Glück ist meine Lieblingsfarbe - Kristina Günak - E-Book
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Glück ist meine Lieblingsfarbe E-Book

Kristina Günak

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Beschreibung

Juli lebt dort, wo andere Urlaub machen: auf La Palma. Eigentlich sollte es bloß eine Auszeit vom langweiligen Bürojob sein, doch wenn es nach ihr geht, kann der Ernst des Lebens gerne warten. Dann lernt sie Quinn kennen, der das genaue Gegenteil von ihr ist - vernünftig, zielstrebig, mit beiden Beinen auf der Erde -, und die Funken fliegen. Dabei will Juli sich doch auf keinen Fall verlieben!
Doch als ein verwaister Hund ein neues Zuhause sucht, werden all ihre schönen Vorsätze auf die Probe gestellt. Und Juli erlebt, dass es nur ein bisschen Mut braucht, um die große Liebe zu finden.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21EndeDanksagung

Über dieses Buch

Juli lebt dort, wo andere Urlaub machen: auf La Palma. Eigentlich sollte es bloß eine Auszeit vom langweiligen Bürojob sein, doch wenn es nach ihr geht, kann der Ernst des Lebens gerne warten. Dann lernt sie Quinn kennen, der das genaue Gegenteil von ihr ist - vernünftig, zielstrebig, mit beiden Beinen auf der Erde -, und die Funken fliegen. Dabei will Juli sich doch auf keinen Fall verlieben! Doch als ein verwaister Hund ein neues Zuhause sucht, werden all ihre schönen Vorsätze auf die Probe gestellt. Und Juli erlebt, dass es nur ein bisschen Mut braucht, um die große Liebe zu finden.

Über die Autorin

Kristina Günak wurde 1977 in Norddeutschland geboren. Nachdem sie jahrelang als Maklerin arbeitete, ist sie heute als Mediatorin und systemischer Coach tätig. 2011 erschien ihr erster Roman, und seither hat sie sich mit ihren humorvollen Büchern unter Liebesromanleserinnen einen Namen gemacht. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Kristina Steffan.

KRISTINA GÜNAK

Glück

ist

meineLieblingsfarbe

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Originalausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Katja Bendels

Titelillustration: © FinePic/shutterstock

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7231-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Kapitel 1

Maria eilte laut schimpfend an mir vorbei. Vermutlich galt ihr Ärger nicht mir, aber ganz sicher war ich mir nicht. Obwohl ich jetzt seit drei Monaten auf der Insel war, verstand ich gerade einmal jedes dritte Wort. Was Maria aber nicht wusste. Sie dachte, ich verstünde sie in jeder Lebenslage und sei einfach ein wenig maulfaul. Dabei musste ich mir das Gesagte immer mühsam aus dem Kontext erschließen. Jedes dritte Wort war einfach nicht sehr viel, aber die Spanier verschluckten frohen Mutes sämtliche Konsonanten und redeten ohne Pausen, so dass jedes dritte Wort erst einmal mühsam von mir identifiziert werden musste, weil in meinen Ohren alles wie ein unfassbar langes Bandwurmsatzungetüm klang.

Maria war meine Vermieterin und hieß so wie ihre Mutter, deren Enkelin ebenfalls Maria hieß, was mich jedes Mal aufs Neue verwirrte. Zum Glück waren die drei bei der neben mir schnurrenden übergewichtigen Katze von ihrer Tradition abgewichen, alles Weibliche kurzerhand Maria zu taufen. Escoba – so hieß sie – bedeutete Besen. Das konnte ich mir gut merken, denn escoba war neben cama de matrimonio eines meiner Lieblingswörter in Spanisch. Beides rollte so schön von der Zunge. Anders als cortado oder cabeza. Das klang hart und unnachgiebig, und die Worte kugelten einem wie Geröllbrocken im Mund herum. Nicht schön.

Besen und Ehebett. Keine Ahnung, was es über mich aussagte, dass ich diese beiden Begriffe mochte.

Ich streckte die Füße von mir und schob Escoba sanft zur Seite. Tatsächlich war ich mehr der Hundemensch, was Katzen leider sofort spürten und beschlossen, mich mit ihrer ewig währenden Freundschaft zu beglücken. Dazu gehörte engster Körperkontakt. Aber Escoba hatte Zecken. Und so viel Fell, dass sie aussah wie ein explodiertes Sofakissen. Wahrscheinlich war ihr fürchterlich heiß. Heute hatten wir wieder stattliche 28 Grad. Der Himmel war strahlend blau, nur ganz entfernt hingen in den schroffen Bergen der Insel ein paar luftige Wolken. Der Atlantik lag nur wenige Meter entfernt, und man konnte das Salz in der Luft schmecken.

Wieder kam Maria über den kleinen Hof geeilt. Sie nickte mir zu und lächelte sogar. Ich durfte hier sitzen. Zumindest glaubte ich, das verstanden zu haben, aber da mich in den drei Monaten, seit ich hier wohnte, noch nie eine der Marias von meinem Sitzplatz verscheucht hatte, ging ich davon aus. Wobei es bei meinem katastrophalen Spanisch natürlich auch sein könnte, dass ich es einfach nicht richtig verstanden hatte. Aber die Marias waren allesamt sehr durchsetzungsstark, die hätten mich sicherlich schon vom Hof gefegt, wenn ich ihnen ungelegen käme. Escoba schnurrte wie aufs Stichwort und rückte wieder dichter an mich heran.

»Vor einem Jahr hatte ich jetzt Mittagspause«, sagte ich zu ihr.

Und ich hatte ein schönes Büro in einem Hochhaus, mit Klimaanlage, obwohl man die in Hamburg nicht wirklich brauchte, und einen Parkplatz in der Tiefgarage. Ich hatte dreißig Tage Urlaub im Jahr und es trotzdem geschafft, der unglücklichste Mensch der Welt zu sein. Innerlich. Äußerlich hatte man mir das nicht angesehen. Äußerlich war ich fit, durchtrainiert, leicht gebräunt, und wenn ich mir mein Instagram-Profil ansah, mit all den gefilterten, perfekten Lebensmomenten, die so viele Herzchen und nette Worte geerntet hatten, war mir mein Unglücklichsein eigentlich ein Rätsel. Außer, dass sich das alles nicht real angefühlt hatte. Es war mir so fremd vorgekommen, dieses Leben, weit entfernt von mir. Und irgendwie sinnlos.

Escoba sah mich aufmerksam an. Sie war eine exzellente Zuhörerin.

Maria kreuzte den Hof mit einer Kiste Gurken auf dem Arm. »Vacaciones, hä?«, rief sie ein wenig missmutig. Meine Vermieterin war wie diese Insel, sie versteckte ihr gutes Herz unter ganzen Bergen aus schroffem Gestein. Doch ich wusste, dass es tief da unten schlummerte, denn seit ich hier lebte, war sie beständig – heimlich – um mein Wohlergehen besorgt. So stellte sie in schöner Regelmäßigkeit einen knallroten Kochtopf in einer Kühlbox auf die unterste Treppe zu meinem Keller, in dem sie Essen für mich hortete. Mal waren es Marmeladenbrote, mal Mangos, Tomaten, süße Orangen oder kleine, schrumpelige Kartoffeln, aber immer köstlich. Das würde man ja nicht tun, wenn einem der andere völlig egal wäre. Und direkt nach meiner Ankunft war sie mit dem Bus in die Apotheke nach Porto Bello gefahren, um mir eine Flasche Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor unendlich zu kaufen, damit ich mit meiner milchweißen Haut unter der sengenden Sonne von La Palma nicht zu Holzkohle verbrutzelte.

»¡Nunca!«, rief ich zurück. Ich hatte keine Ferien. Ich hatte einfach nur mal zwei Stunden frei, bevor ich heute noch vier Stunden auf dem Foodtruck von Mareille stehen würde, um dann noch eine Runde mit meinen drei aktuellen Dogsitter-Hunden zu drehen und heute Abend zu der Party meines besten Freundes Malte zu gehen.

»Ich gebe mich dem Gefühl von absoluter Freiheit hin«, sagte ich laut, was Maria nicht verstand – selbst auf Spanisch nicht verstanden hätte – und sie nur verächtlich eine Augenbraue heben ließ, während sie jetzt dunkelrote Tomaten vor sich hertrug.

Sie sah nicht aus wie ein Mensch, der über die absolute Freiheit nachdachte. Sie wünschte sich sicher nicht, endlich so zu sein, wie sie wirklich war. Schließlich war sie ja schon jemand. Sie war Maria, die Gemüsefrau von Bajo, die Mutter von Maria 1 und die Tochter von Maria 2, die ohne Mann und mit sehr wenig Geld lebte und trotzdem alles am Laufen hielt. Und vielleicht glücklich war, weil sie einen Platz im Leben hatte. Sie war die Frau, zu der man ging, wenn man ein Problem hatte – also ein ernsthaftes Problem, wie einen entzündeten Schnitt im Handballen vom Obstschneiden, eine pflegebedürftige Mutter, eine kranke Ziege oder eine vom Sturm weggetragene Saat. Dann ging man zu meiner Vermieterin, und sie nahm sich der Sache an.

Nicht zu wissen, wer man war und was man wollte, war in Marias Augen sicherlich kein nennenswertes Problem. Vermutlich konnte sie sich das noch nicht mal vorstellen.

Wer ich war, würde ich aber sicherlich noch herausfinden. Am Ende würde alles gut werden. Daran glaubte ich fest.

Kapitel 2

Ich stand alleine neben dem modernen Küchenblock und beobachtete die vielen schön gekleideten Menschen, die zu Maltes Party aus dem fernen Hamburg angereist waren. Zwei Palmeros hatten sich mit einem Bier dicht nebeneinander auf das Sofa gesetzt und die Köpfe zusammengesteckt. Ich kannte sie vom Wochenmarkt. Marta verkaufte Gemüse, und Javier half mal hier und mal dort aus.

»Das nächste Mal müssen wir wohl gleich noch eine Kita anmieten.« Patrick, Maltes Mann, war neben mir aufgetaucht und drückte mir ein Glas eiskalten Weißwein in die Hand. Er war groß und schweigsam und für mich der Inbegriff eines Kapitäns, der auch auf stürmischer See das Ruder fest in der Hand hielt und sein Schiff sicher in den Hafen lenkte. Tatsächlich hatten er und Malte vor drei Jahren, beflügelt vom Passatwind und vom Kanarenstrom, eine Segelschule eröffnet, und der Laden brummte.

Malte, den ich gefühlt schon immer kannte, hatte entweder keine oder bunte Haare und konnte so schnell sprechen, dass ich manchmal nicht wusste, ober er deutsch oder spanisch mit mir redete.

Zusammen ergaben die beiden ein großartiges Team, und in den stillen Momenten in meinem Leben beneidete ich sie um diese Harmonie.

»Oder wir warten mit der nächsten Party, bis die Kinder erwachsen sind«, fügte er hinzu und nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier.

»Oh nein, was wird denn dann aus mir?«, rief ich und beobachtete, wie ein Papa mit gleich zwei kleinen Kindern auf dem Arm sich den Weg in die Küche bahnte. Zu den fünfzehn Erwachsenen im Raum gehörten mindestens ebenso viele Kinder. Wenn nicht mehr. Offenbar waren alle im letzten Jahr Eltern geworden. Überall kroch und krabbelte es.

»Juli, hey!« Der Mann mit den Kindern auf dem Arm war stehen geblieben und strahlte mich an. Ich strahlte vorsichtshalber zurück, hatte aber keinen blassen Schimmer, wer das sein könnte.

»Nimm doch mal einen.« Er drückte mir geschickt eines der in rosa gekleideten Kleinkinder in den Arm. Reflexhaft griff ich zu, während er sich aus dem Kühlschrank ein kaltes Wasser nahm. Respekt, dazu wäre ich mit einem kleinen Kind auf dem Arm ganz sicher nicht in der Lage gewesen.

»Du bist Juli aus Hamburg. Wir haben uns vor drei oder vier Jahren bei Malte getroffen und über das Leben philosophiert. Erinnerst du dich nicht? Ich bin Jasper.« Einhändig öffnete er die Flasche und goss sich ein Glas ein. Äußerst geschickt, der Mann.

Ja. Ich erinnerte mich. Damals hatte er lange, zottelige Haare gehabt und eine kaputte Jeans getragen. Heute hatte er eine dezente Stoffhose an, und sein braunes Haar war akkurat geschnitten. Ich lächelte ihn ein wenig steif an, während das Kind auf meinem Arm anfing, meine Blusenknöpfe genauer zu untersuchen. Und vermutlich gleich herausfinden würde, wie man sie öffnete. Kinder lernten ja schnell in diesem Alter.

»Du hattest keine Lust mehr auf deinen Versicherungsjob und wolltest auswandern. Offenbar hast du das auch durchgezogen.« Der Vater des lernfreudigen Kindes auf meinem Arm nickte anerkennend. Ich bewegte mich nicht, hielt nur das Kind fest. Es verströmte einen sonderbar warmen, angenehmen Geruch nach Marmelade und Milch.

»Und du wolltest dir einen Camper kaufen und durch Neuseeland reisen«, sagte ich schließlich. Jasper lachte, als hätte ich einen Witz gemacht. Dabei haben wir uns damals, in einer lauen Augustnacht auf Maltes Balkon, die Köpfe heißgeredet. Über unsere Träume und den Sinn des Lebens und die Tretmühle, in der wir uns jeden Tag wiederfanden. Jasper hatte mir ein Foto von dem Camper auf dem Handy gezeigt, und seine ausgeklügelte Reiseroute gleich noch dazu.

»Warst du in Neuseeland?«, fragte ich weiter, nun doch neugierig.

Wieder lachte er. Dann deutete er mit dem Kinn auf die beiden Kinder. Eins auf seinem, eins noch immer auf meinem Arm. »Das Leben kam dazwischen. Kurz nach unserer Balkon-Session habe ich Annika kennengelernt, und dann ging alles ganz schnell. Zack, waren wir Eltern. Und gebaut haben wir auch gerade. In Volksdorf, ein wirklich schöner Stadtteil von Hamburg.«

Das Mädchen auf meinem Arm bearbeitete weiterhin die Knöpfe an meiner Bluse. Vorsichtig drehte ich mich ein wenig seitlich, nur für den Fall, dass das Kind tatsächlich schon wusste, wie man sie öffnete.

Doch das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Jasper nickte gerade über meinen Kopf hinweg jemandem zu und machte einen Kussmund. »Ich bin jetzt Mitte dreißig«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Der beste Zeitpunkt für eine Familie. Und seien wir ehrlich. Das ist doch das Wichtigste im Leben. Die eigene Familie.«

Ich war mir sicher, dass er nicht taktlos sein wollte. Ich meine, von meiner Familie war weit und breit nichts zu sehen, aber er wusste ja nicht, ob nicht vielleicht im Nebenzimmer mein Mann gerade die Drillinge in den Schlaf sang.

»Und, was machst du hier, Juli? Auf dieser wunderschönen Insel? Hängst du den ganzen Tag am Strand rum?«, fragte er, doch ich merkte, dass hinter mir etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Ich lebe jetzt seit drei Monaten hier«, antwortete ich langsam, während Jaspers Lippen lautlos »Mach ich!« formten. Dann grinste er über meinen Kopf hinweg.

»Und ich arbeite. Es läuft gut. Ganz prima«, fuhr ich tapfer fort, obwohl Jasper mir nun gar nicht mehr zuhörte.

»Ich bring die beiden mal kurz zur Mama«, sagte er im nächsten Moment und nahm mir das Mädchen ab. Sofort raffte ich mit einem Handgriff meine Bluse vorne zusammen, denn die Kleine hatte tatsächlich mit kontinuierlicher Beharrlichkeit zahlreiche Knöpfe geöffnet. Aber ich hätte auch komplett nackt sein können, Jasper wäre es nicht aufgefallen.

Ich sah ihm nach, als er sich zu einer langhaarigen Frau auf das Sofa setzte. Vermutlich hatte er mich in genau diesem Moment schon wieder vergessen. Zügig schloss ich die Knöpfe, griff nach meinem Weinglas und flüchtete auf einen der Barhocker am Küchentresen.

Die Türen zur Terrasse standen weit offen, und hinter den Gästen glitzerte der Atlantik in der Abendsonne. Die Felsen ragten schroff und dunkel daraus hervor, und weit entfernt sah man die Wolken, die der Wind mit sich trieb, bis sie an den Bergen der Insel hängen blieben.

Tapfer hielt ich mich an meinem Weinglas fest. Ich wollte nicht mehr hier sein, bei all diesen perfekten Menschen mit ihren offenbar perfekten Lebensläufen. Die alles richtig zu machen schienen. Kinder bekamen, ihre Jobs machten, auch wenn sie sie schrecklich fanden, und nicht einfach abhauten, um sich selbst zu finden und am Ende Sandwiches zu verkaufen. Und Hunde auszuführen. Die Party zu verlassen hätte allerdings einer Entscheidung bedurft, und die konnte ich gerade nicht treffen. Stattdessen saß ich da, nippte an meinem Wein und beobachtete, wie die Sonne langsam den Horizont küsste und sich anschickte, ins Meer zu tauchen.

Es klingelte, und Malte eilte an mir vorbei zur Tür. Er strahlte über das ganze Gesicht. Malte liebte Menschen. Vorzugsweise viele auf einem Haufen. Schon ihm zuliebe konnte ich nicht einfach die Flucht ergreifen, er war schließlich mein bester Freund.

Als er zurückkam, hatte er einen Mann im Schlepptau, den er in seiner gewohnten Manier mit einem Wortschwall beglückte. »Der Wind war wirklich gut und das hat alles toll geklappt und der Wasserhahn tropft auch nicht mehr und das ist Juli! Sie hat Zauberkräfte.« Ein wenig atemlos blieb er vor mir stehen und präsentierte mich dem Nachzügler wie eine Praline auf einem Tablett.

»Habe ich nicht«, murmelte ich peinlich berührt, aber der neue Gast hatte eh keinen Blick für mich, sondern sah an mir vorbei aus dem Fenster zum Meer, wo die Sonne jetzt mit Rosa und Rot in allen Tönen die Welt zum Leuchten brachte, was für La Palma eher ungewöhnlich war. Angeblich war das Farbspektakel beim Sonnenuntergang der Luftverschmutzung geschuldet, und hier war alles so sauber, dass die meisten Sonnenuntergänge recht sang- und klanglos abliefen. Aber heute nicht, heute brachte die Sonne alles zum Leuchten, und den neuen Gast gleich mit, denn sie schickte uns ihre Strahlen mitten durch die weit geöffneten Fenster in den Raum.

Der Mann war einen ganzen Kopf größer als Malte und trug einen dunklen Anzug, das Jackett locker über dem Arm. Das strahlend weiße Hemd unterstrich seine tiefe Bräune, und seine blauen Augen leuchteten in der Sonne, was fast ein wenig gespenstisch wirkte. Ich sah, wie einige der anwesenden Damen trotz Kleinkindern und Babys auf dem Schoß die Hälse reckten.

Malte schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln. »Doch. In mancher Beziehung hast du sehr wohl Zauberkräfte«, sagte er leise und fügte an den gutaussehenden Kerl gewandt hinzu: »Amüsier dich. Es gibt Wein und Tortilla, von Patrick persönlich zubereitet.« Er klopfte ihm einmal auf die Schulter, grinste mich an und verschwand. Wir blieben allein am Küchentresen zurück. Immerhin warf mir der Neuankömmling nun endlich einen knappen Seitenblick zu. Und dann ganz unerwartet noch einen. Und dann sagte er: »Hola, soy Quinn.«

»Juli. Hallo«, antwortete ich und setzte ein Lächeln auf.

»Und, Juli, kommst du auch aus Hamburg?«, fragte Quinn mich, während er sich ebenfalls ein Glas Weißwein eingoss, einen Blick auf die Tortilla warf, die Stirn runzelte und sich kurzerhand ohne Tortilla neben mich setzte.

»Jo. Hamburg. Du vermutlich auch? Hier scheinen alle aus Hamburg zu kommen«, erwiderte ich.

Er schüttelte knapp den Kopf. »Ich komme aus der tiefsten Provinz im Norden, lebe aber schon eine ganze Weile hier. Und seit wann bist du hier, oder bist du auch nur zu Besuch?« Und endlich sah er mich direkt an. Blaue Augen. Und Sommersprossen auf der Nase und den Wangen. Fein verteilte, kleine Punkte, die aufgrund seiner Bräune nicht aufgefallen waren. Jetzt, wo er so dicht neben mir saß, konnte ich sie allerdings deutlich erkennen. Stand ihm gut. Wesentlich besser als mir, obwohl ich mich nach über dreißig Jahren damit abgefunden hatte. Derartig abgelenkt, musste ich über die richtige Antwort einen Moment nachdenken.

»Ich lebe jetzt seit drei Monaten hier auf der Insel«, sagte ich schließlich und hoffte, dass er es dabei beließ.

»Magst du es?«, fragte er und hielt sich damit nicht an die übliche Gesprächschoreografie der Auswanderer auf dieser Insel. Die wollten immer zuerst wissen, womit man sein Geld verdiente. Und ob man davon leben könne. Seine Frage gefiel mir besser.

»Ich liebe das Meer. Ich mag die dunklen Felsen, die struppige Landschaft, den Geruch der Wärme. Die saftigen Tomaten, die kleinen, süßen Bananen und die Palmeros. Die entweder Maria oder Pedro heißen und den vielen Deutschen auf der Insel freundlich gesonnen sind. Ich mag übrigens auch Patricks Tortilla.« Ich deutete auf die Pfanne auf dem Herd, der Quinn nur einen abfälligen Blick zugeworfen hatte.

Er grinste und entblößte dabei eine klitzekleine fehlende Ecke seines Schneidezahns. Ich grinste zurück. Breit. So breit, dass es ihm eigentlich nicht entgehen konnte. »Und du? Magst du es?«, fragte ich zurück, einfach weil es eine gute Frage war.

»Ich mag die Sonnenuntergänge. Überhaupt die Sonne. Die Häuser. Die Farben der Häuser, und ihre großen, überdachten Terrassen. Und die Sprache. Ich liebe Spanisch und habe manchmal das Gefühl, mich darin besser ausdrücken zu können als in meiner Muttersprache.« Jetzt endlich wanderte sein Blick ein wenig nach unten, und ich sah den Moment, in dem er die kleine, fehlende Ecke an meinem Schneidezahn entdeckte. Er beugte sich näher zu mir, deutete auf meinen Schneidezahn, dann auf seinen. »Alle sagen, ich soll das reparieren lassen. Hatte ich auch schon mal, aber da hält nichts. Man müsste es überkronen, und das will ich nicht«, sagte er.

»Ja, ich finde auch, dass man so einen Charakterzahn nicht einfach glattbügeln sollte. Das ist doch ein Alleinstellungsmerkmal.«

Wieder lachte er und wirkte zum ersten Mal seit Beginn unserer Unterhaltung entspannt.

»Er kann lachen!« Malte war vollbepackt mit leeren Weinflaschen neben uns aufgetaucht und betrachtete Quinn derartig erstaunt, als könne er diese Tatsache nicht fassen. »Hast du deine Zauberkräfte spielen lassen? Ich wusste nicht, dass er lachen kann«, erklärte er mir. »Hätte ich das gewusst, hätte ich ihn vielleicht gar nicht eingeladen.«

Quinn verdrehte leicht die Augen, schnappte sich seinen Wein und ging. Ohne ein weiteres Wort.

Kapitel 3

Quinn ward den ganzen Abend über nicht mehr gesehen. Trotz gemeinsamer Sommersprossen und kleinem Schaden am Schneidezahn. Ich fand das außerordentlich bedauerlich.

Als die Sonne endgültig hinter dem Horizont versunken war, beschloss ich, dass es Zeit war zu gehen. Die vielen Kinder lagen schlafend überall herum, die vielen Erwachsenen sprachen über besagte Kinder, ihre Häuser, ihre Jobs. Als Jasper dann anfing, mich zu löchern, wie ich denn krankenversichert sei und wie ich für meine Rente vorsorgen würde, packte ich meine Sachen, einschließlich einer mit Tortilla gefüllten Tupperschüssel, und lief die zwei Stockwerke runter zu meinem Fahrrad.

Vor dem Haus empfingen mich tiefe Dunkelheit und der liebliche Duft der Kiefernwälder, die weiter oben am Hang wuchsen. Die neue ein- und zweigeschossige Wohnanlage fügte sich harmonisch in den Landstrich ein – keine Selbstverständlichkeit in Anbetracht des Baubooms der vergangenen Jahre, der die anderen Kanarischen Inseln heimgesucht hatte.

Aber Bauen auf La Palma war schwierig, und es mussten hohe Auflagen eingehalten werden, was dem Landschaftsbild aber mehr als zuträglich war. Die vielen Naturschutzgebiete taten ihr Übriges, und es blieb zu hoffen, dass La Isla Verde, wie die Insel auch genannt wurde, ihr ursprüngliches Gesicht weitestgehend behalten würde.

Hier oben vermischten sich die Frische des Atlantiks und der erdige Duft des Waldes. Ich atmete tief ein und merkte im selben Moment, wie müde ich war. Bei dem Gedanken, jetzt noch die vier Kilometer bis nach Bajo zu radeln, wurde ich gleich noch müder. Ich hatte großes Glück, dass sich zwischen Bajo und Porto Bello keine allzu großen Steigungen befanden, denn sonst hätte mir auch ein Fahrrad nicht weitergeholfen. La Palma galt nicht umsonst als die steilste Insel der Kanaren, aber gerade dieser Fleck, den ich mir für mein neues Leben ausgesucht hatte, war mit dem Rad gut zu bewältigen.

Ich brauchte ein Weilchen, um das eingerostete Schloss an meinem Rad zu öffnen, dann befestigte ich es an der Mittelstange meines uralten Mountainbikes, das ich von meinem Freund Pedro, dem Postboten von Bajo, geschenkt bekommen hatte. Es war mein Schatz, denn ohne dieses Rad wäre ich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, die ausgerechnet zwischen Bajo und Porto Bello in etwa so oft fuhren, wie in Hamburg die Sonne schien.

Was aber auch hieß, dass ich bei tiefster Nacht auf der Insel unterwegs war, und als waschechte Großstadtpflanze war mir das sehr unheimlich. Nicht dass es hier große, wilde Tiere gab. Oder Massenmörder. Aber irgendwer fiel dem ausgebrochenen Esel – die gab es hier nämlich durchaus – oder dem Killer ja immer als Erstes in die Hände. Für diesen Fall hatte ich stets Helmut bei mir. Mein mörderisches Pfefferspray. Laut der Amazon-Bewertungen das beste seiner Art.

Ich wollte mich gerade in den Sattel schwingen, als die Haustür neben mir erneut ins Schloss fiel.

»Wo willst du denn hin?« Quinn war im Schein der Außenbeleuchtung aufgetaucht.

»Nach Hause«, antwortete ich knapp.

»Du hast nicht ernsthaft vor, bei tiefer Nacht mit dem Rad über die Insel zu fahren, oder?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Genau danach«, antwortete Quinn trocken, und fügte ohne zu zögern hinzu: »Ich bringe dich gerne nach Hause.« Ein durchaus verlockendes Angebot. Aber ich schüttelte den Kopf. Er hatte mich vorhin schließlich einfach sitzen lassen.

»Juli. Es sind hier schon schwere Unfälle auf der Landstraße passiert. Ich bringe dich wirklich gerne nach Hause.«

So gerne, wie du dich vorhin schlagartig in Luft aufgelöst hast, wollte ich ihn fragen, beließ es dann aber doch bei einem scharfen Blick aus zusammengekniffenen Augen.

Er räusperte sich. »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?«, fragte er leise, und jetzt musste ich doch lächeln.

»Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleit nach Hause gehen«, antwortete ich kühl. Sollte der Mann, genau wie ich, eine Schwäche für die guten alten Klassiker haben? Er grinste. »Dein Fahrrad passt in meinen Kofferraum«, erwiderte er und drückte auf seinen Schlüssel. Ein Auto ganz in der Nähe meldete sich diensteifrig mit einem Blinken klar zum Start.

»Du könntest ein Meuchelmörder sein und eine Axt in deinem Kofferraum haben, um mich zu meucheln. Was ich übrigens nicht ohne Weiteres mit mir machen lassen würde. Ich bin stets bewaffnet.«

»Ich habe nichts anderes von dir erwartet«, antwortete er und streckte eine Hand aus, um nach meinem Rad zu greifen. Ich ließ ihn. Weil der Weg nach Bajo so weit war. Weil sich tiefe Nacht über die Insel gesenkt hatte und mir jetzt schon fast die Augen zufielen. Ich konnte nicht ausschließen, dass ich ermattet am Straßenrand von meinem Mountainbike gesunken wäre, um im Graben ein Nickerchen zu machen.

Mein Rad passte tatsächlich in Quinns Kofferraum, und er hob es dort hinein, als wäre es ein Wattebausch.

»Nido«, stand auf der Heckklappe des riesigen Geländewagens, und darunter eine Adresse in Porto Bello und eine Handynummer.

»Deine Firma?« Ich schlüpfte auf den Beifahrersitz. Das Auto sah von außen aus wie ein luxuriöser Trecker, aber von innen offenbarte es sich als Hort des Chaos. Ich musste erst diverse Akten vom Sitz heben und dann meine Füße vorsichtig in den Berg aus Papier, leeren Wasserflaschen, Zeitungen, Stiften und Büchern schieben.

»Ja. Nido gehört mir. Tut mir leid wegen dem Chaos hier. Irgendwie habe ich die Kontrolle über diesen Wagen verloren«, sagte Quinn, der sich gerade neben mir anschnallte. Er wirkte ernsthaft peinlich berührt.

»Macht nichts«, sagte ich wohlwollend. »Ich mag das«, fügte ich noch hinzu, denn Quinn hatte begonnen, Dinge aus der Ablage in der Mittelkonsole nach hinten auf den Sitz zu werfen.

»Ich eher nicht so«, sagte er, ließ aber endlich den Motor an. Rückwärts fuhr er aus der Parklücke und ließ den Wagen dann auf die stockdunkle Landstraße rollen. Die neuen Häuser auf dem Berg lagen wirklich am Hintern der Insel, die ja schon grundsätzlich nicht für ihre dichte Bebauung bekannt war.

Quinn gab Gas, und ich lehnte mich in dem äußerst bequemen Sitz zurück. »Wo soll es eigentlich hingehen?«, fragte mein Chauffeur und drückte gleichzeitig einen Knopf am Lenkrad, woraufhin leise »Happier« von Ed Sheeran aus den Lautsprechern drang.

»Bajo«, erwiderte ich. Quinn warf mir einen Seitenblick zu, was ich in der Dunkelheit, die uns umgab, nur merkte, weil sich die kleinen Lichter des Armaturenbretts in seinen Augen spiegelten. Die Insel war nachts dunkler als der Rest der Welt. »Du wolltest mit dem Fahrrad nach Bajo fahren?«

Meine Güte. Diese vier Kilometer. Der Mann neben mir schien aber äußerst besorgt. »Alle tun das. Niemand findet das komisch«, erklärte ich ihm, und er brummte irgendetwas Unverständliches. Wir bogen auf die große Landstraße ab, die einmal um die ganze Insel führte, und Quinn beschleunigte. Ich lauschte Eds samtiger Stimme und dachte krampfhaft darüber nach, wie ich ein Gespräch in Gang bringen konnte. Sonst würden wir wohl schweigend durch die Nacht rauschen.

»Erzähl mir was von dir«, setzte ich an, und im selben Moment kreischten die Bremsen. Ich wurde in den Gurt geschleudert. Der Wagen verlor für einen Moment den Kontakt mit der Straße. »Himmel«, keuchte ich, als wir schließlich schlitternd am Straßenrand zum Stehen kamen.

Ich spürte eine Hand an meiner Schulter. Quinns Hand. »Alles okay?« Ich nickte und hoffte, dass das stimmte. Dann ließ er mich los, den Blick suchend auf die Straße gerichtet.

»Was war das?«, fragte ich und war über das Zittern in meiner Stimme selber erstaunt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Irgendetwas ist über die Straße gelaufen. Und es war groß. Bleib hier!« Er schnallte sich ab, schaltete die Warnblinkanlage ein, stieg aus und war verschwunden, bevor ich etwas erwidern konnte. Verdutzt beobachtete ich, wie er mithilfe seiner Handytaschenlampe um das Auto herumlief. Hatte er gerade gesagt: »Bleib hier«? Mit Ausrufungszeichen am Ende?

Ich schnallte mich ebenfalls ab, griff mir mein Handy, aktivierte die Taschenlampe und stieg aus. Egal, was sich da draußen rumtrieb, es schien weitaus besser zu sein, sich gemeinsam der potentiellen Gefahr zu stellen.

Quinn kam gerade geschickt zwischen zwei Kiefern hervorgeklettert, die dicht an der Straße standen. »Du solltest doch im Wagen warten«, sagte er, und den strengen Unterton in seiner Stimme bildete ich mir sicher nicht nur ein.

»Ich habe Zauberkräfte, schon vergessen? Mir passiert nichts. Und dir auch nicht, solange du in meiner Nähe bleibst.«

Doch Quinn fand das nicht witzig. Irritiert sah er mich an und schien über eine passende Antwort nachzudenken, als es hinter uns meckerte. Laut und energisch. Wir fuhren herum. Nur wenige Meter hinter uns glitzerten die Augen einer riesigen Ziege im Schein der Taschenlampen. »Kann sie das gewesen sein?«, fragte ich und trat neben Quinn.

»Bestimmt«, murmelte er und machte einen Schritt auf das Tier zu, das mit leicht gesenktem Kopf dort stand und uns beobachtete.

»Sieht unverletzt aus«, sagte ich. »Und sauer.«

Quinn lachte auf und sah jetzt mich an. »Am Auto ist nichts. Kein Blut oder Fell. Ich denke, ich habe sie nicht erwischt. Nur empfindlich in ihrer Nachtruhe gestört.«

»Du hattest recht. Die Nacht hier ist gefährlich. Gut, dass du mich fährst.«

»Ich bin mir manchmal nicht ganz sicher, ob du mich verarschst oder das ernst meinst«, sagte er und drehte sich zum Wagen.

»So ganz sicher bin ich mir da selber nicht«, murmelte ich und folgte ihm.

Als Quinn den Wagen anließ, ertönte ein ziemlich unmelodisches Klingeln, und Quinn brummte etwas Unverständliches. »Ich muss noch schnell tanken«, sagte er schließlich. »Irgendjemand hat die Kiste schon wieder leergefahren. Morgen früh schaffe ich es nicht, da muss ich um sieben auf der Baustelle sein. Ich hoffe, das ist okay? Geht es dir gut?«, fragte er und gab sanft Gas.

»Klar.« Dieser Mann war wirklich erstaunlich fürsorglich. Ich lehnte den Kopf an die Stütze und genoss das Brummen des kraftvollen Motors. Ob er mir gleich noch eine Decke reichen würde? Oder wahlweise ein Nackenkissen? Vielleicht würde er mich auch direkt bis ins Bett tragen, wenn ich ihn darum bat.

Quinn steuerte die einzige um diese Uhrzeit noch geöffnete Tankstelle in einem Gewerbegebiet etwas außerhalb von Porto Bello an. Gewerbegebiete waren überall auf der Welt hässlich, sogar auf der Isla Bonita. Hier standen einige der üblichen Wellblechhütten und Industriebauten, es gab staubigen Sandboden, schlecht geteerte Straßen, und einige der Gewerbebetriebe hatten sich mit hohen Drahtzäunen abgeschottet. Ich wusste, dass hier so einige Wachhunde ihr tristes Dasein fristeten und nur nachts aus ihren kleinen Verschlägen herauskamen. So wie auch die vielen Jagdhunde im übrigen Land, die nach einer Saison aussortiert und bestenfalls einfach irgendwo angebunden wurden, waren diese Tiere reine Gebrauchshunde, um die sich niemand groß scherte. Wenn sie Glück hatten, landeten sie über den Tierschutz irgendwann in Deutschland oder anderswo und konnten so an eine neue Familie vermittelt werden. Manche von ihnen hatte ich in Hamburg im Tierheim getroffen. So schön die Insel auch war, es war nicht alles Gold, das hatte ich schnell festgestellt.

Quinn manövrierte seinen Wagen dicht an die Zapfsäule heran. Ich sagte mit dunkler Stimme: »Ich bleibe natürlich im Wagen. Keine Alleingänge.«

Quinn, der den Schlüssel schon aus dem Schloss gezogen hatte, hielt inne. Es zuckte in seinem Mundwinkel. »Ich weiß nicht, ob dir das schon mal jemand gesagt hat, Juli«, sagte er mit exakt dem gleichen Tonfall. »Aber du hast einen enormen Unterhaltungswert. Bleib im Wagen, Baby. Nicht, dass hier Killerziegen herumstreunen.«

Mit diesen Worten stieg er aus. Ich hörte ihn am Tankdeckel hantieren und kurz darauf die Zapfsäule anspringen.

Während Quinn tankte, wühlte ich mein Handy aus meiner Umhängetasche und zögerte einen Moment, bevor ich es entsperrte. Ein kleiner roter Kreis zeigte mir eine neue Nachricht an. Schweren Herzens tippte ich darauf. Meine Mutter.

Jetzt melde dich doch bitte mal! Papa wartet auf eine Antwort wegen dem Jobangebot in Pinneberg. Mama

Schnell schob ich das Handy wieder zurück in die Tasche. Das Jobangebot in Pinneberg bestand aus einem Vierzig-Stunden-Job am Empfangstresen eines Versicherungsmaklers. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir schlagartig ganz komisch im Bauch. Bestimmt war das eine gute Stelle – wenn die Bezahlung nicht so niedrig wäre, dass ich wieder zu meinen Eltern ziehen müsste. Und der Empfangstresen nicht in einem düsteren Vorraum ohne Fenster stünde. Und ich dafür in zwei Wochen wieder nach Deutschland ziehen müsste. Nachdem ich mir das Geld für das Flugticket von meinen Eltern geliehen hätte.

Vermutlich raufte meine Mutter sich mittlerweile die Haare, und mein Vater strich schweigend den Zaun, die Garage oder deckte das Dach neu. Er renovierte gewöhnlich, wenn ihm etwas nicht passte. Es war nicht so, dass sie es direkt aussprechen würden. In meiner Familie wurde grundsätzlich nur sehr wenig gesprochen, aber meine Eltern fanden mich ziemlich seltsam und aus der Art geschlagen. Während meine Schwestern ihr Leben im Griff hatten und großartige Dinge taten, hatte ich alles hingeschmissen und war vor meinem eigenen Leben davongelaufen.

Vor einem hochangesehenen Job in einer hochangesehenen Firma, die mir eine prestigeträchtige Wohnung in bester Wohnlage und einen Mini Cooper beschert hatte. Vom Verkaufserlös des Autos lebte ich zurzeit.

Das waren alles Dinge, an die ich nicht gerne dachte, deswegen war ich froh, als Quinn wieder neben mir auf den Sitz glitt und mich damit aus meinen unerfreulichen Gedanken riss. »Juli …« Er machte keine Anstalten, sich anzuschnallen, und sah mich an. »Okay. Das ist mir jetzt enorm peinlich. Aber ich habe offenbar meine Visa-Karte irgendwo verloren. Ich … äh … kann nicht zahlen. Sie lassen sich nicht darauf ein, den Ausweis als Pfand zu behalten. Deswegen jetzt die äußerst unangenehme Frage: Hast du Bargeld?«

Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Gesicht einen harten Zug bekam. Erst mit Verzögerung merkte ich, dass er sich tatsächlich schämte. Ich griff in meine Tasche und wühlte nach meinem Geldbeutel. Meine Lieblings-Dogsitter-Auftraggeberin Frau Mardens, die leider mitsamt ihres perfekt ausgebildeten Border Collies zurück nach Deutschland ging, hatte mir gestern einen ordentlichen Batzen Abschiedstrinkgeld in die Hand gedrückt. Die vierzig Euro lagen liebevoll zusammengefaltet in dem ansonsten leeren Fach, und ich zog sie heraus. Meine Kreditkarte hatte ich in einer blaugeblümten Butterdose unter dem Waschbecken in meinem Souterrain versteckt, denn ich neigte dazu, unqualifiziert Geld auszugeben, das ich nicht hatte.

»Reicht das?«, fragte ich und drückte ihm die Scheine in die Hand.

»Nein, aber mit den Restbeständen in meiner Hosentasche dürfte es klappen.« Ich konnte förmlich spüren, wie es ihm widerstrebte, die Scheine auch tatsächlich entgegenzunehmen. Er zögerte und blinzelte. »Ich gebe es dir gleich morgen zurück.«

»Oder übermorgen«, antwortete ich. Schließlich hatte ich jetzt ja Tortilla in rauen Mengen, und der Kaffee reichte auch noch. Mein Leben könnte schlimmer sein.

»Morgen«, sagte er fest.

»Echt, kein Problem. Es eilt nicht«, erwiderte ich.

Er atmete tief durch. »Doch. Ich komme morgen bei dir vorbei.«

»Wirklich. Es ist kein Problem!«

»Ist es doch«, sagte er. »Morgen. Ich bringe dir das Geld morgen vorbei.«

Du meine Güte, so groß war die Insel nun auch nicht, dass ich davon ausgehen musste, dass er sich mit der Tankfüllung absetzte und ich das Geld nie wiedersah. Ich betrachtete ihn genauer im grünen Schein der Tankstellenbeleuchtung. Quinn wirkte angespannt, wie ein Pfeil kurz vor dem Abschuss.

»Ist gut«, gab ich mich schließlich geschlagen.

»Danke«, murmelte er und stieg aus. Als er zurück zur Kasse ging, sah man die Verspannung in seinem ganzen Körper. Als hätte er mich gerade um eine Niere gebeten. »Okay, dann eben morgen«, sagte ich in die Stille des Autos hinein. Würde ich ihn halt noch mal wiedersehen. Es gab schlimmere Schicksale.

Auf dem weiteren Weg nach Bajo fielen mir vor Müdigkeit fast die Augen zu. Quinn schwieg, und so tat ich es ihm gleich. Wenige Minuten später hievte er mein Rad aus dem Kofferraum, und wir verabschiedeten uns voneinander. Züchtig mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

Zurück in meinem Keller, kochte ich mir erstmal einen Gute-Nacht-Tee. Ich bildete mir ein, dass diese bunt verpackten Teesorten mit den verheißungsvollen Namen tatsächlich das brachten, was sie versprachen, weswegen ich sie auch direkt aus Deutschland importierte. Glück, Seelenruhe oder Bester Nacht-Schlaf hatten bis jetzt zwar noch nicht funktioniert, aber ich war hartnäckig. Außerdem war das abendliche Teekochen in meiner rosafarbenen Kanne, die ich mir aus einem Urlaub in Cornwall mitgebracht hatte, einfach ein schönes Ritual.

Bei meiner fluchtartigen Reise auf die Insel hatte ich in meinen beiden Koffern zwei Kannen und sieben Tassen mitgebracht. Darüber hinaus noch eine Sammlung bunter Bänder, die man schmückend um die Wasserleitungen in meinem Keller winden konnte, eine Kiste mit Bastelkram, eine alte Knopfsammlung, zwei Bettbezüge – beide in Rosa mit bunten Blumen drauf –, eine alte Zuckerdose und einen Bilderrahmen, in dem der Spruch stand:

Da es förderlich für die Gesundheit ist,habe ich beschlossen, glücklich zu sein.Voltaire

Der hing jetzt über der Tür und erinnerte mich täglich daran, warum ich Deutschland verlassen hatte.

Die Knisterfolie, in die ich alles sorgfältig verpackt hatte, bewahrte ich unter meinem Bett auf. Für die Rückreise. Ich würde nicht einen einzigen meiner Lieblingsgegenstände zurücklassen. Die Sachen waren vielbenutzt und bildeten mein Sicherheitsnetz in dieser Welt. An meiner blauen angeschlagenen Blümchentasse hatte ich mich im Büro festgehalten, wenn ich nicht weiterwusste. Was ziemlich oft der Fall gewesen war. Vor dem Abi und vor meiner Fahrschulprüfung hatte ich mich ebenfalls an ihr festgehalten. Sie war meine Superheldentasse. Die mir aber leider auch keinen seligen Schlaf bescherte.

Ich war die Schlaflose in Bajo. Als hätte ich diese liebgewonnene Angewohnheit des Schlafens einfach abgelegt. Stattdessen las ich tonnenweise Romane, starrte die Decke an und dachte über das Leben nach. Was nicht hilfreich war. Eher im Gegenteil. Weil sich seit geraumer Zeit in meinem Kopf ein fetter Knoten gebildet hatte, durch den die Gedanken einfach nicht durchkamen.

Ich goss den heißen Tee in die blaue Tasse, pustete einmal über die dampfende Oberfläche und gab einen kleinen Schuss Honig dazu. Mit einem meiner beiden Löffel, Leihgaben von Maria, rührte ich um, dann schlüpfte ich in meine Schlafhose und das ärmellose Oberteil. Auf dem Weg ins Bett löschte ich alle Lichter, bis nur noch die kleine Nachttischlampe brannte. Sie war rosa, und auf ihrem zarten Schirm tummelten sich viele kleine Elfen, die zauberten, tanzten und generell sehr glücklich zu sein schienen. Die Lampe hatte ich mir vor vielen Jahren von meinem ersten eigenen Taschengeld auf einem Flohmarkt gekauft, und seitdem begleitete sie mich. Ihr Schirm hing schief, und sie hatte hartnäckige Ketchupflecken an der ehemals weißen Bordüre, weil meine doofe Schwester sie einmal in einem Streit vom Nachttisch gefegt hatte. Direkt hinein in einen Pommes-Ketchup-Schlachtfeld-Teller neben dem Bett.

Ich setzte mich auf die Bettkante und nippte an meinem Tee. Es war absolut still um mich herum. Die ganze Insel war in der Nacht still und dunkel. Am Himmel sah man sämtliche Sterne, die das Firmament zu bieten hatte, was vielleicht auch daran lag, dass Flugzeugen nachts der Überflug verboten war. Und leise war es, weil die Menschen hier nachts schliefen. Also alle außer mir.

Ich griff mir meinen Reader und drehte ihn unschlüssig in der Hand hin und her. Früher hatte ich mich ins Bett gelegt, mir die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, die Augen geschlossen und geschlafen. Aber seit der Sache mit Isabella ging das nicht mehr. Etwas hielt mich wach. Trieb meinen Puls in die Höhe, verhinderte, dass ich in den Schlaf fand. Seufzend legte ich den Reader wieder unter die Elfenlampe mit den Ketchupflecken und mich daneben auf das Bett.