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Freund futsch - check Laden abgefackelt - check Schlimmer hätte es für Liesel nicht kommen können: Erst erwischt sie den nagelneuen Freund Alex mit der Mitbewohnerin Mandy im Bett und dann fackelt sie auch noch versehentlich den eigenen Laden ab. Hals über Kopf zieht Liesel zurück zu ihrer dominanten Mutter und will erst einmal überhaupt nichts mehr wissen vom Nähen. Sie stürzt sich in Abenteuer mit völlig unpassenden Männern - einfach aus Trotz. Von wegen langweilige Struckliesel! Als Liesel endlich zur Besinnung kommt, ist es scheinbar zu spät, um Alex zurückzuerobern. Andererseits: Mit etwas Geschick, Mut und einer guten Stopfnadel lässt sich alles wieder flicken, notfalls auch ein gebrochenes Herz, oder? Kann Liesel ihren Gefühls-Fadensalat noch auflösen? Teil 2 der Serie "Der kleine Nähtreff" von Eva Kah.
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Seitenzahl: 322
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Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
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Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Bücher von Eva Kah
Über OBO e-Books
Für meine Oma, die ALLES selbst gemacht hat und nicht einmal vor dem Schlagbohrer zurückschreckte. Als ich ein fünfzehnjähriges Gothic Girl war und mir die teuren Szeneklamotten nicht leisten konnte, hat Oma mit mir zusammen ein schwarzes Lackmieder aus einer Tischdecke genäht. Mit rostigen Original-Korsettstäbchen, die sie ein halbes Jahrhundert zuvor aus einem Hüfthalter ihrer Mutter herausgetrennt und in einer Schublade aufbewahrt hatte – falls man sie mal brauchen sollte. Ob man das "so macht" und was "die Leute" dazu sagen, ist ihr seit mittlerweile fünfundneunzig Jahren völlig piepegal.
Oma ist immer noch eine Rebellin. Die Coolste. Und mein Vorbild (nicht nur, weil wir beide vier Kinder haben). Wenn sie noch genug sehen könnte, säße sie bestimmt heute noch täglich an der Nähmaschine.
Von ihr habe ich das ultimative Lebensmotto: Das gibt sich beim Bügeln!
Aus der Schweiz kommen zwei Nobelmarken, die sich sehr ähnlich und dennoch ganz verschieden sind: Hilti und Bernina. Bohren und Nähen. Diese beiden Firmen bilden auf merkwürdige Art das gesamte Spektrum menschlicher Bedürfnisse ab: Haus bauen! Blöße bedecken! Es wäre jedoch verkehrt, darin vorschnell irgendwelche Geschlechterklischees zu erkennen. Schließlich ist BEIDES kreatives Konstruieren.
Für den größten vorstellbaren Liebeskummer gibt es bestimmt geeignetere Orte als sein eigenes Kinderzimmer. Einsame Waldlichtungen bei Sturm vielleicht. Volle Bars in fremden Städten, deren Sprache man nicht versteht. Verfallene Bootsstege am Rand des Ozeans im Sonnenuntergang unter Gewitterwolken. Irgendwas, was die Gemütslage angemessen widerspiegelt.
Ich aber war wieder bei Mama untergeschlüpft wie ein Entenküken, dessen Federstummelchen noch nicht zum Fliegen reichten. Doch nachdem mein Laden und Lebensmittelpunkt abgebrannt war und mich mein Freund ausgerechnet mit meiner Mitbewohnerin betrogen hatte, blieb mir nichts anderes übrig. Mein Konto hätte sowieso keine weiteren Reisen als eine im Münchner Nahverkehr zugelassen.
So gesehen war es ja praktisch, dass meine Mutter ein großzügiges Haus im Nobelvorort Gräfelfing bewohnte und nicht auf Mallorca, wie sie es auch schon vorgehabt hatte, als sie noch Tennis spielte und für Boris Becker schwärmte. Mittlerweile war sie beim Golfen angelangt.
In meinem Gräfelfinger Kinderzimmer konnte ich mich so richtig schön einigeln und gehen lassen. Jedenfalls solange ich das teure Parkett nicht verkratzte und jeden Dienstag die Putzfrau rein ließ. Offiziell hieß es "Gästezimmer", aber das täuschte niemanden. Mama hatte keine Gäste außer mir, dafür war sie viel zu perfektionistisch.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich in den Schlaf geweint hätte. Meine Augen blieben die ganze Zeit trocken, als ob die Hitze des Brandes auch meine Tränendrüsen verschmort hätte. Ich schluchzte auch nicht besonders laut. Sowas ist einfach nicht meine Art.
Stattdessen stand ich morgens auf, putzte mir die Zähne, ging noch in Unterwäsche nach draußen in den Garten und sprang erst einmal in den Pool. Dort schwamm ich noch vor dem Frühstück meine Runden. Ich zählte nicht mit. Der Pool hatte die Form einer liegenden Acht, dem Zeichen für Unendlichkeit, und ich blieb auch unendlich lange darin. Bis die Haut an meinen Zehen und Fingerspitzen sich zu schwammig weißen Dünen aufwarf, aber noch bevor die Mittagssonne über die hohen Hecken des Grundstücks wanderte. Erst dann kletterte ich aus dem Wasser, nahm eine kurze warme Dusche und kochte mir Kaffee. Ganz nebenbei vermied ich so die morgendliche Begegnung mit meiner Mutter, die während meiner morgendlichen Poolrunden schon zur Arbeit fuhr und sowieso nicht wusste, was sie jetzt mit mir anfangen sollte. Mit einer erwachsenen Tochter kam sie genauso wenig zurecht wie damals mit einer zwölfjährigen.
Mittags vergrub ich mich in meinem Zimmer und las Illustrierte. Nachmittags machte ich einen Spaziergang und sprang danach noch einmal bis zur völligen Erschöpfung in den Pool. Verbissen zog ich meine Achter in der Hoffnung, danach ohne Gedankenkarussell einschlafen zu können. Manchmal klappte das sogar.
Das war meine Art der Traumatherapie. Kostete nichts, war ungefährlich, brachte Ertüchtigung für Körper und Geist. Und wenn ich dabei Wasser in den Augen hatte, dann lag das an meiner unausgereiften Schwimmtechnik.
Davon abgesehen ging es mir gut. Überraschenderweise.
Der Brand entpuppte sich nach und nach als heilsamer Schock. Nachdem die Polizei den Laden freigegeben hatte, musste ich auf Drängen meiner Mutter erst einmal einen Statiker engagieren, um sicher zu stellen, dass die Gebäudesubstanz durch den Brand keinen Schaden genommen hatte. Glücklicherweise war das nicht der Fall. Trotzdem kam die komplette Einrichtung und Ware auf den Sondermüll, abgeholt durch Männer in Atemschutzmasken. Vorbei war es mit meinem selbst gebauten Webbandhalter, den goldenen Styropor-Stuckleisten, den kunterbunt durcheinander gewürfelten Regalen vom Sperrmüll, die ich aufgearbeitet hatte und in denen die Waren aussahen wie die liebevoll ausgewählten Juwelen, die sie ja auch waren. Mein Laden hatte ihnen einen über Jahre hinweg entstandenen, würdigen Rahmen verliehen. Außerhalb des Nähtreffs, hastig in Kartons geworfen, wirkten meine Stoff- und Kurzwarenschätze nur noch wie ein Haufen nutzloser Lumpen.
In einem Anfall von Nostalgie bat ich das Entsorgungsteam, einen einzigen Gegenstand wieder vom Container zu nehmen: Bernadette, meine allererste Nähmaschine. Eine Bernina Record von 1963. Das Erbe meiner Großmutter. Unter ihrer Stahlblechhaube hatte sie wer weiß wie schlimme Hitzeschäden davongetragen. Vermutlich war innen sehr viel mehr geschmolzen als nur das Stromkabel, von dem nur noch ein paar Plastikkrümel übrig waren. Es hätte mir das Herz gebrochen, das sechzig Jahre alte Eisenross so malträtiert zu sehen, also ließ ich die Haube drauf und guckte sie gar nicht erst an. Wenigstens war Bernadette nicht bei Bewusstsein gewesen, als es mit ihr zu Ende ging.
Ein auf Brandfälle spezialisierter Malerbetrieb renovierte die Wände und strich alles in sterilem Cremeweiß. Dabei ging natürlich jegliche individuelle Note flöten. Von all dem, was ich über die letzten Jahre an Liebe in diese uralten Räume hineingesteckt hatte, war nichts mehr übrig. Es war, als ob meine Nadelkissensammlung an der Wand und das jahreszeitlich dekorierte Schaufenster nie existiert hätten. Aber – hey. Ich war wirklich auf dem Weg zum Messie gewesen. In jeglicher Hinsicht! So gesehen hatte mir der Brand nur dabei geholfen, mein Leben zu entrümpeln. Auch von einem Mann, der es nicht ernst mit mir meinte.
Ja, es gab wohl eine Menge Frauen, die nach einem Seitensprung einfach so weitermachten wie bisher. Die sogar die Schuld für die Affäre ihres Partners auf sich nahmen, ganz nach dem Motto: Wenn er das braucht, habe ich etwas falsch gemacht. Oder, schlimmer noch, die harmoniesüchtigen Leugnerinnen. Die so taten, als ob sie von nichts wüssten. Als ob nie etwas passiert wäre, als ob sie kein Hirn im Schädel hätten. Hauptsache, die Beziehungsfassade blieb stehen. Friede-Freude-Eierkuchen! Und wenn die Eier noch so faul waren. Also die aus dem Kuchen.
Mit mir nicht! Ich hatte mein Männer-sind-Schweine-Erlebnis mittlerweile schon zweimal gehabt. Ein weiteres Mal würde ich mich nicht für ein dummes kleines Rotblondchen verkaufen lassen. Ab sofort würde das tapfere Schneiderlein zurückschlagen! Nur war ich ja nun streng genommen kein Schneiderlein mehr ... egal. Wenn ich schon einen Neuanfang hinlegen musste, dann aber richtig. Wo man einer Liesel Struck übel mitgespielt, wächst so schnell kein Gras mehr.
Im Anschluss an das Polizeiverhör wegen eventueller Brandstiftung habe ich gleich mein WG-Zimmer ausgeräumt. Natürlich nicht persönlich. Keinen Fuß mehr würde ich an diesen Ort der Schmach setzen, der sich Hühnerstiege schimpfte. Damit ich weder Mandy noch Shanaya und schon gar nicht Alex über den Weg laufen musste, schickte meine Mutter zwei kräftige Fliesenleger aus Bulgarien, die ansonsten als Mädchen für alles in ihrer Firma arbeiteten und kein Wort Deutsch verstanden. Das war auch gut so, falls eine meiner ehemaligen angeblichen Freundinnen ihnen meinen neuen Aufenthaltsort entlocken wollte.
Meine Mutter war nur zu gern bereit, mich wieder bei sich aufzunehmen. Unter einer Voraussetzung: Ich sollte ihr nicht länger als vier Wochen auf der Tasche liegen. Und: Ich durfte nicht nähen. Jedenfalls nicht in ihrem Haus. Nicht, solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst! Auf diesen Nähmaschinen liegt für unsere Familie einfach kein Segen. Die bringen nur Unglück.
Da konnte ich ihr noch nicht einmal widersprechen. Bisher hatte mir mein Hobby nichts gebracht außer Schulden, Tränen und Einsamkeit. Selbstverwirklichung adieu! Der einzige Lichtblick an der Sache war, dass das mit dem Brand auch ganz anders hätte ausgehen können. Wenn ich die Pappschachtel mit der Osterdekoration spätabends neben das kaputte Elektrokabel gelegt hätte und nicht mittags, wäre der Brand vielleicht erst entdeckt worden, wenn es für die Bewohner in den darüberliegenden Stockwerken zu spät gewesen wäre. So war wenigstens nur ich selbst ruiniert, ich ganz alleine. Ich ging stramm auf die Dreißig zu, war Single und lebte wieder in meinem Kinderzimmer. Okay, es handelte sich zugegebenermaßen um ein ziemlich nobles Kinderzimmer mit Poolblick, eigenem Bad und separatem Zugang zur Dachterrasse. Wenn ich mit vierzehn nur halb so viel Wurstegal-Mentalität gehabt hätte wie jetzt, hätte ich die Vorzüge meines reichen Elternhauses schon früher zu schätzen gelernt ...
Schwamm drüber. Die letzten zehn Jahre gehörten aus dem Gedächtnis der Welt getilgt. Im Moment war mir nach nichts als einigeln, und dabei durfte es ruhig etwas luxuriöser zugehen als in einer gewissen WG voller pseudokreativer, untreuer Prekariatsangehöriger.
Die Handlanger meiner Mutter stapelten meinen gesammelten WG-Hausrat in die linke Hälfte der Doppelgarage. Mama fuhr ihr Porsche Cabrio so lange auf den Hof. Wenn schon Neuanfang, dann richtig! Stundenlang saß ich in der Garage auf einem meiner aus alten Jeans genähten Poufs (endlich waren die mal für was gut) und sortierte alles aus, was ich seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr in der Hand gehabt hatte. Das war eigentlich der Großteil. An einem Wochenende Garagenflohmarkt ging so gut wie alles davon weg. Ich spendete tonnenweise Stoffreste an Kindergärten und andere soziale Einrichtungen. Mich freute der Gedanke, dass man dort damit spielte und vielleicht noch die ein oder andere nette Kleinigkeit daraus machen konnte. Behalten hatte ich nur ein paar Stoffballen in Uni-Tönen, die ich irgendwann einmal in ferner Zukunft für mich ganz allein vernähen wollte. Klassische, anständige Stoffe, die nie aus der Mode kommen würden. Dunkel melierter Sweat, schwarzer Ripp-Jersey, grauer Strick, so etwas. Weder bunte Schildkröten noch tanzende Eichhörnchen, keine neonfarbenen Ananas und schon gar keine Kirschen würden mich auf meinem Weg in die Zukunft beschweren. Auch keine einzige Eule! Weg mit dem Schnickschnack, ich war schließlich eine erwachsene Singlefrau und kein Clown auf dem Kindergeburtstag. Nichts sollte mich an eine Vergangenheit erinnern, in der ich sowohl beruflich als auch persönlich auf ganzer Linie gescheitert war.
Doch so umfassend ich ihn auch aus meinem Leben tilgte, ganz aus meinem Gehirn verbannen konnte ich Doktor Alexander Hohlmann trotzdem nicht. In den unpassendsten Momenten tauchte sein Bild in meinem Kopf auf wie eine nervige Werbeanzeige.
Die kleinsten Anlässe genügten, um mich an all die liebenswerten Kleinigkeiten zu erinnern. An seine Macken, seine Eigenheiten, die ich in der kurzen Zeit unserer Beziehung Schicht für Schicht an ihm freigelegt hatte. Sie hätten bestimmt nicht jeder Frau gefallen, aber mich hatten sie jeden Tag und jede Stunde unseres Beisammenseins aufs Neue entzückt. Ich hatte mich manchmal gefühlt wie eine Naturforscherin, die eine ganz besonders seltene neue Spezies erforscht: Diese exotische Kreatur namens Mann! Und was für einem. Einem, der keinen Unterschied machte zwischen Leben und Arbeit. Der es nicht nötig hatte, abends schlechtgelaunt auf dem Sofa herumzufläzen. Der sein ganzes Wesen, seine ganze Energie und Aufmerksamkeit in das steckte, was er gerade tat, ob es das Zusammenlöten von Roboter-Gehirnen war oder das Küssen meines Bauchnabels. Er verschenkte sich komplett, an seine Arbeit oder seine Liebe. Die ich aus irgendwelchen Gründen so schnell wieder verloren hatte. Oder warum hätte er sonst bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in Mandys Bett hüpfen müssen?
Keine Woche später saß ich in meinem alten Kinderzimmer und versuchte krampfhaft, ihn zu vergessen. Aber die hunderttausend verschiedenen Gründe, weshalb ich so glücklich mit ihm gewesen war, ploppten hartnäckig vor meinem inneren Auge auf.
Selbst beim Kaffeetrinken fiel mir ein, wie er das gemacht hatte. Wie er dabei ausgesehen hatte. Wie er zum Beispiel seinen Kaffee mit konzentrierter Miene genau dreimal umgerührt hatte – im Uhrzeigersinn, weil das auf der nördlichen Erdhalbkugel gegen die natürliche Wasserablaufrichtung gerichtet und deshalb bestmöglich zum Verteilen der Flüssigkeiten "Kaffee" und "Milch" mit dem Granulat "Zucker" geeignet sei, jedenfalls unter der Annahme, dass alle drei Substanzen in üblichen Aggregatszuständen, Temperaturen und Mengen vorlägen und sich zu einem ähnlichen Zeitpunkt zusammen in einer genormten Tasse aus Porzellan oder Steingut befänden. Das hatte er ausgerechnet. Weil er so etwas eben konnte. Und nach dem Umrühren hatte er immer gelächelt und den Löffel aus der Tasse genommen, um ihn sich nicht beim nächsten Schluck ins Auge zu stechen, wie es ihm schon so oft passiert war.
Nicht einmal Toast konnte ich mehr essen, weil ich den superstylishen Edelstahltoaster meiner Mutter immer mit seinem Toaster verglich. Der hatte die Form von Darth Vaders Helm und röstete den Schriftzug May the Force be with You in jede Scheibe. Alex hatte ihn mit großer Ernsthaftigkeit benutzt. In vielem war der Doktor der Physik ein Kind geblieben. Ob Mandy das zu schätzen wusste?
In einem sentimentalen Moment gestand ich Mama, warum ich keinen Toast mehr zum Frühstück aß, obwohl sie mir extra eine Packung gekauft hatte. Sie hatte eine klare Meinung zu den Erinnerungen, die mich plagten.
"Siehst du, Kind, genau das ist der Grund, weshalb Ehen scheitern. Es ist doch immer das Gleiche: Anfangs ziehen sich die Gegensätze an, und spätestens nach ein paar Jahren gehen dir seine Macken so auf die Nerven, dass du ihn erwürgen könntest. Deshalb haben sich ja auch dein Vater und ich scheiden lassen", plauderte sie in ihrem üblichen Atomeisbrecher-Ton, der so viel Entschlossenheit und Kompetenz vermittelte und dem sie ihre Karriere als Unternehmensberaterin verdankte. Als Mutter waren ihr dieser Ton und diese Teflonpfannenhaltung auch stets sehr hilfreich gewesen. Mir als Kind nicht so sehr. Aber jetzt war ich ja groß und konnte damit umgehen.
"Toast ist sowieso nicht das Allerbeste, so vom Nährwert her", schloss meine Mutter ihre Ausführungen. "Sei froh, dass du ihn los bist."
Toast oder Mann? Egal. Ja, das sollte ich wohl sein. Froh. Jetzt im Moment gelang mir das vielleicht noch nicht ganz so überzeugend aus dem Effeff, aber bestimmt würde es in ferner Zukunft wieder mal besser hinhauen mit dem Frohsein. Ich würde wieder Fröhlichkeit verspüren, Lebensfreude. Mich locker machen. Spaß, oh ja, sogar Spaß haben. Irgendwann. Irgendwo. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
"Sei nicht traurig, Liesel. Ich weiß, du fühlst dich jetzt wie ... wie in den ... in den Altkleidercontainer gestopft. Ist mir damals mit deinem Vater genauso gegangen. Ich fürchte, Männer sind so. Beziehungen sind so. Meistens jedenfalls. Es gibt nun mal kein – wie nennt ihr Nähtussis das? Dieses Ding aus Papier, das man ausschneidet, auf den ... Stoff legt und dann noch mal ausschneidet? Puh, das klingt ja schon beim Beschreiben so umständlich und zeitraubend. Aber du weißt, was ich meine, oder?"
Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, was da gerade passierte: Meine Mutter versuchte, mich zu trösten. Dafür griff sie sogar auf Fachausdrücke aus meinem Schneider-Vokabular zurück. Ich spürte, wie schwer es ihr fiel, diese Worte auch nur in den Mund zu nehmen. Altkleidercontainer. Ausschneiden. Stoff. Es war ihr so wesensfremd. Und auch für mich hatten die Begriffe ihre geliebte Heimeligkeit verloren.
"Schnittmuster?", murmelte ich.
"Genau, Schnittmuster! Das hat meine Mutter auch immer gesagt: Es gibt kein Schnittmuster für die Liebe."
"Deine Mutter? Meine Oma?" Ich hatte Oma nie über die Liebe sprechen hören. Lag wahrscheinlich daran, dass ich nie gefragt hatte. Bei Oma war der sichere, warme Hafen mit den hübschen Streublümchenmustern gewesen, in dem ich meine erwachende Kreativität ausprobieren konnte. Nicht irgendwelche Hormonexperimente bejammern. Ich hatte Oma nie mit meinen pubertären Problemchen behelligen wollen. Oma war doch so kuschelig und roch nach Meister Proper Aprilfrisch, Oma war meine Anlaufstelle für perfekte Knopflöcher gewesen, für Muschelsäume und Haushaltstricks gegen ausfransende Nähte aller Art! Offensichtlich hatte ich da was verpasst.
"Ja, deine Oma", setzte Mama nach und begann zu erklären, weil sie mein Nachhaken missverstand. "In Gefühlsdingen ist jeder seines Glückes Schmied. Oder Schneider, wenn du so willst. Jeder muss sich da selbst durchwursteln, und nur den allerwenigsten passt der Partner auf Anhieb. Oder gar auf ewig. Jedenfalls meiner Meinung nach, auch wenn ich von Handarbeiten wenig halte", sagte meine Mutter in der ihr eigenen, sachlichen Art. "Aber keine Sorge. Es gibt noch genügend Männer da draußen. Zum Spaß haben. Auch für dich!"
Sie lächelte aufmunternd. Es sah nicht sehr überzeugend aus, aber meine Mutter war ja auch Unternehmensberaterin und nicht Psychologin oder gar Paartherapeutin. Wahrscheinlich auch besser so. Ich zwang mich meinerseits zu einem kurzen Heben der Mundwinkel und nickte stumm.
Schnittmuster für die Liebe! Was für ein Blödsinn. Natürlich gab es das nicht, genauso wenig wie eine Betriebsanleitung oder ein Kochrezept für die Liebe. Wobei … so unpraktisch wäre das gar nicht. Es gab da draußen eine Menge unsicherer Hobbynäherinnen, die sich nichts selbst zutrauten und noch nach einem Schnitt für viereckige Tischdecken fragten, das wusste niemand besser als ich. Gäbe bestimmt einen Markt dafür, überlegte ich. Man bräuchte natürlich auch einen englischen Namen dafür, um es international zu verkaufen. Liebe wurde schließlich überall benötigt. The Pattern of Love. Welche Form dieses Schnittmuster wohl hätte?
Mama unterbrach das zarte Pflänzchen meiner Marketinggedanken, bevor es richtig aufkeimen konnte.
“Aber jetzt gehen wir erst mal brav ins Bettchen, ja? Wir brauchen doch unseren Schönheitsschlaf. Du ganz besonders, mein Zuckerschnütchen!”
Mehr wurde nicht über mein Liebesleben gesprochen, und das war mir auch ganz recht so. Schluss mit Schnittmustern und dem ganzen Quatsch!
Mindestens 20.000 Stiche sind nötig, um ein einziges, schlichtes Oberteil aus Jersey zu nähen. Wenn es ein klassisches T-Shirt mit Kragenverstärkung und doppelt abgesteppten Säumen werden soll, sind es sogar 40.000. Früher haben all diese Nähte meine Seele zusammengehalten, all diese Stiche meinen Leben strukturiert. Heute würde mich jeder einzelne Nadelstich direkt ins Herz treffen.
Seit ich aufgehört hatte zu nähen, gehörte auch die abendliche Rotwein-Schokolade-Kombi meiner alten WG der Vergangenheit an. Ebenso wie das aufgewärmte vegane Kokoscurry und die selbstgebackenen Kekse (ob mit oder doch meistens ohne Hasch) von Shanaya auf dem Balkon der Hühnerstiege. Mangels Alternativen verbrachte ich viel Zeit mit meiner Mutter, und die hatte schon immer eine Tasse Kräutertee mit Ingwer für das Nonplusultra der Feierabendgestaltung gehalten. Also trank ich mit. Und ich aß auch mit: Morgens einen Milchkaffee und sonst nichts, mittags ein Käsebrot und vielleicht noch einen Joghurt, abends den schnell zusammenwürfelten Salat oder das bestellte Sushi, denn meine Mutter war nie eine große Köchin gewesen. Merkwürdigerweise hatte ich in ihrer Gegenwart auch nicht so viel Appetit.
Meine Figur dankte es mir. Ich merkte es daran, dass mein knallroter Taillengürtel plötzlich zu einem Hüftgürtel geworden war. Zuerst dachte ich, es sei eine Materialermüdung. Aber als auch alles andere außer meinem einzigen Rollkragenshirt zu rutschen begann, musste ich mir eingestehen: Ich trug jetzt eine echte 38. Na ja, dachte ich zuerst, ist doch kein Problem. Kleider enger nähen ist einfacher als sie zu erweitern. Ob ich mir nicht doch wieder eine Nähmaschine holen sollte, um meine Sachen der neuen schlanken Linie anzupassen?
Die Idee begrub ich rasch wieder. Denn mit den Kleidern kamen die Erinnerungen an den Nähtreff wieder hoch. An meinem Körper waren sie noch stumm gewesen, doch unter meinen Händen begannen sie ein Eigenleben zu entwickeln. Ich streichelte die Stofftextur, fuhr mit den Fingerspitzen die Nähte nach und wurde unwillentlich in der Zeit zurückgebeamt. Die Klamotten, die ich selbst entworfen und genäht hatte, sprachen zu mir. Wann wird es endlich richtig Winter?, fragte eine Russenmütze aus Walkstoff-Patchwork. Wir wollen mal wieder gebügelt werden!, riefen zwei meiner ersten Avas.
Und schlimmer noch: Sie machten mir Vorwürfe. Ein Etuikleid aus Tweed quatschte mich an: Weißt du noch, wie du mich zwei Jahre im Eck liegen hast lassen, weil du zu faul warst, das Satinfutter per Hand einzunähen? Du hast es dann nur gemacht, um Beate den unsichtbaren Saumstich beizubringen. Und wie oft hast du mich seitdem angezogen, hm? Ein einziges Mal. Da hättest du es auch gleich sein lassen können!
Ein Rock schrie: Ich sollte eigentlich eine Bluse werden! Mein Glück, dass du dich nicht für passende Knöpfe entscheiden konntest und das Rockschnittmuster sowieso mal ausprobieren wolltest. Weißt du noch? Weißt du noch??
Natürlich wusste ich noch. Das war ja das Unangenehme. Alles wusste ich noch, alles.
Wenn ich auf dem Klo saß und mein Blick dabei versehentlich auf mein Höschen fiel, schaute ich schnell wieder weg. Immer noch waren fast alle meine Höschen selbst gemacht. Sie passten auch noch gut. Aber all die bunten Dreiecke, tanzenden Füchse und herzallerliebsten Rehlein machten mir längst keine gute Laune mehr. Im Gegenteil. Das alles war unangemessen, kindisch, peinlich!
Am schlimmsten war es mit den Socken: Ich besaß über zwanzig Paar knallbunter Ringelsocken. Mandy hatte sie mir über die Jahre unseres Zusammenlebens gestrickt, um neues Garn zu testen. Mandy, die ihr Geld mit Strickanleitungen verdiente. Mandy, die ich mit meinem Freund im Bett erwischt hatte. Ich warf die Socken allesamt in den nächsten Altkleidercontainer. Weg damit! Es ist schließlich Sommer, dachte ich trotzig. Im Sommer braucht kein Mensch warme Stricksocken.
* * *
Den abgebrannten Nähtreff selbst konnte ich leider nicht ganz so schnell aus meinem Leben verbannen. Nachdem die Kriminalpolizei und der Baustatiker den Laden wieder freigegeben hatten, waren doch noch ein paar Kleinigkeiten direkt vor Ort zu erledigen. Dazu musste ich mein Schneckenhaus verlassen und mich persönlich in die Borstel-Meyer-Straße begeben. Den betroffenen Anwohnern mit Pralinen für ihre Geduld danken, Unterschriften auf Abfuhrgenehmigungen setzen, solche Dinge. Es war ein blödes Gefühl, die Straße entlangzugehen und von allen erkannt und gegrüßt zu werden. Dies war jahrelang der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens gewesen! Die verrauchte Fassade mit den zerbrochenen Scheiben dagegen löste kaum Emotionen in mir aus. Der Nähtreff war weitestgehend leergeräumt worden, alles in Container geworfen. Der Laden hatte keine Seele mehr.
Gerade als ich mich wieder auf den Weg nach Gräfelfing machen wollte, sprach mich ein komischer Kauz an. Er mochte irgendwo zwischen vierzig und siebzig sein, genauer konnte man das nicht sagen. Durch das perückenhaft dunkle, wahrscheinlich gefärbte Haar, die Solarienbräune und die blitzenden weißen Zähne unter dem Bleistift-Schnurrbärtchen wirkte er jünger, als er in Wirklichkeit sein mochte. Dazu trug er Jeans, Wildledermokassins und einen weißen Künstlerschal zum schlichten schwarzen T-Shirt. Das T-Shirt war eine Spur zu eng, so dass jede Rippe und jedes Muskelchen an seinem Oberkörper und seinen Armen gut zur Geltung kamen. Eigentlich ein Unterhemd, vermutete ich. Auf jeden Fall ging er häufig ins Fitnessstudio, und an stark duftendem Aftershave hatte er auch nicht gespart. Unter seinem rechten Arm klemmte eine Aktenmappe, und in der Linken trug er eine Art Plastikkoffer mit sehr vielen kleinen Fächern, ähnlich den Kleinteilmagazinen aus dem Baumarkt.
"Grüß Gott die Dame, san Sie die Inhaberin von dem G'schäft?" Er wies mit dem Kinn auf das Schild Änderungen aller Art, das vor der Eingangstür baumelte.Ich hatte es vergessen abzunehmen.
"Ja, noch ...", fing ich an, aber er unterbrach mich, indem er meine Hand ergriff und fest schüttelte.
"Angenehm", sagte er und stellte seinen Koffer ab. Bevor ich weitersprechen und ihm erklären konnte, dass das "G'schäft" wegen Brandes für immer geschlossen und ich nur noch zur Aufsicht da war, nahm er ein paar große bunte Knöpfe heraus und fing an, damit zu jonglieren.
"I bin nämlich der Knopf-Ferdl. I hoaß übrigens wirklich so. Und bei mir gibt's für jedes Töpferl ein Knöpferl!"
"Aha", sagte ich. Vor lauter Verwunderung über seine Ein-Mann-Show vergaß ich selbst für einen Moment, dass der Nähtreff nicht mehr existierte. "Ich führe keine Knöpfe."
Da hörte mein unerwarteter Besucher direkt auf mit dem Jonglieren. Mit erhobenen Augenbrauen verstaute er seine Knöpfe wieder im Köfferchen, richtete sich auf und drapierte schwungvoll seinen weißen Schal um.
"Dann brauchen'S vielleicht ein paar Knöpferl für den Privatbereich? Ich mache auch Hausbesuche. Jederzeit", sagte er kühn. Sein Blick lungerte in meinem Hüftbereich herum, wo ich definitiv keine Knöpfe hatte.
"Nein Danke, ich nähe nicht mehr."
"Ja aber ... des is doch a Nähg'schäft, oda ned?" Erst jetzt schaute er an mir vorbei und sah den Container und die beiden Bulgaren, die die letzten stinkenden Stoffballen aus dem Lager schleppten. "Duan'S a bisserl sanieren?"
"Nein. Also ja, das war einmal ein Nähgeschäft", sagte ich mit nur ganz minimal zitternder Unterlippe. "Mein Nähgeschäft. Dann ist es aber leider abgebrannt, und jetzt mach' ich es dicht."
"Und da mach i mi extra auf'n Weg und fahr her und dann sowas ... ham' Sie denn noch nie von mir gehört?"
"Ehrlich gesagt nicht", gab ich zu.
"Ts, ts, ts", machte der Herr Knopf. "Auch ned vom feurigen Ferdl oder vom Stopf-Knopf?" Sein Grinsen war so übertrieben, dass ich jetzt tatsächlich etwas mitschmunzeln musste. Was für ein schleimiger Kerl! Aber lustig. Es war ja nicht so, dass ich nicht ein klein wenig Ablenkung gebrauchen konnte. Und seine Komplimente waren auch Balsam für mein Selbstbewusstsein, das sich wie ein geprügelter Hund unterm Sofa verkrochen hatte und jetzt gerade vorsichtig hervorlinste.
"Nope", enttäuschte ich seine Hoffnungen. Ich hatte wenig Kontakt zu den anderen Läden gehabt und war auch im Internet kaum aktiv gewesen. Durch meine Mitbewohnerinnen war ich immer ausreichend mit Klatsch, Tratsch und auch Material versorgt worden, wenn es um andere Techniken als Nähen ging.
"Des is' ja wirklich komisch. Ich bin bei allen Handarbeitsladies von Südbayern bekannt und beliebt, wenn ich das so sagen darf ...!", laberte der Ferdl weiter.
Das konnte ich mir gut vorstellen. Bei den typischen Fachverkäuferinnen im Handarbeitsbereich, bei den Inhaberinnen von Wollgeschäften und so weiter kam einer wie er sicherlich ohne Probleme zum Zug. Die Handarbeitsszene war auch im dritten Jahrtausend immer noch so männerarm, dass die bloße Anwesenheit eines Vertreters dieser seltenen Gattung alle kreativen Herzen ringsumher zum Schmelzen brachte. War mir ja vor ein paar Wochen mit Alex nicht anders gegangen. Gelegenheit macht Liebe. Aber ich war raus aus dem Spiel! Männer hatten bei mir jetzt erst einmal nichts zu melden. Schon gar nicht musste ich mich von so einem schleimigen Schnösel wie diesem Stopf-Knopf trösten lassen.
"Bei mir gibt es aber nix zu Stopfen. Ehrlich. Kein Bedarf mehr. Tut mir leid", wollte ich ihn höflich zum Aufgeben überreden. Doch in diesem Moment kam auf der anderen Straßenseite ein Passant in mein Blickfeld, und mich durchrieselte es wie eine innerliche kalte Dusche und eine Hitzewallung auf einmal. Da stand ein großer, schlaksiger Typ in Jeans und gelb-braun geringeltem Strickpullunder über dem karierten Kurzarmhemd. Die wilden braunen Haare und die runde Brille ließen ihn mehr als je zuvor wie den Zauberlehrling Harry Potter in Erwachsen wirken, besonders in Kombination mit dem zerknirschten, bittenden Blick. Eine Erscheinung, die mir nur allzu vertraut war: Alex. Mist.
Während der letzten drei Tage hatte ich mich erfolgreich bei meiner Mutter in Gräfelfing verbergen können, doch kaum traute ich mich aus der Deckung ....
Er blieb stehen und hob zögerlich die Hand zum Winken. "Liesel, da bist du ja!", hörte ich ihn. "Wir müssen reden!"
Ich tat so, als ob ich ihn nicht hören, noch sehen würde. Stattdessen trat ich einen Schritt näher an Ferdl Knopf heran, sah von der ganzen Höhe meiner ein Meter vierundsechzig herausfordernd zu ihm hinauf und sagte:
"Ferdl, vielleicht gibt es bei mir spontan doch was zu stopfen."
Dann packte ich ihn am Kragen, zog ihn zu mir her und küsste ihn.
Wenn der feurige Ferdl von meiner rasanten Gesinnungsänderung verwirrt war, dann ließ er es sich nicht anmerken. Ohne Bedenkpause stellte er sein Knopf-Köfferchen ab und küsste zurück, als hätte er damit gerechnet. Besser noch – er schlang die Arme um mich und packte mich mit beiden Händen herzhaft am Hintern. Fast hätte ich gekreischt und nach ihm geschlagen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte ich mich, dass ich mit der Aktion angefangen hatte. Ich zwang mich zur Ruhe. Das hier sollte ja so aussehen wie Absicht!
Zumindest für Alex auf der anderen Straßenseite, der mir schließlich noch mehr als das angetan hatte. Er war richtig fremdgegangen. Konnte mir keiner erzählen, dass das mit Mandy nur ein bisschen Rummachen gewesen war, so wie ich jetzt hier mit dem Stopf-Knopf.
Ich wackelte sogar ein wenig mit den Hüften, als ob mir dessen derbes Zupacken gefiele. Der Stopf-Knopf küsste auch gar nicht so schleimig, wie er aussah. Im Gegenteil. Er war gepflegt und technisch einwandfrei. Auf Dauer vielleicht etwas zu gut durchgetaktet. Aber wir würden uns ja nicht dauerhaft küssen – nur, bis Alex endlich Leine gezogen hatte. Damit wir nicht zu früh aufhörten, ließ ich den Knopfvertreter vorsichtshalber nicht los und schmiegte mich eng an ihn. Zwischendrin musste er Luft holen und ging dazu über, meine Halslinie zu küssen. Oh-oh. Der Hals, vor allem der Bereich unter den Ohrläppchen, war meine erotische Achillessehne. Wenn mich hier jemand küsste, konnte ich nicht kalt bleiben, sogar wenn es sich um einen schleimigen Playboy-Opa handelte. Gemein! Mein Stöhnen wurde lauter und echter. Der Stopf-Knopf wusste wohl durch langjährige Erfahrung, was bei der Damenwelt ankam. Da merkte man halt doch die Routine ...
Und es wirkte. Als ich endlich selbst genug hatte und die Augen wieder öffnete, war der Gehsteig auf der anderen Straßenseite leer.
Hausschuhe in Pantoffelform sind ganz schnell gemacht. Dicke Deko- und Mantelstoffe sowie Filzreste eignen sich hervorragend. Bisschen Lederreste drunter oder Anti-Rutsch-Noppen drankleben, verzieren, fertig. Aber auch Mokassins, Espadrilles mit Strohsohle oder einfache Ballerinas für den Sommer sind möglich. Man kann ja alles nähen, sogar Schuhe für draußen.
Es ist gar nicht so einfach, sich neu zu erfinden. Das stellte ich fest, als es nach schier endlosen Hitzetagen überraschenderweise einmal regnete. Plötzlich konnte ich nicht mehr in den Pool flüchten, um meine Sorgen in Chlorwasser und Sonnencreme zu ertränken. (Wenn man ehrlich sein will, ist Regen im Juli auch eher der Normalzustand für die süddeutsche Schotterebene um München herum.)
Aber was tun? So viel ungeplante Freizeit hatte ich seit meinen Sommerferien als Kind nicht mehr gehabt. Mein Erwachsenenleben hatte aus dem Nähtreff und den abendlichen Handarbeits-Rotwein-Sausen mit meinen beiden Mitbewohnerinnen bestanden. Aber mit diesen alten Zöpfen war Schluss. Zeit für neue Horizonte! Zeit, mal wieder über den Poolrand hinauszuschauen! Das Leben war ja nicht vorbei, nur weil Liesel Struck Liebeskummer hatte und sich einigelte. Der Tag hat 24 Stunden, und die wollten ausgefüllt werden - irgendwie … tja. Wie genau?
Wie spannend, seinen eigenen Neigungen noch mal ganz von vorne hinterher spüren zu können! Nachdem ich die groben Außenkonstanten meines Lebens so bereinigt hatte, freute ich mich richtig auf die Neuausrichtung.
Dieser Regentag war perfekt geeignet, um mich zu sortieren. Ich setzte mich an meinen alten Schreibtisch, vor mir ein leeres Blatt Papier und ein frisch gespitzter Bleistift. Mein emotionaler Zustand schwankte auf einmal zwischen Übermut und Pflichtbewusstsein. Ich war sogar ein bisschen aufgeregt: Was würde bei meinem Hobby-Brainstorming alles herauskommen? Womit würde ich ab sofort meine Freizeit verbringen? Fühlte sich ziemlich genauso an wie früher, wenn ich über das Wochenende einen Aufsatz schreiben sollte. Ich hatte eigentlich ganz gerne Aufsätze geschrieben. Ich lächelte bei der Erinnerung an meine Rattenschwänzchen von damals, die erste Wimperntusche und die ersten mit Hilfe meiner längst verstorbenen Oma schräg und schief selbst genähten Shirts.
Dann lehnte ich mein Kinn in die linke Hand, malte mit dem Bleistift kleine Kreise in der Luft und dachte nach.
Was machte ich denn eigentlich alles gerne, so außer Nähen? Was war in den letzten Jahren zu kurz gekommen und freute sich nun darauf, in aller Ruhe genüsslich wiederbelebt zu werden?
Eine Viertelstunde später weckte mich das Knirschen von Sand zwischen meinen Zähnen aus einer Art Trance. Sand? In Gräfelfing? Woher ... ich betrachtete den Bleistift in meiner Hand und stellte erschrocken fest, dass ich seit meiner Schulzeit wohl zur Stiftekauerin mutiert war. Das Knirschen zwischen meinen Zähnen kam nicht von Sand, sondern von kleinen Lacksplittern. Der nagelneue, frisch gespitzte Bleistift war von oben bis unten gerippt. In meinem Mund machte sich ein säuerlicher Geschmack nach industriell verarbeitetem Holz breit. Meine Schneidezähne fühlten sich ein klein wenig wund an.
Ich blinzelte, blickte auf das weiße Blatt und entdeckte ein einziges Wort, das ich in meiner geistigen Abwesenheit notiert haben musste: Kochen.
Ja, das stimmte. Ich kochte ganz gerne, war nur in den letzten Jahren so selten dazu gekommen. In den Mittagspausen hatte ich mir irgendwo einen Snack geholt, und abends in der Hühnerstiege hatten Mandy oder Shanaya bereits irgendwas würzig Duftendes auf der Herdplatte gehabt ... weg mit dem Gedanken.
Kochen also. Das war alles. Ein enttäuschender Output für fünfzehn Minuten Brainstorming, aber schon mal besser umsetzbar als Zahnkarpfen-Zucht. Trotzdem zu wenig, um meinen aufregend neuen Alltag damit zu gestalten. Kochen. Das war nichts, um die Lücke zu füllen, die meine sieben Nähmaschinen hinterlassen hatten. Sollte ich abends von meinem noch zu findenden Angestelltenjob heimkommen und dann erst mal ein asiatisches Drei-Gänge-Menü zaubern? Besonders schwierig, solange ich mit meiner Mutter zusammenlebte, die ja quasi nichts aß außer Salat und Quarksmoothies. Hm. Oder sollte mein neuer Weg in die Gastronomie führen? Kellnern? Gar auf dem Oktoberfest zwanzig Maßkrüge von Tisch zu Tisch tragen, im Dirndl? Auf das Trinkgeld von zehntausend besoffenen Männern hoffen? Bloß nicht! Ich hatte Bier noch nie gemocht.
Ich zog eine Schnute und sah mich hilfesuchend im Raum um, fand aber keine Hinweise auf weitere unterdrückte Interessen, die ans Tageslicht sprudeln wollten. Das Zimmer war eigentlich ganz hübsch geschnitten mit der Dachschräge, dem großen Fenster und dem eigenen kleinen Badezimmer. Mama hatte die Villa damals zu Zeiten meines Schulabschlusses gekauft. Ich war in mein Lehrlingsheim im Süden der Stadt gezogen und hatte dieses Zimmer nie wirklich bewohnt. Im Bücherregal über dem Schreibtisch standen die Reclam-Ausgaben meiner gesammelten Schullektüren, die ich Wort für Wort komplett vergessen hatte.
Doch da, ganz oben auf dem Regal, was war das? Eine durchsichtige Box mit Deckel. Sie kam mir unbekannt vor. Versteckte sich darin vielleicht der sehnsüchtig erwartete Hinweis auf meine neue Interessenslage? Ich nahm die Box herunter, guckte hinein und klappte den Deckel schnell wieder zu, als hätte ich eine fiese kleine Giftschlange entdeckt. Meine Ballettschuhe! Symbole des Scheiterns. Mama hatte mich mit Ballettunterricht gequält, bis ich in die Pubertät kam und es unübersehbar wurde, dass ich den relativ ungrazilen Körperbau meines Vaters geerbt hatte. Dass sie die überhaupt aufgehoben hatte ... sah ihr ähnlich. Bestimmt nur, um mich bei passender Gelegenheit daran zu erinnern, wie ziellos, faul und ungeschickt ich schon als Kind gewesen war. Nicht mal eine drittklassige Ballerina war aus mir geworden. Auch keine Eiskunstläuferin, keine Synchronschwimmerin, keine Klavierspielerin, wie mir einfiel.
Verärgert über mich selbst pfefferte ich den zerkauten Bleistift in die Ecke und stand auf, um ruhelos durchs Zimmer zu tigern. Schluss mit dem Selbstmitleid und der unnötigen Nabelschau in die Vergangenheit! Ich brauchte jetzt Impulse für meine strahlende, nagelneue, aufregende Zukunft voller Möglichkeiten! Andere Frauen zogen doch auch um, trennten sich, fingen neue Jobs an, manche davon sogar in anderen Ländern. Ich zwang mich, an die Abenteuer der cocktailschlürfenden Single-Freundinnen aus Sex and the City zu denken statt an meine eigenen knubbeligen Knie und Koordinationsprobleme im Kinder-Ballettunterricht. Ich war Siebenundzwanzig, gesund und ungebunden, die Welt stand mir offen! Diese Herausforderung würde nichts als Spaß machen, basta. Es musste doch möglich sein, sich mit Siebenundzwanzig noch mal ein Sozialleben aufzubauen!
Mit der Optik fing es schon mal an: Ich wollte im Spiegel einer Frau begegnen, der man etwas zutraute. Die nicht so aussah, als trüge sie selbstgenähte Nashorn-Schlüppis, weil ihr Untendrunter eh keinen interessierte. Das konnte nicht so weitergehen. Es musste geshoppt werden!
Meine Mutter war sofort einverstanden und schoss mir fünfhundert Euro vor, damit ich nicht länger daherkommen musste "wie von der Heilsarmee eingekleidet". Dass sie meine Outfits früher absolut unmöglich gefunden hatte, war kein Geheimnis. Ich bedankte mich trotzdem, setzte eine ihrer dicken Gucci-Sonnenbrillen auf und stürzte mich an einem ganz normalen Wochentag per S-Bahn ins Vergnügen.
Fünf Stunden später taumelte ich durch das Gartentor zurück, in der Hand eine einzige Einkaufstüte. Ich war am Ende meiner Kräfte. Mein Kopf tat weh, in meinen Ohren summte und brummte es, von den schmerzenden Füßen gar nicht zu reden. Ich hatte das Grauen gesehen, gehört und gefühlt! Vor allem aber gerochen. Die Münchner Fußgängerzone, in der ich jahrelang nicht mehr unterwegs gewesen war, hatte ich mir mit siebenundachtzigeinhalb Millionen anderen Konsumwilligen teilen müssen. Was suchten all diese Leute an einem ganz normalen Wochentag dort? Hatten die alle keine Schule, keine Arbeit, keine Hobbies? In den Läden selbst regierte entweder der Luxuswahn oder die Wühltischmentalität. Wer keine hundertfünfzig Euro für ein Shirt ausgeben wollte, der prügelte sich eben mit einer Mädchengang um das letzte Fünf-Euro-Teil mit der süßen Katze drauf in Größe M. Das war kein Shopping, das war Nahkampf, und gesundheitsgefährdend dazu. Die Billigware bestand aus Mischfaser und roch nach Chemiefabrik. Wer dieses Zeug freiwillig kaufte und anzog, konnte doch nicht mehr ganz dicht sein.
Das Einzige, das ich gefunden hatte, waren Schuhe. Schwarze Lederstiefeletten, schön reduziert wegen Sortimentswechsel, knöchelhoch und mit etwas Absatz, gerade an der Grenze zwischen bequem und rockig. Aber sonst ...
Nie wieder würde ich mich diesem Horror aussetzen! Die Bekleidungsfrage musste vorerst verschoben werden. Auf ... keine Ahnung wann. Bis dahin würde ich mich mit Mamas Kleiderschrank zufriedengeben.
Ich kippte in der Küche ein Stamperl Wodka auf den Schreck und schlüpfte in die neuen Stiefeletten. Sogar meine Mutter gratulierte mir zu dem guten Kauf.
Jetzt musste ich die Dinger nur noch ausführen. Bloß wo?
Gut, dass ich eine Mutter hatte, die man mit Fug und Recht als eine Society Lady bezeichnen konnte. Sie war Mitglied in sämtlichen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die der Münchner Speckgürtel seinen einkommensstarken Bewohnern zu bieten hatte. Yachtclub, Golfclub, Frauen-in-der-Wirtschaft-Club, Segelflugverein, Rotary-Club, you name it. Nur einen Jagdschein hatte sie nach meinem Wissensstand noch nicht gemacht. Worüber ich früher immer den Kopf geschüttelt hatte, fand ich nun ziemlich attraktiv. Vor lauter Freizeitstress nicht zum Nachdenken kommen und permanent gründlich abgelenkt werden - genau das wollte ich auch!
Zwischen zwei ihrer samstäglichen Verabredungen stellte sich meine Mutter neben mich, stemmte die Arme in die Hüften und kam von selbst auf die Problematik zu sprechen.
"Hast du heute schon wieder nichts gemacht außer Spazieren und Rumliegen?"
"Nicht ganz. Dazwischen war ich auch kurz am Kiosk, um neue Zeitschriften zu holen."