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Exklusiver Sammelband mit den beiden Romanen der "Der kleine Nähtreff" Serie! Ein attraktiver Mann, der sich in Liesels kleinem Nähtreff die Kleidung vom Leib reißt? In Liesels Nähtreff gibt es alles, was das Schneiderherz begehrt: ausgesuchte Stoffe und Kurzwaren, allerlei Tüddelkram - und praktische Lebenshilfe. Was es bisher nicht gab, sind gut aussehende Männer, die sich ausziehen. Und Ben ist nicht der einzige Mann, der plötzlich in dem kleinen Laden auftaucht. Denn Liesels ruhiges Leben ändert sich komplett. Die Ladenmiete wird drastisch erhöht. Das kleine Handarbeitsparadies ist in Gefahr! Um ihren Lebenstraum zu retten, muss Liesel allerlei unangenehme Aufträge annehmen. Mehr aus Versehen lernt sie dabei plötzlich MÄNNER kennen ... HINWEIS: Mit diesem Bundle bekommst du die ganze Geschichte der beiden Romane aus der Serie "Der kleine Nähtreff". Hol dir "Mit Glitzergarn ins Glück" und "Schnittmuster für die Liebe" mit diesem Sammelband!
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Seitenzahl: 607
Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages!
Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
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alle Rechte vorbehalten.
ein Label der
OBO Management Ltd.
36, St Dminka Street
Victoria, Gozo
VCT 9030 Malta
Mit Glitzergarn ins Glück
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Schnittmuster für die Liebe
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Bücher von Eva Kah
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Über OBO e-Books
Für meine Oma, die mir so viel mehr als das Nähen beibrachte. Zum Beispiel die allerwichtigste Lektion im Umgang mit Männern: Nicht hinterherlaufen!
Männer müssen erobern dürfen. Dann liebt er dich später auch noch, wenn du plötzlich selbstgenähte Unterhosen mit dem kleinen Maulwurf drauf trägst.
… Uuuund natürlich für meinen eigenen Mann. Der eroberte einst mein Herz, indem er mir nachts um halb vier frische Crêpes zauberte. Bewaffnet mit Spezialpfanne, Teigschieber und Knoblauchgarnelen. Das hat mich damals so beeindruckt, dass die Szene es sogar in diesen Roman geschafft hat 😉
Strippen:
1. Ein physikalisches Verfahren in der Schwerindustrie, um beispielsweise Kerosin vom leichter brennbaren Benzin zu trennen.
2. Menschen, die ihre Kleider ablegen.
Zugegeben, dabei kann es auch heiß hergehen. Im Alltag stehen Normalsterbliche aber meist vor der entgegengesetzten Frage: Was ziehe ich an?
Psst: Ich glaube, meine Freundin Bernadette kann zaubern.
Sie vollbringt nämlich Dinge, die eigentlich gar nicht menschenmöglich sind. Gut, sie ist ja auch kein Mensch (obwohl ich das manchmal ganz gern vergesse), sondern eine Nähmaschine. Sogar eine sehr alte. Eine Bernina Favorit aus der Schweiz, Baujahr 1959, über dreißig Jahre älter als ich. Meine Oma hat sie mir zum vierzehnten Geburtstag geschenkt, und seither läuft und läuft und ... zaubert Bernadette vor sich hin. Zuerst in meinem Kinderzimmer, dann während der Ausbildungszeit im Lehrlingswohnheim und seit einigen Jahren in meinem Münchner Atelier. Atelier ist etwas hoch gegriffen. In meinem kleinen, kunterbunten, kreativen Laden, dem Herz meines Schaffens, meinem Lebensmittelpunkt – Liesels Nähtreff.
Mir ist natürlich klar, dass auch eine Schweizer Qualitäts-Nähmaschine nur ein Apparat ist. Zwar ein sehr ausgefeilter, aber doch nur eine seelenlose Maschine. Bernadette jedoch wächst so oft über sich hinaus, dass es kein Zufall mehr sein kann. Sie näht durch zwanzig Schichten Stoff, wenn es drauf ankommt. Sie steppt gerade Linien in den vertracktesten Engstellen von dreifach umgeschlagenen Innenfutterteilen, obwohl ich da selbst gar nichts mehr sehe. Und trotzdem täuscht sie sofort einen Kurzschluss vor und hält millimetergenau vor meinem Fingernagel an, sobald ich Gefahr laufe, mit der extradicken Jeansnadel in meine eigene Hand zu nähen (was auch einer Schneidermeisterin nach acht Stunden an der Nähmaschine gar nicht so selten passiert). Wenn ich dann nachsehe, ist der Stecker in der Dose minimal wackelig, obwohl ich ihn am selben Tag erst kräftig festgedrückt habe. Das muss Absicht sein. Bernadette will nicht, dass mir etwas zustößt. Sie liebt mich. Und ich sie auch.
Leider ist die ganze schöne Zauberei nicht reproduzierbar. Das bedeutet, ich werde niemals irgendwo irgendjemandem beweisen können, dass meine Nähmaschine zaubern kann. Aber ganz ehrlich – vielleicht ist das auch besser so. Schließlich bin ich schon Schneiderin, Ladeninhaberin, Nähkursleiterin, Kurzwarenverkäuferin und nicht zuletzt Stil- und Beziehungsratgeberin (letzteres nicht besonders erfolgreich, aber trotzdem stark nachgefragt).
Wenn Bernie wieder mal etwas schafft, was ich alleine niemals schaffen würde, dann verwischen die Grenzen zwischen Benutzer und Gerät. Ich bin dann nicht länger die Krönung der Schöpfung und sie mein Hilfsmittel, sondern es verhält sich genau anders herum. In solchen Fällen darf ich nur noch hinter ihr sitzen, sie mit Strom, einem Tröpfchen Öl und dem richtigen Pedaldruck versorgen – und sie zaubern lassen.
* * *
Zum Beispiel heute Nachmittag, als dieser unverschämt heiße Typ mit der kaputten Hose hier reingestürmt kam. Das hatte schon auch was von Magie, anders kann man es nicht sagen.
Heute Nachmittag nämlich beugte ich mich mit einer meiner anstrengendsten Kundinnen über eine Rolle Webband und diskutierte deren von der Vorstellung der Kundin minimal abweichende Farbstellung, als es passierte.
"Im Internet hat das Rosa aber ganz anders ausgesehen", sagte die Frau Wumplitz gerade. "Und da kostet es auch neunzehn Komma drei Prozent weniger. Sie wissen ja, dass ich nur wegen meiner datenschutzrechtlichen Befürchtungen bei Ihnen im Laden kaufe und nicht im Internet, gell?"
"Selbstverständlich weiß ich das, und ich weiß es auch sehr zu schätzen. Mein Dank wird Ihnen ewig nachschleichen", nickte ich und lächelte die Wumplitz besonders freundlich an. Sie überhörte meinen Sarkasmus und lächelte befriedigt zurück. Diese Mäkelei kannte ich schon von ihr. Sie kaufte seit dem Tag meiner Ladeneröffnung vor drei Jahren bei mir ein, und noch nie hatte ihr etwas auf Anhieb gepasst. Obwohl sie eine meiner Nähkursteilnehmerinnen der ersten Stunde ist, siezen wir uns immer noch. Die Wumplitz ist der Kundentyp "Pferdehändler", der auch auf dem ausgefuchstesten orientalischen Bazar noch seinen Reibach macht. Aber da sie jeden Monat einige kleine Scheinchen in meine Ladenkasse spült und schon zum Inventar gehört, spielte ich das Spielchen gerne mit. Wenn ich Menschen in all ihren verschiedenen Varianten und den Umgang mit ihnen nicht mögen würde, hätte ich Chemielaborantin werden können statt Schneidermeisterin.
Innerlich bereitete ich mich darauf vor, dass ich der Wumplitz noch einen Kaffee ausgeben und ein paar Knöpfe schenken musste, bis wir uns handelseinig würden. Aber das war okay – die Knöpfe waren Farbmuster und lagen für exakt diesen Zweck schon bereit, und ich selbst konnte nach sechs Stunden im Laden auch einen Kaffee gebrauchen. Ich setzte also zu einer beruhigenden Antwort an. So à la "Jetzt atmen wir beide erst mal tief durch, und dann gehen wir kurz nach draußen und schauen uns das Rosa noch mal bei Tageslicht an. Vielleicht ein Käffchen dazu, schwarz wie immer?"
In diesem Moment riss jemand so heftig die Ladentür auf, dass mein dahinter von der Decke baumelndes Klangspiel zu Boden fiel und ich mir Sorgen um die Glaseinsätze der Tür machte.
Es war ein Anzugträger von Anfang Dreißig, der da hereinstürmte. Mein geschultes Auge enttarnte den Anzug sofort als einen von der alleredelsten Sorte. Bulgari, Brioni – auf jeden Fall aus Italien und maßgeschneidert. Ich weiß so etwas nur in der Theorie, weil ich ein halbes Modedesign-Studium und eine ganze Lehre als Maßschneiderin absolviert habe. Aus der Praxis kenne ich weder die Sorte Anzug noch die Sorte Mann. Keiner von beiden verirrt sich jemals in meinen kleinen Laden. Darüber steht schließlich Liesels Nähtreff. Nicht Haute Couture. Und bis auf den schwulen Uwe und das ein oder andere von seiner Mutter mitgeschleppte Kleinkind ist Liesels Nähtreff eine absolut männerfreie Zone – so wie mein Privatleben auch. Beides nicht unbedingt freiwillig. Aber ich bin nach einem langen Leidensweg zu der Überzeugung gekommen, dass das stärkere Geschlecht allergisch auf handarbeitende Frauen reagiert.
Der attraktive Mann im teuren Anzug sah auch nicht besonders gesund aus. Er lief komisch. So wie jemand, der dringend zur Toilette muss. Oder eben wie jemand, dessen Hose kaputt ist und der nicht will, dass ihm die Weltöffentlichkeit auf die herausklaffende Unterwäsche guckt.
"Wichtiger Termin in sechs Minuten!", schnaufte er statt einer Begrüßung, schubste die Frau Wumplitz zur Seite und legte ohne Vorwarnung mitten in Liesels Nähtreff einen Striptease hin. Im Zeitraffer. Er öffnete seinen Gürtel, riss sich die Hose auf und ließ sie fallen, dann kickte er seine schicken Treter von sich und wand sich in Sekundenschnelle aus dem Beinkleid, das er in einer fließenden Bewegung aufhob und vor mir auf den Tresen knallte. Aus dem Knallgeräusch schloss ich, dass meine Tischplatte sich soeben eine neue Delle eingefangen hatte. Hosen knallen ja normalerweise nicht. Diese hier schon, weil noch Gürtel samt massiver Metallschnalle und ein dickes Portemonnaie dranhingen.
Der heiße Typ (groß, dunkelblonde Haare mit einem sehr gepflegten kleinen Pferdeschwanz, kantiger Kiefer, Dreitagebart) stand jetzt in Unterhose und Socken vor mir. Enge Boxershorts, schwarz. Die Socken auch. Über den Rest seines Körpers konnte ich wenig sagen, weil er ein weißes Hemd und ein Sakko mit schmaler Lederkrawatte trug, aber von den Beinen her war er schon mal ziemlich preisverdächtig. Lang, wohlgeformt, muskulös, aber nicht aufgepumpt. Moderat behaart. Was auch immer ein Kerl im teuren Anzug mit Pferdeschwänzchen und Lederkrawatte beruflich machte – als Unterhosen- oder Sockenmodel hätte ihm ebenfalls eine glorreiche Karriere bevorgestanden. Er hatte mittelgroße Füße und die Sorte Beine, für die man keinerlei Änderungen am Schnittmuster vornehmen muss, wenn man ihnen eine Hose näht. Der Traum jedes Anzugschneiders. Und trotzdem war genau in diesem Bereich irgendwas schiefgelaufen. Anklagend deutete er auf seine Hose.
"Zack, aus dem Auto gestiegen und Schritt geplatzt. In der Preisklasse eigentlich nicht vorgesehen, aber trotzdem passiert."
Die Frau Wumplitz und ich waren so perplex, dass wir erst gar nicht reagierten. Unsere Neutronen brauchten noch eine Weile, um das Geschehen von unseren Augen an das Stammhirn weiterzuleiten. So einen Anblick darf man als Frau ja auch nicht täglich verarbeiten – die Wumplitz schon mal bestimmt nicht und ich leider auch selten ... lassen wir das. Über mein Verhältnis zur Männerwelt werde ich mich bei anderer Gelegenheit auslassen.
Das Sockenmodel sah sich um, während er auf meine Antwort wartete. Sein Blick irrlichterte durch den Laden, blieb an diesem und jenem Einbauschrank, der hundertjährigen Kassettendecke und dem fast genauso alten Teppichboden hängen und landete schließlich überdeutlich auf seiner eigenen protzigen Armbanduhr.
"Lady, Sie haben noch fünf Minuten", herrschte er mich prompt an und schüttelte die Hose. "Wird's bald?"
Okay ... innerlich war ich kurz davor, mein erstes Urteil über ihn zu überdenken. Das war vielleicht doch kein unverschämt heißer Typ mit kaputter Hose, sondern eher eine unverschämt heiße Hose mit einem kaputten Typen. Was bildete sich der eigentlich ein? Na schön, es war nicht das erste Mal, dass ein Mann über eine Frau und deren Beschäftigung ein vorschnelles Fehlurteil fällte. Die armen Typen haben halt einen Tunnelblick. Wahrscheinlich hatte er im Schaufenster meine Adler-Nähmaschine von 1899 erspäht und den Geschäftsnamen einfach ignoriert.
"Das hier ist ein Nähtreff und keine Änderungsschneiderei", erklärte ich ihm extra langsam und deutlich. "Liesels Nähtreff. Ich bin Liesel, und hier treffen sich Freunde des Selbstgemachten. Hier kann man Nähkram kaufen und Nähen lernen, nicht nähen lassen. Steht auch draußen auf dem Schild. Lesen müsste man halt können, gell!"
Das Sockenmodel ließ sich davon nicht abschrecken. Er guckte erst mit hochgezogenen Augenbrauen auf Bernadette und ihre jüngeren Kolleginnen, die sich hinter mir aufreihten. Dann deutete er auf das Maßband, das um meinen Hals hing.
"Ja und? Hier gibt es Nähmaschinen, und Sie können sie auch bedienen, oder? Das ist doch die Hauptsache." Er klopfte auf seine dicke Armbanduhr, öffnete sein Portemonnaie, legte einen Fünfzig-Euro-Schein auf den Tisch und sagte: "Der könnte Ihnen gehören. Noch vier Minuten."
Fünfzig Euro für vier Minuten Arbeit! Das war ja ein Stundensatz von ... Moment ... siebenhundertfünfzig. So viel, wie ich in einer Woche einnahm – wenn es eine gute Woche war.
Was soll ich noch groß dazu sagen. Ich schluckte meinen Stolz hinunter und machte mich wortlos daran, die superteure maßgeschneiderte Hose zu flicken. Zufällig hatte ich vom vergangenen Projekt noch passendes dunkelgraues Garn eingefädelt. Als ich den Bund auseinanderzog und den Hosenboden in die Maschine einspannte, schnupperte ich unauffällig an dem Kleidungsstück. Ich war einfach neugierig, wie ein so gutaussehender Mann roch, schließlich kam ich ja selten in den Genuss. Was genau ich erwartete, weiß ich auch nicht. Vielleicht den betörenden Geruch von sonnenwarmem Leder, Tabak und Getreidefeldern. Holz, Rauch, eine Spur frischen Schweiß. Irgendetwas Cowboyhaftes, Wildes, das den elementaren Unterschied zwischen Männern und Frauen hervortreten ließ: Testosteron!
Stattdessen roch ich – nichts. Nichts außer einer Prise Waschmittel. So rochen meine eigenen Sachen auch, wenn ich sie ganz frisch aus dem Schrank gezogen hatte. Etwas enttäuscht ging ich ans Werk.
Bernadette war sichtlich geschmeichelt, ein so edles Stöffchen vorgelegt zu bekommen. Sie zauberte so gut wie selten zuvor. Nach nur drei Minuten waren wir fertig, und ich konnte mit Fug und Recht behaupten, dass die Naht nun besser ausgeführt war als vorher.
Das Sockenmodel wiederholte seinen Striptease in umgekehrter Reihenfolge, bedankte sich knapp und stürmte ebenso rasant wieder davon, wie er erschienen war.
Zurück blieben eine um fünfzig Euro reichere Nähtreff-Inhaberin und eine Frau Wumplitz, die ausnahmsweise für eine ganze Weile die Klappe hielt.
"Was war denn das?", sagte sie schließlich in einer Tonlage, die ich noch gar nicht von ihr kannte. Es klang, als ob ihre Eierstöcke spontan in Wallung geraten, durch ihren Rumpf nach oben gewandert wären und sich um ihren Kehlkopf gewickelt hätten. Offenbar hatte sie es dem Kerl nicht übelgenommen, dass er sie und ihr rosa Webband auf die Seite geschubst hatte. Im Gegenteil.
"Ich stehe ja auf Männer, die sich gut anziehen! Und dann auch noch so bestimmt und gerade heraus. Einer, der weiß, was er will. Kein Würstchen wie mein Hubert. Vielleicht war das einer von diesen Modebloggern? Diese Beine, meine Güte, dafür würde ich morden. Oder doch ein Fußballer? Hätte ich den kennen sollen? Aber nee, das kann kein Fußballer sein, er war ja nirgendwo tätowiert ... Hach, wie aufregend!"
"Tja, München ist groß", seufzte ich. "Wird schon irgendein B-Prominenter gewesen sein. Der Sohn von irgendwem. Oder ein aufstrebender Fernsehmoderator. Ich meine, Lederkrawatten kann man ja auch nicht in allen Berufen tragen."
Damit schlossen wir das Thema ab und widmeten uns wieder dem rosaroten Eulen-Webband, von dem die Frau Wumplitz vor lauter innerer Wallung am Ende doch ganze acht Meter kaufte.
* * *
Der Rest des Nachmittags verlief ruhig. Ich verkaufte drei Meter Ringeljersey und ein bisschen Bündchenstoff an eine Mutter mit von Kopf bis Fuß selbst benähten, vielleicht vierjährigen Zwillingsjungs. Ich ließ die Jungs unter dem Zuschneidetisch Verstecken spielen, während ihre Mama mit leuchtenden Augen durch die Stoffe stöberte. Sollte sie das Nähen ruhig auskosten, solange die lieben Kiddies sich noch nicht dagegen wehrten, dachte ich und gab ihr einen Rabattgutschein für ihren nächsten Einkauf. Dann beriet ich eine ältere Dame, die einen ganz speziellen Futterstoff für ihr Chaneljäckchen suchte. Wie sie freimütig gestand, arbeitete sie schon seit vier Jahren an diesem einen Stück, das sehr viele Handnähte erforderte. Ich lobte sie für ihre Ausdauer, aber auch bei mir wurde sie nicht fündig. Dazwischen befestigte ich das vom Sockenmodel heruntergerissene Klangspiel wieder an der Decke, saugte ein bisschen Staub (oder vielmehr Fadenreste und Wollmäuse aus Organza) im Lager und sortierte meine Restebox neu, damit sie für den nächsten Tag ein paar Eyecatcher bereithielt.
* * *
Obwohl die Sache mit dem Sockenmodel, der Wumplitz und der Hose dank der üppigen Bezahlung sehr zu meinen Gunsten ausgegangen war, stieß mir das mit der Änderungsschneiderei auf dem Heimweg noch sauer auf.
Es ist ja nicht das erste Mal, dass das passiert. Ich bin diplomierte Schneidermeisterin, nicht Kesselflickerin! Mein Job ist das Entwerfen von grandiosen Roben aus sechsundzwanzig komplizierten Schnittteilen und das Weitergeben des Näh-Feuers, nicht das Kürzen von Hemdsärmeln. Natürlich KANN ich auch Hemdsärmel kürzen und Hosen reparieren. Sonst hätte es das Sockenmodel nicht mehr vollständig bekleidet zu seinem ach so wichtigen Termin geschafft. Aber auch, wenn das jetzt vielleicht hochnäsig klingt: Von anderen Leuten genähtes Zeug zu flicken fühlt sich für mich ungefähr so an, als würde man Vincent van Gogh zwingen, ein Mandala auszumalen. Ich kann doch so viel mehr! Ich will nicht immer nur die krummen Nähte und falschen Pflegehinweise unserer schnelllebigen, unüberlegten Konsumgesellschaft ausbaden müssen. Die ausbeuterische Modeindustrie muss man nicht auch noch unterstützen, indem man sich jede Saison dreißig neue T-Shirts für je zwei Euro kauft und sich drei Wäschen später wundert, wieso da überall die Säume aufgehen – das ist es nämlich, was eine Änderungsschneiderin üblicherweise reparieren soll, und da spiele ich nicht mit.
Lieber zeige ich meinen lieben Mitmenschen, wie sie sich ihre eigenen Träume auf den Leib schneidern. Klar kostet das Selbernähen Zeit und im Normalfall sogar mehr Geld, aber es lohnt sich in so vielfältiger Weise. Wer selber näht, erweist sich eine Wertschätzung für alle Sinne und investiert direkt in die Seele!
Nähen ist mein Yoga, lautet ein vielzitierter Spruch zum Thema, und er trifft meiner Meinung nach vollkommen zu. Die ganze Körperhaltung ist doch eine andere, wenn man Liebe und Achtsamkeit in seine äußere Hülle steckt. Und mal ganz abgesehen von dem philosophischen Drumherum macht Stoffe streicheln und Meditieren vor der Nähmaschine auch einfach Riesenspaß. Das ist wohl sowieso der Hauptgrund für den Handarbeits- und Selbermachboom der letzten Jahre, ganz egal, ob man nun strickt, häkelt, filzt, klöppelt oder eben näht: Wo gibt es sonst so schnelle, greifbare, kuschelige Erfolgserlebnisse?
Nähen ist nicht nur wie Yoga oder wie Zaubern – Nähen ist wie eine bunte Glitzerwolke aus Möglichkeiten, die über einen hereinbricht. Plötzlich ist man imstande, nahezu alles um sich herum mit Tüddelkram im eigenen Design zu überzuckern. Sogar sich selber! Dadurch wird das Leben nicht nur individueller und farbenfroher, sondern in nicht wenigen Fällen überhaupt erst erträglich. Stoffsucht ist die gesündeste Form von Drogenabhängigkeit.
Das sieht meine Mutter nicht so. Mit der hatte ich gleich ein Date. Mir grauste es jetzt schon. Es gibt eindeutig angenehmere Möglichkeiten, seinen wohlverdienten Feierabend zu verbringen, aber Mama bequemte sich sowieso nur alle Jubeljahre aus ihrem Villen-Vorort in die Stadt, und ich war eine pflichtbewusste Tochter.
Nur in Sachen Mode, da bin ich weniger pflichtbewusst. Da habe ich meinen ganz eigenen Kopf, da lasse ich nicht mit mir reden. Angebliche Widersprüche zu kombinieren, ist meine leichteste Übung. Das hatte im Kindergarten angefangen, als ich als einziges Mädchen der ganzen Gruppe einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt trug, aber grundsätzlich Hosen verweigerte, auch im Winter und zum Radfahren (was ich mit vielen offenen Knien bezahlte, aber trotzdem nie bereute).
Meine Eigenarten bei der äußeren Erscheinung setzten sich in der Schule fort: Wenn alle anderen Jeansjacken von Levi Strauss trugen, kam ich im alten Armeeparka meines Onkels daher. Wenn dann plötzlich Armeeparkas in wurden, stieg ich auf Levi Strauss-Jeansjacken um – allerdings mit Nieten und selbst gestickten Blümchenborten.
Schon aus Prinzip wollte ich nie so aussehen wie jedes beliebige Mädchen, und weil ich optisch so gerne gegen den Strom schwamm, gewöhnte ich mich an die Rolle des Paradiesvogels. Einerseits, weil es die einzige Möglichkeit zur Rebellion gegen meine Mutter war, andererseits, weil meine Figur sich sowieso nicht so entwickelte, wie sie Anfang der Zweitausender Jahre hätte sein sollen. Statt mit Androgynität und schmalen Hüften wurde ich mit gleich zwei körperlichen Schwerpunkten gesegnet – Busen und Po. Damit war ich meiner Zeit mal wieder meilenweit voraus, denn Kim Kardashian kannte damals noch kein Mensch. Mit einem gewissen Trotz suchte ich mir genau die Ära aus, die meine unmoderne Figur noch betonte. Schon als Teenager stürzte ich mich in die Mode der Fünfziger Jahre (oder das, was ich dafür hielt). Ich trug Petticoats, Ponyfrisur und wilde Muster, fand mich sehr speziell und war stolz darauf. Diesem Style bin ich bis heute treu geblieben, obwohl ich längst nicht mehr die einzige damit bin. Es heißt Rockabilly oder einfach nur Vintage, und das lebe ich noch heute.
Mein eigener, selbst für mich ganz allein entworfener Lieblingsschnitt heißt Rita. Ein Kleid für alle Fälle sozusagen. Rita ist auf Webware ausgelegt und kann in allen Längen genäht werden, vom Croptop bis zum bodenlangen Walla-Walla, aber meine Lieblingslänge ist die bis knapp übers Knie. Eigentlich besteht mein Kleiderschrank nur aus Ritas, in allen Farben und Formen. Ich besitze eine Rita aus Jeansstoff, welche aus Kuschelsweat und sogar eine aus wasserabweisendem Material. Dazu kombiniere ich gerne Strickjacken oder Häkeltücher und in der kalten Jahreszeit Strumpfhosen. Strumpfhosen sind die einzigen Kleidungsstücke, die ich mir ab und zu kaufe. Nicht die sexy Sorte Strumpfhosen, nicht die durchsichtigen mit Netzmuster, sondern die warmen, gemütlichen aus Wolle. Knallbunt und gerne auch geringelt. So passen sie prima zu meinen selbstgenähten Unterhosen aus Jerseyresten, auf denen sich ehemalige Modefarben mit Eulen der vergangenen Saison streiten. Sieht eh keiner!
Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich mit meinen Entwürfen ein größeres Publikum begeistern könnte. Wenn nicht nur meine Nähschüler und ich selber meine Sachen anziehen würden, sondern Tausende. Wenn meine Ritas über die Laufstege der Berliner Modemessen liefen und in den Schaufenstern von kleinen, feinen Boutiquen hingen ... Aber da, fürchte ich, ist Hopfen und Malz verloren. Die Modewelt ist zwar schon einen großen Schritt weiter, aber für tragbare Figurschmeichler mit witzigen Details ist immer noch wenig Platz. Ich bin auch nicht mit irgendwelchen Promis bekannt, die meine Kleider werbewirksam in die Kameras halten. Individualität und geschäftlicher Erfolg, das schließt sich irgendwie aus.
Genauso wie Individualität und Männer. Männer stehen nicht auf Individualität. Und auf was stehe eigentlich ich?
Ich bin ein kleines Schneiderlein. In meinem kleinen Laden flicke ich alles wieder zusammen, notfalls auch gebrochene Herzen. Nur nicht mein eigenes. Da fehlen mir der Abstand, der Obertransporteur, da hakelt es mit der Fadenspannung ... Keine meiner acht Nähmaschinen hat einen ausreichend großen Freiarm, um mein eigenes Herz darunter zu quetschen. Nicht mal Bernadette.
Die Geschichte des Nähens ist immer auch in erster Linie eine Geschichte der dazu verwendeten Nadeln. Steinzeitleute schnitzten ihre Nadeln aus feuergehärtetem Holz oder Knochen. Norwegische Walfänger feilten sie aus Walross-Stoßzähnen und afrikanische Steppenjäger aus Elfenbein, bevor die Metallverarbeitung uns schließlich hauchdünne Stahlstäbchen schenkte. Eins haben die Nadeln aller Menschheitsepochen gemeinsam: Gefährlich spitz sind sie alle.
Weil ich mir wie immer nicht die Zeit genommen hatte, zusätzlich zum Ladenschlüssel auch noch den Hausschlüssel mitzunehmen, nahm ich die Tür zum Hinterhof. Ich zwängte mich an dort abgestellten Fahrrädern vorbei und traf im Treppenhaus auf die alte Frau Meier vom zweiten Stock, die sich gerade mit einer schweren Tüte voller Einkäufe die Stufen hinauf plagte.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte ich und nahm ihr mit sanfter Gewalt die Tüte ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Die Frau Meier musste man zu ihrem Glück zwingen. Nie im Leben hätte sie mich freiwillig ihre Einkäufe tragen lassen, dafür war sie viel zu halsstarrig. Stumm stapften wir nebeneinander die Treppen hinauf. Ich sah ihr trotzdem die Erleichterung an, sich mit beiden Händen am Geländer festhalten zu können. Sie war nämlich schon fast neunzig und ganz schön gebrechlich.
"Chic siehst du aus, Liesel!", sagte sie wie jedes Mal, als wir im zweiten Stock ankamen und ich ihr die Einkaufstasche zurück gab. Es war ihr unangenehm, Hilfe anzunehmen, also machte sie Komplimente, die nichts mit der Situation zu tun hatten. Damit drehte sie den Bedankungs-Spieß einfach um.
"Danke, Frau Meier!", sagte ich.
"Ein sehr schönes Kleid ist das. Hast du heute noch ein Rendez-Vous? Oder ... wie sagt ihr jungen Leute, ein Date?"
Ich sah an mir hinab und zupfte mir ein Stück Zwiebelschale vom Rock. "Leider nicht, Frau Meier. Ich treffe mich zum Abendessen mit meiner Mutter."
Missbilligend verzog die alte Dame das Gesicht, während sie in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel kramte. "Deine Mutter hat dich in den ersten achtzehn Jahren genug gesehen. Die kann dich zum Sonntagskuchen einladen, wenn du verheiratet bist."
"Aber Frau Meier!", spielte ich die Empörte und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn irgendjemand auf dieser Welt überhaupt nichts von Sonntagskuchen hielt (geschweige denn von Selberbacken), dann meine Mutter.
"Na, ist doch so! Ich verstehe einfach nicht, wieso so eine hübsche junge Frau wie du noch auf dem Markt ist. Die Männer von heute müssen doch allesamt Tomaten auf den Augen haben!"
"Nicht unbedingt Tomaten, aber unerfüllbare Vorstellungen. Und sie können mich ja auch schwer finden. Ich bin doch den ganzen Tag in meinem Laden, da kommt nur einmal in hundert Jahren ein Mann vorbei. Und wenn, dann steht er nicht unbedingt auf Frauen”, ergänzte ich mit dem Gedanken an Uwe. “Vielleicht sollte ich mich öfter mal in freier Wildbahn sehen lassen, da haben Sie Recht. Aber für den Anfang ist es doch schon gar nicht so übel, wenn ich jetzt Essen gehe!"
"In Begleitung seiner Mutter hat noch niemand den Mann seiner Träume kennen gelernt. Das hat schon bei Effi Briest nicht geklappt", sprach die gebildete Frau Meier, hob einen Zeigefinger und ich lachte.
"So, jetzt muss ich mich aber wirklich ein bisserl beeilen. Auf Wiedersehen, Frau Meier!"
"Beeil' dich gefälligst auch bei der Männersuche, Liesel. Geh tanzen, spazieren, von mir aus ins Fußballstadion. Hauptsache ohne deine Mutter. Meinen Fritz selig hab ich damals beim Metzger kennen gelernt ... also, denk dran, ich will deine Hochzeit noch erleben. Und wehe, es gibt keine Pfirsich-Sahnetorte!", brummelte die Frau Meier und verschwand in ihrer Wohnung.
Gerührt setzte ich meinen Weg ins Dachgeschoss fort. Sie erinnerte mich immer an meine Großmutter. Innen ein wollig-weicher Kern, aber außen eine raue Schale! Die brauchte man leider auch, wenn man eine alleinstehende ältere Dame in der Großstadt war.
Ich hätte mich gerne noch länger mit ihr unterhalten, aber das endete immer darin, dass sie mich in ihre Wohnung bat und ich dort irgendetwas entdeckte, das die arme alte Dame unmöglich alleine schaffen konnte. So etwas wie einen Riesenhaufen Altpapier, der dringend zum Container gebracht werden wollte – meinem Helfersyndrom fiel immer etwas ein. Und ich musste mich beeilen, wenn ich mich vor dem Eintreffen meiner Mutter noch etwas frisch machen wollte. Das Date mit ihr würde unangenehmer werden als jedes Rendez-Vous mit einem Mann. Wie immer.
Warum nur fanden Männer mich uninteressant, wenn ich etwas konnte? Wenn ich etwas selber machen wollte? Es war ja nicht so, dass ich mir nur seniorenfarbene Säcke nähte. Im Gegenteil ... mich auszuziehen, das war eine ganz besonders einmalige Angelegenheit. In meinen besten Momenten stellte ich mir vor, von einem attraktiven Surfertypen mit wilden Wuschellocken und breiten, sonnengeküssten Schultern genüsslich ausgepackt zu werden. Wie ein Überraschungspaket. Und der attraktive Typ würde beim Auspacken natürlich erst große Augen machen und dann schmunzeln und mich küssen, und schließlich würden wir kichernd und kitzelnd durch die Laken rollen, bis die Sache langsam ernst und sexy würde. Das Eis wäre jedenfalls gebrochen: Denn keine andere Frau auf dieser Welt hatte die selben Dessous wie ich! Ich trug natürlich nur selbstgenähte Unterhosen. Mit neonfarbener Elastikspitze und dem kleinen Maulwurf drauf! Manche auch mit der Eiskönigin. Denn so wie Elsa, die Eiskönigin, fühlte ich mich hin und wieder, an sentimentalen Abenden in ausschließlicher Gesellschaft von Bernadette: Selbstgewählte Isolation.
Ja, solche Abende gab es, aber zum Glück waren sie meist sehr kurz. Immerhin lebte ich in der besten WG aller Zeiten! Beim Betreten der Wohnung schüttelte ich den Kopf, um meine Auspack-Fantasien loszuwerden.
Die Entwicklung der Nähmaschine ist voller Missverständnisse und verzwickter Sackgassen. Da war zum Beispiel der geschickte Tüftler Barthélemy Thimonnier, dessen patentierte Maschine „Couseuse“ 1830 bereits 100 Stiche in der Minute nähen konnte. Doch wann immer Thimonnier in Paris oder Manchester kurz vor dem großen Durchbruch stand, bekam er Heimweh, ließ alles stehen und liegen und flüchtete zurück zu seiner Familie. Er war eben ein gemütlicher Typ. Ich bin sicher: Wenn er eine Mutter wie meine gehabt hätte, wäre die Geschichte ganz anders verlaufen.
“Hey Liesel! Hast du Wasser in den Ohren?”, fragte mich eine teilnahmsvolle Stimme.
“Höchstens Kaffee”, seufzte ich und betrat die Wohnküche.
Meine Mitbewohnerinnen und besten Freundinnen Mandy und Shanaya schnippelten gerade Obst. “Setzt du dich noch mit auf den Balkon?”
Nichts hätte ich lieber getan als das. “Sorry Mädels, später. Meine Mutter will mit mir essen gehen. Sie kommt gleich.”
Ich erntete eine Runde Mitleid, und meine Mitbewohnerinnen verzogen sich wieder nach draußen. Sie kannten meine Mutter schon und wollten lieber nicht in der Nähe sein, wenn sie mich abholte.
Meine Mutter (groß, blond, mager) ist das absolute Gegenteil von mir. Aber nicht nur optisch. Sie ist SAP-Consultant. Das bedeutet, dass sie ihr nicht geringes Einkommen damit erzielt, große bis sehr große Unternehmen in Sachen Ordnung zu beraten. Nur wer sie nicht persönlich kennt, wundert sich darüber, wie schnell eine Mittfünfzigerin in dieser Branche aufsteigen konnte. Das liegt daran, dass Mama innerlich schon SAP-Consultant war, bevor die Gründer von SAP überhaupt wussten, was ein Computer ist.
Ordnung und Struktur liegen ihr einfach im Blut. Die Mütterlichkeit eher nicht so. Seit ich angefangen habe, durch die Wohnung zu krabbeln und nicht nur mich, sondern auch Dinge bewegte, verzweifelt sie an mir. Ordnung ist für sie nicht das halbe, sondern mindestens das ganze Leben. Für Ordnung UND mich ist jedenfalls nie so recht Platz darin gewesen. Das merke ich selbst heute noch an jedem Wort und jeder Geste von ihr.
Meine Mutter hat mich zum Beispiel nie einfach so umarmt. Wir hatten schon Körperkontakt, sie ist ja kein Eisklotz. Aber Mamas Berührungen standen nie einfach so für sich. Sie dienten immer dem vorrangigen Zweck, irgendetwas an mir in ORDNUNG zu bringen. Ich glaube, ich bin ab und zu absichtlich durch Gestrüpp gekrochen oder habe Grasflecken in mein T-Shirt gemacht, nur damit Mama mich kämmen oder umziehen musste und ich mich dabei an sie kuscheln konnte. Nutzloses Rumfummeln ist ineffizient, sagte sie gerne.
Das Schönste war das Fußnägelschneiden. Denn das dauerte ziemlich lange und ich durfte dabei auf ihrem Schoß sitzen, den Rücken an sie geschmiegt. Wenn ich dann die Augen schloss und nicht an die Nagelschere dachte, fühlte es sich total gut an. Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken und kam mir geborgen vor. Für einen ganzen Winter waren Quarkspeisen mein Leibgericht. Weil ich einmal gehört hatte, davon wüchsen die Nägel schneller. Ob es stimmt, konnte ich nicht herausfinden – denn Mama war natürlich viel zu organisiert, um das Nägelschneiden dem Zufall oder der Notwendigkeit zu überlassen. Fußnägel wurden immer Sonntag Abend nach dem Baden geschnitten, ob sie nun einen halben oder fünf Millimeter lang waren. Dafür mag ich bis heute keinen Quark.
Wenn aber Fußnägelschneiden das Schönste war – das Schlimmste waren ihre Geburtstage. Nie wusste ich, was ich ihr schenken sollte. Einmal, als ich für eine Zehnjährige schon wirklich gut nähen konnte, arbeitete ich wochenlang heimlich an einem Nadelkissen in Form eines Porsche Cabrios (von dem sie träumte). Als sie es auspackte, verzog sie geringschätzig den Mund. "Was ist denn das wieder für ein gebastelter Quatsch? Ein Kuscheltier? Liesel, du hast es sicher nett gemeint, aber lass' das doch einfach. Wenn du mir wirklich eine Freude machen willst, dann lernst du in der Zeit lieber Französisch-Vokabeln. Von guten Noten haben wir beide etwas!"
Sie erkannte noch nicht einmal, dass es ein Porsche Cabrio sein sollte. Als ich ihr erklärte, dass es sich um ein Nadelkissen handelte, schenkte sie es direkt an mich zurück. Ich würde so etwas doch eher brauchen, ich könnte ja wenigstens nähen.
Pflichtschuldig legte ich mir das verunglückte Geschenk eine Weile auf den Schreibtisch, bis ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte und es wegwarf. Auch Viertklässlerinnen haben ihren Stolz.
Komisch eigentlich, dass ich den Menschen in meinem Beruf so eng auf die Pelle rücke. Abnäher direkt unter einer schwitzigen Achsel abzustecken oder bei einem Mann die korrekten Hüftmaße abzunehmen, das muss man schon auch mögen. Und ich mag es auch, also solange die Kunden wenigstens noch (saubere) Unterwäsche tragen. Muss der Versuch sein, meine Kindheitstraumata auszugleichen.
Genau fünf Minuten vor sieben Uhr klingelte es an der Tür. Ich musste nicht extra die Gegensprechanlage betätigen, um sicher zu gehen, dass sie es war. Meine Mutter erschien immer und überall exakt fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin. Außerdem hatte ich durch das gekippte Fenster ihre Stöckelschuhe schon über den Hof klappern hören. Ich öffnete die Tür.
Eine Wolke aus Chanel No. 5 waberte das Treppenhaus hinauf und fing sich unter dem Dachstuhl wie ein verirrter Schmetterling. Gleich darauf erschien sie selbst, wie immer mehr für eine Vorstandssitzung als ein Abendessen mit der Tochter gekleidet. Frisur und Make-up waren makellos. Die Situation oder klimatische Bedingung, der meine Mutter nicht gewachsen wäre, musste erst noch erfunden werden.
"Bin ich zu früh?", fragte sie und gab mir rechts und links je ein Küsschen. Sie prickelten auf meinen Wangen wie feine Nadelstiche. Vielleicht reagierte ich allergisch auf ihren neuen Lippenstift in der Farbe der Saison: Apricot. Es stand ihr auch noch.
"Natürlich nicht, Mama", antwortete ich, obwohl ich erst drei Minuten vor ihr zuhause angekommen war und die eigentlich verbliebene zusätzliche Zeit gut gebrauchen hätte können, um mich noch ein bisschen frisch zu machen und seelisch auf ihren Besuch vorzubereiten. Auch das wie immer.
Ich trug also immer noch das Rita-Kleid mit den Karos, das ich im schon Laden angehabt hatte. Und obwohl ich eh nicht der Typ bin, der sich nach Feierabend sofort in Jogginghose und ausgeleiertes altes Band-Shirt schmeißt, war das in den Augen meiner Mutter ein genauso großer Fehler. Ich konnte es ihr eben einfach nicht recht machen.
"Na, ist das auch schon wieder selbst genäht?", fragte sie beim Anblick meines Outfits mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie im Hausflur etwas Ekliges gefunden und würde nun mit spitzen Fingern den Verursacher suchen. Natürlich wollte sie die Antwort gar nicht wirklich hören. Ich bejahte trotzdem, schließlich war ich sehr stolz auf meinen ausgeklügelten Zuschnitt des Karomusters, die perfekt passenden Knöpfe und die selbst konstruierten Wiener Nähte, die meine Oberweite betonten und sich trotzdem sehr bequem trugen. Mama nickte missbilligend. "Sieht aus wie Fasching. Kauf dir doch mal was Normales!"
"Ich kaufe mir schon seit Jahren keine Klamotten mehr, Mama. Allerhöchstens mal einen BH oder eine Strumpfhose."
"Dann näh dir halt mal was Normales!"
"Sowas wie das, was du da trägst?" Ich wies auf ihr superbiederes Kostüm aus Tweedrock und Chaneljäckchen. Wie ich die Einkommenssituation und das Konsumverhalten meiner Mutter kannte, handelte es sich wahrscheinlich sogar um ein original Chaneljäckchen, ebenso wie die zweireihige Perlenkette bestimmt echt war. Wenn auf ihrer Tasche Louis Vuitton stand, dann stimmte das auch. In Sachen Mode war mit Mama nicht zu spaßen, da musste alles Hand und Fuß und allerhöchste Qualität haben. Bei ihr selbst herrschte im Gegensatz zu mir nie Fasching – der bayerische Karneval.
"Tut mir leid, das würde mir niemals so gut stehen wie dir", blieb ich höflich. "Und bei meiner Arbeit brauche ich auch mehr Bewegungsfreiheit."
Ohne Vorwarnung polkte sie mir ihren spitzen rechten Zeigefingernagel zwischen die Rippen, dass ich aufquietschte. "Bewegung ist ein gutes Stichwort. Mehr davon würde dir auch nicht schaden", stellte Mama fest. Offenbar hatte sie heute ihren besonders fiesen Tag. "Mein Trainer sagt, du hättest dich immer noch nicht in meinem Fitnessstudio angemeldet. Du hast die physischen Gene zwar leider Gottes von deinem Vater, aber ich sag' dir, ein bisschen Workout würde auch bei dir wahre Wunder wirken. Uuuund ich würde mich wirklich freuen, wenn wir da ab und zu gemeinsam trainieren könnten. Wirklich! Worauf wartest du eigentlich noch?"
Ich erklärte ihr zum hundertsten Mal, dass ich an den in Frage kommenden Abenden immer Kurse hatte und mein Geld davon abgesehen auch nicht ausgerechnet in das teuerste Fitnessstudio von ganz Schwabing tragen wollte. Wenn ich überhaupt welches dafür übrighätte.
"Tja, keinen Stil und auch noch Sportmuffel. Sowas überspringt ja gerne mal eine Generation", seufzte sie, als ob ich gar nichts gesagt hätte. "Mens Sana in Corpore Sano, wie die alten Griechen immer sagten."
Das hatten die alten Römer gesagt und nicht die Griechen, aber ich verzichtete darauf, Mama zu korrigieren. Stattdessen ergriff ich dankbar das Stichwort: "Apropos Griechen. Wo gehen wir denn heute hin, zu Enzo oder zu Dimitri?"
Wenn Mama mich besuchte, gingen wir immer essen. Ich kochte zwar ganz gern, aber sie hielt unsere WG für "unangemessen". In Wirklichkeit reagierte sie allergisch auf Shanayas Lockerheit und Mandys schwarzen Humor, kurz: auf die geballte weibliche Lebensfreude in der Hühnerstiege.
Glücklicherweise hatte Dimitri einen Tisch in einer abgelegenen Nische für uns. So hörte nicht das ganze Restaurant mit, wie meine Mutter mich runtermachte. An diesem Abend war es wirklich übel. Sie hatte kaum die Speisenkarte aufgeschlagen, als es auch schon aus ihr heraussprudelte.
"Am Wochenende hat ja unser Golfclub wieder aufgemacht, und da hab ich ..."
Oh Nein. Die Golfsaison hatte begonnen! Ich wusste schon, woher der Wind wehte und was gleich kommen würde. Das hieß, sie hatte ihre ganzen Schicki-Micki-Nachbarinnen getroffen, mit deren Töchtern sie mich immer verglich.
"... da hab ich die Trudl getroffen, du weißt schon, die mit dem dreißig Jahre älteren Mann ..."
Der mehrfacher Millionär war und mittlerweile so gebrechlich, dass Trudl sich nirgendwo mehr mit ihm blicken ließ, ihn seit Jahren mit dem Gärtner betrog und sich überhaupt ganz schrecklich langweilte, sei es auf dem Golfplatz oder auf den Seychellen. Meine Mutter beneidete Trudl trotzdem. Sie war fasziniert von Lebensweisen, die noch luxuriöser waren als ihre eigene.
"Die Trudl hat ja Zwillingstöchter, Sophie und Laura. Laura hat jetzt die Kanzlei übernommen und schon drei neue Mitarbeiter eingestellt, und Sophie heiratet im Juli einen russischen Ölbaron, stell' dir das mal vor!"
"Ganz die Mama", sagte ich trocken und überlegte, ob ich noch mehr von dem hausgemachten Weißbrot mit Oliven bestellen sollte. Ganz nebenbei waren schon die ersten vier Scheibchen in meinen Magen gewandert. Das war aber auch zu gut, das Zeug. Meine Mutter stützte sich mit den spitzen Ellenbogen auf dem Tisch auf und kam näher, als ob wir über etwas Peinliches sprächen.
"Liesel, ich weiß, du bist eine erwachsene Frau und möchtest deinen eigenen Weg gehen. Aber man muss auch wissen, wann es Zeit für neue Horizonte ist. Man muss Chancen erkennen und ergreifen!"
"Willst du mir damit sagen, dass ich mir lieber einen reichen alten Mann suchen sollte, als weiter in meiner kümmerlichen Selbstständigkeit zu verharren?"
"Quatsch! Ich will dir damit nur sagen, dass du dir vielleicht höhere Ziele stecken solltest. Du erinnerst dich bestimmt noch an die Susanne, mit der du in der Grundschule so gut befreundet warst? Die ist doch damals gleich nach dem Jurastudium zu McKinsey gegangen, weißt du noch?" Sie machte eine Kunstpause. "Die Susanne ist jetzt Teamleiterin und lebt in einer Villa in Los Angeles! Mit Pool und vier Badezimmern!"
"Da ist es bestimmt sehr heiß, sie kommt vor lauter Überstunden eh nie in den Pool, die mexikanischen Putzfrauen spucken ihr heimlich auf die Zahnbürste und alles ist noch teurer als in München."
Ich hatte nur deutlich machen wollen, dass es mich nicht ins Ausland zog, aber Mama nahm das prompt als Eingeständnis meiner Geldprobleme.
"Wenn du München teuer findest, musst du dir halt einen besser bezahlten Job suchen! Liesel, mal ganz ernsthaft: So geht das doch nicht weiter. Seit Jahren hangelst du dich am Existenzminimum entlang. Weißt du, was ich meinen Freundinnen erzähle, wenn sie nach dir fragen? Dass du dich im Bereich Modedesign selbstständig gemacht hast! Das klingt immer noch besser, als irgendwas von Stoffresten und selbstgenähten Unterhosen und Handyhüllen aus Filz zu erzählen. Oder dass du immer noch in einer WG lebst und deine Mitbewohnerinnen Klorollenwärmer häkeln!"
Ich lachte. Klorollenwärmer waren wohl das Einzige, was Shanaya noch nicht gehäkelt hatte. "Mama, du könntest deinen Freundinnen ruhig die Wahrheit sagen. Ich stehe auch zu den Handyhüllen. Okay, es ist nicht immer ganz einfach, aber im Gegenteil zu deinen ganzen Bekannten muss ich mich für meine Vorstellung von Glück auch nicht verbiegen. Ich lebe meinen Traum."
"Ach was, Traum leben! Davon kann man eben nicht leben, oder wie nennst du das? Schau dich doch mal an, du kannst dir ja noch nicht mal was Anständiges zum Anziehen leisten!"
Sie seufzte. Ich auch. Der Kellner kam und nahm unsere Bestellung auf. Mama orderte den Salat mit Riesengarnelen, ich die Bifteki mit extra Knoblauchbrot. Der Salat bei Dimitri war zwar eine Wucht und ich hätte durchaus Lust auf Riesengarnelen gehabt, aber ich wollte meiner Mutter im Moment auf keinen Fall irgendetwas nachmachen. Deshalb bestellte ich auch nicht wie sie figurfreundliches stilles Wasser, sondern Hauswein. Rot, einen halben Liter. So!
Mama drückte ihr Missfallen nur durch ihre Augenbrauen aus. Sie wartete, bis der Kellner um die Ecke gebogen war, dann stieg sie direkt wieder ein in ihre Gardinenpredigt. "Ernsthaft, Liesel, du musst jetzt langsam mal an deine Karriere denken! Du kannst doch nicht ewig wie eine Bummelstudentin leben. Schließlich hast du noch nicht mal studiert! Willst du nicht wenigstens das nachholen?"
Klar, dass sie mir das mit dem Studium wieder reinwürgen musste. Darüber ärgerte ich mich schon lange nicht mehr. Wenn sie einen solchen Abiball erlebt hätte wie ich, hätte sie hinterher auch nicht studieren und sich immer wieder mit den alten Schulkameraden konfrontiert sehen wollen. Ich hatte ja sie als Negativ-Vorbild: Mama hatte studiert, Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Buchhaltungswesen, natürlich Eins A mit besonders goldglänzenden Doppelsternchen. Und war sie deshalb etwa besonders glücklich? Nein!
Der Kellner brachte eine neue Schüssel hausgemachtes Weißbrot, noch mehr Oliven sowie Auberginencreme als kleinen Gruß aus der Küche. Ich stürzte mich darauf, weil ich seit der morgendlichen Butterbreze und ein paar Keksen zu Mittag nichts mehr gegessen hatte. Meine Mutter nahm eine Olive. Weißbrot kam ihr nicht auf die Rippen. Später würde sie mir wieder einen Vortrag über gute und schlechte Kohlehydrate halten.
"Was hast du denn immer mit meiner Karriere, Mama? Der Nähtreff ist meine Karriere. Ich mache das, was ich liebe, und ich bin gut darin. Lass mich doch einfach!"
"Ich sehe halt, dass du nicht weiterkommst. Dass du auf der Stelle trittst. Was heißt trittst – du strampelst ganz schön, das sieht man ja. Ich würde mir halt eine Tochter wünschen, die im Leben besser klar kommt als nur gerade so. Was macht eigentlich die Liebe?", wechselte sie unvermittelt das Gesprächsthema.
"Nix, wie üblich", brummte ich. Unter Garantie würde ich ihr nichts von dem Sockenmodel erzählen. Wenn sie schon kein Interesse an meinem Innenleben hatte, dann gingen die dazugehörigen Männer sie auch nichts an. Zumal die sowieso so selten waren wie Walderdbeeren im oberbayerischen Winter. Pah!
"Liesel, wir müssen mal Tacheles reden. Bei mir hat sich ein Interessent für den Laden gemeldet", sagte sie unvermittelt.
Ich lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Nichts Neues für mich. Die Borstel-Meyer-Straße war einer der letzten einigermaßen gewachsenen, netten kleinen Kieze des Münchner Innenraums. Da herrschte naturgemäß kein Mangel an Interessenten für Gewerbeimmobilien, ebenso wenig an grenzwertigen bis komplett bescheuerten Gewerbeideen. Oft genug hatte Mama mir die Anfragen und Konzepte gezeigt. Und dann hatten wir uns gemeinsam darüber amüsiert, was die hoffnungsfrohen Kaufleute in Omas altem Lädchen alles aufmachen wollten: Eine Bar, in der man nur bunte Zuckerplörre mit Klümpchen trinken konnte (sie nannten das allerdings nicht Klümpchenplörre, sondern BubbleTea). Kuriose Sportkurse an Geräten, die wahlweise an mittelalterliche Foltermethoden oder außerirdische Sextoys erinnerten. Smartphone-Hotspots. Fünfzig verschiedene Falafelgerichte zum Mitnehmen. Aura-Fotografie. Fragwürdige Wellnessangebote mit exotischen Fischen, die einem für viel Geld eingewachsene Zehennägel oder Schamhaare wegknabbern sollten. Diverse Exklusivshops für Markenhandtaschen. Eine vegane Metzgerei. Heutzutage gab es offenbar nichts, was man dem kaufkräftigen Münchner Publikum vorenthalten wollte. Natürlich hatte Mama kein Interesse daran, ihre überaus verlässliche und bewährte eigene Tochter – mich – gegen irgendeinen Konsum-Hallodri einzutauschen, der nach fünf Wochen wieder Pleite ging.
"Was sollte es denn diesmal werden?", fragte ich belustigt. "Ayurvedische Selbstmassage für Fortgeschrittene? Glutenfreier Trinkjoghurt für fünf Euro das Schnapsglas?"
Meine Mutter schüttelte den Kopf. "Nein, dieses Mal ist es was anderes. Ich habe ernsthaft über sein Angebot nachgedacht."
"Und, zu welchem Ergebnis bist du gekommen?"
"Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich mit unserer Situation nicht mehr einverstanden bin. Ich muss mir dein Herumgekrebse jetzt schon lange genug ansehen. Wenn du wirklich so weiterwursteln und den Laden behalten willst, musst du schon ein bisschen mehr Miete zahlen." Sie starrte mich über ihre nicht vorhandene Brille hinweg an, wie sie es bestimmt auch mit uneinsichtigen Büromitarbeitern ihrer Klienten tat. Ihre blauen Augen blitzten. "Das würde dich zu mehr Geschäftssinn zwingen."
"Kein Problem", sagte ich leichthin. Ehrlich gesagt hatte ich längst mit so etwas gerechnet. Unser mündlich vereinbarter Mietvertrag belief sich auf achthundert Euro warm im Monat. Das war für München schon ein bisschen sehr symbolisch. Ich war erleichtert, dass ich ihr nichts von meiner angefangenen Steuererklärung erzählt hatte. Aber Sparpotential gab es ja immer irgendwo. Würde ich mir halt auf dem Weg zur Arbeit keinen Coffee to Go mehr holen. Kein Grund, sich mit Mama anzulegen! Jetzt bloß keine Schwäche zeigen. "An welche Summe hast du denn gedacht?"
"Fünfhundert Euro. Im Monat, versteht sich."
"Haha", machte ich und biss in mein Auberginenbrot. "Du hast auch schon mal bessere Witze gemacht, Mama."
Sie beugte sich vor und fixierte mein Kinn, bevor sie blitzschnell die rechte Zeigefingerspitze mit der Zunge befeuchtete, die Hand ausstreckte und mir einen Weißbrotkrümel wegwischte. Ich hasste das, seit ich ein Kleinkind war, und sie wusste das. Aber ich konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen.
"Das ist kein Witz, Liesel", sagte sie ganz ruhig. "Ich möchte, dass du ab nächsten Monatsersten fünfhundert Euro mehr Ladenmiete zahlst."
Ich hörte auf zu kauen. Vollkommen vor den Kopf geschlagen saß ich da. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Aber wie so oft übernahm das gerne meine Mutter.
"Weißt du, Liesel, das ist noch ein sehr großzügiges Angebot. Ich könnte auch zweitausend Euro mehr verlangen. Der Immobilienmarkt in München ist nun mal so, wie er ist. Ein Schnellkochtopf, in dem sich immer mehr und mehr heißer Dampf ansammelt. Seit Jahren sagen alle, dass das Ventil unmöglich noch länger halten kann und es uns irgendwann die ganze Suppe um die Ohren haut, aber bis jetzt ist das noch nicht passiert. Vielleicht passiert es nie! Jedes Jahr steigt der Kesseldruck weiter an. Da wäre ich doch blöd, wenn ich mich nicht auch ein bisserl am Dampf wärmen würde. Zumal ich so gleichzeitig meine einzige Tochter auf den richtigen Weg zurückführe. Oder?"
"Ich komm' doch super klar mit meinem Leben!", protestierte ich schwach.
"Nein, du bist das unorganisierteste Geschöpf, das ich kenne. Bei so einem Durcheinander kannst du ja keinen Überblick behalten. Du brauchst Struktur, mein Kind! Wie viele Knöpfe hast du zum Beispiel im Angebot?"
"Keine Ahnung!", sagte ich provozierend. "Ziemlich viele. Und bunte. Wenn mal welche weg müssen, verschenk' ich sie an meine Kursteilnehmer."
"Verschenken?! Einfach so? So macht man doch keine Geschäfte, Mädchen! Kein Wunder, dass du keinen Plan für deine Zukunft hast! Du hast ja nicht mal einen Überblick über dein eigenes Leben", lamentierte meine Mutter. "Und wie auch, bei deinem ganzen Tüddelkram! Liesel, du bist keine Schneiderin, du bist ein Messi!"
Meine Gedanken schweiften ab. Kram? Messi? Nun ja, direkt überstrukturiert ging es bei mir nicht zu, das stimmte schon. Wenn ich von einer Sache zu viel hatte in meinem Leben, dann waren das ... Reste. Jerseyreste. Oder auch Sweatreste. Viskosereste. Baumwollreste. Stoffreste im Zaum zu halten ist das permanente Hintergrundgeräusch meiner Tätigkeit, ungefähr so wie Windeln wechseln bei Müttern. Fleecereste sind besonders ärgerlich, weil sie dazu neigen, von der Nähmaschine gefressen zu werden. Fleece und Co. sind sowieso überhaupt nicht gut für die Nähmaschine, weil die mikroskopisch kleinen Fusseln sich auf Dauer auswirken wie Sand im Getriebe. Trotzdem kann ich die Finger nicht von einem besonders kuscheligen Strickstoff oder auch mal einem Alpenfleece mit absolut coolem Muster lassen. Das ist mir die Nähmaschinenputzerei hinterher wert. Für ein Winterkleid gibt es doch nichts Besseres als bordeauxroten Alpenfleece, und wer könnte schon genug von coolen Mützen aus schnelltrocknendem Funktionsfleece bekommen? Ich habe sogar eine mit Dinosauriern drauf. Die Dinger verkaufen sich auch recht gut.
Leider gelingt es auch einer geübten Schneiderin wie mir nicht, zwei Meter Alpenfleece ohne Verschnitt zu verarbeiten, und am Ende liegen da wieder die Reste herum. Jede Menge Reste. Zu hübsch zum Wegwerfen, aber zu klein für sinnvolle Einsätze.
Reststücke, die größer sind als zwanzig Zentimeter, falte ich adrett zusammen, binde ein Stück aus der Mode gekommenes Webband drumherum (ha! Wieder Resteverwertung!) und gebe sie in den Supersonderangebot-Korb vor der Ladentür. Je nach Gewicht kosten sie zwischen ein und fünf Euro. Samstagmittag, wenn ich den Laden fürs Wochenende schließe, nehme ich die absolut unverkäuflichen Stücke heraus und nehme sie mit nach Hause. Da schlummern sie dann in großen transparenten Plastikboxen vom Möbelschweden vor sich hin, bis mir irgendwann etwas dazu einfällt. Manchmal, wenn ich genug Chiptäschchen, Stirnbänder, Kinderportemonnaies und Handyhüllen für die nächsten Monate genäht habe und sich die Resteboxen bis in den Flur unserer WG ausbreiten, meckern meine beiden Mitbewohnerinnen.
Ich muss ihnen dann aber nur vorwerfen, dass sie ihrerseits Reste horten. Dass der Couchtisch unter Garnproben aus aller Welt versinkt und man das Gästeklo vor lauter Wolle in den Saisonfarben von 2015 kaum mehr betreten kann. Dann kehrt schnell wieder Frieden ein in unserer WG. Denn neben dem Handarbeiten haben wir noch eine weitere große Gemeinsamkeit: Manchmal fühlen wir uns alle wie ein Stück unverkäuflicher Rest.
Das mit den fünfhundert Euro – das würde schon irgendwie hinhauen. Ich war dreißig, gesund und nicht erst seit gestern selbstständig. Ich musste nur für mich selbst sorgen – für mich und Bernadette. Wir brauchten nicht viel, und Einspar-Potential im Alltag gab es immer. Musste ich eben auf den morgendlichen Coffee to Go, den besseren Rotwein am Abend und vor allem die Privat-Stoffkäufe verzichten ... mir würde schon etwas einfallen, so wie mir bisher immer in letzter Sekunde etwas eingefallen war.
Aber was, wenn meine Mutter Recht hatte? Wenn die ganze Näherei nur dem Zweck diente, meine Stoff- und Tüddelkram-Sammelsucht zu befriedigen? Wurde ich langsam zu einer verschrobenenen, Selbstgespräche führenden Lady, die vor lauter gehorteten Resten ihr WG-Zimmer nicht mehr betreten konnte und daher mit Siebzig im selbstgenähten Karokleid unter der Reichenbachbrücke sitzen musste?
Das Essen kam, und wir nutzten die Gelegenheit zu einer Gefechtspause. Mama ließ ihre Wut über mein verplempertes Leben für ein paar Minuten an den Riesengarnelen aus, und ich trank meinen Hauswein im Rekordtempo.
Der Rest des Abendessens verlief schweigend. Ich bestand darauf, meine Rechnung selbst zu bezahlen, auch wenn dann auf unbestimmte Zeit Ebbe in meinem Portemonnaie herrschen würde. Das Angebot meiner Mutter, mich nach Hause zu fahren, lehnte ich ab.
Auf dem Heimweg kamen mir tatsächlich die Tränen, auch wenn ich noch so sehr versuchte, sie zu unterdrücken. Meine eigene Mutter erhöhte mir die Miete! Sie stellte meinen gesamten Lebensentwurf in Frage! Sie war so gemein!
Das Schlimmste aber war, dass sie Recht hatte. Jedenfalls ein klitzekleines Bisschen. Ich wurde ja wirklich bald Dreißig. Was war denn schon aus mir geworden? Weder eine Textilagenturchefin mit fünfzig Mitarbeitern noch eine Stardesignerin und auch keine leitende Bankangestellte mit geregelter Altersvorsorge. Nicht mal eine gut verheiratete Frau mit beginnender Familienplanung und Doppelhaushälfte im Speckgürtel.
Nur eine einfache kleine Schneiderin mit WG und Speckröllchen. Nach den Maßstäben von Kapitalismus, Darwinismus und meiner Mutter hatte ich auf ganzer Linie versagt.
Ganz ähnlich wie dem schüchternen Nähmaschinen-Pionier Barthélemy Thimonnier erging es auch dem Tiroler Joseph Madersperger und dem Amerikaner Walter Hunt: Sie machten bahnbrechende Erfindungen auf dem Gebiet der Nähtechnik, konnten die Weltöffentlichkeit aber durch ihr unbeholfenes Auftreten nicht von deren Nutzen überzeugen. Die (männlichen) Investoren winkten belustigt ab: Wofür sollten diese komplizierten, teuren Dinger denn gut sein? Es gibt doch Frauen!
Ich bin der festen Überzeugung, dass Handarbeiten gegen psychische Probleme jeder Art helfen. Man sollte Nähkurse verschreiben statt Psychopharmaka, und die Welt wäre eine bessere. Ja, auch Männern!
Wenn sich alle Soldaten ihre Uniformen selbst schneidern müssten, gäbe es nie wieder Krieg. Stattdessen würden sie sich Gedanken über biologisch gefärbte Camouflage-Muster machen und grenzüberschreitende Modewettbewerbe veranstalten ("Wie trage ich Patronengürtel mal anders?" oder "Der richtige Outdoorstoff für das stärkere Gesäß". Von mir aus auch "Dekorieren mit Webband: Maschinengewehrhüllen ganz individuell.")
Es gibt nichts, was nach einem langen Arbeitstag so schnell tiefenentspannt wie das Zuschneiden eines Bad-Utensilos. Oder das lang hinausgeschobene Säumen der neuen Sommerbluse. Gerne auch das Aussuchen von neuem Stoff für die nächste und übernächste Sommerbluse, den ersten Kuschelpullover für den Herbst und dann unbedingt auch noch für einen Klorollen-Vorratshalter, der zum Bad-Utensilo passt. Für all das und noch viel mehr braucht es eine Anlaufstelle. Eine Zentrale, ein Herz. Das alles war der Nähtreff. Mein Lebenstraum.
Das Konzept dafür hatte ich schon in der Lehre ausgearbeitet: Ein kleines Geschäft für alles rund ums Selbernähen. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler planten ihre Praktika bei Vivienne Westwood in London und ergatterten erste Jobs bei großen Textilagenturen. Manche waren auch noch bodenständiger als ich und nutzten ihre in der Ausbildung erworbenen Grafikdesign-Kenntnisse für einen Quereinstieg in die Werbebranche, wo sie heute noch für Hungerlöhne irgendwelche Farbflächen hin- und herklicken – immerhin in einer sicheren Festanstellung. Aber ich wollte den Ball immer flach halten und vor allem mein eigener Herr sein. Ich wollte echte Menschen treffen und mit meinen eigenen Händen arbeiten – und mit meinem guten alten "Eisenross" Bernadette statt einer computergesteuerten Nähmaschine, die mehr Gedächtnisleistung aufbrachte als ich.
Der Grundstein für all das war von meiner geliebten Oma gelegt worden. In der Nachkriegszeit hatten Opa und sie das alte Haus in der Borstel-Meyer-Straße gekauft und darin eine Lebensmittelhandlung betrieben. Tante-Emma-Laden, würde man heute dazu sagen. Es gab alles: Grundnahrungsmittel, Süßigkeiten, Bindfaden und Glühbirnen, dazu eine kleine Wurst- und Käsetheke. Später, als die Geschäfte gut genug gingen, baute Opa ein erhöhtes Eck im Schaufenster, auf dem niemand anderes als die damals noch nagelneue Bernadette thronte. Oma nahm dort kleine Schneiderei-Aufträge an. Erst nähte sie Kindersachen aus alter Bettwäsche und Damenkostüme aus Vorhängen, bis die Kundschaft in den Siebzigern immer wohlhabender wurde und es als schick galt, sich in großen Modekaufhäusern von der Stange einzukleiden. Die Aufträge wurden immer kleiner, und auch der Tante-Emma-Laden verringerte sein Sortiment, bis es nur noch Zeitschriften und Postkarten gab. Nach Opas frühem Tod war Oma gezwungen, die oberen drei Stockwerke des Hauses zu verkaufen, um wenigstens den Laden halten zu können. Dort ließ sie Hosenbeine aus und flickte eingerissene Jackettfutter, bis sie wegen ihrer Arthritis nicht mehr konnte.
Meine früheste Erinnerung gilt dem Laden. Ich krabbelte über den Boden, damals noch knarzende rohe Dielen, und versteckte mich unter dem Tisch mit Bernadette, um heimlich die Kundschaft zu beobachten. Mama hatte mich schon als Säugling stunden- und tagelang bei Oma abgegeben, um ihre Weiterbildung zu optimieren. Ich bin quasi darin aufgewachsen. Wenn ich heute am Zuschneidetisch stehe und die Augen schließe, riecht es immer noch genauso wie früher. Nach sonnenwarmem Staub, nach Mottenkugeln und Kernseife, nach ganz weit oben auf den uralten Holzregalen versteckten bauchigen Bonbongläsern und nach bedingungsloser Liebe.
Als Oma starb, war ich sechzehn und verschwendete keinen Gedanken an eine eventuelle Selbstständigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie den Laden bereits einige Jahre an einen ehemaligen Musiklehrer vermietet, der dort ein Antiquariat betrieb. Jahrelang setzte ich keinen Fuß in die Borstel-Meyer-Straße, obwohl meine Modeschule nur ein paar Steinwürfe entfernt lag. Die Erinnerung an Oma war einfach zu schmerzhaft.
Wieder ein paar Jahre später gab der Mieter sein Antiquariat aus Altersgründen auf, und niemand wusste, was mit Omas Laden geschehen sollte. Für eine Neuvermietung war die Immobilie zu heruntergekommen. Man hätte sie erst einmal aufwendig sanieren müssen, aber Mama und ihr Bruder konnten sich nicht über die Kostenverteilung einigen. Am liebsten wäre es beiden gewesen, wenn es einfach weitergegangen wäre wie bisher – wenig Geld, aber auch kein Stress.
Ich schlug zu. Vor mittlerweile genau drei Jahren und drei Monaten hatte ich meinen Nähtreff gegen alle Widerstände eröffnet und es noch keine Sekunde bereut. Ja, es war nicht leicht gewesen, den ganzen Behördenkram zu erledigen, und auch den Kredit für die erste Ware hatte ich nur über meine Mutter bekommen (sich gegen ihr Dauergemecker durchzusetzen, war daran der schwierigste Teil). Die Ladeneinrichtung stammte vom Flohmarkt und vom Sperrmüll, mühsam auf Linie gebracht mit Schleifpapier und Kreidefarbe, zusammengehalten von nichts als weißem Lack und Hoffnung.
Zur Eröffnungsfeier hatte es Erdbeerbowle, Lachshäppchen mit bunten Strickfähnchen an Zahnstochern (von Mandy) und vegane Kekse in Nähmaschinenform (von Shanaya) gegeben. Ob es an der idealen Lage mitten im zahlungskräftigen Neuhausen lag, an der gerade Fahrt aufnehmenden Handarbeitswelle oder einfach an Bernadettes Zauberkunst: Irgendwie lief es von Anfang an ganz gut. Nicht unbedingt so gut, dass ich mir einen goldenen Whirlpool auf den Balkon hätte stellen können, aber auch nicht so schlecht, dass ich zum Monatsende hin verzweifelt am Knäckebrot nagen musste.
Und diese warme, kleine Oase aus Stoff und Farbe, surrenden Maschinen und gleichgesinnten Menschen sollte bald der Vergangenheit angehören? Omas Vermächtnis wegen fünfhundert Euro in den Wind schlagen? Niemals!
Ich wusste nur zu gut, dass ich nie im Leben eine ähnliche Immobilie finden würde. Nicht in München. Ja okay, vielleicht im Gewerbegebiet von Fürstenfeldbruck oder im Untergeschoss eines kaum besuchten Kaufhauses in Germering, aber das wäre nicht das Gleiche und von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Da gäbe es weder die vielen Latte-Macchiato-Mütter auf der Suche nach einer individuellen Kleinigkeit noch die Wumplitz mit ihrer locker sitzenden Witwenrente. Ein kleiner, bunter Laden wie meiner konnte nur mit einer zahlungskräftigen Laufkundschaft bestehen, und die gab es nun mal hier in der bayerischen Landeshauptstadt so zahlreich wie kaum woanders.
Ich bin ein Schneiderlein, nicht besonders klein und auch nicht besonders tapfer. Aber dafür zäh wie Leder, vielseitig wie Baumwoll-Webstoff und flexibel wie elastisches Einfassband. Ich lebe meinen Traum, und dafür würde ich kämpfen!
* * *
Schon im Hof hörte ich das fröhliche Geschnatter von unserem Balkon. Es war noch nicht einmal zehn Uhr. Auch wenn der Tag für mich wirklich mies gelaufen war – in der Hühnerstiege begann der Abend erst. Ich schaute hinauf, sah die bunte Lichterkette leuchten und spürte prompt, wie meine Mundwinkel unweigerlich ein Millimeterchen nach oben wanderten. Ich freute mich auf eine Konversation, die das Gespräch mit meiner Mutter hoffentlich in den Hintergrund drängen würde.
"Hey, Liesel! Trinkst du noch ein Glas Wein mit uns?", fragte Mandy durch die offene Balkontür, als ich die Küche betrat. "Puuh, deine Knoblauchfahne riecht man ja bis hier draußen!"
"Dann brauche ich erst recht ein Glas Wein, um die wegzuspülen", murmelte ich. "Und den Frust."
Eigentlich hatte ich für diesen Abend schon genug Alkohol konsumiert. Der halbe Liter von Dimitris Hauswein schwappte immer noch durch mein Blut wie die Ägäis an den Strand von Athen. Doch die Mieterhöhung hatte mich dermaßen runtergezogen, dass ich nicht Nein sagte.
"Ich kann dir die letzte Portion Curry aufwärmen", bot Shanaya an. "Gegen Knoblauch hilft am besten noch mehr Gewürz, das ist wie bei der Homöopathie." Auch dieses Angebot nahm ich dankbar an.
In unserer WG gibt es wenig Geld und vielleicht auch nicht die Art von Stil, die einer Porschefahrerin vorschwebt. Aber menschliche Wärme haben wir im Überfluss.
Wir wohnen nur ein paar hundert Meter von meinem Laden entfernt in einer gemütlichen Altbauwohnung. Drei Zimmer, Wohnküche mit Balkon zum grünen Hinterhof, Parkett und hohe Decken, an denen man noch Spuren von Stuck erkennen kann. Sogar ein Gästeklo gibt es, obwohl das die meiste Zeit des Jahres als Woll-Lager dient. Das Jugendstil-Treppenhaus ist eine Wucht, auch wenn es aus dem Keller immer etwas modrig riecht, und die Nachbarn sind alle cool. Dass die Wohnung im dritten Stock ohne Lift liegt, passt optimal zu meiner sehr frei interpretierbaren Kleidergröße 38. Für die Beine muss man schließlich auch irgendwas tun.
Und zu allem Überfluss liegt die Butze mitten im Glockenbachviertel, wahlweise nur einen Steinwurf von den bunten Szeneläden der Regenbogen-Gesellschaft oder aber den Biergärten an der Isar entfernt. Wenn ich die Tür aufschließe, wundere ich mich jedes Mal selbst über mein Glück. Jedem, dem ich von meiner Wohnsituation erzähle, fragt zu allererst: Wo ist der Haken?
Nun ja, ich wohne selbstverständlich nicht alleine in diesem absoluten Jackpot von Mietimmobilie. Hey, es ist München! Renovierter Altbau! Innenstadt! Toplage! Sowas geht nur als WG. Unsere ist im Haus als die "Hühnerstiege" bekannt, weil wir drei Frauen sind, direkt unter dem Dach wohnen und abends auf dem Balkon gerne laut gackern. Struck – Mötz – Soleil steht auf dem Klingelschild.
Mandy Mötz ist die Hauptmieterin der Wohnung. Ich habe Mandy auf einer Kreativmesse kennengelernt und einfach Glück gehabt: Der Vermieter, ein schrulliger Uralthippie, ist ihr Onkel. In München kommt man grundsätzlich nur über Connections an gute Wohnungen. Entweder hat man Geld hoch zwei, eine Festanstellung in leitender Position, weder Kinder noch Haustiere noch sonst irgendwas Verdächtiges – oder eben Connections.