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Ein Glimmen in der Nacht, ein Geheimnis hinter Masken, eine Liebe, die alles überwindet. Pippa zieht in ein wunderschönes Schloss nach Dänemark. Durch die Heirat ihrer Mutter mit dem Grafen Frederik von Raben lebt sie plötzlich in einem Traum aus verwunschenen Rosengärten, Spiegelkabinetten, und prachtvollen Kleidern - so, als wäre sie eine echte Prinzessin. Doch die neue Familie birgt ein Geheimnis, das immer mehr Besitz von Pippa ergreift. Bald weiß sie nicht mehr, was real ist und was nicht. Erst als sie beim Hochzeitsball ihrem verwirrend attraktiven Stiefbruder Niels begegnet, bekommt Pippa Antworten - und begibt sich damit in tödliche Gefahr. Als Pippa erkennt, welche Mächte sich hinter Schloss Ravensholm verbergen, muss sie alles aufs Spiel setzen, um nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre große Liebe zu retten …
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Seitenzahl: 418
Beatrix Gurian
GLIMMER NÄCHTE
Weitere Bücher von Beatrix Gurian im Arena Verlag: PrinzentodHöllenflirtLiebesfluchLügenherzWie du ihm, so ich dirDann fressen sie die RabenDer süße Kuss der LügeStille Nacht. Mörderisch schöne WeihnachtsthrillerStigmata. Nichts bleibt verborgenNixenrache
1. Auflage 2016 © 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Martina Eisele, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Bigstock ISBN 978-3-401-80575-7
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Inmitten des Windes, umgeben nur von Sand und Meer und Himmel war er endlich ganz nah bei ihr und doch viel weiter entfernt als jemals zuvor.
Eng aneinandergeschmiegt ritten sie am Meer entlang, seine Arme umschlangen ihre Taille, seine Hände lagen reglos auf ihren, die mit letzter Kraft die Zügel festhielten. Sie spürte seinen Atem an ihrem geschundenen Hals, hörte sein unablässiges, geradezu geisterhaftes Flüstern, fühlte jedes Heben und Senken seiner Brust an ihrem Rücken, während seine Seele in unerreichbare Sphären verschwunden war.
Und es blieben ihr nur wenige Stunden, um ihn zu ihr zurückzuholen. Sie mussten einfach schneller werden!
Behutsam vergewisserte sie sich, dass er sicher auf dem Pferd saß. Dann packte sie die Zügel fester, drückte die Fersen in die Flanken des Pferdes und fing an loszugaloppieren.
»Yggdrasil … Madita … Licht …«, wisperte er wieder und wieder und danach Worte, die sie nicht verstand. Sie hätte ihn so gern beruhigt, doch das musste warten, bis sie in Sicherheit waren. Sie lenkte das Pferd auf den nassen Strand, den die Ebbe gerade freigab, und hoffte, dass ihnen der harte Boden dort einen Vorsprung und damit genug Zeit verschaffte, um ihn zurück in den Menschen zu verwandeln, der ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und ihr Herz im Sturm erobert hatte.
Immer wieder warf sie einen Blick in den petrolfarbenen Himmel, der zum Meer hin zwar langsam flamingorosa wurde und an dem sogar schon vereinzelt Sterne blinkten, der jedoch immer noch viel zu hell war, um ihnen die nötige Deckung zu verschaffen. Wie leicht könnte sie ein Helikopter erwischen oder eine Polizeistreife, die auf dem breiten Sandstrand sehr viel schneller war als sie beide mit dem Pferd.
Wenn sie doch nur wüsste, wo genau sich sein Versteck befand, denn nur dort wären sie fürs Erste in Sicherheit. Nein – in Wahrheit waren sie erst dann wieder in Sicherheit, wenn es ihr gelang, ihn zurückzuholen.
Wenn.
Sie lehnte sich trotz des wilden Galopps leicht zurück an seine Brust, wollte, musste seinen Herzschlag spüren, um die Zweifel zu verjagen, die eiskalte Nägel in ihr Herz trieben. Zweifel, ob sie ihm wirklich würde helfen können.
»Hab keine Angst«, flüsterte sie ihm zu und erkannte im selben Atemzug, dass sie die Einzige war, die hier Angst hatte, denn er wusste gar nicht mehr, was das war:
Angst.
1
Dreizehn Tage zuvor …
Die Liebe war schuld. Wie immer, wenn alles in ihrem Leben schieflief. Pippa starrte aus dem Fenster der weißen Stretchlimousine in die öde Landschaft und konnte nicht glauben, dass sie wirklich in diesem Auto saß und dem Ende ihres bisherigen Lebens entgegenraste.
Manchmal war die Liebe noch schlimmer als der Tod. Der Tod heuchelte wenigstens nicht. Die Liebe dagegen verwandelte völlig normale Menschen zuerst in unerträgliche Glückslächler und dann in weinende Verlierer, die verzweifelt nach dem streng geheimen Code, dem Zauberwort suchten, das ihre Liebe in die einzig ewige verwandeln würde.
So ein Zauberwort, das hätte sie auch gern, um das Ganze noch zu stoppen, aber Pippa wusste keines und deshalb wurde sie immer schneller durch die kupferrote Abenddämmerung zum Ende des gottverlassenen Horizonts gefahren, dorthin, wo sie nicht sein wollte.
Die Geschwindigkeit in die falsche Richtung hatte sich verdoppelt, nein vervierfacht, seit ihre Mutter sie mit der Hochzeit überrumpelt hatte. Und jetzt saß sie in dieser Luxuskarosse in the middle of nowhere und übermorgen war schon der Polterabend.
»Das kann nicht dein Ernst sein!«, hatte Pippa ihre Mutter noch vor einigen Wochen verzweifelt angebrüllt.
Doch ihre Mutter hatte nur genickt und ihr diesen gefährlichen »Die Liebe kann alles und darf alles«-Blick zugeworfen. Den kannte Pippa bis dahin nur von ihren Freundinnen, die sich so oft verliebten, wie Pippa Schnupfen bekam. Meist war es dann auch genauso schnell wieder vorbei, aber natürlich nur mit schrecklichen Herzschmerzen und jeder Menge Tränen. Offensichtlich war es aber noch sehr viel schlimmer, wenn Ältere infiziert wurden, denn bei ihrer Mutter blieb es nicht bei einem Liebesschnupfen, ganz im Gegenteil, dieses gewisse Lächeln durchglühte jetzt ständig ihr Gesicht und ihre Augen leuchteten, als würden Glücksfeen dahinter brennende Wunderkerzen schwenken. Der Blick der Eingeweihten. Der Liebenden, die ihre rosa Brille trugen wie einen Orden.
»Aber … nach Dänemark? Im Ernst? In eine Ruine am anderen Ende der Welt?«
Daraufhin stahl sich ein sanftes Lächeln auf die Lippen ihrer Mutter, so als wäre Pippa ein neugeborenes Fohlen, das nur einen freundlichen Schubs brauchte, um aufzustehen und laufen zu lernen.
»Mein Schatz, du übertreibst, es ist keine Ruine, sondern ein Schloss«, hatte sie ihre Tochter sanft korrigiert. »Und es wäre schön, wenn du ein wenig offener für Veränderungen sein könntest. Nimm dir ein Beispiel an Matteo: Er findet unseren Umzug aufregend und freut sich schon auf seine neue Familie!«
Na klar, ihr Bruder war fünf Jahre alt und freute sich auch über Würstchen im Schlafrock, Grashüpfer und Furzkissen.
»Ich bin definitiv zu erwachsen, um über einen Stiefvater zu jubeln, der direkt von der trostlosen Hölle am kalten Ende der Welt kommt.«
Ihre Worte löschten diesen seltsamen »Wunderkerzen Pferdemutter die Welt ist Liebe«-Blick im Gesicht ihrer Mutter schlagartig aus, ließen aber keinen Triumph, sondern nur ein schales Gefühl in Pippas Magen zurück. Zugegeben, das war nicht sehr nett gewesen. Manchmal gingen die Worte einfach mit ihr durch.
»Niemand erwartet, dass du Frederik als deinen Vater akzeptierst, aber ein wenig mehr Respekt hielte ich doch für angebracht. Wir wohnen keineswegs in der Hölle, sondern auf Ravensholm, einem wunderbar renovierten Schloss mit jedem erdenklichen Luxus.«
»Als ob ein Schloss das Tollste auf der Welt wäre!«
Ihre Mom hatte den Kopf geschüttelt. »Pippa, mein Schatz, es ist doch eine wundervolle Chance für uns alle! Die meisten Menschen träumen davon, ohne Sorgen leben zu können. Und noch dazu an einem so magischen Ort, an dem die Ostsee und die Nordsee ineinanderfließen.«
Pippa seufzte. Der einzige Ort, den sie magisch fand, war Berlin.
»Darf ich noch einen Film?«, unterbrach Matteo ihre Gedanken und nahm die Mickymaus-Kopfhörer runter, mit denen er sich »Die Eiskönigin« auf dem großen Monitor angeschaut hatte. Mit glasigen Augen und roten Wangen strahlte er sie an, griff sich den fünften der unzähligen Schokoriegel, die zusammen mit Chips, Gummibärchen und Erdnüssen in einem Körbchen auf dem Minikühlschrank standen. Sogar dort prangte das Wappen der Familie von Raben, genauso wie auf den Gläsern, Servietten und den weißen Samtkissen, die neben ihnen auf der Bank aus weißem Leder lagen: Ein Rabe stand mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Ritterhelm, der durch Dornenranken mit einem Schild verbunden war, auf dem man rechts und links je zwei silberne Eichenblätter erkennen konnte. Sie flankierten ein F in der Mitte, dessen Querbalken herunterhingen, als ob sie müde wären. Offensichtlich war Graf Frederik sehr stolz auf seine Herkunft. Pippa fand, das einzig Gute daran war, dass er und seine Familie zur deutschen Minderheit in Dänemark gehörten, denn so mussten sie nicht auch noch Dänisch lernen.
Matteo riss den Riegel auf und verschlang ihn, als wäre er am Verhungern.
»Wenn wir jetzt auf einem Schloss wohnen, bin ich dann auch ein Prinz?«, fragte er Pippa mit vollem Mund.
Gegen ihren Willen musste sie lachen. Ihr Bruder hatte gerade wenig von einem Prinzen, er sah viel eher wie ein klebriges Schmuddelkind aus.
»Vielleicht, wenn du dir das Gesicht waschen würdest!«, sagte sie und reichte ihm eine wappengeschmückte Serviette.
»Echt?« Matteo klang sehr enttäuscht. »Glaubst du, ein Prinz muss sich jeden Tag waschen?« Er griff sich eine Packung Chips und riss sie mit einem lauten Knistern auf.
»Na klar, das weiß doch jeder! Prinzen müssen immer eins a aussehen, schöne Kleider tragen und wie geleckt sein. Da musst du jeden Tag duschen und Haare waschen!« Pippa versuchte, ernst zu bleiben, und überlegte, ob sie etwas gegen die Chipskrümel tun musste, die er überall auf den weißen Polstern verteilte, und entschied sich dagegen.
»Das ist ja total blöd«, überlegte Matteo finster, dann hellte sich seine Miene plötzlich wieder auf. »Denkst du, wenn ich alle zwei Tage dusche, kann ich wenigstens ein halber Prinz sein?«
»Klar.« Pippa brachte es nicht übers Herz, seine Begeisterung zu dämpfen. »Dann bist du der Halbprinz Matteo!«
»Pipps …« So nannte er sie, seit er angefangen hatte zu sprechen. Es war sein zweites Wort gleich nach Mama gewesen. »Müssen wir Mamas neuen Mann mit Herr Graf Frederik anreden? Oder sagen wir Papa zu ihm?«
Pippa schluckte ein paar Mal. Sie würde niemanden Papa nennen, ihr Vater war zwar seit fünf Jahren tot, aber sie vermisste ihn immer noch jeden Tag.
»Also ich glaub, ich sage Freddy zu ihm.« Matteo nickte und zerknüllte die leere Chipstüte.
Sie verbiss sich das Lachen, um ihn nicht zu kränken. Doch der Gedanke, dass irgendjemand auf der Welt zu diesem Edelgrafen »Freddy« sagen würde, war schon komisch. Der unnahbare Graf Frederik von Raben war nicht nur groß und blond, Pippa fand, er wirkte einschüchternd wie eine Kampfwikingerversion von Mads Mikkelsen in Hannibal. Dafür war sie ihm sogar dankbar, denn so sah er wenigstens kein bisschen aus wie ihr Vater.
»Freddy hört sich gut an.«
»Pipps, mir ist schlecht.« Matteo war tatsächlich ein bisschen blass um die Nase und das erinnerte Pippa daran, dass ihr Bruder noch keine einzige längere Autofahrt ohne eine Kotzattacke überstanden hatte. Mist, sie hätte ihn daran hindern sollen, sich mit all dem Knabberzeug vollzustopfen.
Sie suchte den Knopf für die Fenster, fuhr die Scheiben der Limousine hinunter, um frische Luft für Matteo hereinzulassen.
»Besser?«, fragte sie ihn.
Er nickte stumm, dann starrten sie beide nach draußen.
Von wegen ein magischer Ort! Immer noch nur plattes Land mit einem unendlich weiten blauroten Himmel über den monströse schwarzgraue Wolkenformationen jagten.
»Glaubst du«, fing ihr Bruder an und klang viel matter als eben noch, »dass es wirklich solche teuflischen Spiegelsplitter gibt, wie in ›Die Eiskönigin‹? Und dass man, wenn man die ins Auge kriegt, dann alles nur verzerrt und böse sieht?«
Pippa fühlte sich irgendwie ertappt. Vielleicht sollte sie dieser Hochzeit und Dänemark eine Chance geben und aufhören, innerlich zu maulen und überall nur Übles zu wittern.
»Das ist totaler Quatsch«, sagte sie voller Überzeugung. »Das ist doch nur ein Märchen.«
Sie drückte seine Hand und Matteo seufzte erleichtert.
Aber Pippa war nicht ganz ehrlich zu ihm. Auch wenn sie nicht an die Spiegel des Teufels glaubte, so waren ihr die Heiratspläne ihrer Mutter manchmal schon wie Teufelswerk vorgekommen und sie hatte heimlich alles recherchiert, was sie über die Familie von Raben finden konnte.
Es war ihr einfach merkwürdig erschienen, dass ihre Mutter sich so plötzlich in einer einzigen Nacht so rettungslos verliebt hatte, dass sie wieder heiraten wollte. Deshalb hatte Pippa zuerst gedacht, der Graf wäre ein Betrüger und Heiratsschwindler. Aber sie wurde eines Besseren belehrt. Er war echt und es gab viele Bilder über Frederiks erste Ehe, die Traumhochzeit mit der argentinischen Millionärstochter Elena Ruiz Jiménez, die noch dazu wie ein Fotomodell aussah. Angesichts dieser Bilder hatte sich Pippa gefragt, was der Graf wohl an ihrer Mutter fand, die zwar hübsch, aber keine so atemberaubende Schönheit war, und reich waren sie ganz sicher auch nicht. Im Gegenteil, seit dem Tod ihres Vaters hatte es hinten und vorne nie wirklich gereicht. Und gerade als Pippa anfing, sich für diese Fragen zu hassen, war sie auf den Artikel von Elenas tragischem Unfall gestoßen. Sie war zusammen mit ihrer Tochter Madita mit dem eigenen Flugzeug vor der isländischen Küste abgestürzt. Unwillkürlich waren Pippa Tränen in die Augen gestiegen. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Schock, den der Tod ihres Vaters für sie alle bedeutet hatte. Vielleicht war es genau das, was den Grafen und ihre Mom verband: der plötzliche Tod eines geliebten Menschen.
Elenas Unfall hatte Pippa so tief berührt, dass ihr erst sehr viel später klar geworden war, dass nach diesem Unfall kein einziger Artikel mehr über den Grafen oder die Schiffe seiner Reederei zu finden war, nicht mal in den Wirtschaftszeitungen.
»Ich glaube, mir wird richtig schlecht!«, stöhnte Matteo, gab einen gurgelnden Laut von sich und zerrte am Gurt, zu dem ihre Mutter sie beide gezwungen hatte, obwohl man die in solchen Luxuswagen nicht anzulegen brauchte.
»Blödsinn, du hast nur zu viel von dem Schokokram gegessen, als zukünftiger Prinz solltest du ein bisschen mehr Haltung zeigen.«
»Ich versuch’s«, murmelte er und dann lauter: »Erzähl mir was, Pipps. Bitte.«
»Na gut, reden wir über Schloss Ravensholm.«
»Oh ja!« Matteo klatschte begeistert in die Hände. »Und über Spukgeister, ja!«
»Ich glaube nicht, dass es da Geister gibt. Das Schloss ist zwar schon im siebzehnten Jahrhundert erbaut worden, aber dann bis auf die Grundmauern völlig abgebrannt. Also noch nicht soo alt.«
»Warum abgebrannt?«, fragte Matteo.
Pippa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, jedenfalls wurde es erst von den Rabens vor ungefähr zweihundert Jahren wiederaufgebaut. Danach wurde es wohl schnell ziemlich bekannt. Im Internet steht sogar, dass es das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum Dänemarks war.«
»Waru-u-um?« Matteo nervte sie immer gern mit seinen Warum-warum-warum-Fragen.
»Wer weiß? Vielleicht haben die Vorfahren des Grafen ja eklige Monströsitäten aller Art gesammelt?«
Matteos Augen wurden groß. »Wirklich?«
»Alles ist möglich!« Sie grinste ihn an und stellte sich dabei einen trotteligen blutleeren Greis vor, der neben aufgespießten Schmetterlingen Gläser voll ekliger Flüssigkeiten sammelte, in denen runzlige Embryos und seltene Tiere herumschwappten. Verheiratet war er mit der reizenden viel jüngeren Lady von Raben, die sich mit ausladendem Strohhut und weißen Handschuhen mit dem Liebesleben der nordjütländischen Sandameisen beschäftigte. Aber das behielt sie lieber für sich, ihr Bruder konnte nichts für sich behalten und würde das alles brühwarm Freddy verraten.
»Später sind internationale Berühmtheiten, wie die Stummfilmschauspielerin Asta Nielsen und der Showhypnotiseur Carl Hansen, im Schloss Ravensholm aufgetreten und im Zweiten Weltkrieg trafen sich dort sogar Widerstandskämpfer gegen die Nazis.«
»Richtige Schwertkämpfer?«, fragte Matteo und dann gab er einen höchst alarmierenden Laut von sich, den Pippa von langen Autofahrten nur zu genau kannte.
Hektisch klopfte sie an die Trennscheibe zwischen ihnen und dem Chauffeur, die sich daraufhin geräuschlos senkte. Sie hatte ihren Fahrer »Kill Bill« getauft, weil dieser blonde Wikinger mit den langen öligen Haaren sie irgendwie beunruhigte, genauso wie Bill Nummer Zwei, sein Zwillingsbruder Mads, der die vordere Limousine mit ihrer Mutter und Frederik steuerte und dessen Haare so kurz rasiert waren wie die Borsten einer Fußmatte.
»Wir müssen sofort anhalten, meinem Bruder ist schlecht!«
Bill gab eine Meldung durch das Funkgerät, dann bremste er sanft am Straßenrand und Pippa schaffte es gerade noch, Matteo abzuschnallen und rechtzeitig aus dem Auto zu zerren.
Er übergab sich sofort, und als die Limousine von ihrer Mutter und Graf Frederik neben ihnen hielt, war alles auch schon wieder vorbei.
Trotzdem fing Matteo an, herzzerreißend zu stöhnen, was Pippa ein sehr missbilligendes Kopfschütteln ihrer Mutter einbrachte.
»Ich kann doch nichts dafür!«, verteidigte sie sich, aber ihre Worte gingen in Matteos Gewimmer unter.
»Mamaaa«, jammerte er, »kann ich jetzt bitte bei dir mitfahren?«
Ihre Mutter und der Graf tauschten einen Blick, der arme Graf musste gute Miene zum bösen Spiel machen, nickte seinem Fahrer zu und schon wurde ihr Bruder von Kill Bill persönlich in die schwarze Limousine getragen. Die Fahrt wurde fortgesetzt, ohne dass ihre Mutter auch nur gefragt hätte, ob Pippa nicht ebenfalls bei ihnen mitfahren wollte.
Egal! Pippa streckte ihren Kopf aus dem Fenster, atmete die von Salz und Algen geschwängerte Luft tief ein und schauderte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie in Berlin verbracht. Berliner Luft war einfach ihr Ding, sie war daran gewöhnt, an den Staub und den Geruch nach Autoabgasen, Lindenblüten, Hundekacke, zertretenen Zigarettenstummeln, feuchtem Zeitungspapier und billigem Sprühdeo. Diese Luft hier war geradezu unerträglich rein, das konnte doch nicht gesund sein. Purer Sauerstoff war schließlich giftig! Angeblich waren die Dänen ja die glücklichste Nation der Erde, in Wahrheit waren die von dieser unanständig reinen Luft vielleicht einfach nur wie bekifft. Pippa vermisste nicht nur die Berliner Luft, sondern auch Leonie, Fatima und vor allem ihre beste Freundin Alana. Sie vermisste die Dönerbude an der U-Bahn-Station, den kleinen Krimskramsladen, wo sie ihre besten Schätze gefunden hatte, und ihre Kletterfreunde vom Bouldern, die dieses Jahr vielleicht den Wanderpokal im Speedbouldern holen würden. Zum Klettern gab es hier in dieser flachen Gegend sicher auch keine Gelegenheit.
Pippa zog den Kopf wieder zurück und hielt ihre Hand in den Fahrtwind. Unwillkürlich schauderte sie. Es war Anfang Juli, trotzdem fühlte es sich kälter an als der letzte Winter in Berlin. Der Winter, in dem Lukas nach sechs Monaten mit ihr Schluss gemacht hatte, weil er sich beim Schlittschuhlaufen in Katinka, eine zarte blonde und extrem ehrgeizige Eisprinzessin verliebt hatte. Winter war auch vorher schon nicht Pippas Ding gewesen und nun zogen sie hierher, in eine Gegend, in der es gar keinen richtigen Sommer gab, sondern nur ein Luftholen vorm ewigen Eis.
Pippa beugte sich wegen des Gurts nur ganz langsam vor, öffnete den Minikühlschrank und nahm eine Cola heraus. Irgendwie gefiel es ihr, dass sie sich auch für Champagner oder Wodka hätte entscheiden können. Offensichtlich vertraute Graf Frederik auf ihre Vernunft – oder er hatte einfach keine Sekunde darüber nachgedacht. Natürlich gab es im Kühlschrank auch andere – gesunde – Sachen wie Säfte und frisch aufgeschnittenes Obst. Aber bis jetzt war nur das Körbchen mit den Knabbersachen von Matteo aufgegessen worden.
Sie hätten natürlich auch alle zusammen in eine Stretchlimo gepasst, aber der Graf hatte Eindruck schinden wollen, und war in einer schwarzen und einer weißen Limo am Flughafen in Aalborg aufgelaufen. Dass eine Stadt mit so einem Namen überhaupt einen Flughafen hatte. Aalborg!
»Ein Wagen für die Erwachsenen, einer für die Kinder«, hatte Graf Frederik ihnen erklärt, ganz so, als ob in einer der beiden Limos eine Art Disneyworld mit Happy Meals und Kinderüberraschungen verborgen wäre. Matteo hatte es natürlich gar nicht erwarten können, einzusteigen und loszufahren.
Pippa grinste, das hatten sie jetzt davon. Ein bisschen Schadenfreude war ja wohl noch erlaubt. Seit Mom mit dem Grafen zusammen war, hatte sie sich so verändert. Sie war viel strenger als früher, trug andere Kleider und erwartete auf einmal von Pippa das Benehmen einer Lady. Das war so untypisch für ihre Mutter, mit der sie sich zwar oft gestritten, aber auch immer wieder versöhnt und gut verstanden hatte. Doch nun war sie zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden.
Nachdem sie den Grafen bei einer Geschäftsreise in China kennengelernt hatte, fand ihre Mom es nicht mehr okay, sonntags mit ihnen im Jogginganzug auf dem Sofa zu liegen und stundenlang ihre Lieblingsserien zu schauen. Plötzlich erklärte sie Berlin zu einer gefährlichen und schmutzigen Zone und redete sich ein, dass ihre Kinder etwas Besseres verdient hätten.
Etwas Besseres. Wie sich wohl Kirsten, ihre neue Stiefschwester, benahm – auch wie etwas Besseres? Pippa trank einen Schluck Cola und malte sich aus, wie der Empfang im Schloss wohl ablaufen würde.
Ob die Hausangestellten sich wie in einer Folge von Downton Abbey in einer Reihe vor dem Schloss aufstellten und knicksten, wenn die neue Herrin von Ravensholm aus der Limousine stieg?
Das sollte ich unbedingt für Alana fotografieren, nahm sie sich vor und vermisste ihre Freundin schon wieder.
Plötzlich wurde Pippa heftig in den Gurt geschleudert, die Cola schwappte aus der Flasche und spritzte auf die weißen Ledersitze. Verdammt, was war da los? Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Während das Auto hin und her schlidderte, breitete sich die Angst um ihre Familie in ihrer Brust aus wie eine lähmende Seuche und schnürte ihr die Kehle zu. Als das Auto endlich mitten auf der Fahrbahn stehen blieb, konnte sie kaum atmen.
Was zur Hölle war da los?
Noch bevor Pippa das Fenster herunterlassen konnte, öffnete sich die Wagentür. Bill betrachtete sie besorgt.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Pippa?«
»Jaja, aber ich muss wissen, was mit den anderen los ist.« Pippas Herz klopfte immer noch wie rasend. Sie waren die ganze Zeit direkt hinter ihrer Mom und Matteo gefahren, warum zum Teufel hatten sie so unvermittelt gebremst? War ihrem Bruder etwa schon wieder schlecht geworden?
»Was ist passiert?« Sie löste den Gurt, wollte aussteigen, wurde aber von Bill daran gehindert, er blockierte die Tür.
»Nur ein kleiner Unfall.«
»Ein Unfall? Lassen Sie mich raus, ich will zu meiner Familie!«
Bill schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre hier viel zu gefährlich, der Graf würde mir das nicht verzeihen. Sie können auf dieser Schnellstraße nicht einfach aussteigen, bitte bleiben Sie sitzen!«
Pippa stieß Bill in die Seite, aber der blieb fest wie ein Granitblock. »Ihrer Familie ist nichts passiert, Mads ist ein guter Fahrer. Es war nur ein Reh, dem wir ausgewichen sind.«
Ein Reh? Klar, das war hier sicher auf Sightseeing, wegen des magischen Ortes und der leckeren Aale! Pippa glaubte ihm kein Wort und war froh, als ihr klar wurde, wie sie ihm entwischen konnte. Sie rutschte blitzschnell zur anderen Seite, was leider länger dauerte, als Pippa gedacht hatte. Sie sprang gerade noch aus dem Auto, bevor Bill um die Ecke gekeucht kam.
Die andere Limo stand vor ihnen quer auf der Straße. Alle Autotüren waren sperrangelweit offen. Ihre Mutter, Matteo und der Graf standen mitten auf der Straße und starrten entsetzt nach unten. Pippa rannte zu ihnen.
»Was ist denn passiert?«, rief sie ihnen schon von Weitem zu.
»Jetzt tu doch bitte etwas«, sagte ihre Mutter gerade zum Grafen. Matteo klammerte sich schluchzend an ihre Beine.
»Das arme Bambi«, heulte er. »Mama, bitte mach es wieder heil. Gib ihm ein Pflaster!«
Der Graf gab einen unwilligen Laut von sich und ging zurück zur Limousine. Als Pippa an ihm vorbeilief, bemerkte sie die vielen kleinen Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Geh nicht hin«, kommandierte er, »tu dir das nicht auch noch an.« Etwas sanfter fügte er hinzu: »Es reicht doch, wenn einer von euch Albträume hat.«
Das brachte Pippa nur dazu, noch schneller hinzulaufen.
Auf der Straße lag ein kleines hellbraunes Reh, fast noch ein Kitz, mit blassen weißen Tupfen oben auf dem Rücken. Es starrte sie aus großen braunen Augen an, als wollte es ihr etwas Wichtiges sagen. Aus einer Wunde am Bauch tropfte dunkles Blut, während zwei seiner Läufe zuckten. Es roch nach nassem Fell und Metall und Tod.
Pippa hockte sich neben das Reh, legte ihre Hand auf seinen Hals und murmelte »Schschsch«, um es zu beruhigen. Jemand kauerte sich neben sie und der Geruch des Rehs wurde von Schweiß, moosigem Rasierwasser und noch etwas undefinierbar Metallischem überlagert.
»Geh zur Seite!«, sagte der Graf. »Wir können nichts mehr für das Tier tun. Seine Läufe sind gebrochen und die inneren Organe verletzt. Und schau dir seine Lichter an, es leidet.«
»Lichter?«, fragte Pippa verdattert.
»So nennt man die Augen, das ist Jägerlatein.« Er streichelte dem Kitz über die Flanke. Pippa folgte der Bewegung und sah dann, dass er mit der anderen Hand eine Schusswaffe auf das Reh richtete.
»Nein!«, protestierte sie.
»Schsch, glaub mir, es ist besser so.« Er nahm die Hand von der Flanke und legte sie auf Pippas Arm. Dann schoss er mit der linken dem Reh mitten zwischen die Augen.
Wie betäubt von dem Knall spürte Pippa, wie das Leben aus dem Körper verschwand.
Die Lichter waren aus. Das Reh war tot.
Matteo schluchzte laut auf und Pippa beneidete ihn, denn sie hätte auch gern geweint, aber sie wollte sich vor Frederik keine Blöße geben. Sie wischte sich hastig über die Augen, erhob sich, vermied es, den Grafen anzuschauen, und sah an ihm vorbei.
Hinter ihm blinkte etwas auf, blendete Pippa für den Bruchteil einer Sekunde, so als ob die Sonne auf Glas gespiegelt würde. Sie blinzelte, fokussierte ihren Blick und entdeckte in einiger Entfernung, was da geblinkt hatte. Da beobachtete sie jemand mit einem Fernglas. Aber derjenige war zu weit weg, sodass Pippa nicht einmal erkennen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war. Solche Typen waren ihr zuwider – einen Unfall beobachten, aber nicht helfen.
Matteos Schluchzen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das tote Reh. Mads und Bill packten je zwei Läufe und schleiften es von der Straße zur Seite.
»Wir müssen es beerdigen!«, weinte Matteo.
»Das werden wir, mein Kleiner.« Graf Frederik steckte die Waffe hinten in seinen Hosengürtel und tätschelte Matteos Kopf. Dann ergriff er die Hand ihrer Mom und nickte ihr zu.
»Mads und Bill kommen wieder her, holen das Reh und beerdigen es auf dem Tierfriedhof in der Nähe von Aalborg. Es tut mir wirklich leid, dass ihr das mit ansehen musstet. Das Reh stammt aus meinem Wald am Schloss, wir haben sie alle markiert, weil immer wieder welche gestohlen wurden. Ich verstehe gar nicht, was es hier wollte. Jetzt lasst uns weiterfahren, ich habe Hunger.«
Hunger? Ungläubig schüttelte Pippa den Kopf. Rehen in den Kopf zu schießen, machte dem Grafen Appetit?
Sie versuchte, einen Blick mit ihrer Mutter zu tauschen, es konnte doch nicht sein, dass sie so ein Verhalten gut fand. Aber in den Augen ihrer Mutter las sie nur die Bewunderung dafür, dass er diese schwierige Situation so souverän gemeistert hatte.
Ihre Mom war völlig verblendet, gar nicht mehr sie selbst! Müsste sie sich nicht vielmehr darüber wundern, wo Frederik so schnell eine Waffe hergehabt hatte? Sonst war ihre Mutter eine glühende Kämpferin gegen Waffen aller Art gewesen. Vor allem gegen solche, die in der Nähe von Kindern aufbewahrt wurden. Wo war die Mom geblieben, die sie kannte? Hatte der Graf ihr so dermaßen den Kopf verdreht?
Mit hängenden Schultern lief Pippa zurück zum Wagen, und als sie sich in die Polster zurückfallen ließ, sah sie wieder die braunen Augen des Rehkitzes vor sich. Nun kam es ihr so vor, als würde es ihr wirklich etwas zuflüstern. »Sieh dich vor, Pippa. Wenn du nicht willst, dass es dir so ergeht wie mir, musst du wirklich gut aufpassen, auf dich, auf dein Herz und auf deine Familie.«
2
Widerwillig musste Pippa sich eingestehen, dass sie von der Auffahrt zu Schloss Ravensholm beeindruckt war. Eine Allee aus weiß blühenden Ebereschen begrenzte die mit hellem Kies bestreute Straße. In weiten Serpentinen führte sie hoch zu einem bewaldeten Hügel und endete vor einem Palast, wie ihn Pippa bisher nur aus Märchenfilmen und amerikanischen Serien kannte. Es war ein lang gestreckter mächtiger zweistöckiger Bau mit Fenstern im Erdgeschoss, die so hoch waren wie in Berlin drei Etagen. In der Mitte und symmetrisch davon je rechts und links ragten die Dachgiebel wie große verzierte Dreiecke bis weit in den Himmel und die Eingänge waren mit säulenverzierten Vorbauten geschmückt. Das Schloss war nicht aus rotem Ziegelstein erbaut wie die Häuser, die Pippa in Aalborg und auf dem Weg hierher gesehen hatte, sondern aus weißem Stein, der im Licht des späten Nachmittags schimmerte, als wäre er aus rotem Gold.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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