Glimmstängel für Alcatraz - Renate Gottschewski - E-Book

Glimmstängel für Alcatraz E-Book

Renate Gottschewski

0,0

Beschreibung

Christian wurde im Namen des deutschen Volkes zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafe sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Greifenheim ab, genannt Alcatraz. Norbert besucht Christian ehrenamtlich. Die Besuchszeit ist auf zwei Stunden im Monat begrenzt. Tabak zum Selbstdrehen von Zigaretten, die inoffizielle Knastwährung, darf er ins Besucherzimmer mitbringen. Sonst nichts. Sie sind allein und ohne Videoüberwachung. Bis der Schlüssel wieder ins Schloss geführt und umgedreht wird, unterhalten sie sich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 146

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Idee zu diesem Roman entstand im Gespräch mit einem Inhaftierten einer Justizvollzugsanstalt. Sehr herzlichen Dank für das entgegengebrachte Vertrauen. Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Für das Lektorat danke ich Thomas Opfermann, Stolberg im Rheinland, und für das Layout Michael Camici, Berlin.

Für S.

…?

Das ist eine lange Geschichte.

Macht nichts. Ich habe heute nichts anderes vor!

Gesprächsausschnitt frei übersetzt aus dem Film The Rock (1996)

Glimmstängel für Alcatraz

Alcatraz wird das 100 Jahre alte Gefängnis in D-43689 Greifenheim umgangssprachlich genannt.

Glimmstängel ist eine andere Bezeichnung für Zigaretten.

Justizvollzugsanstalt Greifenheim

Haus 2, Abteilung 5

Aktenzeichen 26–591-3598

22. März 2022

Christian Becker hat vor drei Wochen einen Antrag auf ehrenamtlichen Besuch gestellt. Der Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie und Freunden ist abgerissen. Nach Rücksprache im Team befürworten wir den Antrag im Sinne der Resozialisierung. Wir haben unsere Seelsorgerin Schwester Maria diesbezüglich angesprochen. Sie teilte uns heute mit, dass ein Ehrenamtler aus ihrem Netzwerk den Kontakt zu Herrn Becker aufnehmen wird.

Inhalt

Nimm eine kleine Menge Drehtabak und lege sie ins Zigarettenpapier!

Strafe · Beistand · Besuchszimmer · Ehrenamt · Tabak · Therapie · Vertrauen · Gott · Geister · Freiheit · Erlösung · Sinn · Voll-Service · Zukunft

Drehe Blättchen und Tabak in eine Walzenform!

Kaffee · Wohnungssuche · Schulabschluss · Ausbildung · Zukunft · Glück · Schreiben · Orientierung · Sicherheit und Ordnung · Gewalt · Straftatbestände · Träume · Wirklichkeit · Beziehung · Sport

Drehe die Zigarette ein und verklebe das Papier mit der Zunge!

Lebensumstände · Reisen · Dschungelcamp · Freiheit · Privatfernsehen · Gerichtsverhandlung · Mutter · Regeln · Ausbildung · Lernschwäche · Sport · Gemeinschaft · Krieg · Wohnungssuche · Scheitern · Auferstehung · Endgericht · Intelligenz · Das Böse

Stecke die Zigarette in den Mund und zünde sie an

Hiob und Tobit · Leid · Ungerechtigkeit · Straffreies Leben · Zukunft · Masken · Sinn · Beistand · 100-Jahr Feier · Geschichte des Strafvollzugs · 64er und 35er Maßregelvollzug · Soziales Lernen · Mutter · Ausbildung · Plan · Himmel · Hölle

Inhaliere den Rauch und führe die Zigarette zum Mund!

Rache · Soldaten · Drogen · Soziale Lernschwäche · Kraftsport · Rückenschmerzen · Zahnarzt · Schlüssel · Sinn · Verantwortung · Knastkulturwoche · Theater · Wiedergutmachung · Gospelkonzert

Positioniere deine Hand und blase den Rauch aus!

Rückenübungen · Anti-Aggressionstraining · JailMail · Begegnungsfest · Übungsplan · Schicksal · Ausgang · Führerschein · Einkauf · Traum · Drobse · Kriminell sein · Beziehung

Klopfe die Asche aus und drücke sie aus!

Ästhetik · Ethik · Duzen · Gerechtigkeit · Privilegien · Liebe · Stadtbücherei · Übergangswohnheim · Beziehung · Briefmarken · Bekannter · Freiheit

Nimm eine kleine Menge Drehtabak und lege sie ins Zigarettenpapier!

Guten Tag. Ich bin Norbert Schmitt.

Hallo. Mein Name ist Christian Becker.

Wie geht es Ihnen?

Wie soll’s einem schon im Gefängnis gehen? Ganz okay soweit. Und Ihnen?

Wie soll’s einem schon in Freiheit gehen? Ganz okay soweit.

Dass das so schnell klappt mit Ihrem Besuch, hätte ich nicht gedacht. Erst vor vier Wochen habe ich den Antrag gestellt. Sonst dauert hier alles echt lang.

Das haben Sie Schwester Maria zu verdanken.

Wie sind Sie denn hergekommen? Mit dem Auto?

Nein, mit dem Rad.

Ich freue mich, Sie kennenzulernen.

Was erwarten Sie von mir?

Ich bekomme keinen Besuch und habe keine persönlichen Kontakte nach draußen. Die Welt sollte schon wissen, dass es mich gibt und ich nicht am Verschimmeln bin.

Die Gefängnismauern sind hoch und dick. Oben sind viele Stacheldrahtrollen befestigt. Da dringt wenig nach draußen. Die Gesellschaft muss geschützt werden vor gefährlichen Verbrechern. Gefängnisse wirken nicht einladend, wirken fremdartig und werden von der Öffentlichkeit ausgeblendet.

Könnte Absicht sein.

Andererseits denke ich, dass Rechtsprechung und Strafe alle angeht. Wir sind es, die strafen. Worüber möchten Sie sich mit mir unterhalten?

Über die Freiheit, Gott und die Welt zum Beispiel. Was uns beschäftigt und was wir im Leben erlebt haben. Finde ich gut, dass es Menschen wie Sie gibt, die Gefangenen in schweren Zeiten beistehen.

In schweren Zeiten soll ich Ihnen beistehen? Ja?

Ja.

Welche gemeinsamen Themen beschäftigen uns beide?

Müssen wir herausfinden.

Der Besuchertrakt ist frisch renoviert worden. Mit diesen durchsichtigen Möbeln wurde eine sehr spezielle Atmosphäre geschaffen. Ein bisschen wie Raumschiff Enterprise. Bisher war ich noch nie in einem Einzelbesuchszimmer mit einem Gefangenen. Entsprechende Anträge wurden mir nicht bewilligt. Endlich hat es geklappt. Ich sitze Ihnen gegenüber. Uns trennt eine Plexiglas-Corona-Abwehrscheibe, die bis zum Boden reicht. Ich hoffe, Ihnen beistehen zu können.

Wir werden sehen.

Es ist ganz schön eng hier. Beim Tatort, der Krimiserie am Sonntag … Sehen Sie den Tatort?

Nein.

Ich sehe gerne den Tatort, weil er schon bei meinen Eltern Sonntagsritual war. Die Serie ist über 50 Jahre alt. Also, im Tatort ist in den Gefängnisszenen immer nur ein Gefangener in einem Riesenbesuchsraum. Die Realität sieht zumindest hier anders aus. Sie sind der erste Gefangene, den ich im Einzelraum spreche. Die hätten die Zimmer im Zuge der Renovierung ruhig größer machen können, oder?

Ja. Ich bin froh, dass wir im Einzelraum sitzen. Ist schon in Ordnung so. Meine Zelle ist genauso groß wie dieser Raum, schätze ich.

Dann ist Ihr Zimmer ziemlich klein. Neun Quadratmeter sind das hier schätzungsweise, oder?

Ja, ungefähr zutreffend.

Und wir sitzen jetzt so zusammen, als säßen wir in Ihrer Zelle und wären eingeschlossen. Dieser Raum erinnert durchaus an eine ehemalige Zelle. Auch ich habe keinen Schlüssel. Das hat mich überrumpelt, als der Schlüssel von außen herumgedreht wurde.

Keine Panik. Sehen Sie den roten Knopf da?

Ja.

Damit können wir auf Ampel gehen. Dann leuchtet draußen ein Licht. Ein Beamter wird schnell aufschließen.

Sicher?

Sicher.

Keine Videoüberwachung wie in den Gemeinschaftsbesucherräumen?

Nein, keine Überwachung, weil diese Räume auch für die Besucher der U-Inhaftierten und für Anwaltsgespräche genutzt werden.

Ich muss mich vom Schreck des Eingesperrtseins erholen. Ist das unangenehm im leibhaftigen Erleben.

Für mich Alltag.

Wir können übrigens die Maske abnehmen. Ich habe die Beamtin gefragt, ob die Maskenpflicht auch während des Gesprächs gilt. Wir könnten das halten, wie wir wollen. Sind Sie einverstanden, wenn ich die Maske absetze?

Ja.

Können Sie sich daran erinnern, als Sie zum ersten Mal eingesperrt wurden?

Ja, das war ein einschneidendes Erlebnis.

Ich bin froh, dass wir unter uns und alleine sind. Im großen Besuchsraum ist es meist sehr laut, selbst wenn nicht alle Tische besetzt sind. Oft bin ich da mit einem Brummschädel wieder herausgegangen.

Sie besuchen also schon seit längerer Zeit Gefangene. Das ist ungewöhnlich. Wie sind Sie dazu gekommen?

Zufällig.

Zufällig bin ich nicht im Knast. Bei einer früheren Haftstrafe hatte ich bereits einen ehrenamtlichen Besucher. Er war von Beruf Psychologe und in Rente. Das war gut. Wie sind Sie Besucher geworden?

Vor einigen Jahren predigte in meiner Ortskirche ein Pater, der ehrenamtlicher Seelsorger hier in Alcatraz war. Er betonte wiederholt, der Mensch sei mehr als seine Taten und erzählte öfters von seinen Erlebnissen im Gefängnis. Und dass Tabak als Zahlungsmittel eine besondere Rolle spiele. Deswegen habe ich Ihnen ein Päckchen mitgebracht.

Danke, aber ich möchte nichts geschenkt bekommen. Hier verdiene ich eigenes Geld.

Aha, dann sind Sie sehr freiheitsliebend und wollen unabhängig sein. Das gefällt mir. Womit verdienen Sie Ihr Geld im Knast?

Ich bin Flurreiniger, d.h. für die Flurreinigung zuständig. Welchen Beruf haben Sie gelernt?

Aus dem aktiven Erwerbsleben bin ich ausgestiegen und beziehe eine Pension als Lehrer.

Geht’s genauer?

Klar.

Wie, klar?

Klar geht es genauer. Was möchten Sie wissen?

Sind Sie verheiratet?

Ja.

Lassen Sie mich raten: Ihre Frau ist Lehrerin.

Stimmt. Sie geht noch in die Schule.

Wie lange sind Sie verheiratet?

Fast 40 Jahre.

Puh. Kinder?

Fünf. Wir haben fünf Kinder, die vor allem ich aufgezogen habe. Sie ist die leidenschaftlichere Lehrerin und hat mehr Geld als ich verdient. So bin ich in Haushaltsdingen richtig fit und kann mir Ihren Arbeitsalltag gut vorstellen.

Sagen Sie die Wahrheit? Hört sich ein bisschen schräg an. Hier im Knast ist es wichtig, ein richtiger Mann zu sein. Einer, der keine Frauenarbeiten macht und vor allem einer, der Therapien ablehnt.

Sie verrichten als Flurreiniger typische Frauenarbeiten und sind in Therapie?

Ja.

Da haben Sie keinen leichten Stand bei Ihren Mitgefangenen, oder?

In Haus 2 auf Abteilung 5 bin ich nicht der Einzige. Ich bin ganz schön aufgeregt, wenn ich mit Ihnen rede. Ich möchte nichts vermasseln.

Geht mir genauso. Wir sind in einer nicht alltäglichen Situation. Das verunsichert. Sie sind mir sympathisch.

Danke, das freut mich.

Wissen Sie, meine Motivation als ehrenamtlicher Vollzugshelfer ist christlicher Natur. Jesus versprach, dass jeder in den Himmel kommt, der ihn sucht und versucht, ihn in anderen Menschen zu erkennen: Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dabei war der historische Jesus nie im Gefängnis. In den Himmel möchte ich kommen, später. Und warum forderte Jesus die Menschen auf, ins Gefängnis zu gehen?

Sagen Sie’s mir.

Weil Schuld immer nie nur individueller Natur ist. Natürlich müssen Sie für das eigene Leben Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus ist die Gesellschaft aufgefordert, jedem und jeder vom rechten Weg Abgekommenen den Weg zurück in die Gemeinschaft zu bahnen. Bereits im Alten Testament, also verdammt lange her, wurde Kain mit einem Schmiss im Gesicht versehen, damit niemand an ihm Rache übt. Er hatte Abel, seinen Bruder, erschlagen.

Wie bei Lehrern so üblich neigen Sie zum Klugscheißen, oder?

Ja, stimmt. Ich reiße mich in Zukunft zusammen.

Ach was, brauchen Sie nicht. Es ist schön, einfach loszuplaudern. Zu viel Kontrolle ist doof.

Danke. Erzählen Sie mir von sich, bitte.

Ich wurde 1979 in Hamburg geboren, bin ledig und kinderlos. Also, ich war noch nie verheiratet.

Fühlen Sie sich eher jünger oder älter als 43 Jahre?

Eher älter. Ich habe Rheuma und rauche rund 20 Zigaretten täglich. Dass ich damit aufhören sollte, schon aus finanziellen Gründen, weiß ich selbst. Mehrfach habe ich einen Anlauf genommen. Es hat nie geklappt. Jetzt versuche ich es erst gar nicht mehr. Resignation. Rauchen Sie?

Mein Vater starb vor neun Jahren. In den letzten Jahren wurde es immer schwieriger, sich mit ihm zu unterhalten. Als lebte er in einer eigenen Welt, die er immer hermetischer nach außen verschloss. Was jedoch immer ein gutes Gefühl herstellte, war gemeinsames Rauchen von Zigaretten der Marke Stuyvesant. Kennen Sie diese Marke?

Nein. Ich war und bin Selbstdreher.

Stuyvesant sind starke Zigaretten, von denen mir zumindest auf leeren Magen schwindlig und meist schlecht wurde. Sie sind benannt nach Peter Stuyvesant, dem niederländischen Verwalter des Gebiets des heutigen Manhattans im 17. Jahrhundert. Es hieß Neu-Amsterdam und als die Briten es eroberten, wurde es in Neu-York umbenannt, also NewYork City.York war im damaligen England die viel bedeutendere Stadt als London. Na, ich schweife ab.

Ich höre mir gerne Ihre Erklärungen an.

Gerade sprachen Sie vom Klugscheißen.

War nicht so gemeint.

Es war es schön, mit meinem Vater etwas zu teilen, obwohl sein Denkapparat immer eingeschränkter funktionierte. Alles hat seinen Preis. Ich rauchte schrecklich starke Zigaretten aus Geselligkeitsgründen, um meinen Vater, den stets Zigarettenqualm umwehte, sein Entschwinden und die Gewissheit seines nahen Todes erträglicher zu machen. Manchmal haben wir noch ein Glas Wein dazu getrunken. Den Preis habe ich gerne gezahlt. Es gab guten Wein, also den Geist der Wahrheit zur Friedenspfeife.

Es tut mir leid, dass Ihr Vater gestorben ist. Mein Vater ist ebenfalls bereits verstorben. Er ist nicht viel älter geworden, als ich heute bin.

Woran ist er gestorben?

Er hat sich vor einen Zug geworfen. Sterben ist einfach, leben ist schwer.

Soll ich Ihnen nicht doch beim nächsten Mal Tabak mitbringen? Ich möchte Ihnen so gerne etwas mitbringen. Welche Marke bevorzugen Sie?

Nein, danke. Wie gesagt: Geschenke nehme ich nicht an. Das will ich nicht. Ist nicht gut, glauben Sie mir. Höchstens Briefmarken. Das ist okay.

Ich kann jetzt den Tabak nicht wieder nach draußen mitnehmen, weil ich niemanden kenne, der Selbstgedrehte raucht.

Gut, ausnahmsweise nehme ich das an. Aber nur dieses eine Mal.

Darf ich Sie Christian nennen?

Klar, Norbert. Okay?

Ja. Aber wir bleiben beim Sie.

Wenn Sie das so wollen, gut. Duzen wäre mir lieber.

Nö, möchte ich nicht.

Und wie ist es bei Ihnen? Fühlen Sie sich jünger oder älter als Sie sind? Jedenfalls sehen Sie deutlich jünger und sportlicher aus als ein Rentner.

Guten Genen und einer einigermaßen gesunden Lebensführung habe ich das zu verdanken.

Hier sind die Möglichkeiten einer gesunden Lebensführung begrenzt. Zumal ich seit Jahren überwiegend sitze. Sitzen wortwörtlich und nicht nur im übertragenen Sinn.

Wieso gehen Sie nicht an die frische Luft in der Freistunde?

Weiß’ nicht. Gefällt mir nicht. Nie gehe ich länger als wenige hundert Meter an einem Stück geradeaus. Selten sehe ich direkt die Sonne und atme frische Luft. Eine Stunde Hofgang in einem Käfig wie im Zoo ist nix für mich. Aber immerhin gehe ich in den Kraftraum viermal in der Woche.

Sehr gut.

Jetzt ruft leise die Freiheit. Entlassung am Horizont. So sehr ich sie ersehne, so sehr fürchte ich sie. Wird es diesmal klappen mit einer gesetzeskonformen normalen Lebensführung? Viel Ziel und wenig sichtbarer Weg.

Wie halten Sie das überhaupt aus, eingesperrt zu sein? Und dann der viele Lärm: Schlüsselgeräusche, Rufe, Gehämmere, laute Musik und ähnliches stelle ich mir vor.

Bei uns auf Abteilung geht es einigermaßen ruhig zu.

Sie erzählen wenig von sich.

Stimmt. Das ist eine lange Geschichte.

Ich höre gerne zu.

Freiwillig erzähle ich wenig von mir. Liegt vielleicht daran, dass ich mit vier Unterbrechungen bereits 14 Jahre in Haft verbracht habe. Ich bin aus dem Gefängnis gekommen, hab’ mich geschüttelt und genauso weitergemacht wie zuvor. Zu wenig nachgedacht, verstehen Sie?

Weiß ich nicht so genau, muss ich drüber nachdenken. Fehlende Ziele oder mangelnde Lernfähigkeit oder zu viel Versuchung oder zu wenig Disziplin oder Chancenlosigkeit oder ... was denken Sie?

Einen Humor haben Sie, der mir gefällt. Lebensgeschichten möchte ich nicht mehr hören und so mute ich Ihnen meine nicht zu.

Sind es denn immer die gleichen Geschichten in unterschiedlichen Variationen, die Sie in den Gefängnissen gehört haben?

Ja. Das stumpft ein bisschen ab.

Vergangenheit hat Widerhaken. Wir können unser Leben und die Zeit mit ihren Möglichkeiten lieben.

Weise Worte. Ich sollte aus meinen Fehlern lernen können.

Ja, sollten Sie können. Ich auch, wir alle.

Wenn’s jetzt nicht klappt und ich wieder straffällig werde, droht die Sicherungsverwahrung.

Oh. Haben Sie den Antrag auf ehrenamtlichen Besuch gestellt, um Haftvergünstigungen oder Hilfen für den Übergang zum Leben in Freiheit zu bekommen?

Wie kommen Sie darauf?

Sie sind der fünfte Gefangene, den ich besuche. Bei einem war es so, dass die Staatsanwältin riet, er solle sich im Knast Begleitung von draußen holen. Das wirke positiv auf die Prognose. Er hat es gemacht. Aber eine Therapie im Knast hat er abgelehnt. Bei seinem noch offenen Prozess bin ich zur Gerichtsverhandlung mitgegangen. Ob seine Inanspruchnahme einer ehrenamtlichen Betreuung sich positiv auf die Urteilsfindung ausgewirkt hat, kann ich nicht beurteilen. Ich habe ihn gerne besucht und ihn beim Suchen einer Übergangswohnung unterstützt. Wir haben auch eine gefunden. Am Entlassungstag stand er mit drei weiteren verstreut stehenden Entlassenen mit ihren Pappkartons etwas verloren vor der Pforte. Das Bild hatte etwas Berührendes. Wir sind zur Übergangswohnung gefahren in meinem offenen Cabrio, um den Frühling im März einzuläuten. Die Sonne schien. Der Wind strich uns durch die Haare. Er wirkte so zuversichtlich und wiederholte: ›Ach, ist das schön.‹ Ich lachte. Er hatte Pläne.

Welche?

Er wollte einen alten Wohnwagen oder Campingbus kaufen und restaurieren, um auf einem Dauerstellplatz ganzjährig darin zu wohnen.

Das ist legal?

Ja, auf bestimmten Campingplätzen ganz legal. Er bekäme eine Postadresse, wäre amtlich gemeldet. Sein Gesicht wurde ganz le bendig, wenn er davon erzählte, wie er den Wohnwagen ausstatten würde. Seine Pläne waren sehr konkret. Schon drei Wochen später war er wieder in der Szene und stürzte völlig ab. Und ist nicht wieder aufgestanden, soweit ich weiß. Also, erwarten Sie nichts von meinem Beistand.

Tue ich nicht.

Es ist fraglich, ob mein Beistand Sie vorm Fallen schützt und stützt.

Eine anregende Unterhaltung ist ein Wert an sich. Der Augenblick zählt. Die Zeit fließt im Knast sehr zäh. Weitere Zwecke verkomplizieren.

Haben Sie Geschwister? Möchten Sie über Ihre Familie erzählen?

Haben Sie Geschwister?

Nein. Das ist eine Leerstelle in meinem Leben. Schmerzt manchmal, obwohl ich schon so alt bin.

Ich habe drei Schwestern und einen Bruder. Meine Mutter lebt wahrscheinlich nach wie vor in Hamburg. Sie hat wieder geheiratet. Zu allen Angehörigen habe ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr, was mich traurig macht. Ich kann verstehen, dass sich meine Geschwister und Mutter von mir abgewandt haben. Zu viel kriminelles Unterwegssein. Das war ein Vertrauensbruch.

Ihre Mutter und Ihre Geschwister vertrauen Ihnen nicht mehr?

Nein, sonst würden sie doch den Kontakt zu mir suchen, oder?

Vertrauen Sie Ihrer Familie?

Weiß ich nicht so genau. Briefmarken sind teurer geworden.

Seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine ist die Inflation gestiegen, in der Tat.

Sind Sie ganz deutsch? Schmitt hört sich sehr deutsch an. Wo sind Sie geboren?

In Bayern.

Wo genau?

Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an?

Ich war Atheist. Vor über zwölf Jahren habe ich mich taufen lassen. In der Justizvollzugsanstalt Kaiserslautern war ich in der evangelischen Gruppe Trennscheibe. So bin ich näher zu Jesus gekommen. Sie sind Katholik, oder?