeln, als würde er eine neue Patientin zum ersten Mal in seiner Praxis begrüßen. „Freut mich, Sie kennenzulernen!“
Das war eine glatte Lüge. Mit ihrer dicken schwarzen Nerdbrille und dem strengen Business-Outfit war sie ihm ungefähr so sympathisch wie die Politesse, die ihm heute Morgen einen saftigen Strafzettel fürs Falschparken verpasst hatte. Trotzdem bemühte er sich, so charmant wie möglich zu sein. Es war das erste Mal, dass eine Zeitung ein Porträt über ihn und seinen Job brachte.
Er war Sex-Coach in New York.
Offensichtlich machte er seine Arbeit gut, denn sein Terminkalender war immer bis oben hin voll – obwohl er zweihundert Dollar die Stunde nahm. Nicht gerade wenig, aber dafür rettete er schließlich auch Ehen und sparte seinen Patienten sündhaft teure Scheidungen. Genauer gesagt half er Paaren, ihre sexuellen Probleme zu lösen, damit ihr gemeinsames Leben wieder so leidenschaftlich und intensiv wie am Anfang der Beziehung wurde. Man könnte auch sagen, er führte seine Patienten aus erotischen Sackgassen. Auch wenn seine Coaching-Methode für die meisten Menschen wahrscheinlich erst mal gewöhnungsbedürftig klang.
„Setzen Sie sich doch bitte“, sagte er und zeigte auf das hellgraue Designersofa, das neben einem dunkelgrauen Sessel mit einladend großen Lederpolstern in der Raummitte stand.
Höflich fragte er: „Möchten Sie Kaffee, Tee oder lieber Wasser?!“
„Ein stilles Wasser. Danke“, antwortete sie, und während er Stacey bat, zwei stille Wasser zu bringen, schlenderte Liz Whitman zu der riesigen Glasfront.
„Schöne Aussicht“, sagte sie und blickte bewundernd auf das Grün des Central Parks, das hinter den bodentiefen Fenstern in den Himmel ragte. „Haben Sie Ihre Praxis schon lange hier?“
„Etwa fünf Jahre“, antwortete Paul. „Davor war ich in Brooklyn. Mit der Zeit hatte ich aber immer mehr Patienten aus Manhattan. Die meisten wohnten an der Upper East Side, waren beruflich stark eingebunden und jammerten über den langen Anfahrtsweg zu unseren Treffen. Deshalb habe ich meine Praxis kurzerhand an die Upper East Side verlegt.“
Sie drehte sich zu ihm um, zog den linken Mundwinkel leicht spöttisch nach oben. „Fiel Ihnen bestimmt sehr schwer?!“
Schweigend grinste Paul.
Sie ließ ihren Blick durch den Raum wandern, begutachtete den Einrichtungsstil. Auf dem grauen Sofa waren mehrere Kissen in Naturtönen mit filigranen Prints verteilt, davor stand ein edler Teaktisch. An verschiedenen Stellen im Raum waren rustikale Holzaccessoires neben modernen Kunststoffleuchten und bunter Pop-Art drapiert.
Es klopfte an der Tür. Stacey kam mit einer großen Flasche Pellegrino und zwei Gläsern auf einem Tablett herein, stellte alles auf den Teaktisch und schenkte das Wasser in die Gläser.
Als sie den Raum wieder verlassen hatte, setzte sich Liz Whitman auf das Sofa, zog ein in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch und einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und legte ein Aufnahmegerät vor sich auf den Tisch. Lächelnd nahm sie den Kugelschreiber in die rechte Hand und fragte: „Wie sieht ein Sex-Coaching denn normalerweise bei Ihnen aus?“
„Ich coache meine Klienten, während sie sexuell aktiv sind. Man kann sich das am besten als praktische Sprechstunde vorstellen. Entweder besuche ich meine Klienten zu Hause oder wir machen das Coaching hier in der Praxis.“
Er drehte den Kopf und zeigte dabei auf eine Tür, die zu einem Nebenzimmer führte. „Nebenan habe ich noch einen zusätzlichen Raum mit einem Bett für praktische Übungen.“
Lächelnd wandte er den Kopf zurück in ihre Richtung. „Auf diese Weise können meine Verbesserungsvorschläge sofort übernommen werden. Viele meiner Patienten haben Probleme mit eigenen Worten zu beschreiben, warum ihre bisherige sexuelle Technik nicht die gewünschten Ergebnisse brachte. Deshalb ist es meist auch effektiver, wenn ich ihnen einfach gleich beim Sex zuschaue.“
Liz Whitman wirkte so entsetzt, als hätte er ihr gerade mitgeteilt, George Clooney hätte sich von der schönen Menschenrechtsanwältin Amal Alamuddin getrennt und verkündet, er wollte sich lieber ein neues Hausschwein zulegen. Wenn Paul ihren Gesichtsausdruck richtig interpretierte, war sie kurz davor, ihn als Perversen abzustempeln. Das verwunderte ihn nicht weiter. Fast alle Menschen zeigten diese Reaktion, sobald sie hörten, dass Paul in seinen praktischen Sprechstunden Paaren beim Sex zuschaute. Aus Erfahrung wusste er, dass jetzt nur eines half: Er musste einfach so weiter erzählen, als hätte er den normalsten Job der Welt. Verkaufsberater in der Dessous-Abteilung eines Kaufhauses oder irgendetwas in der Art.
Mit ruhiger Stimme sagte er: „Sicherlich ist meine Methode etwas ungewöhnlich. Aber sie funktioniert ganz hervorragend. Für viele meiner Patienten ist es eine besondere Motivation, wenn ich ihnen beim Sex persönlich zuschaue.“
Er machte eine kurze Pause und ließ seine Worte wirken. Wie ihm schien, war Liz Whitman noch nicht so recht überzeugt und Paul fragte: „Waren Sie schon mal im Fitness-Studio?“
Sie nickte.
„Im Endeffekt ist das wie beim Workout, wenn der Trainer direkt neben einem steht und zuschaut: Da gibt man sich extra viel Mühe.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf und lachte kurz auf, während sie seine Ausführungen in ihr Notizbuch schrieb.
Zögerlich fragte sie: „Sind Ihre Klienten nicht angeekelt, wenn ihnen jemand in so einer intimen Situation zuschaut?!“
„Nein, im Gegenteil. Die meisten nehmen mich gar nicht mehr wahr, sobald meine Therapie Wirkung zeigt. Besonders für Paare in langjährigen Beziehungen ist es oft der erste richtig gute Sex seit langer Zeit. Meist sind sie so berauscht und gefesselt von ihrem Liebesspiel, dass ich völlig aus ihrem Bewusstsein verschwinde.“
Er dachte an den Termin gestern mit dem jungen Ehepaar, Kate und Gordon Davis. Beide waren Mitte dreißig und kannten sich seit der zehnten Schulklasse. Eine klassische College-Liebe mit einem typischen Problem: Beide hatten nie andere Sexpartner gehabt. Weil Kate und Gordon ein paar tausend Meilen von New York entfernt in Dallas lebten, hatten sie drei Gesprächssitzungen über Skype. Gestern nun waren sie für ihre erste praktische Sprechstunde in seine Praxis gekommen. Bei der Erinnerung daran musste Paul schmunzeln.
„Wenn ich es mir recht überlege, muss ich den meisten sogar irgendwann auf die Schulter tippen, um ihnen zu sagen, dass sie gerne alleine weitermachen dürfen.“
Sie lachte laut, schüttelte wieder ungläubig ihren Kopf und sagte: „Klingt unglaublich.“
Paul lächelte.
Neugierig fragte Liz Whitman: „Was sind denn eigentlich die häufigsten Probleme?“
„Die meisten haben nur Basiskenntnisse und wollen diese mit meiner Hilfe erweitern. Man könnte sagen, sie sehnen sich nach anspruchsvollerem Sex.“
Nachdenklich ließ sie ihren Blick durch den Raum gleiten. An dem eleganten Glasschreibtisch blieb er hängen. Sie schien etwas darauf zu suchen.
Plötzlich drehte sie den Kopf in seine Richtung: „Sind Sie eigentlich verheiratet?“
„Nein“, antwortete Paul und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn der scharfe, fast schon vorwurfsvolle Ton ihrer Frage ärgerte. Er tröstete sich damit, dass er nun wenigstens wusste, was ihr suchender Blick zu bedeuten gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte Liz Whitman auf seinem Schreibtisch nach einem Familienbild oder irgendeinem anderen privaten Foto Ausschau gehalten. Vielleicht im Sommerurlaub in den Hamptons. Zu zweit, verliebt am Strand. Solche Bilder gab es natürlich. Jede Menge sogar. Schließlich hatten sie in den letzten Jahren im Sommer fast jedes Wochenende in den Hamptons verbracht. Er versuchte so freundlich wie nur möglich zu lächeln, doch sie erwiderte sein Lächeln nicht, sondern musterte ihn kritisch.
Wahrscheinlich vermutete sie, dass er ein Womanizer war und seine Freundinnen recht häufig wechselte und versuchte sich vorzustellen, wie seine aktuelle Affäre aussah. Das war nicht weiter ungewöhnlich, die meisten Leute interessierten sich ausgesprochen stark für sein Intimleben.
Doch statt weiter nachzubohren, sagte sie plötzlich: „Was war Ihr bislang außergewöhnlichster Fall?“
Bilder explodierten in seinem Kopf. Es war, als würde diese Frage ein Feuerwerk an bunt-glitzernden Erinnerungen entzünden.
Er dachte an SIE. Eine kleine Frau im knallgrünen Sommerkleid.
Seinen Auftrag.
Er zögerte.
Sollte er es tun?
Sollte er ihr von Mila und MEET THE BEST erzählen?
Das Telefon klingelte und Paul hörte, wie Staceys Stimme leicht genervt aus dem Hörer erklang: „Dr. Wilson, eine Deborah Fielding möchte Sie sprechen.“
Er schaute auf seine Armbanduhr. Punkt sechs. An einem Freitagabend. Paul konnte verstehen, dass Stacey verärgert war. Eigentlich hatte er ihr versprochen, dass sie heute etwas früher Schluss machen könnte, so viele Überstunden wie sie in den vergangenen Monaten gemacht hatte. Wahrscheinlich plante sie, sich schleunigst ins Wochenende zu verabschieden und nach Hause zu gehen.
Wenn er es sich recht überlegte, hatte er auch keine Lust auf ein Gespräch mit einer neuen Patientin. Und Deborah Fielding musste eine neue Patientin sein. Er hatte ihren Namen noch nie zuvor gehört.
Stacey schien seine Gedanken zu erraten, denn sie fragte begierig: „Soll ich ihr sagen, dass Sie erst nächste Woche wieder im Büro zu erreichen sind?“
Paul zögerte. Eigentlich könnte er Stacey tatsächlich bitten, sie abzuwimmeln. Darin war sie wirklich gut. Sie machte das so reizend und höflich, dass bislang jeder Patient felsenfest überzeugt war, Paul hätte tatsächlich einen immens wichtigen Termin und würde es aus tiefstem Herzen bedauern, gerade keine Zeit für ein Gespräch zu haben.
Irgendetwas hielt ihn trotzdem davon ab, Deborah Fielding auf die nächste Woche zu vertrösten.
„Hat sie gesagt, um was es geht?“
„Nein. Nur, dass sie unbedingt mit Ihnen sprechen müsse“, antwortete Stacey und klang dabei noch eine Spur genervter. „Sie meinte, es sei dringend.“
„Dringend“, murmelte Paul leise vor sich hin und fragte sich, warum ihn dieses Wort nur so magisch anzog. Wahrscheinlich verknüpfte sein Hirn damit automatisch, dass es sich zwangsläufig auch um etwas Spannendes handeln musste. Nur so konnte er sich den Adrenalinkick erklären, den das Wort „dringend“ jedes Mal bei ihm auslöste.
Wobei er für ein solches Anliegen momentan eigentlich nicht in der richtigen körperlichen Form war. Während er den Telefonhörer in der linken Hand hielt, rieb er sich mit der rechten über die Stirn und schloss die Augen für einen Moment. Er war kaputt. Wahrscheinlich sollte er schnell Feierabend machen. Ein anstrengende, zähe Woche lag hinter ihm, als er sich plötzlich sagen hörte: „OK, stellen Sie durch. Aber das ist dann wirklich das letzte Gespräch. Sie können schon mal Feierabend machen, Stacey.“
„Danke, Dr. Wilson!“, antwortete Stacey erleichtert. „Machen Sie auch bald Feierabend!“
„Das werde ich, Stacey“, erwiderte er und dachte an die Berge von Patientenakten, die er noch durchgehen wollte.
Doch ehe er sich darüber weiter Gedanken machen konnte, sagte eine tiefe Frauenstimme: „Guten Tag, Dr. Wilson! Gut, dass ich Sie so spät noch erreiche. Ich muss Sie dringend sprechen.“
In höflichem Ton antwortete Paul: „Guten Tag, Mrs. Fielding. Um was geht es denn?“
„Das würde ich lieber persönlich besprechen“, erwiderte sie bestimmt. „Es ist ein recht ungewöhnliches Anliegen. Aber ich denke, es wird Sie interessieren. Kommen Sie doch morgen in meinem Büro vorbei. Sagen wir am späten Vormittag. So gegen elf Uhr?“
Verdutzt schwieg Paul. Nicht nur, dass morgen Samstag und somit Wochenende war. Für gewöhnlich kamen die Patienten in sein Büro und nicht umgekehrt. Allerdings gab es Ausnahmen. Manche waren beruflich so eingebunden, dass sie nur am Wochenende Zeit hatten. Andere hatten panische Angst zufällig von einem Arbeitskollegen, Freund oder alten Bekannten dabei beobachtet zu werden, wie sie die Praxis eines Sex-Coachs betraten.
Johnny Belwin fiel ihm ein. Er war ein bekannter Investment-Banker, hatte aber sein halbes Vermögen während der weltweiten Immobilienkrise verloren. Seitdem litt er an Erektionsstörungen, die sich selbst durch die beharrliche Einnahme von Viagra nicht beheben ließen. Trotz dieser diffizilen Problematik hatte er darauf bestanden, Paul zum Lunch in einem exquisiten Sushi-Lokal an der Wallstreet zu treffen. Dort wimmelte es zwar von Leuten aus der Finanzbranche, trotzdem schien es Johnny Belwin lieber zu sein, seine Schwanz-Probleme an diesem Ort zu erörtern, als in Pauls Praxis.
Bei der Erinnerung daran wurde Paul fast ein bisschen wehmütig. Johnny Belwin war einer seiner Lieblingsfälle gewesen. Er hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet und war an der Wallstreet ein reicher Mann geworden. Seitdem er infolge der Immobilienkrise Unmengen an Geld verloren hatte, musste er leider ständig daran denken, wo er eigentlich herkam - einem Arbeiterstädtchen in Pennsylvania. Selbst beim Sex ließ ihn der Gedanke an seine ärmliche Kindheit nicht los, Orte und Plätze von früher schossen ihm sogar während des Akts durch den Kopf. Leider schien er als Junge Stunden mit Warten im Auto verbracht zu haben, während seine Mutter bei Woolworth nach den günstigsten Angeboten suchte. Wenn er Sex hatte, musste er nun immerzu an den Parkplatz vor Woolworth denken. Nicht unbedingt die erotischste Vorstellung. Johnny Belwin hatte mit Pauls Hilfe versucht, diese störenden Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen.
Paul hatte die Treffen mit ihm sehr genossen. Er liebte unkonventionelle Fälle. Leider kamen die in letzter Zeit immer seltener vor. Den Grund konnte sich Paul beim besten Willen nicht erklären. An der Lage seiner Praxis konnte es auf jeden Fall nicht liegen. Schließlich hatte er sich zur Ausübung seines Berufs den perfekten Ort ausgesucht. Die Upper East Side war schon seit jeher das Zentrum vermögender Neurotiker.
Paul merkte, wie er immer neugieriger wurde, welches Problem Deborah Fielding plagte. Doch noch ehe er sie nochmals danach fragen konnte, nannte sie ihm ihre Adresse.
Er kannte die Straße.
Sehr teure Ecke, ziemlich ruhig und diskret. Keine zehn Fußminuten entfernt.
Ohne lange zu überlegen, antwortete er: „In Ordnung. Morgen um elf Uhr.“
Erfreut antwortete sie: „Vierter Stock. Ich gebe dem Pförtner Bescheid. Sie können den Eingang zu meinem Büro nicht verfehlen. Der Fahrstuhl hält direkt im Empfangsraum.“
Sie hielt kurz inne.
„Dort hängt ein riesiges, rotschimmerndes Metallherz mit goldener Schleife von der Decke. Das haben Sie bestimmt schon mal irgendwo gesehen. Ist ein ziemlich bekanntes Kunstwerk, das „Hängende Herz“ von Jeff Koons.“
Sie machte eine Pause.
„Es ist ein Original.“
Ohne auf seine Antwort zu warten, verabschiedete sie sich und legte auf.
Paul hasste das Diktat der Ampeln. Er stand nur eine Fußgängerampel von dem Haus entfernt, das Deborah Fielding ihm als Adresse genannt hatte und starrte ungeduldig das rote Licht an. Es war ein ungewöhnlich heißer Junimorgen. Wie immer bei wichtigen beruflichen Terminen trug er einen dunklen Anzug. Zu seinem Ärger bemerkte Paul, dass er anfing zu schwitzen. Er schaute kurz auf seine Armbanduhr.
Es war 10.50 Uhr.
Damit hatte er noch exakt zehn Minuten Zeit bis zum Treffen mit Deborah Fielding. Trotzdem lief er sofort los, als die ersten Autos vor ihm auf der Straße anhielten, und wartete nicht auf das Fußgängergrün. Das machte er schon seit Teenagerzeiten. Er war immer ein guter Schüler gewesen, hatte seinen Eltern nie Probleme gemacht. Das war seine Form der Rebellion. Auch heute noch gab es ihm das Gefühl, zumindest für wenige Sekunden über das Diktat der Ampel gesiegt zu haben. Ein Triumpf, der ihn jedes Mal für einen winzigen Moment berauschte.
Zwei Minuten später stand er direkt vor seinem Ziel, einem eleganten, mehrstöckigen Stadthaus. Ein Prachtbau, der wie ein Relikt aus einer anderen Zeit wirkte. Paul schätzte, dass das Gebäude Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden war. Vor dem Eingang war der in dieser Gegend übliche dicke rote Teppich ausgebreitet, den eine cremefarbene Markise vor Sonne und Regen schützte.
Paul betrat die Eingangshalle und registrierte, wie seine Schritte, die noch eben in dem weichen Teppich versunken waren, laut hallten. Der Fußboden war aus Marmor. Angenehme Frische umhüllte ihn. Er sog die kühle Luft tief ein und blickte nach oben. Die Decke war ungewöhnlich hoch und hatte etwas sakral Anmutendes. In der Raummitte hing ein riesiger Kronleuchter aus Kristall. Die Wände waren mit cremefarbener Seide ausgekleidet, die Deckenleisten mit weißen Stuckrosetten verziert.
„Guten Tag, Sir!“, begrüßte ihn die Stimme eines älteren, schwarzen Pförtners in dunkelblauer Uniform, der ein paar Meter weiter hinter einem schweren Schreibtisch aus dunklem Holz saß. Nachdem Paul seinen Namen genannt hatte, zeigte er lächelnd auf den Fahrstuhl am Ende der Eingangshalle und sagte: „Ganz oben. Vierter Stock.“
Paul nickte ihm dankend zu und lief durch den Flur. Er trat in den Lift und drückte einen golden glänzenden Knopf neben dem in schwarzen Lettern die Zahl vier stand. Die Türen schlossen sich, klassische Musik erklang. Als der Aufzug sich geräuschlos in Bewegung setzte, blickte Paul nach oben und fragte sich, wie hoch wohl die Eingangshalle von Deborah Fieldings Büro war. Er schätzte mindestens vier, fünf Meter. Sonst würde das Metallherz nicht reinpassen. Es musste an die drei Meter groß sein.
Er erinnerte sich noch, wie vor ein paar Jahren eines dieser riesigen, roten Herzen von Jeff Koons bei Sothebys an einen anonymen Bieter versteigert worden war. Es hatte den Rekordpreis von mehr als dreiundzwanzig Millionen Dollar erzielt. Damals hatte er sich gefragt, wer wohl so verrückt war, eine so extreme Summe für ein kitschiges Metallherz auszugeben. Er hatte auf einen arabischen Scheich getippt. Oder einen Öl-Multi.
Ob Deborah Fielding die Käuferin gewesen war?
Was mochte sie beruflich machen?
Mit einem sanften Ruckeln hielt der Aufzug an. Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Und dort, ein paar Meter weiter in der Raummitte, hing es: An einer goldenen Schleife baumelte das riesige, hängende Herz von der Decke.
Sollte jemals ein Kunstliebhaber in seiner Gegenwart behaupten, das riesige Metallherz von Koons wäre beeindruckend, würde Paul erwidern, dass das eine glatte Lüge sei. Dieses Herz war einfach überwältigend. Er konnte das mit hundert prozentiger Sicherheit sagen, denn er stand jetzt seit gut fünf Minuten in der Eingangshalle und starrte es wie gebannt an. Nun gut, ansonsten gab es auch nicht viel zu sehen. Es war der einzige Gegenstand im ganzen Raum. Nicht, dass das am mangelnden Platz gelegen hätte.
Die Eingangshalle war riesig, schätzungsweise zehn Meter lang und genauso breit. Ein Quadrat aus weißen Böden und Wänden. Schneeweiß wäre wohl präziser, denn nicht der kleinste Fleck war zu erkennen, alles wirkte so, als wäre es gerade frisch gereinigt worden. Allerdings musste die Putzfrau perfektionistisch veranlagt sein, denn der ganze Raum sah klinisch rein aus. Clean Chic nannte man das wohl. Paul gefiel es. Vielleicht, weil das reine Weiß eine unnahbare Kälte und ästhetische Dominanz ausstrahlte. Das rote Metallherz bildete den perfekten Kontrast. Es dominierte den Raum nicht nur, es beherrschte ihn. Dekadent und ungemein verschwenderisch wirkte es. Die glänzende rote Farbe verlieh ihm etwas Verführerisches, sehr Sinnliches. Obwohl es nur ein Kunstherz aus Metall war, musste Paul zwangsläufig an Sex denken. An richtig guten Sex.
„Herzlich willkommen, Dr. Wilson“, riss ihn eine junge Frauenstimme aus seinen Gedanken. Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und sah, wie sich am anderen Ende des Raums eine schwere Metalltür automatisch öffnete. Sie war so golden wie die Schleife des Herzens. Eine junge Frau lief auf ihn zu. Ihre hellblonden Haare hatte sie zu einem tief angesetzten, kunstvollen Knoten gebunden, ein weißes, enganliegendes Etuikleid betonte ihre schlanke Figur. Sie hätte Claires Zwillingsschwester sein können, so groß war die Ähnlichkeit. Ein Gedanke, bei dem er nicht anders konnte: Paul lächelte sie bewundernd an.
Gerade in dem Moment, als er sich fragte, ob diese Frau wohl Deborah Fielding war, streckte sie ihm ihre schlanke rechte Hand entgegen und sagte: „Ich bin Tess, Mrs. Fieldings Assistentin.“
Ihre Hand umschloss seine sanft, kaum spürbar. Dabei legte sie ihre linke Hand so zärtlich auf Pauls Unterarm, als würde beide eine tiefer gehende Vertrautheit verbinden. Wenngleich Tess und Claire sich rein äußerlich ausgesprochen ähnlich waren, wurde ihm in diesem Moment der erste feine Unterschied zwischen beiden bewusst, der aus zwei nahezu identisch aussehenden Frauen komplett unterschiedliche Persönlichkeiten machte: Claires Handdruck war fest und selbstsicher. Niemals würde sie einem fremden Mann zur Begrüßung vertraut die Hand auf den Arm legen. Das lag sicher auch an ihrem Beruf.
Claire war Juristin, ihr Spezialgebiet waren Scheidungen. Die, der richtig teuren Sorte. Sie arbeitete in einer der renommiertesten Kanzleien New Yorks. Weil sie die einzige Frau unter lauter Männern war, landeten alle neuen weiblichen Klientinnen auf ihrem Schreibtisch. Sie vertrat ausschließlich Frauen, die sich nicht damit zufrieden geben wollten, nach zehn, zwanzig oder dreißig gemeinsamen Ehejahren gegen eine jüngere Frau ausgetauscht und von ihrem vermögenden Gatten mit ein paar hunderttausend Dollar abgespeist zu werden. Es versteht sich, dass diese Frauen keinen gesteigerten Wert darauf legten, dass Claire ihrem Ex-Mann mit einfühlsamen, fast schon zärtlichen, zwischenmenschlichen Gesten begegnete.
Claire blieb auf Abstand. Nicht nur zu ihren Klienten, zu allen Menschen. Auch zu ihm. Obwohl sie schon seit vier Jahren ein Paar waren, hatte Paul manchmal das Gefühl, so gut wie nichts über sie zu wissen. Schnell verdrängte er den Gedanken.
Er liebte Claire.
Tess strahlte ihn an. „Kommen Sie, ich bringe Sie zu Deborah.“
Während ihre linke Hand weiter auf seinem Unterarm ruhte, drehte sie ihren Oberkörper in die Richtung, aus der sie gekommen war, und deutete mit der rechten Hand auf die golden glänzende Metalltür.
Höflich sagte sie: „Folgen Sie mir bitte.“
Sie ließ seinen Arm los und setzte sich zielstrebig in Bewegung.
Paul folgte ihr in ein paar Schritten Entfernung und hörte, wie die Absätze ihrer High Heels auf dem Steinboden klackerten. Bei jedem Schritt überkreuzte sie die Beine, setzte die Füße so eng nebeneinander auf, als würde sie auf einer geraden Linie laufen. Wie ein Model auf dem Catwalk.
Claire fiel ihm wieder ein. Sie hatte den gleichen stolzen Gang. Die Schultern zog sie beim Gehen zurück und versetzte ihren Körper auf diese Weise in eine leichte Spannung. Den Kopf hielt sie immer kerzengerade, drückte ihren Rücken durch, ohne dabei jedoch steif oder unbeweglich zu wirken.
Paul spürte, wie ihn dieser Gedanke erregte, wie das Adrenalin durch seine Blutbahnen schoss, als er die schwere Metalltür durchschritt.
„Schön, dass Sie es einrichten konnten, so schnell zu kommen!“, begrüßte ihn aus einigen Metern Entfernung eine tiefe Frauenstimme. „Ich bin Deborah.“
Sie saß hinter einem silbernen MacBook an einem Glasschreibtisch, dessen eigenwillig designte Form Paul als Erstes auffiel: Statt auf gewöhnlichen Tischbeinen ruhte die massive Glasplatte auf zwei grauen Marmorkugeln, die wie Globen mit filigranen Zeichnungen der Kontinente und Meere verziert waren. Dahinter an der Wand war eine Installation angebracht. In weiß getönten Neonröhren leuchtete ein Schriftzug.
MEET THE BEST
Während Tess sich schnell verabschiedete und durch eine unauffällige Tür in den Nebenraum verschwand, stand Deborah von ihrem Schreibtischsessel auf und lief ihm entgegen. Auch sie war hellblond, trug ein enganliegendes, weißes Etuikleid und High Heels. Sie musste ein ganzes Stück älter sein als Tess, vielleicht Mitte vierzig. Trotzdem war sie ausgesprochen attraktiv. Ihr Körper wirkte straff und durchtrainiert. Die Gesichtskonturen waren fein, die Nase so gerade, als wäre sie mit einem Lineal gezogen. Sie erinnerte Paul an irgendjemand.
Freundlich lächelnd zeigte Deborah Fielding auf eine elegante Sitzgruppe ein paar Meter weiter und bat ihn Platz zu nehmen. Während Paul sich schweigend niederließ wurde ihm bewusst, dass der Raum deutlich kleiner war als die Eingangshalle. Es herrschte eine fast schon intime Atmosphäre.
Er ließ seinen Blick kurz umher streifen.
Der auffällige Schreibtisch dominierte den Raum. Auf der massiven Glasplatte stand ein dicker Strauß weißer Lilien. Im Gegensatz dazu wirkte Deborah Fieldings Schreibtischsessel ausgesprochen dezent und zurückhaltend. Ein schlichtes, silbernes Aluminiumgestell. Sitzfläche und Rückenlehne waren mit weißem Leder bezogen. Machte einen ziemlich teuren Eindruck. Musste ein Designer-Stück sein.
Viel gab es sonst nicht zu sehen. Der Einrichtungsstil war puristisch. Bis auf die Installation waren die Wände weiß. Als sollte nichts auch nur eine Sekunde von dem auffälligen Schriftzug ablenken.
MEET THE BEST
Paul fragte sich wieder, was sich dahinter verbarg. Vielleicht war Deborah Fielding eine renommierte Headhunterin. Vorstellbar war es, sie wirkte wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Ihre Gesichtszüge waren klar und intelligent, ihre Ausstrahlung extrem selbstbewusst. Allerdings war sie für eine Tätigkeit in den grauen Etagen der Wirtschaftsbosse eindeutig zu sexy gekleidet. Während sie sich ihm genau gegenüber auf das Sofa setzte, rutschte ihr Kleid so weit hoch, dass Paul um ein Haar ihren Slip gesehen hätte. Jetzt fiel ihm endlich ein, an wen sie ihn erinnerte: Sharon Stone.
Paul musste an die berühmte Szene in „Basic Instinct“ denken, als Sharon Stone beim Verhör auf dem Polizeirevier ihre Beine vor den Augen der Kriminalbeamten lasziv übereinander schlug und für einen kurzen Moment offenbarte, dass sie keinen Slip trug.
Er war sich jetzt ganz sicher: Deborah Fielding vermittelte definitiv keine Jobs.
„Ich will gleich zur Sache kommen“, sagte sie, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, ihm, höflichkeitshalber, ein Getränk anzubieten. Ihr Problem schien wirklich dringend zu sein.
Sie drehte den Kopf zu der Installation und deutete auf den Schriftzug an der Wand. „Hinter MEET THE BEST verbirgt sich eine global agierende Luxus-Escort-Agentur.“
Wieder zu ihm gewandt erklärte sie lächelnd: „Ich bin die Chefin und Gründerin.“
Erstaunt hob Paul die Augenbrauen.
Das Lächeln verschwand von ihren Lippen. „Wie ich Ihnen am Telefon bereits erzählte, habe ich ein Problem. Für mein Unternehmen arbeiten dreißig Mädchen. Sie jetten rund um den Globus, um die reichsten Männer der Welt zu treffen.“ Sie machte ein ernstes Gesicht. „Leider habe ich im letzten Monat fünf meiner Mädchen verloren.“
Paul erschrak. Das klang fast so, als wären sie ums Leben gekommen. Er musste sehr entsetzt geschaut haben, denn Deborah Fielding lachte kurz auf.
„Keine Sorge, allen geht es gut. Teilweise ausgesprochen gut sogar.“ Sie seufzte bedauernd. „Eine ist mit einem Scheich durchgebrannt, zwei mit Internet-Millionären.“ Ihre Stimme nahm einen sarkastischen Tonfall an. „Die restlichen beiden waren für den Job komplett ungeeignet.“ Sie lächelte böse. „Sie arbeiten jetzt wieder bei Bergdorf & Goodman in der Kosmetikabteilung.“
Paul fragte sich, an welchem Punkt der Geschichte wohl sein Einsatz käme, als Deborah Fielding sagte: „Ich habe ein neues Mädchen. Sie ist – wie soll ich sagen – ein ungeschliffener Diamant. Sie hat das Zeug dazu, der neue Star der Agentur zu werden. Ich möchte, dass Sie ihr dabei helfen.“
Paul war baff. Deborah Fielding hatte bei ihrem Anruf nicht übertrieben. Das war in der Tat ein ungewöhnliches Anliegen. Er wusste nicht so recht, wie sie sich das vorstellte. Einer jungen Frau helfen, zum Star einer Escort-Agentur zu werden. Wie sollte er das anstellen? Was wollte sie von ihm?
Ohne, dass er die Frage laut ausgesprochen hatte, schaute Deborah Fielding ihm mit festem Blick in die Augen und sagte: „Ich möchte, dass Sie aus ihr eine perfekte Liebhaberin machen. Sie soll so gut im Bett sein, dass selbst meine anspruchsvollsten Kunden sie immerzu buchen wollen.“
Auch wenn er von sich behaupten konnte, als Sex-Coach schon einiges erlebt zu haben: Ein solcher Fall war ihm noch nie zuvor untergekommen. Könnte interessant werden, schoss es ihm durch den Kopf. Doch im nächsten Moment verwarf er den Gedanken wieder. Er hatte keine Lust, ins Rotlichtmilieu hineingezogen zu werden. Am Ende würde er sich seinen bislang tadellosen Ruf als Sex-Coach versauen. Wenn er es sich recht überlegte, widerstrebte ihm auch der Gedanke, eine junge Frau zu ermutigen, sich und ihren Körper für Geld zu verkaufen. Auch wenn Escort-Girls keine Prostituierten waren und nicht zwangsläufig dafür bezahlt wurden, mit einem Mann ins Bett zu gehen: Die meisten Männer wollten letztendlich doch nur vögeln.
Er konnte solche Typen nicht verstehen. Er hatte es nie nötig gehabt, für Sex zu bezahlen.
Natürlich stand es jedem Menschen frei, den Beruf zu wählen, der ihm oder ihr am meisten zusagte. Allerdings war die Sachlage hier etwas anders. Er bezweifelte, dass die meisten Frauen, die in dieser Branche tätig waren, ihren Beruf aus purer Lust ausübten. Und er konnte sich schon gar nicht vorstellen, dass sie genauso viel Spaß an ihrem Job hatten wie ihre Kunden. Die meisten machten es garantiert nur deshalb, weil sie das Geld brauchten. Wofür auch immer.
Paul überlegte, ob er sich am besten gleich wieder verabschieden sollte. Claire war ohnehin nicht begeistert gewesen, dass er heute noch spontan einen beruflichen Termin hatte. Momentan kreisten ihre Gedanken ausschließlich um die Charity-Party, die sie am Samstag in zwei Wochen gemeinsam im Wochenendhaus ihrer Eltern in den Hamptons geben wollten. Es war ihre erste Wohltätigkeitsveranstaltung und sie hatten noch jede Menge zu erledigen. Aus einer ursprünglich klein und exklusiv angedachten Party war mittlerweile ein halbes Staatsbankett geworden. Es mussten weit über hundert Gäste sein. Die, wie Claire zu sagen pflegte, perfekte Mischung aus Geldadel und Showprominenz. Seit heute morgen war ihm klar, was das in Wahrheit bedeutete: Die Sache lief finanziell langsam total aus dem Ruder. Beim Frühstück hatte Claire ihm offenbart, dass sie noch Rihanna für einen spektakulären Gig anfragen wollte. Als er das hörte, hätte er sich beinahe an seinem Croissant verschluckt.
Er hatte sich großzügig bereit erklärt, alles alleine zu bezahlen.
Er durfte gar nicht daran denken, was ihn dieser Auftritt noch zusätzlich kosten würde. Allerdings brachte er es nicht fertig, Claire zu sagen, dass eine solch mondäne Party definitiv sein Budget sprengen würde. Sie war seine Königin. Seine Trophäe.
Er lehnte sich tief in das Ledersofa, schaute Deborah Fielding an und sagte: „Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Agentur. Wie lange gibt es MEET THE BEST schon?“
Stolz schwang in ihrer Stimme, als sie antwortete: „Seit fünfzehn Jahren. Mittlerweile zählen wir zu den exklusivsten Agenturen der Welt. Alle meine Mädchen sind nicht nur jung und schön, sondern auch klug und eloquent. Die meisten haben studiert, oft geisteswissenschaftliche Fächer wie Literatur, Kunst oder Geschichte.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Eine hat sogar einen Doktor in Philosophie.“
Er stutzte. „Ich will nicht unhöflich sein, aber wieso arbeiten diese Frauen als Escort-Girls? Sie würden doch bestimmt auch andere Jobs finden.“
Sie schnaubte verärgert. „Ja, klar. Alle hatten auch einen Job bevor sie bei mir anfingen. Trotz ihrer guten Ausbildung und ihrer offensichtlich vorhandenen Intelligenz wurden sie aber mies bezahlt, waren Mädchen für alles in teuren Galerien, machten Museumsführungen oder lektorierten für einen Hungerlohn bei einem kleinen Verlag Romane.“ Sie wirkte so verärgert, als wüsste sie aus eigener Erfahrung, von was sie sprach. „Letztendlich reichte das Gehalt bei fast allen nur für ein schuhschachtelgroßes Zimmer zur Untermiete und billigen Fertigfraß vom Discounter.“ Ihr Gesicht wurde zornig. „Nicht unbedingt optimal, wenn man jung ist, in New York lebt und von einem aufregenden Leben träumt.“
Nachdenklich strich Paul sich mit der rechten Hand über das Kinn. Tatsächlich konnte er gut nachempfinden, wie groß die Sehnsucht nach einem aufregenden Leben sein konnte. Er erinnerte sich an Zeiten, als der Gedanke daran sein ganzes Denken beherrschte, er sich wie ausgehungert fühlte, geradezu nach einem außergewöhnlichen Lebensstil gierte.
Er räusperte sich. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein Mrs. Fielding...“
„...bitte nennen Sie mich Deborah“, unterbrach sie ihn lächelnd.
„Gut. Also Deborah.“ Er machte ein ernstes Gesicht. „Ehrlich gesagt habe ich kein Interesse daran, in irgendwelche kriminellen Machenschaften hineingezogen zu werden. Deshalb frage ich Sie ganz direkt: Zwingen Sie die Frauen, als Escort-Girls für Ihre Agentur zu arbeiten?“
In Sekundenschnelle verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Ihre vollen Lippen wurden zum schmalen Strich. Die grünen Augen funkelten zornig.
„Natürlich nicht!“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. „Alle meine Mädchen arbeiten freiwillig für mich.“ Sie hielt kurz inne. In ernstem Ton fuhr sie fort: „Ich beute keine Frauen aus. Wer keine Lust mehr hat, kann sofort aussteigen. Das sichere ich jedem neuen Mädchen vertraglich zu.“ Sie senkte die Stimme. Ihre Gesichtszüge entspannten sich binnen Sekunden. Genauso schnell wie sie gerade zornig geworden war, lächelte sie ihn nun so erwartungsvoll an, als sei er ihr Traumprinz auf dem Schimmel.
„Ich weiß, wie gut Sie in Ihrem Job sind.“ Ihre Stimme wurde weich wie Butter. „Sie sind der beste Sex-Coach in New York. Und ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn wir ins Geschäft kämen!“ Ohne auch nur eine Sekunde aufzuhören, ihn charmant anzulächeln, lehnte sie sich tief zurück ins Sofa.
Paul wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit kerzengerade auf dem harten Polster gesessen hatte. Ohne Zweifel, sie war eine stolze Frau. Mit ihrer Eloquenz und Überzeugungskraft hätte sie auch leicht eine leitende Position in einem großen Konzern haben können. Er fragte sich, warum ihr Berufsweg so anders verlaufen war.
„Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, eine Escort-Agentur zu gründen? Das ist nicht gerade eine konventionelle Geschäftsidee...“
Deborah schien ehrlich erfreut über sein Interesse. Lächelnd erzählte sie, dass sie früher als Eventmanagerin in einer exklusiven New Yorker Agentur gearbeitet hatte. Sie war ehrgeizig, wollte nach oben, aber jede Aufstiegsrunde kam zu dem gleichen Ergebnis: Die Chefsessel wurden von Männern erklommen. Irgendwann war ihr klar geworden, dass sie nie eine Führungsposition bekommen würde. Selbst, wenn sie sich noch so anstrengen würde. Weil der wahre Grund für ihre stockende Karriere eine unabänderliche Tatsache war: Sie war eine Frau.
Als sie das kapiert hatte, wusste sie, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie musste beruflich ihren eigenen Weg gehen. Letztendlich war ihre Geschäftsidee das Produkt regelmäßig wiederkehrender Begehrlichkeiten ihrer männlichen Klientel. Während ihrer Zeit als Event-Managerin luden ihre Kunden sie oft auf Drinks oder zum Dinner ein, wollten mit ihr durch angesagte Clubs ziehen oder ins Theater gehen. Und anschließend mit ihr schlafen.
Anfangs lehnte sie solche Einladungen kategorisch ab. Sex mit einem Kunden – das kam für sie nicht infrage.
Immer öfters boten die Männer ihr Geld. Irgendwann hatte sie es satt, viel zu arbeiten, dafür aber so gering entlohnt zu werden, dass sie selbst nach mehreren Jahren im Job noch immer auf dem Level einer Studentin leben musste.
Ihr erstes Mal hatte sie mit einem bekannten New Yorker Zahnarzt. Sie hatte für ihn die Einweihungsparty seiner neuen Zahnklinik organisiert.
Später wunderte sie sich, wie leicht es ihr gefallen war.
Mit der Zeit wurde das zum einträglichen Nebenerwerb. An ihrem dreißigsten Geburtstag beschloss sie, ihren Job zu kündigen und MEET THE BEST zu gründen.
Im Laufe der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte hatte sie ein perfekt funktionierendes Netzwerk exklusiver Beziehungen aufgebaut und aus MEET THE BEST eine der weltweit führenden Escort-Agenturen gemacht.
Paul hatte ihr aufmerksam zugehört. Sie war eine gute Erzählerin, die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt, hatten ihn mitgerissen. Er wusste nicht warum, aber er glaubte ihr. Sein Blick schweifte durch den Raum, blieb an der leuchtenden Installation hängen.
MEET THE BEST
Claire fiel ihm ein, das Gespräch beim Frühstück, der mögliche Auftritt von Rihanna. Die Einnahmen aus Tombola und Spenden sollten zu hundert Prozent an das Frauenhaus gehen, in dem seine Mutter in den vergangenen Jahrzehnten als Psychologin gearbeitet hatte. Es war eine Ironie des Lebens, dass er eine junge Frau zur perfekten Sex-Dienerin ausbilden sollte, um eine Charity-Party zu Gunsten von Opfern körperlicher Gewalt und sexueller Misshandlung zu finanzieren. Fast hätte er laut darüber gelacht. Doch eine ernste Stimme in seinem Kopf ermahnte ihn, noch einmal gründlich nachzudenken, bevor er vorschnell einwilligte, Deborahs Auftrag anzunehmen. Er verdrängte die mahnende Stimme. Manchmal musste man unkonventionelle Entscheidungen treffen, um im Leben voranzukommen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sollte die Charity-Party ein Erfolg werden, könnte das sie beide in die A-Liga der neuen New Yorker In-Paare katapultieren – so wie Claire sich das schon lange wünschte.
Paul musste nicht länger überlegen. Er fragte: „Wie hoch ist mein Honorar?“
Lächelnd antwortete sie: „Ich bin nicht dafür bekannt, geizig zu sein. Damit das Coaching möglichst effektiv ist, werden Sie mit ihr gemeinsam zu den Kunden reisen. Die Kosten für Flüge, Hotels, Taxi, Restaurantbesuche und so weiter bekommen Sie natürlich erstattet.“ Sie machte eine kurze Pause. „Sagen wir fünfzigtausend Dollar?“
Verdutzt schwieg Paul. Mit einer solch hohen Summe hatte er nicht gerechnet. Zum Glück schaffte er es zu verbergen, wie erfreut er über ihr Angebot war. Ohne etwas zu erwidern genoss er für ein paar Sekunden das wohlige Kribbeln, das sich in seinem Bauch breitmachte. Er dachte an Claire und die Charity-Party. Damit dürfte sich die Finanzierung von Rihannas Auftritt erledigt haben. Zumindest hoffte Paul das und fragte sich, wie viel Superstars wohl für private Auftritte nahmen. Egal. Claire würde begeistert sein.
Neugierig fragte er: „Wer ist die junge Frau, die ich coachen soll?“
Barfuß stand Mila in einem lichtdurchfluteten Atelier vor einer alten Holzeistaffelei. In dicken Pinselstrichen hatte sie auf eine große Leinwand ein goldenes Haus gemalt, dessen hohe schwarze Türme den Betrachter sofort erkennen lassen sollten, um was für eine Art Gebäude es sich handelte: ein Schloss.
Sie bückte sich zu der silbernen Blechdose neben der Staffelei auf dem Boden, in der ein Sammelsurium alter und neuer, dicker und dünner Pinsel steckte. Nacheinander zog sie mehrere Pinsel heraus, prüfte ihre Stärke, entschied sich für einen mit einer filigran geformten Spitze und tauchte ihn in schwarze Farbe. Mit zarten Pinselstrichen malte sie vier Kätzchen, die das Schloss erkundeten und ihr Unwesen trieben. Im obersten Stockwerk thronte ein Kätzchen auf einem samtbezogenen roten Königsstuhl und hielt Zepter und Reichsapfel in seinen Pfoten. Auf dem Kopf saß eine goldene Krone so schief, dass es mehr drollig als majestätisch aussah. Ein Stockwerk tiefer baumelte ein Kätzchen vom einem kristallenen Kronleuchter; unter ihm tänzelte ein weiteres mit einer langen Perlenkette um den Hals selbstverliebt vor einem ovalen Goldspiegel; daneben räkelte sich ein viertes Kätzchen in einem großen Himmelbett.