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Katharina zögert nicht, als ihr Bruder Simon sie eines Nachts zu Hilfe ruft. Nach einem schweren Sturz kann er sich nicht um die Event-Agentur kümmern, und Promihochzeiten warten nicht. Doch gern kehrt sie nicht zurück auf das heimische Gut, so idyllisch es auch ist. Zu viele schlechte Erinnerungen hängen daran. Seither hat sie sich mit ihrer Tochter ein eigenes Leben aufgebaut, fern von Glanz und Glamour. Kaum angekommen trifft Katharina auf Leonard von Bredow, der alles verkörpert, was sie hasst. Leider entpuppt sich Leonard als wahre Stütze in der Krise und wächst ihr mehr ans Herz, als ihr lieb ist. Und wie heißt es so schön? Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann ...
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Seitenzahl: 433
Cover
Inhalt
Über das Buch
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Ein Jahr später
Podcast
DANKE
Über das Buch
Katharina zögert nicht, als ihr Bruder Simon sie eines Nachts zu Hilfe ruft. Nach einem schweren Sturz kann er sich nicht um die Event-Agentur kümmern, und Promihochzeiten warten nicht. Doch gern kehrt sie nicht zurück auf das heimische Gut, so idyllisch es auch ist. Zu viele schlechte Erinnerungen hängen daran. Seither hat sie sich mit ihrer Tochter ein eigenes Leben aufgebaut, fern von Glanz und Glamour. Kaum angekommen trifft Katharina auf Leonard von Bredow, der alles verkörpert, was sie hasst. Leider entpuppt sich Leonard als wahre Stütze in der Krise und wächst ihr mehr ans Herz, als ihr lieb ist. Und wie heißt es so schön? Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann …
Über die Autorin
Kristina Günak wurde 1977 in Norddeutschland geboren. Nachdem sie jahrelang als Maklerin arbeitete, ist sie heute als Mediatorin und systemischer Coach tätig. 2011 erschien ihr erster Roman, und seither hat sie sich mit ihren humorvollen Büchern unter Liebesromanleserinnen einen Namen gemacht. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Kristina Steffan.
Weitere Titel der Autorin:
Man wird ja wohl noch träumen dürfen
Wer mich nicht mag, hat keinen Geschmack
Wer weiß schon, wie man Liebe schreibt
Glück ist meine Lieblingsfarbe
Die Liebe kommt auf Zehenspitzen
Kaputte Herzen kann man kleben
Mit dir ist alles schöner
Kristina Günak
Glück ist da, wo man es hinträgt
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Anna Hahn, Trier Titelillustration: © shutterstock: donatas1205 | Eisfrei | Kate Macate | Anastasia Lembrik | Nina Novikova | AkvarellDesign Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
Für Charly
»Katha? Bist du dran?«
Ich tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipste das Licht an.
»Simon?«, fragte ich verdutzt, und meine Stimme klang rau vom Schlaf. »Natürlich bin ich dran. Du hast mich doch angerufen.« Ich hörte im Hintergrund ein Geräusch. Ein Scheppern, dann eine aufgeregt sprechende Stimme. »Hallo?«, fragte ich, jetzt etwas energischer. Auf meinem Tageslichtwecker leuchtete die Uhrzeit. Es war kurz nach Mitternacht. »Simon!« Mein Zwillingsbruder war nicht der Typ, der zu Spaßanrufen neigte. Außerdem kannte niemand mich besser als er, er wusste genau, dass ich ungehalten wurde, wenn man mich aus dem Schlaf riss. Außer man war ein Baby oder es war etwas passiert. Folglich kombinierte ich, dass etwas passiert sein musste. »Was ist los?«, fragte ich mit belegter Stimme und saß im nächsten Moment auf der Bettkante. Mein Herzschlag hatte an Tempo zugelegt.
»Danke«, sagte mein Bruder und klang dabei merkwürdig heiser. Er sprach nicht mit mir, wie mir nun aufging, aber bei wem um alles in der Welt bedankte er sich um diese Uhrzeit? Und wofür? Und dann war plötzlich eine fremde Frau am Handy.
»Elb-Klinik Bremervörde, Schwester Pia. Frau Heiden, Ihr Bruder hatte einen Unfall und ist hier bei uns in der Notaufnahme. Ich habe ihm jetzt mal das Telefon abgenommen. Er ist ein bisschen neben der Kappe. Er wollte Sie unbedingt anrufen.«
»Ist er okay?« Die Worte blieben mir fast im Hals stecken, aber ich bekam sie dennoch hervorgewürgt. Natürlich war er nicht okay. Er war im Krankenhaus.
»Es wäre gut, wenn Sie morgen früh mit ein paar Sachen für ihn vorbeikommen könnten«, sagte die freundliche Frau, aber Simon rief im Hintergrund: »Nein, jetzt. Sie muss jetzt kommen!« In seiner Stimme lag etwas, was ich das letzte Mal gehört hatte, als wir beide acht gewesen waren. Angst. Mein Bruder hatte aber keine Angst. Nicht mehr. Wenn es sein musste, nahm er es mit dem Teufel persönlich auf.
Unser Vater hatte uns zeit seines Lebens mit Nichtachtung gestraft, aber wenn er mehr als drei Bier getrunken hatte, wurde er von einer bösartigen Macht ergriffen, und dann mussten wir uns in Sicherheit bringen. Damals war das der Schrank gewesen, in dem wir hockten, bis unser Vater sich ausgetobt hatte. Nach dieser Nacht hatte Simon sich geschüttelt, erklärt, er fühle sich, als ob er in Drachenblut gebadet hätte und dass er ab sofort keine Angst mehr haben würde. Dabei war er geblieben. Und nun konnte ich selbst durch das Handy das Beben seiner Stimme hören.
»Ich komme sofort«, sagte ich deshalb und schob die Bettdecke beiseite. »Sagen Sie mir bitte nur, wie schlimm es ist.« Ein klein wenig verwirrt irrte ich mit dem Handy am Ohr durch mein Schlafzimmer. Keine Ahnung, warum ich das tat. Offenbar schien mein Unterbewusstsein etwas verloren zu haben.
»Es besteht kein Grund zur Eile. Ihr Bruder ist hier gut versorgt.« Kein Grund zur Eile? Simon lag in der Notaufnahme. Wenn die Schwester es so formulierte, konnte es sich nur um einen verschlüsselten Hinweis nachts um halb drei handeln. Danke, Schwester Pia.
»Passen Sie auf ihn auf. Ich komme. Jetzt.«
Jetzt war allerdings leichter gesagt als getan. Wenn ich mal schlief – und der Weg zum Tiefschlaf glich bei mir in letzter Zeit eher der Besteigung eines unbezwingbaren Berges –, brauchte ich danach sehr lange, um wieder klar denken zu können. Vor lauter Aufregung registrierte ich daher viel zu spät, dass Schwester Pia auf meine Frage, wie schlimm es sei, gar nicht geantwortet hatte.
Ich tigerte eine ganze Weile vollkommen orientierungslos quer durch meine kleine Wohnung, dann riss ich mich zusammen und zwang mich, einen Moment in den Innenhof zu schauen, der von der flackernden Lampe über dem Seiteneingang in ein zuckendes Licht getaucht wurde.
Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu sortieren. Simon hatte genug Freunde, die ihm morgen einige Dinge in die Klinik bringen konnten. Ich wohnte immerhin in Berlin, zwei Stunden entfernt. Wenn er mich anrief, war es ernst. Es bedeutete außerdem, dass ich mich auf ein paar Tage Aufenthalt einstellen sollte. Es gab schließlich nur uns. Mona, Simon und mich.
»Also Sachen packen«, murmelte ich. »Anziehen. Zähne putzen. Mona informieren.« Ich ging ins Bad, um mir erst mal die Zähne zu putzen. Dabei saß mir die Angst um meinen Zwillingsbruder wie ein fetter Troll auf der Brust und machte mir das Atmen schwer. Ich klatschte mir etwas Wasser ins Gesicht, danach fegte ich alle meine Kosmetikartikel mit der Hand vom Regal in die Reisetasche, fand meine Bürste und das Deo in der Badewanne, warf beides dazu und rannte weiter in mein Schlafzimmer, um mit meinen Klamotten ebenso zu verfahren.
Schrank auf, alles raus, und direkt rein in die große Reisetasche, was nicht wirklich knifflig war. Ich besaß einfach nicht genug, um eine komplizierte Auswahl zu treffen. Ich klaubte noch ein paar Sachen vom Boden auf und stopfte sie dazu. Dann verpackte ich mein kostbares Podcast-Mikro in Knisterfolie, legte es sorgfältig zu meinen Unterhosen und Socken und schob den Laptop in meine Handtasche.
Nachdem ich meinen ganzen Kram in den Flur gestellt hatte, lief ich noch einmal zurück, um in Monas Zimmer nach meinem aktuellen Roman zu fahnden. Es war immer sinnvoll, Lesestoff mit sich zu führen. Egal, was passierte. Wenn ich ein Buch in der Tasche hatte, hatte das immer eine beruhigende Wirkung auf mich, was jetzt durchaus hilfreich wäre. Ich war so aufgeregt, dass ich das Blut durch meine Adern rauschen hören konnte. Es war also absolut notwendig, dass ich diesen Fantasyroman in Monas chaotischem Zimmer fand.
Meine Tochter las nicht nur ständig meine Bücher und verschleppte sie, sie hatte leider auch meine chaotische Ader geerbt, weshalb wir regelmäßig Dinge suchten. Suchen bestimmte unser Leben. Aber das Glück war mir hold: Der Roman lag aufgeschlagen auf ihrem ungemachten Bett. Ich griff ihn mir schnell und ignorierte dabei den aufgeklappten Koffer auf dem Boden, in dem diverse Kleidungsstücke herumlagen, als wären sie vom Himmel gefallen.
Ich entschied, Mona keine Nachricht per Handy zu schreiben oder sie gar anzurufen, stattdessen schnappte ich mir einen Klebezettel von ihrem Schreibtisch und notierte darauf: »Ich musste kurzfristig zu Simon. Mach dir keine Sorgen! Melde mich!« Damit sie ihn nicht übersah, klebte ich ihn an ihre Zimmertür. Sie übernachtete heute bei ihrer Freundin, ihre ganze Freundesclique feierte seit Wochen ihr bestandenes Abi, aber man wusste nie, ob sie am Ende nicht doch das heimische Bett bevorzugte. Sicher war sicher. Und wenn es um ihren geliebten Onkel ging, verstand meine Tochter keinen Spaß.
Zehn Minuten später befand ich mich auf der Autobahn in Richtung Hamburg. Die Straße war zu dieser Zeit wie leer gefegt, und so gab es nichts, worauf ich mich konzentrieren konnte. Es gab nur mich, meinen kleinen Fiat 500 und die Angst, die in mir kreiste und meinen Puls zu wahren Höchstleistungen antrieb.
Um die Anspannung einigermaßen in Schach zu halten, schaltete ich das Radio ein. Es lief Bach. Mona war mit meinem Auto unterwegs gewesen, sie hörte ständig Radio Klassik. Während sie Streichkonzerte und Bachkantaten liebte, hörte ich gerne The Qemists und Rammstein. Wir waren bezüglich unseres Musikgeschmacks beide nicht altersgerecht entwickelt. Ich ließ Bach laufen und hoffte auf eine beruhigende Wirkung.
Zur Elb-Klinik in Bremervörde brauchte ich weniger als vier Stunden. Als ich den in krankenhausgrün gehaltenen Eingangsbereich betrat, fühlte ich mich sofort an die Nacht erinnert, in der Mona zur Welt gekommen war. Stundenlang war ich mit Wehen durch so eine Halle gewandert, hatte mich stöhnend gegen die Wände gelehnt und eine allumfassende Einsamkeit verspürt. Bis zu dem Augenblick, als Mona schließlich ihren ersten Atemzug tat. Und während andere sich sanft von ihrer Kindheit und Jugend lösten, sich vortasteten in das Erwachsenenleben, es kosteten und probierten, war ich in diesem Moment von der Klippe gesprungen. Ich war mit siebzehn schlagartig erwachsen geworden.
Die Halle war genauso leer gefegt wie die Autobahn, und das altvertraute Gefühl von Einsamkeit griff nach mir. Der Nachtpförtner saß in einem Glaskasten. »Wo ist die Notaufnahme?«, fragte ich atemlos, woraufhin er nur wortlos nach rechts wies, wo ein großes Schild die Wege zu den einzelnen Stationen aufzeigte.
Zur Notaufnahme ging es links lang. Also bog ich dort ab, und während ich über den stillen Flur lief und mich anstrengte, meine Füße zu bändigen, damit sie nicht losrannten, brannte mir der typische Krankenhausgeruch, trotz der FFP2-Maske, in der Nase.
Ich durchquerte zwei große Flügeltüren, die sich jedes Mal wie von Geisterhand öffneten, dann stand ich in der topmodernen und hell erleuchteten Notaufnahme. Am Tresen saß niemand, doch bevor ich irgendjemanden suchen konnte, tauchte plötzlich eine Frau vor mir auf.
»Trotz Maske! Die gleichen Augen wie Ihr Bruder! Das ist ja verrückt«, sagte sie und starrte mich an. Es war nicht so, dass mir das nicht schon öfter passiert war, aber in diesem Kontext brauchte ich ein paar Atemzüge, bis ich endlich begriff, was sie meinte.
»Sie sind Frau Gilmore«, stellte die Frau fest und klang dabei äußerst zufrieden. Ich war natürlich keinesfalls Frau Gilmore, aber Nerven, um das klarzustellen, hatte ich gerade wirklich nicht. Es war nur verwunderlich, dass Simon ihr von meinem Pseudonym erzählt hatte, deswegen fragte ich bloß: »Wo ist er?«
»Ich bin Schwester Pia, wir haben telefoniert. Na, dann kommen Sie mal mit.« Die Frau drehte sich schwungvoll um und wirkte dabei so energiegeladen, dass ich sie etwas beneidete. Ich folgte ihr durch den Flur. »Ihr Zwillingsbruder ist von einer Leiter gefallen. War eine hohe Leiter.« Mein Herz blieb quasi auf der Stelle stehen. Zwar nur für ein paar Sekunden, aber ich musste einen Klagelaut von mir gegeben haben, denn Schwester Pia wandte sich im Gehen zu mir um. »Er hat echt Glück gehabt. Die Ärztin kommt auch gleich noch mal und erzählt Ihnen mehr. Er war schon im MRT und beim Röntgen, und jetzt warten wir noch auf weitere Ergebnisse. Dann kommt er auf Station.« Sie blieb vor einer schweren Schiebetür aus Aluminium stehen. »Erschrecken Sie sich nicht, Ihr Bruder sieht nicht gerade gut aus.«
Mein Bruder sah immer gut aus. Er war der Inbegriff der gepflegten und extravaganten Erscheinung. Allerdings war davon in dieser Nacht nicht viel zu merken, denn ohne seinen pinkfarbenen Irokesenschnitt hätte ich ihn nicht direkt erkannt. Simon sah nämlich aus, als wäre er mit zweihundert Sachen gegen einen Brückenpfeiler gefahren.
»Ich habe Ihre Schwester gefunden«, verkündete die Krankenschwester und klang dabei unglaublich fröhlich. Für sie waren von Leitern stürzende Brüder vermutlich alltägliche Begebenheiten. Für mich nicht. Ich starrte ihn entsetzt an. Simons linke Gesichtshälfte war geschwollen, das Auge bekam er gar nicht auf, und er hatte einen tiefen, frisch genähten Schnitt über der Augenbraue. Sein linker Arm war bis zur Schulter dick bandagiert und ruhte auf einem Kissen. Schlagartig wurde mir ein klein wenig flau im Magen. Simon schwieg.
Ich war eigentlich hart im Nehmen. Letzte Woche hatte sich einer der Köche im La Calmvalera mit einem Messer fast eine Fingerkuppe abgeschnitten. Köche schnitten sich ständig in irgendwelche Körperteile. Ich hatte, wie üblich, Erste Hilfe geleistet, und es hatte mir nichts ausgemacht. Ich hielt einiges aus, solange es nicht um die Menschen ging, die ich beinahe mehr liebte als mich selbst. Mona und Simon. Als Mona sich letztens den Finger in der Küchenschublade eingeklemmt hatte, wäre ich fast in Ohnmacht gefallen. Vorsorglich setzte ich mich schnell auf den kleinen Hocker, der neben der Behandlungsliege stand.
»Er hat Schmerzmittel bekommen.« Schwester Pia drehte sich zu mir. »Deswegen ist er etwas durch den Wind. Passen Sie auf, dass er nicht wieder versucht, aufzustehen, um nach Hause zu fahren, ja? Das hat er jetzt ein paarmal probiert. Wenn was ist, klingeln Sie.« Einen Moment lang betrachtete sie mich, dann murmelte sie: »Es ist ja fast unheimlich, wie ähnlich Sie sich sehen. Das ist bei zweieiigen Zwillingen doch sehr ungewöhnlich.« Und mit diesen Worten verschwand sie energischen Schrittes, schob die Tür hinter sich zu, nur damit diese Augenblicke später wieder aufgerissen wurde. Eine große, blonde Frau hastete in den Raum.
»Hallo! Ich bin Dr. Kartos«, begrüßte sie mich, Simon hingegen reagierte so rein gar nicht auf ihr Auftauchen.
»Hallo«, sagte ich also für uns beide. Dr. Kartos hielt sich nicht lange auf. »Ihr Bruder hat sich nur«, das nur setzte sie mit den Fingern in imaginäre Gänsefüße, »den linken Oberarm gebrochen. Er kann von großem Glück sagen, dass er es noch geschafft hat, selbst den Notarzt zu rufen. Hätte er dort länger so gelegen, wäre es sicherlich nicht so glimpflich ausgegangen. Dazu kommen nämlich noch eine heftige Gehirnerschütterung, diverse Prellungen und sein linkes Knie schauen sich die Kollegen aus der Orthopädie morgen noch einmal genauer an. Ich habe es Ihrem Bruder schon erklärt: Die Humerusfraktur kann konservativ versorgt werden. Die kommenden Tage wird das noch einmal intensiv begutachtet. Aber einige Wochen wird er wohl ausfallen. Da müssen Sie sich gedulden. Das braucht Zeit.« Sie tätschelte meinem regungslosen Bruder vorsichtig den unverletzten Arm, nickte mir zu und verschwand so eilig, wie sie aufgetaucht war. Als die Tür sich mit einem Zischen hinter ihr schloss, drehte Simon den Kopf in meine Richtung und atmete tief durch. Dabei rasselte es hörbar in seiner Brust. Erschrocken blickte ich ihn an.
»Was wolltest du auf einer Leiter? Mitten in der Nacht?«, fragte ich schließlich, weil er mich nur einäugig ansah.
»Birne wechseln«, erwiderte Simon, dann räusperte er sich. Erneut dieses Rasseln in seiner Brust. Das Geräusch machte mir Angst. »Katha. Kannst du dir ein paar Tage freinehmen und zur Burg fahren? Kannst du dich um alles kümmern? Ich bezahle dir auch den Verdienstausfall.« Er sprach abgehackt, so als habe er trotz der Medikamente immer noch Schmerzen.
»Warum um alles in der Welt kletterst du nachts auf eine Leiter und versuchst eine Birne auszuwechseln?«, fragte ich erneut. Das war doch nicht normal! Aber Simon antwortete nicht auf meine Frage, stattdessen sagte er: »Bitte versprich mir, dass du ein paar Tage bleibst. Ich brauche dich.«
Ich biss kurz die Zähne aufeinander. Allein die Vorstellung, mitten in der Nacht zur Burg zu fahren, löste bei mir ein Kribbeln im Nacken aus. »Am zehnten August ist die große Hochzeit. Bis dahin muss alles laufen. Morgen um elf ist eine Besprechung. Du musst allen sagen, was passiert ist. Bitte, Katha. Kannst du das tun?« Sein Tonfall hatte plötzlich etwas Flehentliches. Völlig untypisch für Simon. Er presste für einen Moment mit schmerzerfüllter Miene die Lippen zusammen.
Simon war der Starke. Simon war das wandelnde Klischee des schwulen Mannes, mit seiner ausgefallenen Kleidung, den immer dazu passend lackierten Fingernägeln und dem pinkfarbenen Irokesenschnitt, der zu seinem Markenzeichen geworden war. Mein Zwillingsbruder war der coole Typ, der aus dem Nichts Burg Heidenfeld, das schreckliche Zuhause unserer Kindheit, zu einer der angesagtesten Hochzeitslocations in Deutschland gemacht hatte. Es verging keine Woche, in der nicht ein Bild von ihm in irgendeiner Klatschzeitung oder auf irgendeinem Social-Media-Kanal auftauchte. Wenn es irgendwo eine Bühne gab, war mit Sicherheit anzunehmen, dass mein Bruder raufspringen würde. Wir mochten uns ähnlich sehen, doch davon durfte man sich nicht täuschen lassen. Wir waren so unterschiedlich wie der arktische Winter (ich) und ein lauer Sommerabend in Saint-Tropez (er).
»Natürlich bleibe ich. Aber deine Mitarbeiter werden das schon hinbekommen«, erklärte ich schließlich.
»Nein!« Simon sprach plötzlich unverhältnismäßig laut, und ich zuckte zusammen. »Die können das nicht! Ich brauche dich.« Er atmete tief durch. »Du kannst bei Otto schlafen. Im Westflügel.« Seine Stimme klang jetzt verwaschen und sein Tonfall deutlich gesenkter. Was er sagte, ließ mich unbehaglich auf meinem Stuhl rutschen. Otto war schließlich im Himmel, vielleicht war mein Bruder auf einem kleinen Medikamententrip? Und dann fragte er ganz leise, so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte: »Kannst du meine Hand halten?« Seine Stimme zitterte am Ende der Frage, und ich sah ihn einen Moment erstaunt an. Dann rollte ich auf dem Hocker ein Stück näher und nahm seine Hand. Sie war kalt. Seine Finger schlossen sich um meine Handfläche, als müsse er sich festhalten. Als wäre ich der Rettungsanker, der ihn vor dem Untergang bewahren könnte.
»Schlaf ein bisschen. Ich fahre zur Burg und kümmere mich um alles«, sagte ich ebenso leise und fügte dann hinzu: »Solange ich keine Traureden halten muss.« Im Gegensatz zu meinem Bruder nahm ich beim Anblick einer Bühne die Beine in die Hand und rannte um mein Leben. Simon und ich waren tief verbunden durch unser Zwillingssein, aber unsere Persönlichkeiten könnten unterschiedlicher nicht sein.
Simon schlief zügig ein. Schwester Pia kam noch zweimal vorbei, und irgendwann rüttelte sie mich sanft an der Schulter, weil ich, mit der Stirn auf Simons Arm, ebenfalls weggenickt war. »Fahren Sie mal. Er kommt gleich auf Station. Kommen Sie morgen wieder. Sie brauchen auch Schlaf.« Beinahe lautlos hantierte sie an der Infusion hinter der Liege. »Wer ist denn von Ihnen beiden zuerst zur Welt gekommen?«
»Ich«, antwortete ich müde. Schwester Pia lächelte mir zu. »Kein Wunder, dass er sofort nach seiner großen Schwester verlangt hat.« In der Tat ein riesiges Wunder, aber das konnte sie natürlich nicht wissen, daher nickte ich nur und zog meine Hand vorsichtig aus Simons festem Griff. Er regte sich nicht. »Kann ich Ihnen noch meine Handynummer dalassen? Falls etwas sein sollte«, fügte ich hinzu und stand auf.
»Na klar. Die Kollegin ist am Tresen. Die schreibt sie auf. Gute Nacht!«
»Vielen Dank für alles«, sagte ich und strich meinem kleinen Bruder, der exakt zehn Minuten nach mir geboren worden war und der dabei die gesamte Glitzer- und Glossy-Ausstattung einer mittleren Kleinstadt abbekommen hatte, eine Strähne seines pinkfarbenen Haares aus dem Gesicht. »Ich bin morgen früh wieder hier. Erhol dich«, flüsterte ich ihm zu.
Wie müde ich war, merkte ich, als ich im hell erleuchteten Flur der Notaufnahme einen Moment blinzelnd stehen bleiben musste. Die rote Digitaluhr an der Wand verkündete, dass es halb fünf war. Irgendwo hinter einer der unzähligen Schiebetüren weinte ein Kind. Hoffentlich war es nicht schlimm krank. Meine Hartgesottenheit bezog sich nämlich wirklich nur auf fremde und erwachsene Menschen. Bei Kindern war ich grundsätzlich ein Stück Butter in der strahlenden Augustsonne. Aber das war vermutlich eine Nebenwirkung des Mutterseins. Mütter waren berührbar. Auf allen Ebenen, und das war manchmal gar nicht so gut.
Ich atmete noch einmal tief durch, orientierte mich kurz, stellte fest, dass ich in die falsche Richtung unterwegs war, und drehte um. Vor dem Tresen der Notaufnahme hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, also lehnte ich mich an die Wand, um zu warten. Ganz vorne diskutierte ein Mann, dessen Frisur man ansah, dass er keine Gedanken an sie verschwendet hatte. Die blonden Strähnen lagen wild durcheinander. Ich mochte blonde Männer, und deswegen sah ich etwas genauer hin. Er trug eine schwarze FFP2-Maske und hatte interessante braune Augen. Und genau die kamen mir plötzlich vage bekannt vor.
Er diskutierte nicht auf eine unangenehme Weise, war nicht etwa laut oder unflätig. Trotzdem hatte sein Tonfall etwas Unnachgiebiges. Ich sah noch genauer hin. Der Typ roch nach Geld und guter Bildung. Im nächsten Moment hob er den Kopf, und unsere Blicke trafen sich.
»Es hat sich gerade geklärt. Danke für Ihre Zeit«, sagte er zu der maximal genervten Schwester hinter dem Tresen, dann kam er auf mich zu.
»Hallo Katharina!« Mein altes Leben brach offenbar schneller über mich herein, als ich mir hatte träumen lassen.
»Hallo. Und wer bist du?«, fragte ich knapp zurück, weil der Typ zwar nach Elite-Schulen, reinrassigen Dressurpferden und exzellenten Lebensläufen roch, ich aber immer noch keine Ahnung hatte, wer hier vor mir stand. Die Maske half beim heiteren Rätselraten keinesfalls.
»Leonhard von Bredow. Ich bin mit Simon zur Schule gegangen«, erklärte er und machte dabei den Eindruck, als wäre es völlig unmöglich, dass ich mich nicht an ihn erinnerte. Ich kramte weiter in meinem Hirn. »Simon hat mir eine völlig aufgelöste Sprachnachricht geschickt, aus der ich überhaupt nicht schlau geworden bin. Was ist passiert?« Leonhard von Bredow strich sich die Haare aus dem Gesicht und wirkte plötzlich sehr besorgt. Ich konnte mich immer noch nicht an ihn erinnern. Die Jungs aus meiner Jugend waren zu einer homogenen, grässlichen Masse verschmolzen, und irgendwo da drin war vermutlich auch Herr von Bredow verbacken.
»Er ist von einer Leiter gefallen«, sagte ich.
»Was? Mitten in der Nacht?« Leonhard schien so schockiert, wie ich mich fühlte. Ich nickte. »Warum macht er denn so was?«, fragte er, und ich hob kurz die Hände, um zu signalisieren, dass ich keine Ahnung hatte. Schließlich hatte ich die genauen Hintergründe des Vorfalls auch noch nicht ergründen können. »Und wie geht es ihm?« Er straffte die Schultern, als müsse er sich wappnen. Es war diese Reaktion, diese offensichtliche Angst, dass meinem Bruder etwas Schlimmes passiert sein könnte, die mich anrührte, und so schob ich alle negativen Gedanken über die Jungs aus meiner Jugend zur Seite und erzählte Leonhard von Bredow, was ich wusste: »Er hat sich den Oberarm gebrochen. Und überall Prellungen und Schnitte. Und irgendwas am Knie. Er kommt gleich auf die Station.«
Leonhard atmete aus. Offenbar hatte er die Luft angehalten. »Nicht gut, aber es klingt, als könnte er das überstehen. Ohne Konsequenz für sein späteres Leben.«
Wieder nickte ich, erstaunt über diese Formulierung. »Ich fahre zur Burg und bringe ihm später ein paar Sachen vorbei.«
»Okay. Ich bleibe hier. Sie lassen mich zwar nicht zu ihm, die Schwester war da sehr resolut, aber ich setze mich irgendwohin und … bin halt da. Gibst du mir deine Handynummer?«
Ich diktierte ihm meine Nummer, er rief mich kurz an, damit ich auch seine abspeichern konnte, dann sprach ich noch kurz mit der Schwester am Empfang und verließ das Krankenhaus.
Wenn Simon diesem Leonhard mitten in der Nacht eine Sprachnachricht schickte, mussten die beiden gut befreundet sein. Dass ich Leonhard so gar nicht einordnen konnte, war allerdings ungewöhnlich. Oder es zeigte, wie wenig ich über das Leben meines Bruders wusste.
Ich musste die Route nach Burg Heidenfeld in mein Navi eingeben, obwohl ich den Weg theoretisch kennen sollte. Ich war hier in der Gegend schließlich großgeworden. Aber der Spruch: »Nach müde kommt blöd« traf auf mich schon immer vollumfänglich zu. Heute Nacht war ich außerdem in einem totalen emotionalen Ausnahmezustand.
Simon hätte sterben können. Die Wucht dieser Erkenntnis ließ meine Hände zittern. Und zu allem Überfluss war ich nun auch noch allein unterwegs zu dem Ort meiner Kindheit, etwas, was ich in den vergangenen Jahren gerne vermieden hatte. Wenn ich hergekommen war, dann immer nur mit Mona an meiner Seite. Allein hatte ich Burg Heidenfeld gemieden wie eine Katze das Badewasser, und mein letzter Besuch lag auch schon wieder fast ein Jahr zurück.
Das Navi lotste mich von der Bundesstraße auf die Landstraße. Die Sonne schickte sich an, ihren Schlaf zu beenden, und tauchte den Horizont in einen unwirklichen roten Schein.
Im Radio lief jetzt ein Streichquartett, was furchtbar nervte. Ich schaltete die Musik aus und beobachtete, wie die Landschaft sich um mich herum veränderte, je weiter ich mich von der Bundesstraße entfernte. Die Wälder wurden dichter, die landwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen weniger. Ganz langsam erhellte die aufgehende Sonne die weiten Wiesen und die einzelnen großen Bäume, die hier überall standen und ihre knorrigen Äste zum Himmel reckten. Woanders waren diese mitten auf den Feldern und Wiesen stehenden Riesen zugunsten einer wirtschaftlicheren Ackerpflege längst gefällt und verheizt worden. Aber hier standen sie noch und schmückten die Landschaft.
Kurz hinter Heidenhausen bog ich links in den Waldweg ein. Burg Heidenfeld war hier schon ausgeschildert. Ich schluckte trocken, denn direkt dahinter stand das große Schild der Reitsportanlage St. Georg am Straßenrand. Noch ein Ort meiner Kindheit. Ich hatte dort quasi gewohnt. Zusammen mit Otto, meinem leicht übergewichtigem und etwas zu groß geratenem Shetlandpony. Er war meine erste große Liebe gewesen, und das Ganze war für uns beide nicht gut ausgegangen.
Ich zwang meinen Blick zurück auf die Straße, um die kleine kopfsteingepflasterte Abzweigung zur Burg nicht zu verpassen.
Der Burgpfad, wie er von allen genannt wurde, wand sich einmal quer durch den Wald, bis sich das Dickicht und die Bäume zurückzogen und man letztendlich den direkten Blick auf den Heidenfeld hatte, die Anhöhe, auf der die Burg meiner Vorfahren seit fast tausend Jahren thronte und der sie ihren Namen verdankte. Ich hielt einen Moment den Wagen an und ließ die monumentale Aussicht wirken. Dann sagte ich: »Arschlochburg!« und gab Gas.
Man konnte das letzte Stück des Burgpfads, der Teil, der sich durch die sattgrünen Wiesen schlängelte, in erstaunlicher Geschwindigkeit nehmen. Simon und ich hatten das damals auch ohne Führerschein mehrfach ausprobiert. Mein Fiat gab sich wirklich Mühe, meinem plötzlichen Bewegungsdrang nachzukommen, und so schoss ich die letzten Meter wie aus der Kanone abgefeuert auf die Burg zu. Ich drosselte das Tempo erst wieder, als ich kurz davor war, die steinerne Brücke über den Burggraben zu überqueren.
Nicht mehr ganz so rasant fuhr ich in den Burghof und drehte eine Runde. Der Hof war wie zu erwarten leer. Simon lebte hier allein, sein Wagen parkte hinter dem Palas in einer der Scheunen. Ich hingegen stellte jetzt mein Auto mitten auf den Hof. Früher, als meine Eltern und ihre Angestellten hier noch lebten, hatte es ein beständiges Gerangel um Parkfläche gegeben. Bis mein Vater sämtliche Fahrzeuge aus dem Burghof verbannt hatte. Er hatte gerne durchgegriffen, wie so ein Baron aus alten Zeiten. Alle mussten ab dem Zeitpunkt auf der anderen Seite der Burg parken. Nur er nicht. Und jetzt stellte ich mich einmal quer mitten in den Hof, einfach weil ich es konnte, und mir war durchaus bewusst, wie albern das war.
Ich stieß die Tür auf und stieg aus. Über mir sangen die ersten Vögel, die Luft roch würzig frisch. Die uralte Kletterrose Angelika Abendstern von Abbenrode stand in voller Blüte und verwandelte die Südseite des Burghofes, der von dicken Mauern eingefasst war, in ein Meer aus zartem Rosa und Weiß.
Diese Rose und ich hatten kein gutes Verhältnis. Als Kind war ich mal mit dem Roller frontal in sie hineingefahren und hatte bei dieser Auseinandersetzung eine Narbe auf der Stirn davongetragen.
An meinen Füßen wurde es unangenehm nass. Ich blickte nach unten. Ich stand in einer Pfütze. Der einzigen Pfütze auf dem ganzen Burghof. Vermutlich auch der einzigen Pfütze in ganz Norddeutschland.
»Echt jetzt?«, fragte ich und hob das Gesicht zum Himmel. Ich atmete tief durch, und mir fiel ein, dass ich nur dieses eine Paar Schuhe dabeihatte. In den durchnässten Sneakers stakste ich zum Kofferraum, um mir fluchend mein Gepäck zu schnappen. Die wuchtige, doppelflügelige Eingangstür der Burg war nicht abgeschlossen, und ich schob sie unter vollem Körpereinsatz auf, während ich mich innerlich wappnete.
Burg Heidenfeld roch – wahrscheinlich seit sie erbaut wurde – nach Staub, Moder und tendenziell immer etwas faulig. Ich trat ein, und die Tür fiel mit einem Krachen hinter mir ins Schloss.
Dunkelheit umfing mich, und wie erwartet war es kühl. Aber der Geruch nach tausend Jahren Staub und Einsamkeit blieb aus. Ich runzelte die Stirn. Es duftete dezent nach Sandelholz und Leder. Durchaus ansprechend. Dafür war es stockduster. Mit der linken Hand tastete ich nach dem Lichtschalter, bekam ihn zu fassen und drehte den Knauf, woraufhin der riesige Kronleuchter der Eingangshalle seine gefühlt hunderttausend Birnen entzündete.
Das sich mir bietende Bild war so erschreckend, dass ich erst mal wieder zum Schalter langte und ihn drehte. Dann atmete ich mehrmals tief durch, während mir meine eiskalten, nassen Füße überdeutlich ins Bewusstsein sprangen. Schlussendlich hatte ich genug Mut gefasst und machte das Licht wieder an.
Auf den uralten Steinfliesen lag die riesige Leiter unseres ehemaligen Burgverwalters. Sie hatte im Fallen eines der barocken Tischchen unter sich begraben, dessen Beine jetzt zersplittert zwischen den Trittstufen herausstachen.
Daneben stand ein geöffneter Werkzeugkasten, der großflächig mit Blut befleckt war. Knapp dahinter lagen noch ein paar vereinzelte Plastikverpackungen, und eine blutige Kompresse hatte sich unter dem Sessel versteckt. Das sah alles nach einem äußerst eiligen Aufbruch aus. Niemand schien Zeit gehabt zu haben, einen Gedanken an denjenigen zu verschwenden, der dieses Stillleben zu Gesicht bekommen würde.
»Du verdammte Scheißburg wolltest also meinen Bruder umbringen, ja?«, fragte ich in Richtung Decke, die sich zehn Meter über mir in ihrer vollen Pracht emporwölbte. Der monumentale Kronleuchter beschien die ganze Szenerie, und einen Moment lang betrachtete ich ihn, bis ich die kaputte Birne entdeckte. Eine einzige verdammte Glühbirne hatte das Leben meines Bruders in Gefahr gebracht. Das war doch verrückt.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meiner Erstarrung und brachte meinen Puls wieder auf Hochtouren.
»Was ist mit Onkel Simon?«, fragte meine Tochter ohne weitere Begrüßung. Sie nannte ihn immer Onkel Simon. Das war so, seitdem sie sprechen konnte, und es würde wohl für immer so bleiben, dabei war sie mittlerweile neunzehn.
»Alles okay«, erwiderte ich schnell. Die Kälte aus meinen Füßen kroch mir jetzt langsam die Beine hoch und ließ mich schlottern. In knappen Worten erklärte ich ihr, was passiert war. »Ich dachte, du schläfst bei Mila?«, beendete ich meinen kleinen Monolog.
»Wollte ich auch. Aber dann hatte ich doch mehr Lust auf mein eigenes Bett. Und dein Buch. Wird er wieder gesund?«, fragte Mona, und ich hörte ein feines Zittern in ihrer Stimme.
»Davon gehen wir jetzt einfach mal aus«, sagte ich fest.
»Und wie geht es dir?«, fragte meine Tochter. Sie klang besorgt.
»Ich bin sehr erschrocken und werde wohl eine Weile hierbleiben, um Simon zu unterstützen. So schnell lassen die ihn bestimmt nicht aus der Klinik raus.«
»Ich komme auch. Soll ich die USA absagen?«, fragte meine Tochter. Mona würde in wenigen Tagen zu ihrem leiblichen Vater und seiner Familie in die USA gehen, um dort im September ihr Studium anzufangen. Eine Tatsache, die mir seit Wochen, seit Mona ihr Abi in der Tasche hatte, wie der sprichwörtliche Stein im Magen lag. Liebend gerne würde ich rufen: Ja, ja, ja,bitte bleib hier!, denn ich konnte mir ein Leben ohne Mona nicht vorstellen, doch stattdessen sagte ich: »Bist du verrückt?« Die mütterliche Contenance zwang mich dazu.
»Aber wenn Onkel Simon uns braucht? Ich kann das alles absagen oder verschieben!« Monas Stimme zitterte jetzt hörbar, und ich wusste, dass sie wirklich sofort alles absagen würde, wenn ich sie darum bat. So war sie.
»Ich bin doch da!«, erklärte ich deswegen nachdrücklich.
Mona schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ja. Aber du und die Burg … ihr seid nicht so kompatibel.« Freundlich ausgedrückt.
»Ich bin direkt bei meiner Ankunft in die einzige Pfütze im Umkreis von zehn Kilometern getreten, und vorher hat der alte Kasten versucht, Simon die Lebenslichter auszublasen. Sieh es mir nach, dass ich nicht gerade gut auf diese Hütte zu sprechen bin«, erwiderte ich.
Mona senkte die Stimme. »Du musst den Bann brechen, Mama.«
Ich räusperte mich, denn plötzlich saß ein fettes Kriechtier in meiner Kehle. Mona hatte einen Witz gemacht. Leider fühlte es sich nicht so an.
»Haha«, sagte ich sehr viel munterer, als mir zumute war, und vielleicht war es auch gar kein Witz gewesen.
»Und wer soll die Trauungen abhalten? Diesen ganzen Glitzer-Wahnsinn?«, fragte sie weiter, weil sie nun mal vom Stamme der Hartnäckigen war. Das hatte sie definitiv nicht von mir. Ich begnügte mich momentan damit, den Tatort anzustarren, während meine Hände inzwischen nicht mehr nur eiskalt, sondern auch noch schwitzig waren. Eine unangenehme Konstellation.
»Tja, ich jedenfalls nicht. Aber er hat ja schließlich Mitarbeiter«, erklärte ich fest. Meine Tochter setzte an, etwas zu sagen, sie würde das noch weiter diskutieren wollen, diskutieren war ihr großes Hobby, seit sie drei Jahre alt war, doch ich unterbrach sie. »Wir gehen jetzt beide schlafen. Morgen sehen wir weiter.«
»Es ist doch schon morgen! Ich komme jetzt«, rief Mona.
»Nein. Also ich meine Ja. Aber erst wird geschlafen. Jetzt können wir eh nichts ausrichten. Verstanden, Tochter?«
»Verstanden, Mutter«, antwortete sie und fügte hinzu: »Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, so was von. Ab ins Bett.«
Ich drückte das Gespräch weg, steckte mir das Handy in die Hosentasche und gab mir große Mühe, meine jetzt arktisch kalten Füße zu ignorieren, um wenigstens noch die blutige Kompresse wegzuräumen. Ich stopfte sie kurzerhand in den ebenfalls blutigen Werkzeugkoffer, versuchte dabei, nicht allzu genau hinzusehen, und klappte ihn dann zu. Mit dem Fuß schob ich das Teil neben das Feuerholz, das dekorativ vor dem riesigen Kamin aufgeschichtet war. Hier fiel der Kasten wenigstens nicht auf den ersten Blick auf. Um alles andere würde ich mich später kümmern, damit Simons Mitarbeiter nicht auch so einen Schreck bekamen wie ich. Dann schulterte ich mein Gepäck und machte mich an den langwierigen Aufstieg in den Schlaftrakt.
Ursprünglich hatten hier überall im Treppenaufgang Wandteppiche gehangen. Es hatte auf jeder Etage Ritterrüstungen gegeben, uralte, riesige Truhen, an den Wänden Schwerter und vor jeder Nische und jedem Fenster dunkelrote, staubige Vorhänge. Alles war erdrückend und schwer gewesen. Sicherlich ein spannendes Erlebnis als Sonntagsausflug, wenn man aber in so einem Ambiente groß wurde, hatte das durchaus auch mal aufs Gemüt gedrückt. Zumal unser alter Burgverwalter Manfred Heimsen immer behauptet hatte, dass es auf Burg Heidenfeld spukte. Beim Gedanken daran beschleunigte sich automatisch mein Schritt. Ich war zwar nie einem Geist begegnet, aber die dicken Mauern hatten die negative Energie von so vielen Generationen gespeichert, dass ein Spuk fast schon unvermeidlich war.
Die Wandteppiche waren verschwunden. Das hölzerne Treppengeländer war auch nicht mehr in einem dreckigen Dunkelbraun lackiert, sondern erstrahlte in einem honigfarbenen Holzton.
Simon hatte das Anwesen nach dem Tod unserer Mutter übernommen und sich erst mal mit den Schulden herumschlagen müssen. Dann hatte er mit der Renovierung begonnen und gleichzeitig seine Kontakte als Eventmanager in der Musikbranche genutzt.
Burg Heidenfeld war um 1200 erbaut. Es gab einen Burgfried, große Stallungen und vor knapp einhundert Jahren war noch eine riesige Scheune hinzugekommen. Unzählige Möglichkeiten, um Events den perfekten Rahmen zu geben. Auf Burg Heidenfeld fanden nicht nur Hochzeiten statt, hier waren auch schon zahlreiche Musikvideos und sogar ein Film gedreht worden.
Und in all der Zeit renovierte Simon unverdrossen weiter. Vor wenigen Wochen hatte er auch die Gästezimmer im Westflügel fertiggestellt, die ich bisher nur von seinen Plänen und Fotos kannte. Ich bog also von der Treppe ab und betätigte den Lichtschalter, auch hier ganz klassisch mit einem Knauf in der Mitte, und blieb dann erstaunt stehen. Lichtspots erhellten den gesamten Flur. Der Boden bestand aus breiten, golden glänzenden Schiffsdielen, die Wände waren nur mit einem Lehmputz versehen.
Mit einer Hand zog ich einen der schweren Brokatvorhänge in Rosa auf und sah direkt hinaus auf die weitläufigen Wiesen, die sich in sanften Hügeln bis zum Wald erstreckten. Die Fenster waren allesamt neu, aber im alten Doppelflügel-Stil und aus unbehandeltem Holz. Die goldene Griffolive schimmerte in der Morgensonne.
Ich ging mit meiner geschulterten Tasche zur ersten Tür. »Lucy«, stand in geschwungenen Lettern darauf. Verdutzt lief ich weiter. Auf der nächsten Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Isabella«, und jetzt endlich verstand ich, dass Simon nicht im Schmerzmittelwahn vor sich hin fantasiert hatte, sondern allen Ernstes die Gästezimmer nach den vierbeinigen Lebensbegleitern unserer Kindheit benannt hatte.
»Ach Simon«, seufzte ich. Isabella war der Name unserer kleinen Dackelhündin, und Lucy war Simons erstes Kaninchen gewesen. Ich ging weiter. An der nächsten Tür stand dann tatsächlich »Otto«.
Ich schob sie auf, schlüpfte hinein und schloss sie direkt wieder. Danach drehte ich den Schlüssel. Das würde keine potenziellen Geister aufhalten, aber ich hatte hier schon mein Zimmer abgeschlossen, da glaubte ich auch noch, dass manche Dinge im Leben sich niemals ändern würden. Dabei war doch nichts beständiger als der Wandel. Für diese Erkenntnis musste ich aber erst die dreißig überschreiten, und nun näherte ich mich mit großen Schritten der Vier vor der Null.
Zimmer Otto war ganz in Blau und Hellgrün gehalten. Das riesige Himmelbett sah enorm verlockend aus, die Kissen waren aufgeschüttelt und die Bettdecke einladend an einer Seite umgeklappt. Ich wühlte nach meinen Schlafklamotten, wurde endlich die nassen Socken und Schuhe los und schlüpfte in dicke Wollsocken. Dann kroch ich ins Bett und rollte mich zusammen. Erst auf der linken Seite, da das aber irgendwie unbequem war, drehte ich mich nach rechts.
Die Decke war zu schwer.
Das Kissen zu flach.
Schlussendlich drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Mein Körper war müde. So müde, dass er sich kaum noch regen konnte. Aber mein Geist befand sich auf einer Raveparty, und er schien nicht gewillt zu sein, diese zu verlassen. Es war wie in den Nächten zuvor. Ich legte mich todmüde hin und war dann hellwach. Allerdings nur innerlich, äußerlich wirkte ich wie ein Faultier auf Betablockern.
Probehalber schloss ich wieder die Augen.
Ich musste jetzt verdammt noch mal schlafen. Um elf würden Simons Mitarbeiter hier auftauchen, es würde viel zu organisieren geben und ich musste Simon seine Sachen in die Klinik bringen. Ich musste topfit sein. Aber mein Geist zog es vor, weiterhin Bilder vor meinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen, untermalt von schnellen Beats und heftigen Bässen. Simons Verletzungen, die Angst in seiner Stimme, der aufgeklappte Koffer meiner Tochter, in dem sie seit Tagen schon Dinge sammelte, die sie mit in die USA nehmen würde, und zu guter Letzt bekam ich von meinem Unterbewusstsein auch noch ein Bild vom traurigen Gesicht meiner Chefin Rosa aus dem La Calmvalera, als sie mir letzte Woche gesagt hatte, dass sie mich zurzeit nicht bezahlen konnte. Und als ob das nicht reichte, tauchte nun auch noch die Erinnerung an meinen Vater auf. Wie er mit versteinerter Miene an mir vorbeimarschierte, mich gänzlich ignorierend, wie es seine Art gewesen war. Ich stöhnte auf. Und wo mein Gehirn schon mal dabei war, fiel mir auch direkt noch ein, dass ich dringend meinen nächsten Podcast aufnehmen musste. Ich veröffentlichte die Folgen in sehr regelmäßigen Abständen, und nun war ich seit einigen Tagen überfällig.
Hier half nur eins. Die zuverlässigste Methode, um wenigstens ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Das einzige probate Schlafmittel waren die Gilmore Girls. Diese 90er-Jahre-Serie über das Leben der alleinerziehenden Lorelai Gilmore und ihrer Tochter Rory, die in der fiktiven Kleinstadt Stars Hollow lebten, begleitete mich seit Jahren, nun schon fast Jahrzehnte. Erst war die Serie im Fernsehen gelaufen, und ich hatte alles darangesetzt, um nur ja keine Folge zu verpassen, mittlerweile hatte ich alle möglichen Streamingdienste abonniert, damit ich immer und überall auf sämtliche Staffeln zurückgreifen konnte. Nach heutigen Maßstäben war die Serie schlecht gealtert. Das Frauenbild war überholt, es gab keinen diversen Cast, manche Dialoge strotzten vor Sexismus. Trotzdem war Lorelei Gilmore mein großes Vorbild geblieben, denn als es nichts und niemanden gegeben hatte, der auch nur ansatzweise mein Leben lebte, waren die Gilmore Girls aufgetaucht.
Lorelei war genau das passiert, was mir passiert war. Sie war so, wie ich immer hatte sein wollen. Sie hatte es geschafft, trotz der widrigen Umstände. Wie gut ich es geschafft hatte, stand in den Sternen. Ich hatte immer alles gegeben, aber in Nächten wie diesen war ich überzeugt davon, dass es mir nur mäßig gelungen war.
Ein Schrei weckte mich. Ich stand quasi senkrecht im Bett, eine Hand vor Schreck auf die Brust gedrückt.
Ich war also tatsächlich eingeschlafen. Staffel vier, Folge fünf schien mich dann trotz all der negativen Energie in den Schlaf befördert zu haben.
Zittrig atmete ich aus und schob die Bettdecke etwas beiseite. Ich hörte aufgeregte Stimmen, was bemerkenswert war, denn gefühlt befand ich mich Luftlinie hundert Kilometer von der Eingangshalle entfernt.
Schnell kletterte ich aus dem Bett und fiel dabei fast über meinen immer noch aufgeklappten Laptop, der auf dem Boden lag. Stolpernd lief ich weiter bis zu meiner Reisetasche und zerrte hektisch eine Jeans und einen Hoodie hervor. Dann fuhr ich mir mit allen Fingern durch die kurzen Haare, mehr war nicht drin. Meistens sah ich direkt nach dem Aufstehen aus wie ein Kobold, der in die Steckdose gefasst hatte, aber der Geräuschkulisse nach zu urteilen schien äußerste Eile geboten. Das Stimmengewirr hatte nämlich keinesfalls nachgelassen, weswegen ich mir das Zähneputzen schenkte. Kurzerhand steckte ich mir einen Kaugummi in den Mund, den ich beim Anziehen zufällig in der Hosentasche ertastet hatte.
Erst als ich schon in meine Schuhe geschlüpft war, erinnerte ich mich an das hinterhältige Pfützen-Attentat der Burg, aber da war es bereits zu spät. Die Sneakers hatten die Feuchtigkeit exzellent gespeichert und gaben sie jetzt gewissenhaft an meine frischen Socken ab.
Aber das konnte ich nicht mehr ändern, ich rannte aus dem Zimmer und eilte den langen Flur des Gästetrakts entlang. Von der Balustrade warf ich einen Blick in die Eingangshalle. Simons Mitarbeiter standen allesamt dort unten und redeten wild durcheinander. Eine dunkelhaarige Frau telefonierte lautstark.
Einen Moment blieb ich stehen. Meine nassen Füße befahlen mir, auf direktem Weg zurück ins Bett zu gehen. Ich befahl ihnen, sofort die Stufen hinunterzulaufen. Wir rangen kurz miteinander, und ich gewann. Konzentriert stieg ich die lang gezogene Treppe hinunter, die Holzstufen waren dabei so freundlich, mein Kommen durch unüberhörbares Knarren anzukündigen.
Die Treppe hatte schon immer geknarrt. Noch nie war es jemandem möglich gewesen, unbemerkt die Zimmer im Obergeschoss zu verlassen oder umgekehrt zu betreten. Die Treppe verriet einen immer. Vier Augenpaare blickten mir daher unvermittelt entgegen, und mein Herz überlegte kurz, ob es nicht stehen bleiben sollte. Meine Füße fanden, das sei eine hervorragende Idee und taten genau das. Sie rührten sich nicht mehr von der Stelle.
»Wer sind Sie?«, fragte die dunkelhaarige Frau, und ihre Stimme klang schneidend.
»Katharina. Simons Schwester«, antwortete ich, und meine Stimme klang komisch. Dünn und nervös. Der Grund dafür war, dass ich oben stand und mich von unten vier Personen anstarrten. Das war eine Bühne. Und Bühnen waren ausschließlich Simons Metier. Wenn ich einer Bühne nur zu nahe kam, erlitt ich einen Schock. So auch jetzt. Alle starrten mich an, ich starrte zurück.
»Wo ist Simon? Hier ist überall Blut!«, rief eine Frau in einer pinkfarbenen Kittelschürze. Sie hatte ein Küchenhandtuch über der Schulter liegen und sah mich derartig vorwurfsvoll an, dass es nur eine Interpretation zuließ: Sie dachte offenbar, ich hätte irgendetwas mit dem ganzen Blut zu tun. Mein Herz klopfte hektisch.
Ich musste mich zusammenreißen. Sofort. Ich war hier, um das zu regeln. Meine Hände schwitzten, und ich rieb sie mir möglichst unauffällig an der Jeans ab.
»Wollen wir in Simons Büro gehen?«, fragte ich schließlich mit dieser ungewohnt dünnen Stimme. Dem allgemeinen Gemurmel entnahm ich, dass dieser Vorschlag auf Zustimmung stieß. Die kleine Versammlung drehte sich um, und alle liefen nach rechts, in Richtung Simons Büro. Es erschien mir sinnvoll, den Ort des Geschehens zu verlassen. Es war auch so schon schwer genug für mich. Der direkte Blick auf den blutverschmierten Werkzeugkasten würde nichts besser machen. Mein Vorhaben, ihn neben dem aufgestapelten Holz zu tarnen, war grandios fehlgeschlagen.
Ich ging die Treppe weiter hinunter und folgte den Mitarbeitern von Von-Weiden-Event-Management in das Hauptquartier ihres Chefs.
Dieser Raum war der erste, den Simon damals fertiggestellt hatte. Er war ganz in einem pudrigen Altrosa gehalten und mit gemütlichen Sesseln und einem großen hölzernen Esstisch ausgestattet, der Simon als Arbeitstisch diente.
»Ich bin Katharina, Simons Schwester«, stellte ich mich nochmals vor, als ich hinter Simons Angestellten den Raum betreten hatte.
»Was ist mit Simon?«, fragte die Frau in der pinken Kittelschürze. Mir war nicht klar, dass es heutzutage noch Menschen gab, die so etwas trugen.
»Mein Bruder ist heute Nacht von der Leiter gefallen und hat sich verletzt. Er wird ein paar Tage ausfallen, und er hat mich gebeten, in dieser Zeit alles zu übernehmen.« Ich sagte das so leicht, dabei hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie lange Simon wirklich ausfallen würde und was genau ich vorhatte, hier zu übernehmen. Was mich auf den Gedanken brachte, ihn sofort anzurufen, sobald ich das hier über die sprichwörtliche Bühne gebracht hatte.
»Oh mein Gott!«, rief die Dunkelhaarige und rang kurz die Hände.
»Vielleicht könnten Sie sich mir kurz vorstellen?«, fragte ich und spürte, wie meine eigenen Hände jetzt kalt wurden. Mein Kreislauf befand, dass das zu viel Aufregung für die frühe Stunde war. Hoffentlich wurde mir nicht auch noch schwarz vor Augen.
»Maria Glaubner«, sagte die Frau in der Kittelschürze und keuchte dabei, als hätte sie Schnappatmung. »Ich bin die Köchin für die Events. Ich habe von Simon die kleine Einliegerwohnung auf der anderen Seite der Burg gemietet. In der Remise. Ist er hier von der Leiter gefallen? Soll mich doch der Teufel holen, aber ich habe nichts davon mitbekommen.« Anklagend deutete sie in die Eingangshalle. Dann packte sie das Geschirrtuch über ihrer Schulter, zog es herunter und begann es zu kneten. Dabei fiel ihr ein graues Löckchen ins Gesicht, das sie sich mit einer fahrigen Handbewegung hinter das Ohr schob. Frau Glaubner sah zutiefst erschüttert aus. »Ich wohne ein paar Meter hinter ihm! Ich hätte doch etwas hören müssen.« Sie zog die Stirn kraus. Die andere Frau war zu ihr getreten und legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Mach dir bitte keine Vorwürfe«, sagte sie energisch. »Ich bin Aysun Meyer. Zwei Y.« Sie musste in meinem Alter sein, und ich kannte sie aus Simons Erzählungen. Sie war seine Assistentin und tauchte auch auf dem Instagram-Account immer mal wieder auf. »Und jetzt muss ich mich kurz hinsetzen, sonst falle ich um.« Aysun Meyer, mit zwei Y, ließ die Köchin los und hockte sich auf die Kante des Sessels, der hinter ihr stand. »Er wird doch wieder?«, fragte sie dann mit bebender Stimme. Ich nickte.
»Davon gehen wir aus«, fügte ich hinzu. Ich wollte mich auch setzen. Dringend, denn meine Knie hatten begonnen, ungebührlich zu zittern, aber ich straffte die Schultern und blieb stehen.
Der junge Mann, der schon die ganze Zeit eine Schirmmütze in den Händen drehte, sagte: »Oleg. Ich bin der Hausmeister. Ich wohne im Ort. Facility Manager hat Simon gesagt. Das bin ich. Aber in echt bin ich Hausmeister«, erklärte er und wirkte alles in allem auch sehr zittrig.
Der Mann neben ihm hatte graue Schläfen, einen Vollbart, trug ein rosafarbenes Hemd und sah mehr aus, als wäre er ein Direktimport vom Prenzlauer Berg.
»Ich bin Janosch. Ich habe den landwirtschaftlichen Betrieb im Ort. Ich organisiere zu den Hochzeiten die Kutschen, die Pferde und die gesamte technische Ausstattung. Bühnen, Verstärker und so weiter. Wir wollten heute eigentlich die kommenden Termine besprechen. Können wir das vorziehen? Gleich kommt der Landmaschinen-Mechaniker. Die Melkmaschine ist defekt. Das ist wichtig. Da warten sehr viele Kühe drauf. Was brauchst du für die kommenden Hochzeiten? Musikanlage? Was genau steht an?« Ungeduldig trat er von einem Bein auf das andere. Im nächsten Moment kam ein Hund in den Raum. Er schlenderte einfach herein. Riesig groß und schwarz war er und machte den Eindruck, als könnte er jeden von uns mit einem Happs erlegen. Er würdigte uns keines Blickes, stattdessen ließ er sich in der Mitte des Raumes nieder und pupste. Nicht etwa leise und verschämt, sondern laut und derartig stinkend, dass die Köchin zum Fenster eilte und es aufriss, während Aysun Meyer sich die Nase zuhielt und alle anderen Anwesenden augenblicklich das Atmen einzustellen schienen. Der Gestank brachte meinen Kreislauf immerhin wieder etwas in Wallung.
»Das ist Hund. Er wohnt bei mir.« Als die Köchin mein entsetztes Gesicht bemerkte, fügte sie hinzu: »Er tut niemandem etwas. Er kann nichts dafür, dass er so aussieht. Und so riecht. Kommt aus dem Tierschutz.«
»Also?«, mischte Janosch sich wieder ein.
Ich konnte nur mit den Schultern zucken. »Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer hier. Ich melde mich, sobald ich Ihre Fragen beantworten kann.«
Er winkte ab. »Simon hat meine Nummer. Wünschen Sie ihm gute Besserung von mir. Tut mir leid, aber die Maschine muss laufen, die Kühe müssen abgemolken werden. Tschüss.«
»Tschüss«, sagte ich mit leichter Verzögerung, aber er war schon um die Ecke verschwunden. »Die große Fußballerhochzeit ist ja zum Glück noch ein wenig hin. Vielleicht könnten wir erst mal über das sprechen, was in naher Zukunft ansteht?«, fragte ich an die Verbliebenen gewandt.
Oleg setzte sich die Mütze wieder auf. »Ich richte die Scheune und den Hof her, wenn etwas ansteht. Heute muss ich die Wiese mähen. Bestellen Sie Simon bitte meine besten Wünsche! Kann ich gehen?« Ich zuckte die Schultern, was er wohl als Zustimmung wertete, denn er verschwand so schnell, wie ich heute Morgen aus dem Bett gesprungen war.
Aysun Meyer schüttelte den Kopf.
»Eiskalte Fische«, sagte sie verächtlich. »Allesamt. Was ist denn jetzt genau passiert? Und wie geht es Simon? Und jetzt nicht nur sagen, das wird schon wieder, sondern eine richtige Auskunft, bitte.«
»Ich wollte ihn eh gerade anrufen«, murmelte ich und zog mein Handy aus der Tasche. Ich deutete zur Eingangshalle, ging hinaus und schloss die Bürotür hinter mir. Es klingelte ein paarmal, dann war Simon dran. »Bruder, wie geht es dir?«, fragte ich.
»Hast du meine Mails gecheckt? Passwort ist Isabella123«, rief er ins Handy, und irgendwie verhedderten sich die Worte dabei.
»Bist du jeck?«, fragte ich zurück.
»Nein. Es geht mir scheiße. Ich muss mich ablenken.« Er atmete abgehackt, als hätte er große Schmerzen.
»Wie wird der Oberarmbruch versorgt? Gibt es Neuigkeiten zu deinem Knie?«, fragte ich weiter.
»Am Arm machen die nichts. Wird ruhiggestellt. Für das Knie gibt es nachher noch irgendeine Untersuchung.« Wieder atmete er so komisch.
»Lass dir bitte was gegen die Schmerzen geben. Grüße von Janosch und Oleg. Frau Glaubner und Frau Meyer sind noch hier und warten auf Neuigkeiten.«
Simon pustete Luft durch die Lippen. »Ruf Oleg noch mal an. Sag ihm bitte, dass er keine Schuld hat.«
»Woran? Was?« Ich konnte meinem Bruder nur bedingt folgen.
»Wir wollten die Birne zusammen wechseln. Aber er hatte gestern keine Zeit. Er … hat noch einen Job auf Janoschs Hof. Da musste er helfen. Die Melkmaschine ist defekt.«
»Und dann bist du zu nachtschlafender Stunde allein auf die Leiter geklettert«, fasste ich zusammen.
»Ja. Eigentlich kein Problem.«
Jetzt pustete ich Luft durch die Lippen. Denn das, was eigentlich kein Problem war, hatte mir gestern Nacht einen mordsmäßigen Schrecken eingejagt und würde Simon wohl noch einige Zeit beschäftigen.