Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben - Kristina Günak - E-Book

Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben E-Book

Kristina Günak

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Beschreibung

Ella Mohnbaum, preisgekrönte Journalistin, hat von allem zu viel. Zu viel Möbel, zu viel Klamotten und viel zu viel Stress. Deshalb verzichtet sie ein Jahr auf Konsum und zieht in ein Tiny House in der kleinen Siedlung eines idyllischen Biohofs. Nur mit Dingen, die sie wirklich braucht. Am Ende soll daraus eine Reportage werden. Die neuen Nachbarn der eingeschworenen Gemeinschaft beäugen den Eindringling zunächst zurückhaltend. Und Ella bekommt es, mitten in der Natur und allein mit ihren Gedanken, das erste Mal in ihrem Leben mit sich selbst zu tun. Der attraktive blonde Nachbar Jakob ist da eine sehr willkommene Ablenkung. Der zeigt sich aber zunächst überraschend abweisend ...

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Seitenzahl: 453

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1 Es geht los!

2 Ankunft in der niedersächsischen Depressionsebene

3 Mein Feind Edgar

4 Ella und das Feuer

5 Alles gar nicht so schön wie gedacht

6 Spaziergang mit Jakob

7 Alles etwas salzarm

8 Neustart

9 Absage, neu denken und Selbstfürsorge

10 Keinerlei Romantik an diesem Ort

11 Schneiden, wässern und dramatische Entwicklungen

12 Frühling

13 Ausstellung und herzberührt

14 Ominöser Apfelfall

15 Erdbeere, Kirschen und eine Hitzewelle

16 Happy Markttag

17 Ackermann

18 Weiber am Feuer

19 Zeit, sich zu zeigen

20 Bittere Wahrheit

21 Reißende Strömung

22 Besser, immer besser

Danke!

Über das Buch

Ella Mohnbaum, preisgekrönte Journalistin, hat von allem zu viel. Zu viel Möbel, zu viel Klamotten und viel zu viel Stress. Deshalb verzichtet sie ein Jahr auf Konsum und zieht in ein Tiny House in der kleinen Siedlung eines idyllischen Biohofs. Nur mit Dingen, die sie wirklich braucht. Am Ende soll daraus eine Reportage werden. Die neuen Nachbarn der eingeschworenen Gemeinschaft beäugen den Eindringling zunächst zurückhaltend. Und Ella bekommt es, mitten in der Natur und allein mit ihren Gedanken, das erste Mal in ihrem Leben mit sich selbst zu tun. Der attraktive blonde Nachbar Jakob ist da eine sehr willkommene Ablenkung. Der zeigt sich aber zunächst überraschend abweisend …

Weitere Titel der Autorin:

Man wird ja wohl noch träumen dürfen

Wer mich nicht mag, hat keinen Geschmack

Wer weiß schon, wie man Liebe schreibt

Glück ist meine Lieblingsfarbe

Die Liebe kommt auf Zehenspitzen

Kaputte Herzen kann man kleben

Mit dir ist alles schöner

Glück ist da, wo man es hinträgt

Titel auch als Hörbuch erhältlich

Über die Autorin:

Kristina Günak wurde 1977 in Norddeutschland geboren. Nachdem sie jahrelang als Maklerin arbeitete, ist sie heute als Mediatorin und systemischer Coach tätig. 2011 erschien ihr erster Roman, und seither hat sie sich mit ihren humorvollen Büchern unter Liebesromanleserinnen einen Namen gemacht. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Kristina Steffan.

KRISTINA GÜNAK

WER ZU SPÄT KOMMT, DEN BELOHNT DAS LEBEN

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Anna Hahn, Trier Covergestaltung: Massimo Peter-Bille Covermotiv: © shutterstock: alyaBigJo y | Daria Doroshchuk Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, PößneckISBN978-3-7517-5601-3

Sie finden uns im Internet unter luebbe.deBitte beachten Sie auch: lesejury.de

1

Es geht los!

November

Achtundzwanzig. Entsetzt betrachtete ich die sich in der Schublade türmenden bunten Tupperschüsseln, alle deckellos. Wer um alles in der Welt brauchte achtundzwanzig deckellose Plastikbehälter? Ich offenbar nicht, denn ich hatte so lange nicht mehr in diese Schublade geschaut, dass ich von deren Existenz vollkommen überrascht war – allerdings nicht im positiven Sinne. So ganz konnte ich mich allerdings nicht von der Verantwortung freimachen, denn diese Schublade befand sich schließlich in meiner Küche, oder besser ausgedrückt: meiner ehemaligen Küche, denn das Haus war seit gestern offiziell verkauft. Der Notarvertrag war unterschrieben, ein Übergabedatum vereinbart. Jetzt ging es also richtig los. Eine Tür schloss sich, eine neue ging auf. Der olle Kalenderspruch passte ziemlich gut zu meiner aktuellen Lebenslage, wobei die neue Tür noch verborgen in der Walachei lag, was mir ein durchaus mulmiges Gefühl bescherte. Aber es half ja alles nichts. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr, und zurück wollte ich auch gar nicht.

Es polterte hinter mir, und ich sah hoch. Meine beste Freundin Merle, die heute mit anpackte, um den Rest unserer Habseligkeiten auszuräumen und das Haus übergabefertig zu machen, kam schwungvoll um die Ecke, einen großen Müllsack in der Hand und Spinnweben im Haar.

»Vermelde Vollzug«, erklärte sie. »Dein Arbeitszimmer ist leer. Und sauber.« Sie klopfte sich den Staub vom Pullover und erinnerte mich damit an die Tatsache, dass ich dort wohl das letzte Mal um Ostern herum Staub gewischt hatte. Egal, vor Merle war mir fast nichts peinlich, wir kannten uns schon ewig und sie wusste außerdem, dass mein Nachname nicht etwa Flodder war, sondern ich die letzten Monate ständig für mein gerade fertiggestelltes Projekt unterwegs gewesen war.

Ich deutete auf die Tupperdosen in der geöffneten Schublade. »Warum besitze ich so etwas?«

Merle spähte um die Ecke des Küchenblocks. Dann hob sie eine Augenbraue. »Hm, Prinzip der Anziehung? Wo eins ist, kommen mehr. Klappt augenscheinlich mit Plastikschüsseln, einzelnen Socken und Kugelschreibern. Nur nicht mit Geld. Das habe ich ausprobiert.«

»Ich habe eine preisgekrönte Reportage zum Thema Mikroplastik in unserem Essen gemacht und eine ganze Schublade voller unnützem Plastikkram«, erwiderte ich, immer noch fassungslos.

»Tja, vielleicht nicht die beste Werbung für dich.« Merle grinste. »Aber beruhig dich, vermutlich hat Alex sie gekauft. Er ist doch nach wie vor der unangefochtene Meister des Konsums.« Sie zuckte die Schultern und fing an, die Plastikteile aus dem Schubfach zu räumen, um sie direkt in der blauen Mülltüte verschwinden zu lassen. Ich kratzte mich am Kopf, und sie hielt inne in ihrem Tun und blickte mich an. »Oder willst du Alex fragen, ob er die womöglich noch braucht? Er wollte ja eh gleich hier sein. Nicht dass es doch noch Rechtsstreitigkeiten gibt. Es hat schon Rosenkriege um weniger als Plastikmüll gegeben.« Sie ließ den Müllsack sinken.

»Das ist sehr unwahrscheinlich«, gab ich zurück, und statt mutig in die nächste Schublade zu schauen, hüpfte ich rücklings auf die Arbeitsplatte und zog die Beine zum Schneidersitz hoch.

»Ist es jetzt doch komisch?«, fragte Merle, warf den Müllsack auf den Boden und kletterte neben mich. Sie schien schon den ganzen Vormittag darauf zu warten, dass ich irgendwie emotional wurde.

»Es ist nicht komisch«, erklärte ich deswegen fest. »Ich habe das alles so geplant«, sagte ich mit Nachdruck, dabei blubberte in mir ein sonderbares Gefühl, was ganz entfernt wohl Angst sein könnte. Angst vor meiner wild verwegenen Entscheidung. Aber sie war ja nun mal getroffen. Es lohnte nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Merle rückte ein wenig näher an mich heran und sagte leise: »Kannst dich ja trotzdem komisch fühlen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Tue ich nicht.« Ich hatte schließlich einen Plan. Und meine Pläne waren ziemlich gut. Also meistens.

»Deine Kinder sind hier aufgewachsen. Die wesentlichen Jahre deines Lebens hast du hier verbracht«, sagte Merle. »Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass dich das kaltlässt?«

Ich schwieg und blickte mich um. Der kleine Flachdachbungalow war nie besonders hübsch gewesen. Er hätte schon renoviert werden müssen, als wir damals vor zwanzig Jahren eingezogen waren. Danach wurde nichts besser. Für ihn zumindest nicht. Mein frischgebackener Ex-Mann Alex hatte zwischendurch mal die großen Fensterelemente gestrichen, und eins der Bäder wurde von seinem original 70er-Charme in Bahamabeige und Orange befreit, aber der Rest war noch im Ursprungszustand. Und der kleine Garten, der sich um das Haus schmiegte wie ein Schal um den Hals, war von Anfang an absolut naturfreundlich gewesen, wie es so schön hieß: Insekten und Vögel erfreuten sich am Unkraut, unser Nachbar Otto Bremshorst weniger. Während wir seit jeher Team Wiese angehörten, war er ein überzeugter Verfechter der Fraktion Golfrasen. Mehr war dazu nicht zu sagen. Der Graben, der uns in dieser Hinsicht trennte, war tief, sehr tief.

Merle brummte etwas Unverständliches und baumelte mit den Beinen. »Weißt du noch, wie Jasper mit voller Wucht gegen das geschlossene Schiebeelement gerannt ist, weil ihn eine Hornisse verfolgt hat? Das war ein ziemliches Blutbad«, erzählte sie dann und klang dabei fast verträumt. Ich erschauderte spontan. Jasper war damals acht gewesen und hatte sich bei dieser Aktion das Nasenbein gebrochen. Dabei waren Hornissen eigentlich so friedlich. Doch dieses irre Tier hatte meinen Sohn auch noch gestochen, als er schon schreiend am Boden lag. Sie war da sehr konsequent gewesen, hatte ihr Ding wirklich durchgezogen. Merle fuhr in einem träumerischen Tonfall fort: »Und erinnerst du dich, als wir deinen vierzigsten Geburtstag gefeiert haben und plötzlich …«

»… fast eine Hundertschaft der Polizei vor der Tür stand«, unterbrach ich sie und musste lachen. Wie könnte ich diese Aktion jemals vergessen? Die drei jungen Polizisten, die auf einmal bei uns aufgetaucht waren, hatten nicht glauben wollen, dass eine mittelalte Frau derart heftige Partys veranstalten konnte. So heftig, dass jemand in der Nachbarschaft einen bewaffneten Raubüberfall vermutet hatte und den Notruf wählte. Meinen Gästen (und mir!) war sofort klar gewesen, dass nur Otto der Nöler der Beschwerdeführer sein konnte, woraufhin sie beabsichtigt hatten, noch lauter zu feiern, sie kannten schließlich Ottos Feindschaft mit mir. Ich hatte sie zur Räson bringen müssen, denn immerhin lebte ich mit Otto Garten an Garten.

Beim Gedanken an diesen Abend musste ich seufzen. Meine Freunde wollten feiern, die Polizisten waren amüsiert, Nachbar Otto drehte durch. Und ich? Ich hatte versucht, es allen irgendwie recht zu machen. Wie immer. Das war der rote Faden meines Lebens. Es allen recht machen. Den Kindern, Alex, meiner Schwiegermutter, dem Sender, den Geldgebern, den Protagonisten meiner Dokus, meinen Freunden und, wenn notwendig, auch der Polizei – wobei da natürlich eine gewisse Dringlichkeit bestanden hatte. Ich seufzte noch einmal vernehmlich. Und genau deswegen war mein Plan so gut! Es würde endlich mal um mich gehen. Nur um mich!

Vor der Tür schnurrte ein starker Motor, und kurz darauf fiel die alte Haustür, die seit zwanzig Jahren lautstark über die gleiche Stelle am Fußboden schabte, ins Schloss. »Da bin ich«, rief Alex und kam gut gelaunt um die Ecke geschlendert.

»Hi, brauchst du Tupperschüsseln? Ungefähr hundert? Alle deckellos?«, rief Merle ihm entgegen und deutete auf den Müllbeutel, der auf dem Boden vor uns lag.

Alex kam näher, warf einen Blick in die Tüte und nickte dann, offenbar erfreut über unseren Fund. »Warum nicht? Kann man nie genug von haben.« Der letzte Satz beschrieb meinen Ex-Mann perfekt. Er wollte immer mehr und hatte eigentlich grundsätzlich nie genug. Von nichts.

»Hast du die gekauft?«, fragte ich verwundert, und er zuckte die Schultern. »Das sind so Dinge, die sich einfach immer vermehren«, erklärte er dann. »Aber ich habe da mal vor ein paar Wochen ein günstiges Angebot geschossen. Die Deckel müssen auch irgendwo sein.«

Ich nickte ihm zu. »Dann viel Spaß beim Suchen und mit den Schüsseln. Du kannst jetzt eine ganze Kompanie bekochen und alles eintuppern. Toll.« Alex grinste mich erfreut an, ihm entging die Ironie meiner Worte vollumfänglich. Auch nach all der Zeit verstand er meinen Humor nicht.

Merle rutschte von der Arbeitsplatte und deutete zum Flur. »So, ihr zwei. Ich fahre dann mal!«

»Und ich schaue nach, ob es noch irgendwas zu erledigen gibt. Danke für deine Hilfe, Merle«, verkündete Alex, gab Merle einen Kuss auf die Wange und machte sich mit schlenkernden Armen zur Hausbegehung bereit. Er trug ein gelbes T-Shirt, das neu aussah und seine tiefe Urlaubsbräune beeindruckend in Szene setzte. Während wir hier nämlich vor fünf Tagen meine allerletzte Geburtstagsparty gefeiert hatten (ziemlich gesittet, Otto hatte nicht die Polizei rufen müssen), war er auf irgendeiner südkaribischen Insel gewesen, um dem tristen Novemberwetter zu entfliehen.

Ich folgte Merle in den Flur, wo drei Umzugskartons standen. »Ich kann dich in dein neues Domizil fahren«, wiederholte meine beste Freundin ihr Angebot nun bestimmt zum zehnten Mal. »Und dein Auto habe ich nur geliehen. Sobald du es brauchst, bringe ich es dir. Ja?« Nachdrücklich hob sie beide Augenbrauen und blickte mich ernst an.

»Alex fährt mich. Und ich brauche den Wagen dort definitiv nicht«, sagte ich und ignorierte das unerwartete Drücken am Grund meiner Seele. »Und du kannst ihn gut gebrauchen.« Merle war als freischaffende Autorin chronisch pleite, aber trotz dieser Tatsache meistens ziemlich positiv gestimmt. Ich bewunderte sie dafür. Jetzt trat sie vor mich, umfasste meine Oberarme und sah mir ins Gesicht. »Wenn du Rettung brauchst, rette ich dich«, sagte sie. Das meinte sie todernst, ich kannte Merle schon fast mein ganzes Leben lang, und wir hatten uns schon einige Male gegenseitig gerettet. Ich umarmte sie und gab ihr dann einen Kuss auf die Wange. »Ich habe alles im Griff. Wenn, dann mache ich es richtig«, erklärte ich fest. Merle seufzte und sah mich weiter ernst an. Schließlich hob sie auf ihre unnachahmliche Art und Weise die linke Augenbraue.

»Das war immer schon dein Problem«, sagte sie. »Keine halben Sachen. Dabei sind halbe Sachen manchmal gar nicht so schlecht.«

Ich half ihr, das, was sie sich von meinem Hausstand ausgesucht hatte, durch den feuchten Novembernebel zu meinem kleinen Mini zu tragen. Den Rest meiner Habseligkeiten hatte ich bereits verschenkt oder verkauft. Der Mini war ein uralter Benziner, der soff wie ein Loch und vermutlich eine ziemlich schlechte Klimabilanz hatte. Ich würde ihn definitiv nicht brauchen. Er passte schon lange nicht mehr zu mir.

Als der kleine blaue Wagen hinter der Kurve verschwunden war, tauchte Alex neben mir auf und schaute in die gleiche Richtung, obwohl es da nichts mehr zu sehen gab. Aber so war Alex. Ihm fehlte oft der Überblick.

»Ella«, sagte er irgendwann mit gedämpfter Stimme. »Ich kann nur hoffen, dass du dir das gut überlegt hast. Ich bin ein wenig besorgt, es ist eine große Entscheidung.«

Ich sah ihn von der Seite an. Das gelbe Shirt stand ihm nicht. Strahlende Sonnenbräune hin oder her. Die Farbe ließ die Falten in seinem Gesicht geradezu leuchten. »Alex. Wir waren zwanzig Jahre verheiratet. Da warst du sehr selten besorgt. Und ich bin schon durch den brasilianischen Dschungel gewandert, falls du dich erinnern kannst.«

»Nun ja. Das war etwas anderes. Das war beruflich. Aber da, wo du jetzt hingehst, gibt es keine Kultur. Nichts! Das ist finsterste niedersächsische Depressionsebene. Man muss doch etwas wollen im Leben. Vorankommen. Ein Ziel haben. So abgeschieden und einfach zu leben ist doch nicht erstrebenswert.«

Er würde es auch nach weiteren zehn Erklärungsversuchen nicht verstehen, aber das war irgendwie okay, deswegen waren wir nicht mehr verheiratet und konnten trotzdem freundlich zueinander sein. Aus diesem Grund sagte ich nur: »Ich will aber weniger. Ich kann nicht fünfzehn Jahre lang Dokus über die Umweltkatastrophen dieser Erde drehen und dann fröhlich weiter dem Konsum frönen. Mein Projekt ist vom Sender abgenickt und eingekauft. Und es heißt nun mal: ›Ella reduziert sich.‹«

Und eigentlich war der geheime Arbeitstitel sogar: ›Ella kümmert sich jetzt endlich mal um sich selbst.‹ Weil es in Ellas Ohren manchmal sonderbar rauschte, sie dem negativen Nachrichtenstrom der Welt nicht mehr entkam und sie grundsätzlich gar nicht wusste, was sie wollte. Nur das, was sie nicht mehr wollte, war klar. Immerhin. Aber alles in allem dennoch kein guter Zustand. Und genau das galt es zu ändern.

»Ich hatte noch nie Angst vor neuen Projekten!«, sagte ich und gab meiner Stimme einen festen Unterton. So wie bei den unzähligen Finanzierungsrunden vor versammelter Mannschaft, bei denen ich Rede und Antwort zu stehen hatte. Ich musste so energisch sprechen und ganz aufrecht stehen, denn während ich es aussprach, diesen Satz, dass ich keine Angst hätte, merkte ich, dass ich sehr wohl Angst hatte. Sie krallte sich förmlich in meinem Herzen fest, aber das wollte ich mir keinesfalls anmerken lassen. Wo kämen wir denn da hin?

2

Ankunft in der niedersächsischen Depressionsebene

Da stand ich nun. Ich war in meinem neuen Zuhause auf Zeit angekommen und starrte aus dem großen Panoramafenster in den wabernden Nebel hinaus. Hinter dem frostigen Grau verbarg sich eine fantastische Aussicht auf den Fluss und die altehrwürdigen Bäume, die ihn säumten. Groß war tatsächlich nur dieses eine Fenster, der Rest der Behausung erinnerte an eine möblierte Streichholzschachtel. Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich den kleinen Gasherd berühren; wenn ich mich um die eigene Achse drehte, war ich in der Lage, die Haustür zu öffnen. Es handelte sich um zweiundzwanzig Quadratmeter komprimiertes Leben. Ich war schon einmal hier gewesen. Damals hatte ich eine Dokumentation über das Tiny-House-Projekt »Wohnglück« von Theo Bauer gedreht, der wirklich, passend zu seinem Namen, Obstbauer war und das Wohnprojekt sozusagen in seinem »Garten« realisiert hatte – dessen Größenordnung durchaus mit dem Berliner Tiergarten mithalten konnte. Ich hatte damals in zwei der Häuser gefilmt, und irgendwie hatte ich sie einen Tick größer in Erinnerung gehabt. Größer und nicht ganz so still.

Mit der Stille kam ich aktuell nicht so gut zurecht, dabei schien sie mir dringend notwendig. Ich hatte irgendwann in den letzten Jahren einen Nachrichten-Overload erlitten. Fast mein gesamtes Leben hatte ich morgens, noch vor dem ersten Kaffee, die Nachrichten des Tages gecheckt, jetzt löste schon der Gedanke daran Herzrasen bei mir aus. Ich konnte nicht mehr mit den vielen schlechten Nachrichten umgehen. Vielleicht eine Berufskrankheit von Journalisten. Ein bisschen wie die Staublunge beim Bäcker. Ich war mir aber sicher, dass Stille gegen dieses Leiden helfen könnte. Das Abschalten aller Nachrichten, um im besten Fall auch die Lebensleichtigkeit wiederzufinden, die mir ebenfalls abhandengekommen war.

Ich machte einen unaufmerksamen Schritt nach hinten und fiel fast über eine meiner Umzugskisten, die Alex freundlicherweise mit mir hereingeschleppt hatte. Theo Bauer war bei meiner Ankunft noch unterwegs gewesen, doch da hier offenbar immer alle Türen offen standen, hatte er mir geschrieben, ich solle einfach schon mal einziehen. Und nun stand ich hier seit einer Stunde regungslos am Fenster, weil ich Angst hatte einzuziehen. Die Frage war nämlich: wohin mit meinen Sachen? Eine weitere Frage war: Wie bitte sollte ich jemals das Bettlaken abziehen, wenn das Bett in der Nische eingebaut war und von drei Seiten nur aus Wand bestand? Eine freundliche Seele hatte es für mich bezogen, und es musste irgendeinen Trick geben, den würde Theo Bauer mir hoffentlich verraten. Woraufhin sich die nächste Frage förmlich aufdrängte: Wie bekam ich in dieser klaustrophobischen Enge keinen Koller? Eine der wichtigsten Fragen hatte sich allerdings bereits von selbst beantwortet: wie ich es schaffen sollte, meinen Nachrichtenkonsum auf ein Minimum zu reduzieren. Es gab kein Internet. Adieu, ihr negativen Informationen der Welt! WLAN hatte ich ja gar nicht erwartet, aber wenigstens LTE. Doch es gab nichts. Weder Internet noch Handyempfang, nur an einer Stelle, auf dem Boden vor dem Backofen kauernd, hatte ich einen kläglichen Balken. Das hatte ich relativ schnell herausgefunden, als ich nach der Erkenntnis der völligen Abgeschiedenheit auf der Suche nach mehr Kontakt zur Außenwelt panisch durch das ganze Häuschen gekrochen war. Aber vielleicht musste diese Verbindung zur Welt erst mal reichen.

Alle anderen Fragen würde ich Theo Bauer stellen, der hoffentlich bald hier auftauchte, damit er mich in die Miniblockhütte einweisen konnte. Kalt war es übrigens auch, was allerdings nicht mein vorrangiges Problem war, weil ich einen Eisbären in meiner Ahnengalerie hatte und mir selten kalt war, weswegen ich hier und heute zumindest nicht fror, obwohl es draußen maximal fünf Grad waren.

Ich seufzte. Sehr viel lauter als beabsichtigt. Dann beugte ich mich ein wenig nach vorne und spähte um die Ecke zum gekiesten Weg, um nach Theo Bauer Ausschau zu halten. Weit und breit keine Spur von ihm. Stattdessen entdeckte ich im direkten Nachbarhäuschen jemanden, der eindeutig aus seinem vorhanglosen Fenster in meine Richtung starrte. Ein Kerl mit langen Haaren. Als er sah, dass ich ihn sah, hob er zackig grüßend eine Hand und sprang dann vom Fenster weg.

»Ja, hallo auch«, murmelte ich und winkte zurück, dabei hatte mein neuer Nachbar seinen Beobachtungsposten längst wieder verlassen. »Das wird schon, Ella«, sprach ich mir selbst Mut zu. »Du hast bereits ganz andere Situationen überstanden.« Meinem Team und mir waren beim Drehen Schläge angedroht, ich war von der Polizei verfolgt und verhaftet worden, durch wilde Bäche geschwommen und hatte den Avancen eines korrupten chilenischen Polizisten entkommen müssen. Da konnte doch ein Tiny-House-Jahr so schlimm nicht sein. Ich hatte mir das schließlich reiflich überlegt, und meistens traf ich kluge Entscheidungen, allerdings, und das musste ich mir selbst gegenüber eingestehen, war ich in letzter Zeit nicht ganz ich selbst gewesen. Ich hatte einfach nicht erwartet, dass sich alles in meinem Leben derart rapide schnell verändern würde. Mir war die Finanzierung für ein wichtiges Projekt abgestürzt, da eine andere Produktionsfirma schneller in der Umsetzung gewesen war, und meine Söhne waren ausgezogen, um sich überfallartig in eine WG einzumieten. Gemeinsam! Ich hätte gedacht, dass zumindest Jasper, der Jüngere von den beiden, noch ein paar Jahre bei mir wohnen würde, aber Pustekuchen. Und plötzlich hatte sich da eine freie Lücke in meinem Leben ergeben, und ganz spontan wurde aus einer sehnsuchtsvollen Idee, die ich vier Jahre lang gepflegt hatte, ein reales Projekt.

Ella reduziert sich.

Ich seufzte noch einmal, aber weitere Gedankengänge wurden unterbrochen, weil es an der Tür klopfte. Energisch und laut. Ich drehte mich um, machte einen kleinen Schritt nach vorne und öffnete die Tür, in der Hoffnung, nun endlich erklärt zu bekommen, wie dieses Miniaturhaus funktionierte. Draußen stand jedoch nicht Theo Bauer, sondern zwei Frauen, von denen ich hoffte, sie noch nie gesehen zu haben. Ich neigte nämlich zu leichter Gesichtsblindheit und musste Menschen mehrmals sehen, bis ich sie wirklich zuverlässig wiedererkannte.

»Guten Tag«, sagte die Ältere der beiden, nickte mir ernst zu und kam mir sehr entfernt bekannt vor. Es könnte sein, dass ich sie schon mal gesehen hatte, damals beim Dreh der Doku, aber sicher war ich mir nicht.

»Hallo«, antwortete ich, und dann schwiegen wir alle drei für einen Moment, der sich immer weiter dehnte, weil die beiden Damen mich offensichtlich erst mal ausgiebig mustern wollten. Was sie ziemlich ungeniert taten. Ich wollte gerade fragen, ob ich behilflich sein könne, da sagte die andere Frau endlich etwas. »Das ist Margarete.« Sie nickte zu ihrer Begleitung. »Sie haben sich schon mal gesehen, als Sie hier vor vier Jahren gedreht haben, und ich bin Manu.« Aha. Ich kannte tatsächlich eine der beiden Besucherinnen. »Wir wollten dich willkommen heißen und dir Brot und Salz zum Einzug bringen. Und wir duzen uns hier alle.« Manu zauberte von irgendwoher ein frisch duftendes Brot, noch in einer Backform, hervor, während mir Margarete mit einer ausladenden Bewegung einen kleinen Salzstreuer überreichte.

»Das ist ja mal eine richtig gute Idee. Einen Salzstreuer habe ich nämlich vergessen«, erwiderte ich und nahm die mir dargebotenen Geschenke entgegen.

»Du bist nur auf der Durchreise, ja?«, fragte Margarete, die zu ihren wallend grauen Haaren eine knallrote Bluse trug. Das war schon eine aufmerksamkeitsheischende Kombination, aber ihr Gesicht war noch außergewöhnlicher. Volle Lippen und strahlend blaue Augen. Alles an dieser Frau war ausdrucksstark. Und streng. Zumindest musterte sie mich jetzt so. »Nein«, sagte ich und schüttelte energisch den Kopf. »Ich bleibe für ein ganzes Jahr.«

»Durchreise. Sag ich doch.« Die ausdrucksstarke Frau sah sich offenbar bestätigt. »Und du willst hier noch mal eine Dokumentation drehen, ja?«, fragte sie weiter, wartete allerdings keine Antwort ab, sondern schob direkt hinterher: »Keine Kamera in meiner Nähe, verstanden? Mich filmst du bitte nicht. Wenn doch, verklage ich dich.« Sie lächelte, und ich war mir nicht sicher, was dieses Lächeln mir mitteilen sollte. War das ein Scherz gewesen? Meinte sie das ernst? »Also noch mal: herzlich willkommen. Gehen wir?« Sie sah Manu an, die sich ein Lachen zu verkneifen schien. »Wir verklagen niemanden. Aber wir möchten bitte in der Dokumentation nicht vorkommen«, fügte sie dann hinzu.

»Okay«, antwortete ich gedehnt, und schon verabschiedeten sich meine Besucherinnen. Sie lächelten mir beide zu, Manu sehr freundlich, Margarete auf nicht deutbare Weise, und gingen hinüber zu dem hellblauen Minihaus, das halb hinter einem noch unbelaubten Fliederhain auf der anderen Seite der großen Wiese stand. »Das ist ja alles schön hier. Ganz wunderbar. Und so nette Menschen!«, sagte ich halblaut und stellte das Brot neben mich auf den Tisch. Ich blieb in der offenen Tür stehen, um tief durchzuatmen. Aus der Ferne, dort, wo der alte Dreiseitenhof sich zum Fluss hin öffnete, sah ich einen Menschen in meine Richtung rennen. Theo Bauer. Er winkte und eilte mit einer unerwartet hohen Geschwindigkeit auf mich zu, unerwartet, weil er bisher immer mehr der gemächliche Typ gewesen war. Theo Bauer war maximal Mitte dreißig und hatte erst in Hamburg Literatur studiert, dann allerdings auf Landwirtschaft umgesattelt. Vor fünf Jahren hatte er den Hof von dem alten Obstbauernehepaar übernommen, das direkt danach nach Kanada ausgewandert war. Ich fand es schon während der Dreharbeiten beeindruckend, wie der leicht wirr wirkende junge Mann sich all den Herausforderungen gestellt hatte. Er ging alles pragmatisch an und war stets der festen Überzeugung, dass er sämtliche Probleme meistern würde. Immerhin hatte er es geschafft, ein nachhaltiges Wohnprojekt mit Tiny Häusern hochzuziehen, dazu noch einen kleinen Solarpark und ein eigenes Windrad zu bauen, was bei der aktuellen Baurechtslage kein Kinderspiel gewesen war. Und dann gab es da noch diese riesige Obstplantage, die Theo Bauer fast allein bewirtschaftete.

»Da bist du ja!«, rief er mir jetzt entgegen und stürmte den kleinen Weg inmitten von zwei Felsenbirnen hindurch auf mich zu. Vor mir bremste er abrupt ab und schien kurz zwischen Händeschütteln und einer Umarmung zu schwanken. Ich klopfte ihm kurzerhand auf die Schulter, weil er trotz der winterlichen Kälte so verschwitzt aussah. Theo klopfte zurück. Mehrmals.

»Toll. Willkommen. Aufregend! ’tschuldige, dass ich nicht da war, als du angekommen bist. Ich musste neue Obstkisten abholen. Mit dem Trecker. Das hat länger gedauert. Aber …« Er hob den Blick und schien einen Moment lang nach Worten zu suchen.

»… hier schließt ja niemand seine Tür ab. Insofern hat das gut geklappt«, vervollständigte ich seinen Satz. »Komm rein.«

Theo trat ein, und schlagartig schien das Haus zu schrumpfen. Es war schon vorher zu klein gewesen, doch jetzt überkam mich ein heftiges Ölsardinengefühl. Ich rückte näher an das Fenster hinter mir.

»So sieht man sich wieder.« Theo rieb sich die Hände. Ich nickte und versuchte, freudig zu wirken. »Also. Ich zeige dir erst mal, wie alles funktioniert, und dann kannst du dich in Ruhe einleben. Degenbrück liegt nur drei Kilometer entfernt«, er deutete mit einer Hand irgendwo in die Luft, »da bekommt man eigentlich alles. Ein Auto hast du nicht mitgebracht?«

Ich schüttelte stumm den Kopf. »Ich kann dich mitnehmen, wenn du was brauchst. Oder du nimmst mein Auto, das kann jeder benutzen. Also: Die Matratze ist frisch bezogen. Das ist eine Übergröße, und ich habe zwei Laken dafür. Das andere ist in der Schublade darunter.«

Ich hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Wie bekommt man das Laken jemals wieder runter?«, fragte ich schnell. »Das Ding ist ja komplett eingebaut.« Ich deutete auf die schwierige Bettsituation.

»Äh«, sagte Theo und dachte dann kurz nach. »Bisschen Geruckel.« Er zuckte die Schultern. »Das geht schon«, meinte er. »Reine Übungssache.« Es klang aufmunternd. »Und das hier ist der Herd. Der wird mit Gasflaschen betrieben. Das Haus ist an die Kanalisation angeschlossen.«

Ich hatte vergessen, wie langsam Theo sprach. Wäre sein Vortrag ein YouTube-Video, würde ich definitiv die Wiedergabegeschwindigkeit erhöhen. Ich merkte, wie ich hibbelig wurde, versuchte aber cool abzuwarten.

»Wasser und Abwasser funktionieren ganz normal. Für die Toilettenspülung will ich noch Brauchwasser … äh …« Er hielt wieder inne und schien nach dem passenden Wort zu suchen.

»… Brauchwasser nutzen?«, vollendete ich den Satz für ihn. Ich musste mich aufs Äußerste zusammenreißen, dass ich ihn nicht ständig unterbrach, weil mein Gehirn diese Unterhaltung schon zu Ende geführt hatte. Mit sich selbst.

»Genau. Macht ja keinen Sinn, bestes Trinkwasser im Klo runterzuspülen. Vorher hatten wir Trenntoiletten. Aber die waren unbeliebt. Ökologisch sinnvoll, aber unbeliebt.«

»Ja, gut. Wie sieht es denn mit dem Internet aus? Ich habe hier kein LTE, nichts dergleichen. Ich dachte, ich komme mit meinem wirklich guten Internetvolumen hin.«

»Das Internet ist grottig. Der Handyempfang auch. Ich befürchte, daran wird sich so schnell nichts ändern. Du kannst mal Folgendes probieren: Da an der alten Eiche«, er deutete raus zu den alten Bäumen. »Wenn du dich ein bisschen reckst und das Handy ungefähr Richtung Südost hältst, solltest du etwas Netz bekommen.«

Ich wartete ab, ob er anfing zu lachen, aber er meinte das wohl todernst. »Das Haus hat leider keine Heizung«, sagte er schließlich.

»Wie bitte?«, fragte ich, als seine Worte mich endlich erreichten. Ich war noch dabei, die Hiobsbotschaft mit dem Internet zu verarbeiten.

»Es gibt nur den Ofen.« Er zuckte die Schultern. »Aber ich bin noch nicht dazu gekommen, auch hier eine Elektroheizung oder eine Wärmepumpe einzubauen, die dann über Windkraft oder Solar betrieben wird.« Er deutete hinter sich, und ich folgte seinem Blick. Neben der Tür stand ein gusseiserner Ofen, der gerade mal die Ausmaße eines mittleren Reisekoffers hatte.

»Der bekommt das hier warm?«, fragte ich zweifelnd.

Theo nickte. »Sehr gut sogar. Bei Frost musst du ungefähr alle vier Stunden Holz nachlegen. Das lagere ich hinter der Scheune, da steht auch eine Schubkarre. Sonst kühlt das Haus schnell aus, und dann platzen irgendwann die Wasserleitungen.«

Ich sah erst den Ofen, dann Theo an und rang mir ein Lächeln ab. Ich hatte im Urwald in einer Hängematte geschlafen, damit die handtellergroßen Spinnen ihre Eier nicht in meinen Nasenlöchern ablegten. Da würde ich es wohl mit einem kleinen Holzofen aufnehmen können. »Okay. Alles wird prima«, sagte ich mehr zu mir als zu Theo.

»Ich freue mich jedenfalls, dass du dieses Wohnkonzept für dich ausprobieren willst. Und es dann mit deiner Doku in die Welt hinausträgst.«

»Warum ist denn dieses Haus eigentlich noch frei? Und wer hat hier vorher gewohnt?«, fragte ich. Es hatte damals eine lange Warteliste mit Interessenten gegeben, und als ich ihn vor wenigen Wochen anrief, kaum waren meine Jungs im Doppelpack aus dem elterlichen Flachdachbungalow ausgezogen, hatte ich gar keine Hoffnung gehabt, dass noch eins frei wäre. Aber Theo hatte mir sofort zugesagt.

»Weißt du«, setzte er an, dann dachte er erst mal nach. Geduld, Ella. Geduld, beschwor ich mich. »Wir leben hier schon in einer Art Gemeinschaft. Und da passt nicht jeder rein. Hier hat zwei Jahre lang ein Geschichtslehrer gewohnt, aber dem war es zu rudimentär. Danach stand das Haus ein paar Monate leer. Niemand, der sich vorgestellt hat, passte so richtig. Es gibt zwei Arten von Tiny-House-Bewohnern. Da sind die Enthusiasten. Die ein klares Ziel haben und dafür auch mal etwas in Kauf nehmen. Und dann gibt es die bequemen. Die sich zwar reduzieren wollen, aber bitte mit dem gewohnten Komfort. Man könnte sie unterteilen in die mit und die ohne Geschirrspülmaschine. Die, die eine Geschirrspülmaschine brauchen, halten das oft nicht durch. Dieses Haus hier«, er machte eine kreisende Handbewegung, »war das erste, das ich gebaut habe. Da war ich noch nicht so gut. Ich hatte wenig Erfahrung.«

Ah. Informierte er mich etwa gerade darüber, dass ich das Mängelexemplar bekommen hatte?

»Die Dämmung ist nicht gut. Und der Ofen. Holz.« Er seufzte und zuckte die Schultern. »Du bist so tief im Thema Umweltschutz.« Er blinzelte mich an. »Ich habe alle deine Dokus gesehen. Besonders mochte ich: ›Schatten über dem Paradies, die Gefahr der Plastikverschmutzung‹. Deine Entscheidung, Ballast loszuwerden und bewusster zu leben, ist nur folgerichtig. So eine Siedlung ist ja nur ein Anfang, aber sie könnte eine Lösung für viele Probleme sein. Wir versiegeln keine Flächen, es gibt eine große Artenvielfalt von Pflanzen und Insekten, und der Plan ist, irgendwann völlig autark von allen Versorgern zu sein. Und der wichtigste Punkt ist wohl, dass es sehr kostengünstig ist, so zu leben.« Er zuckte die Schultern und lächelte mich an.

Ich seufzte. Dass ich bis vor wenigen Tagen stolze Besitzerin von achtundzwanzig deckellosen Tupperschüsseln gewesen war, behielt ich lieber für mich. Genau wie die Tatsache, dass ich erst vor wenigen Tagen einen Burger bei McDonald’s konsumiert hatte. Inkognito sozusagen. Schlimmer geht es kaum, aber ich war so ausgehungert gewesen, und der Laden war der einzige, der an der Strecke gelegen hatte. Ich lebte seit fast einem Jahrzehnt vegetarisch, und trotzdem hatte ich zwischendurch manchmal so einen Japp auf Fleisch, dass es mir schon selbst peinlich war.

»Ich habe dir ein paar Sachen in den Kühlschrank gelegt. Als Willkommensgruß«, erklärte Theo.

»Wo um alles in der Welt ist denn bitte der Kühlschrank?«, fragte ich und sah mich um.

Theo machte einen Schritt nach links, hin zu der klitzekleinen Küchenzeile, wo er einen Unterschrank öffnete. Und tatsächlich befand sich dahinter ein Kühlschrank, was allerdings bedeutete, dass es nur noch zwei weitere Schränke gab. Womit sich die Frage auftat, wo ich meinen Kochtopf und die Pfanne aufbewahren sollte.

Im Kühlschrank befanden sich zwei Packungen Milch, Eier, etwas Butter und ein Glas Erdbeermarmelade. Laut Schildchen vom Obsthof Theo Bauer.

»Es gibt hier überall Einbauschränke. Schau!« Begeistert schlängelte Theo sich durch das Minihaus und öffnete mehrere kleine Schubladen und Türen. Tatsächlich gab es eine Menge Stauraum, der meistens groß genug war, um einen Schuh zu fassen. Oder ein Buch. Dazu vielleicht noch ein Paar Socken. »Die Besonderheit hier ist, dass das Bett unten ist. Bei den meisten Tiny Häusern ist das Bett auf einer zweiten Ebene, aber da befindet sich bei diesem ein kleiner Wohnbereich mit einem Sofa. Sehr gemütlich. Warst du schon oben?« Ich lächelte unverbindlich und schüttelte den Kopf. Nach oben führte eine nicht sehr vertrauenerweckende Treppe, und ich war nicht schwindelfrei. Das hatte ich irgendwie auch anders im Kopf gehabt. »Schau mal. Den Esstisch kannst du wegklappen, dann hast du hier unten viel Platz. Vielleicht um Yoga zu machen oder so. Und an dieser Wand«, er deutete an die Wand über dem klappbaren Tischchen, »habe ich Hängeleisten installiert, da kannst du alles dranhängen, was du möchtest. Suppenkellen. Taschen. Beutel. Tüten.« Er nickte begeistert.

Ich lächelte weiter und sah mich bereits meine Unterwäsche in Jutebeuteln verstauen und an die Wand hängen. Ich würde meine Sachen niemals wieder sortiert bekommen. Das stand mal fest. Ich hatte sie schon in einem einhundertzwanzig Quadratmeter großen Bungalow nicht überblickt. Das hier war ja wie einer dieser Setzkasten aus meiner Kindheit.

»Und nicht wundern. Wir duzen uns hier übrigens alle. So, ich muss jetzt zurück und Buchhaltung machen. Wenn du Fragen hast oder irgendwas brauchst, komm rum, ja? Tschüss.« Theo winkte mir zu und enteilte aus meinem Häuschen. Ich sah ihm hinterher, wie er über den Weg marschierte, dann schloss ich die Tür.

Und dann war es still.

Irgendwie konnte ich mich nicht rühren, ich stand einfach herum und starrte die Tür an. Was sollte ich denn jetzt machen? Es gab sehr viele Optionen, aber ich war durch und durch antriebslos. Keinerlei Termine im Kalender. Und mein Handy lag auf dem kleinen Tisch und gab keinen Mucks von sich. Also tat ich das Naheliegendste. Das, was mir entsprach, was mir eigentlich immer half, und das in fast jeder Lebenslage. Ich griff neben mich und zog aus einer der Ikea-Tüten einen dicken Pulli. Dann stopfte ich meine blonden Strohhaare unter die graue Strickmütze, und da meine Laufschuhe schon direkt unter der kleinen Einbuchtung des Bettes standen, schlüpfte ich hinein. Ich schnappte mir meine Jacke und verließ das Haus. Ohne es abzuschließen. Ich besaß ja ohnehin nichts mehr, was sich zu klauen lohnte.

Die Luft war frisch und hatte einen klirrenden Unterton bekommen. Spätestens, wenn ich zurückkam, würde ich mich mit dem Ofen beschäftigen müssen. Aber jetzt lief ich.

Mein Bewegungsdrang war legendär. Unter meinen Kollegen gab es den geflügelten Satz »Ella rennt wieder«. Ich sortierte mich beim Laufen. Ich hatte immer Laufklamotten im Auto gehabt. Falls ich schnell mal das Hirn freipusten musste. Mein Atem dampfte in kleinen Wölkchen, und es duftete nach heruntergefallenem Laub und feuchter Erde. Ich folgte dem geschwungenen Weg, vorbei an einem Ententümpel, auf dem einige Stockenten in friedlicher Eintracht herumdümpelten, dann weiter zum Fluss. Hier steckte ich mir die AirPods in die Ohren, startete meine Playlist und joggte los. Der Boden war weich, was meine Knie dankend zur Kenntnis nahmen, indem sie sich nicht mucksten. In der Regel lief ich auf Asphalt, aber ich kam mit beinahe jedem Untergrund zurecht. Ich erhöhte das Tempo und folgte dem Weg am Fluss entlang. Links und rechts verschwamm die Welt zu einem grünen Streifen. Meine Beine bewegten sich wie von allein, aber ich musste höllisch aufpassen, nicht zu stürzen, der Weg glich einer verkrauteten Schotterpiste. Ich beschleunigte trotzdem noch einmal und heftete den Blick auf den Horizont. Ich wartete auf den Moment, an dem mein Gehirn endlich frei in meinem Kopf schwang und aufhörte zu denken, aber das gute Gefühl blieb heute aus. Stattdessen biss die kalte Luft in meinen Lungen. Als ich das Tempo noch einmal anziehen wollte, stolperte ich über irgendeine Unebenheit. Ich fiel wie ein gefällter Baumstamm zur Seite und landete unsanft im Schilf. Reflexhaft umklammerte ich mit einer Hand panisch ein Büschel Gras, was zumindest verhinderte, dass ich die ganze Uferböschung wie ein nasser Sack hinunterrollte.

Ächzend blieb ich einen Augenblick auf der Seite liegen, doch dann spürte ich das eiskalte Flusswasser an mir hochkriechen, und ich schob mich rückwärts mit heftigen Stößen der Fersen die Böschung hoch. Hier angekommen, rappelte ich mich auf und blieb einen Moment auf den Knien hocken. »Scheiße!« Ich tastete nach den AirPods, die aber zum Glück bombenfest in meinen Ohren saßen. Dann bewegte ich vorsichtig sämtliche Körperteile. Frohe Kunde: Es funktionierte alles noch! Das pieksige Schilf hatte meinen Aufprall freundlicherweise erheblich gedämpft. Ich richtete mich auf und streckte den Rücken durch.

Ich wäre fast in diesen verdammten Fluss gefallen. Ich hätte ertrinken können. Zwar konnte ich durchaus schwimmen, das tat ich aber freiwillig nur in türkisblauen Pools, außerdem hatte die Bende eine nicht zu unterschätzende Strömung. Ich atmete einmal tief durch, um meinen hektischen Herzschlag zu beruhigen.

Ich lief seit fast zwanzig Jahren. Ich war sozusagen Profi und konnte jedes herannahende Auto aus dem Augenwinkel wahrnehmen, wich jedem Radfahrer rein intuitiv aus, und noch kein einziger Bordstein hatte mich zu Fall gebracht. Aber gerade als ich in mein neues Leben starten wollte, riss es mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weg.

Noch einmal warf ich dem Fluss einen argwöhnischen Blick zu, dann zog ich mein Handy aus der kleinen Tasche um meine Hüfte und startete eine neue Playlist. Hatte ja niemand behauptet, dass es einfach werden würde, hier zu leben. Ich musste mich nur erst mal daran gewöhnen, auf dieser Schotterpiste zu laufen. Und da ich nun eh schon nass und dreckig war, konnte ich auch gleich weiterjoggen. Also drehte ich mich um und lief wieder los. Ein paar Meter trabte ich, dann zog ich das Tempo erneut an. Diesmal allerdings mit respektvollem Abstand zum Flussufer.

Ich lauschte den Beats der Musik, behielt den Horizont im Auge … und dann stand plötzlich ein wildes Tier vor mir. Entsetzt schrie ich auf. Die Bestie war wie aus dem Nichts aufgetaucht! Ich stemmte die Füße so fest auf den Boden, dass kleine Steinchen in alle Richtungen flogen. Besagte Bestie war ein großer Hund, dessen weißes Fell schmutzig braune Flecken zierten. Als hätte jemand aus Versehen einen Becher Kaffee über ihm ausgekippt. Er starrte mich wütend an, sprang hin und her und kläffte.

»Hau ab!«, schnauzte ich das Untier an, was wenig Erfolg hatte. Ich zerrte mir die In-Ears aus den Ohren. Mein Körper wollte fliehen, meine erfahrene Joggerinnenseele wusste, dass das absolut kontraproduktiv wäre, also drehte ich mich zur Seite und blieb regungslos stehen. Das hatte mir mal ein sehr hundeerfahrener Kollege beigebracht, weil Hunde Joggerinnen hassten. Aus Prinzip. Im nächsten Moment stand ein Mann vor mir.

»Sind Sie bescheuert?«, schnauzte er nun wiederum mich an. Zuvorkommenderweise fasste er das Tier aber am Halsband und hielt es fest.

»Ich? Na, hören Sie mal! Ihr Hund hat mich angefallen!«, rief ich atemlos und deutete auf die tobende Bestie, die jetzt schon nicht mehr ganz so bedrohlich wirkte. Der Mann blinzelte, dann sagte er, nun in einem normalen Tonfall: »Sie sind fast über ihn drübergerannt. Er ist alt und sieht nicht mehr gut. Er hat sich zu Tode erschrocken.«

»Trotzdem darf er mich nicht so anfallen«, sagte ich und sah mich um. Wo waren die beiden so plötzlich hergekommen?

»Er ist ein Hund. Hunde reagieren, wie Hunde nun mal reagieren.« Er zuckte die Schultern.

Nachdem die erste Gefahr gebannt war, musterte ich ihn etwas genauer. Er hatte sandblondes, kurz geschnittenes Haar und einen dichten, ebenfalls sauber getrimmten Bart. Groß und breitschultrig war er auch und wirkte hier in der freien Wildbahn wie ein Wikinger-König. Fehlten nur noch die Perlen im Bart. Ich betrachtete ihn und überlegte fieberhaft, ob ich ihn kennen müsste. Vielleicht hatte ich ihn damals ebenfalls beim Dreh getroffen? Wie die Frau, die Salz und Brot und eine Drohung gebracht hatte? Mein Gefühl sagte mir nämlich, dass ich ihn schon mal gesehen hatte. Dieses schlechte Gesichtsgedächtnis war aber auch bescheuert. Ich hatte gelernt, mit diesem Defizit umzugehen und ganz geschickt so zu tun, als wüsste ich von Anfang an, wer mein Gegenüber war, bis derjenige selbst mir endlich den entscheidenden Hinweis gab. »Dann müssen Sie ihn an der Leine führen«, sagte ich schließlich. Ich kannte diesen Mann ganz bestimmt. Leider weigerte mein Gehirn sich, Details auszuspucken, aber er machte auch nicht den Eindruck, als würde er mich kennen.

»Vielleicht müssen Sie besser aufpassen, wo Sie hinlaufen?«, entgegnete er spitz und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Ich sah ihm einen Augenblick verdutzt hinterher, und dann beschloss ich, dass ich genug Abenteuer für den heutigen Tag erlebt hatte, steckte die Kopfhörer in die Tasche und lief langsam zurück in Richtung Tiny-House-Siedlung. Wer wusste schon, was als Nächstes auf mich wartete? Eine wilde Wildsau? Ein Hornissenschwarm? Ich schwang ein wenig die Arme, um die Steife aus meinen Schultern zu vertreiben, und gerade, als ich an meinem Nachbar-Minihaus vorbeikam, hörte ich ein tiefes Stöhnen. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Was war das denn gewesen? Und da war es wieder. Ein Mann stöhnte.

»Oh ja!«, dröhnte er. Ich zog die Schultern hoch und kniff die Lippen zusammen. Hatte da jemand Sex? Vorsichtig sah ich mich um. Ich war allein, also pirschte ich mich langsam zur Hausecke des leicht lotterig wirkenden Hauses in meiner direkten Nachbarschaft. Es hatte genau wie meins eine kleine überdachte Terrasse und gehörte dem Typen, der mich vorhin gestalkt hatte. Jetzt stand seine Tür sperrangelweit offen, und – jep – da war das Geräusch wieder. Nee. Echt jetzt? Ich sollte zusehen, hier wegzukommen. Das war ja unfassbar peinlich. Leise, aber mit langen Schritten eilte ich zu meinem eigenen Haus, riss die Tür auf und schlüpfte hinein.

Mein neuer Nachbar hatte anscheinend bei offener Tür ganz unüberhörbaren Sex. Mit sich oder mit jemand anderem konnte ich nicht identifizieren. Ich lugte durch das Fenster und entdeckte ihn. Er stand, bekleidet, wie ich anmerken möchte, ebenfalls am Fenster und sah hinaus auf den Fluss. Dazu trug er ein Headset und schien angeregt zu plaudern. »Telefonsex«, sagte ich zu mir selbst. »Ich glaub’s ja nicht! Der Typ ist ein Telefonsex-Callboy.« Ich trat mir die Laufschuhe von den Füßen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Mein derzeit etwas unterfordertes Hirn bot mir direkt einige weitere Gedanken an. Unter anderem einen Namen. Jack Off. Jack Off hießen bestimmt die männlichen Sternchen der Szene, wenn es so eine Szene denn gab. Ich würde das recherchieren. »Hallo, Jack Off«, sagte ich also leise, blieb aber weiter im Hintergrund des Fensterrahmens stehen. So sah er mich nicht. Dafür sah mich aber der sandblonde Typ mit dem gefährlichen Hund, der vom Fluss her den Weg entlangkam. Er sah, wie ich Jack Off beobachtete. Mein Körper versuchte noch, mich irgendwie aus der verfänglichen Situation zu retten, und ließ mich einen Satz nach links machen, woraufhin ich mir schmerzhaft die Hüfte an dem dämlichen Klapptisch stieß. Aber ich mochte es nicht, wenn man mir meine berufsbedingte Neugierde sofort ansah. Ich brauchte dringend Vorhänge. Die standen sozusagen direkt und umgehend auf Platz eins meiner Zu-besorgen-Liste. Davon abgesehen durfte dieser Tag dann jetzt auch zu Ende gehen. Für meinen Geschmack waren viel zu viele sonderbare Dinge passiert. Von wegen, ich ziehe aufs Land, um zur Ruhe zu kommen. Hier war ja mal richtig die Hölle los. Ich machte eben keine halben Sachen.

3

Mein Feind Edgar

Ich nannte meinen kleinen Ofen Edgar, denn auch Feinde brauchen einen Namen. Edgar hasste mich vom ersten Tag an. Ich hasste ihn allerdings auch. Wir mussten in einer erzwungenen Gemeinschaft miteinander leben, und was erschwerend hinzukam: Ich brauchte Edgar. Was sich noch als ernsthaftes Problem herausstellen würde, da war ich mir ziemlich sicher. Der kleine gusseiserne Ofen, der mein Häuschen beheizen sollte, hatte nämlich offensichtlich kein Interesse daran, seinen Job zu erledigen. Ich hatte noch nie einen Ofen oder Kamin besessen, meine Erfahrung mit Feuer bestand bisher aus der großen Feuerschale im Garten, in die ich einfach Holz geworfen und es angezündet hatte. Das hatte einwandfrei funktioniert. Edgars Brennkammer war allerdings so klein (welche Überraschung!), dass man die Holzscheite, die Theo freundlicherweise in einem Korb neben dem Ofen gestapelt hatte, äußerst geschickt schichten musste, um sie dann zu entzünden. Was mir nicht gelang. Alle Zutaten für ein prasselndes Feuer waren vorhanden: Streichhölzer und Holz. Aber da brannte nichts.

Ich kniete vor Edgar und betrachtete das immer noch kalte Holz in seinem Bauch. Fünf Mal hatte ich es bis jetzt versucht, jedes Mal ergebnislos. Ich schien keinerlei Talent für das Feuermachen zu haben. Was ungünstig war, denn es war mittlerweile ziemlich kalt in dem kleinen Haus. Wer hätte gedacht, dass sich auch hier in der niedersächsischen Depressionsebene jemand fand, dessen Bedürfniserfüllerin ich sein durfte? Ich dachte, das hätte ich hinter mir gelassen. Ich meine, deswegen war ich schließlich hergekommen!

Jetzt hatte hier schon wieder irgendjemand Befindlichkeiten, und er atmete noch nicht mal. Ich hockte vor dem Ofen und starrte in seine kalten Gedärme, als es energisch an meiner Tür klopfte. Da es hier so still war, zuckte ich erschrocken zusammen. Das Geräusch schien einfach überlaut.

»Ja«, rief ich und kam wieder auf die Beine. Die Tür schwang auf, und davor stand eine Frau, die mir nun wirklich ganz und gar unbekannt vorkam. Wie viele Menschen lebten denn hier bloß? Hatte ich immer noch nicht alle gesehen?

Die Frau war maximal Mitte zwanzig, hatte einen blonden Pferdeschwanz und erinnerte mich auf abstruse Art und Weise an Barbie mit ihren perfekt gebürsteten Augenbrauen und den rosigen Wangen. Aber Barbie strahlte mich sehr freundlich an, was irgendwie wohltuend war. Mir steckte noch das Zusammentreffen mit der geifernden Bestie und dem übellaunigen Wikinger in den Knochen.

»Hi! Ich bin Pia! Ich wohne da drüben in dem Bauwagen.« Sie deutete irgendwo hinter sich, und ich erinnerte mich an den blau gestrichenen Peter-Lustig-Wagen, der ganz am Rand, dichter am Fluss, stand. »Hast du ein Problem mit dem Ofen?« Sie schaute an mir vorbei. Ich nickte und trat zur Seite. »Ich bin Ella, und ich bekomme das Drecksding nicht zum Brennen«, erklärte ich.

»Lass mich mal. Ich bin hier die Feuergöttin«, erwiderte Pia zackig, marschierte an mir vorbei und kniete sich vor Edgar, den unkooperativen Ofen. »Es ist auch fies, dass du als Anfängerin diesen bescheuerten Ofen bekommen hast. Ich habe eine Elektroheizung, die das Windrad speist.«

»Feuergöttin«, murmelte ich und grinste, womit ich allerdings direkt wieder aufhörte, denn nach nicht mal einer halben Minute prasselte das Feuer und Pia schloss Edgars Klappe. Dabei hielt sie etwas hoch. »Du musst diese Anzünder benutzen. Das ist mit Bienenwachs getränkte Holzwolle. Theo schichtet so, dass es von unten nach oben brennt. Aber ich lasse es von oben nach unten brennen. Das ist viel effektiver.« Zufrieden nickte sie und drückte mir eins der kleinen Holzwolleteile in die Hand, die ich zwar neben den Holzscheiten gesehen, von denen ich aber schlicht keine Ahnung gehabt hatte, welche Aufgabe sie beim Anzündeprozess erfüllen sollten. Dann drehte Pia sich einmal im Kreis. Sie betrachtete meinen ausgebreiteten Hausstand. Nichts hatte bisher seinen Platz gefunden. Es sah aus, als beabsichtigte ich, einen Flohmarkt zu veranstalten. Beim Einpacken meiner verbliebenen Habseligkeiten war mir alles äußerst überschaubar vorgekommen, wahnsinnig reduziert eben. Noch nie in meinem Leben hatte ich so wenig besessen, und jetzt erschien doch jede Socke zu viel. »Wie viele Quadratmeter hattest du vorher?«, fragte Pia auch direkt. Die Frau schien Profi im Tiny-House-Leben zu sein.

»Einhundertzwanzig«, antwortete ich. Wissend nickte Pia.

»Das wird schon.«

»Wann genau?«, erkundigte ich mich. »Wenn ich noch mal um fünfzig Prozent reduziert habe?«

Sie zuckte lächelnd die Achseln. »Ich habe zwei Ikea-Tüten, diese großen blauen Dinger. In die passt alles, was ich habe.« Sie überlegte einen Moment und schien noch mal nachzukalkulieren. »Okay. Und zwei Umzugskartons für Make-up und Pflege und so.«

»Das ist, äh, toll«, sagte ich.

»Erzähl doch mal. Was genau machst du hier? Und was ist das für eine Reportage, die du drehen willst?«, fragte sie dann. Aha. Es wussten offenbar alle Bescheid über mich.

»Ich will mich reduzieren. Ich will mit weniger auskommen«, erklärte ich schlicht. »Und über diese Erfahrung der Reduktion möchte ich eine Reportage drehen.«

Pia hockte sich auf die Kante des Esstisches, der ein kleines Knarzen von sich gab. Er hatte ja immerhin nur ein Bein, der Rest der Auflagefläche war eine schmale Leiste an der Wand. »Kann ich dir einen Kaffee anbieten?«, fragte ich, und Pia nickte energisch, wobei ihr zauberhaft hochgebundener Pferdeschwanz schwang. Ich machte mich also ans Kaffeekochen. Ganz altmodisch mit Filter und Kochtopf. »Ich bin Journalistin, und ich habe in den letzten Jahren viele Dokus zum Thema Umweltschutz gedreht«, erklärte ich, während ich das Kaffeepulver in den Filter löffelte. Es duftete verheißungsvoll. Ich hatte seit Ewigkeiten keinen Kaffee mehr auf diese Art und Weise gekocht. Gerade wollte ich weitersprechen, da fiel Pia mir ins Wort: »Eine deiner Dokus hat einen Preis gewonnen.«

»Ja, stimmt.« Ich sah sie an. »Du bist gut informiert.«

»Theo ist völlig begeistert von deinem Projekt. Aber was bedeutet reduzieren für dich persönlich?« Oha, diese junge Frau kam direkt zur Sache.

»Anders leben. Wir sind alle Kinder unserer Zeit. Wir kaufen in Supermärkten ein, fahren Auto, fliegen weg, haben die alten Kulturtechniken wie Einmachen und Brotbacken verlernt. Ich glaube, dass der massive Überfluss uns allen nicht guttut. Immer nur höher, schneller, weiter … Ich will einfach weniger.«

Pia nickte. Sie schien zu verstehen, wovon ich redete.

»Und warum lebst du hier auf dem Land allein in einem Bauwagen, anstatt irgendwo in der Stadt die Nächte durchzutanzen?«, wollte ich von ihr wissen. Als sie mich etwas fragend ansah, ergänzte ich: »Ich hab zwei Söhne in deinem Alter. Und die würden es hier in dieser Einöde wahrscheinlich keine Woche aushalten.«

Sie grinste. »Ach, feiern kann man überall. Und ansonsten, ich brauch nicht viel. Bis vor Kurzem hab ich in ’ner Bank gearbeitet und muss mich von dieser Horrorzeit noch erholen.«

Überrascht blickte ich sie an. Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Pia im schicken Kostümchen hinter einem Bankschalter? Offenbar konnte sie meine Gedanken lesen. »Wunsch meines Vaters«, sagte sie knapp. »Und jetzt bitte Themawechsel.«

Die junge Frau gefiel mir. In dem Alter hatte ich noch nicht so genau gewusst, was ich wollte – oder nicht wollte. Und vor allem hätte ich mich niemals getraut, mich so von der Masse abzuheben und einfach mein Ding zu machen. Irgendwie beeindruckend, denn während sie sich selbst anscheinend schon gefunden hatte, war ich mir irgendwo in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Klar ging es mir um das Reduzieren, aber eigentlich, im Geheimen, brauchte ich dringend eine Auszeit vom Leben. Das sagte ich natürlich nicht. »Jedenfalls bin ich der Meinung, dass ein Mehr schon lange nicht mehr gleichbedeutend mit einem Besser ist. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich so nicht weitermachen will. Und deshalb bin ich jetzt hier«, schloss ich. Deshalb und weil ich frisch geschieden war, meine Söhne das Weite gesucht hatten und ich kein Eigenheim mehr besaß. Doch auch das sagte ich nicht.

»Willst du denn eine Reportage über dich oder über uns drehen?«

Ich zuckte die Schultern, etwas erstaunt über diese Frage. »Nur über mich. Nicht über euch. Über meinen persönlichen Weg zu einem reduzierten Leben. Ich will herausfinden, was ich wirklich brauche. Und dann ganz allgemein: Wie könnten wir in Zukunft wohnen? Wäre so eine Siedlung eine Lösung? Und ich filme grundsätzlich niemanden, wenn er es nicht will«, fügte ich sofort hinzu, falls Pia mich sonst auch verklagen wollte. Pia nickte wieder und griff sich in den Nacken, löste ihr Haarband und drehte sich stattdessen einen Dutt auf dem Hinterkopf. Dann zerrte sie sich ihren bunten Schal vom Hals, Edgar erledigte nämlich seinen Job ziemlich gut. Es war plötzlich warm geworden. Ich zog meine Strickjacke aus und reichte Pia einen Becher Kaffee. »Mein erstes Selbstgekochtes hier im Haus«, erklärte ich, woraufhin sie mit meiner Tasse anstieß.

»Prost!«, sagte sie.

Ich hockte mich auf die mittlere Stufe der Treppe, die nach oben führte. »Also, Pia. Was genau hast du vor?«, fragte ich. Sie sah so verdammt jung aus, aber vielleicht täuschte das.

»Na ja, ich habe wie gesagt eine Banklehre gemacht, das hat mir nicht gefallen, dann hat Theo Erntehelfer gesucht, und daraufhin bin ich einfach hiergeblieben.«

»Und willst du noch studieren? Oder zurück in die Bank? So ein Job ist ja nicht der schlechteste.« Oh Mann, das war nicht gut, ich klang wie eine Mutter. Die ich ja auch war.

Pia schien das zum Glück nicht zu stören, stattdessen schüttelte sie energisch den Kopf. »Ich möchte nicht nur in geschlossenen Räumen arbeiten. Das ist schrecklich. Von neun bis fünf, viele Überstunden. Ich brauche eine bessere Work-Life-Balance. Irgendwann muss man doch auch seine Freunde treffen, Zeit für sich haben, und hier brauche ich weniger Geld zum Leben als in der Stadt. Ich bin erst mal nur hier. Der Rest wird sich zeigen«, erklärte sie dann fest. Ich hatte den Eindruck, als hätte sie diesen Satz schon einige Male gesagt. Meine Söhne waren ebenfalls Meister in der Disziplin des Sich-nicht-Festlegens. »Mal sehen!« war ihr ganz persönliches Mantra.

Pia nahm einen Schluck Kaffee, blinzelte und schluckte angestrengt. Ich tat es ihr gleich und stellte dann die Tasse angewidert zurück auf die Küchentheke. »Das mit dem Kaffee muss ich noch üben«, entschuldigte ich mich für das Gebräu, das ich da fabriziert hatte. »Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?«

»Darfst du. Dreiundzwanzig«, antwortete sie. Aha, hatte ich doch richtig geschätzt. Ein Alter, in dem man durchaus von einer gewissen Orientierungslosigkeit geplagt sein konnte. Bis meine Söhne endlich gewusst hatten, was sie tun wollten, waren Jahre ins Land gegangen. Und bei Finn war ich mir ziemlich sicher, dass er irgendwann doch beschließen würde, sein angefangenes Journalistik-Studium abzubrechen, um Schäfer in der Lüneburger Heide zu werden, weil ihm das Studieren zu anstrengend war. Vielleicht sattelte er auch auf Astronaut um, ungeachtet dessen, dass man da echt wenig freie Zeit hatte. Möglich war bei ihm alles.

»Und wie alt bist du?«, fragte sie nun mich.

»Äh, fünfundvierzig«, erwiderte ich.

»Und du hast also Kinder, die in meinem Alter sind?«, fragte Pia ungerührt weiter.

»Genau, zwei Söhne. Studieren beide.«

Pia runzelte die Stirn. »Du bist früh Mutter geworden«, stellte sie dann fest und sah für einen Moment beeindruckt aus. Ich lächelte schief und pustete mir die Ponyfransen aus der Stirn. Es war inzwischen echt heiß in der Hütte. Der verdammte Ofen nahm seinen Job plötzlich ernst.