Glücksschweine - Markus Liske - E-Book

Glücksschweine E-Book

Markus Liske

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Beschreibung

Berlin, Mitte der Neunzigerjahre. Der Germanistikstudent Max, sein Freund Marvin und dessen Bruder Micha träumen von einem Boheme-Leben, sie lesen Peter Weiss, Gottfried Benn oder Lautréamont und schreiben – doch all das reicht ihnen nicht. Sie streben nach einer höheren Wahrheit. Dass Marvin depressiv und suizidgefährdet ist, bemerken seine Freunde nicht, denn jeder ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Max ist mit Nina zusammen, möchte aber eigentlich mit Pebbles zusammen sein, die eigentlich mit niemandem zusammen sein möchte. Um eine Entscheidung zu treffen und in Angkor seine Wahrheit zu suchen, flieht Max nach Kambodscha. Nach seiner Rückkehr steht er vor den Scherben seines bisherigen Lebens und flieht erneut – diesmal in den Drogenrausch. Berauscht streift er durch seinen Alltag und verliert jede Hemmung. Markus Liske hat mit seinem mitreißend erzählten Roman "Glücksschweine" ein Panorama der Neunzigerjahre geschrieben, ohne Beschönigung und moralisch Verbrämtes. Es ist eine Reise in das "Herz der Finsternis", das direkt vor der Haustür liegt.

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Markus Liske

GLÜCKS- SCHWEINE

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Widmung
Glücksschweine lesen...
Holiday in Cambodia
Null
Schlaflos in Wilmersdorf
Nothing. Anything. The sea
Solitär
Die Hölle so schön
Minenfelder und Labyrinthe
Godot?
Rote Stühle
Impressum und Copyright

Für Thommes, ohne den ich mit diesem Buch nie begonnen hätte, und für Manja, ohne die es niemals fertig geworden wäre.

Hier sind die Neunziger – erinnerst du dich noch?

Rein kalendarisch betrachtet, waren sie das letzte Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts des letzten Jahrtausends. Doch was bedeutet das schon? Es sind die Ereignisse, an die wir uns erinnern, nicht die Daten. Aus der Abfolge der Ereignisse entsteht Geschichte, und erst sie macht Entwicklung an Zeiträumen fest. Wenn wir uns an Dekaden erinnern, so haben wir die kalendarische Arithmetik längst um den Faktor der Ereignisse erweitert und uns in die unsicheren Gefilde von Erinnerung und Interpretation begeben, im Großen wie im Kleinen.

Die historischen Siebziger etwa könnte man als den Zeitraum zwischen Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 und demNATO-Doppelbeschluss 1979 beschreiben. Man könnte auch sagen, ihr Anfang war das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 und ihr Ende der 18. Oktober 1977 in Stammheim. Oder man macht es an Musik fest, zum Beispiel an »Hello, I Love You« von den Doors und »Bela Lugosi’s Dead« von Bauhaus – Popkultur ist ja ohnehin nur Behauptung. Meine persönlichen Siebziger begannen 1973 mit dem Umzug in ein anderes Bundesland und endeten 1983, als ich von einer Klassenfahrt nach Bonn, bei der wir zufällig in eine der großen Friedensdemonstrationen geraten waren, mit der Erkenntnis zurückkam, dass die Welt wohl noch zu meinen Lebzeiten untergehen würde. Dennoch gibt es ein diffuses Bild dieser Dekade, ein mediales Portfolio, das uns allen das Gefühl gibt, wir wüssten was gemeint ist, wenn von den Siebzigern die Rede ist.

Was nun die Neunziger betrifft, sagen manche, sie seien der Zeitraum zwischen zwei Ereignissen, an die sich jeder erinnert: dem Fall der Berliner Mauer und dem Fall der Twin Towers in New York. Für mich dagegen endeten die Neunziger brav kalendarisch in der Silvesternacht 1999, als mit der Zahl 2000 das anbrach, was mir seit jener Friedensdemo in den frühen Achtzigern als unerreichbare Zukunft erschienen war. Schwieriger ist es mit ihrem Beginn. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990, die Großdemonstrationen gegen den ersten Irakkrieg 1991, die Lichterketten nach den Pogromen und Brandanschlägen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen – das alles wurzelte noch in den Achtzigern, so wie auch ich Teil der Achtziger blieb, das langsam Vergehende meine Gegenwart und Zukunft eine Unmöglichkeit. Die wirklichen Neunziger begannen für mich erst mit dem Ausbleiben der Ereignisse und der langsam wachsenden Erkenntnis, dass es kein Ende geben, dass alles einfach weitergehen würde. Diese Neunziger dauerten nur sechs Jahre und hatten wenig, an das man sich erinnern müsste.

Ich aber erinnere mich.

Holiday in Cambodia

»Null ist ein schlechter Multiplikator.« Marvin sah elend aus, als er das sagte. Genaugenommen sah er aus wie mein Lieblingsteddy, damals als ich ihn den Kindern in der Dritten Welt schenken sollte. Nur dass Marvin mich nicht aus einem Plastiksack anstarrte. Ein diffuses Schuldgefühl krabbelte mir in den Rachen und wollte sich nicht wieder runterschlucken lassen. Mein Rucksack holperte schon über die Rollbänder in den Eingeweiden des Flughafens, viel Zeit blieb nicht mehr. Ich klopfte ihm auf die Schulter und machte einen meiner blöden Witze. Irgendwas mit Poesie und Lohnarbeit. Er versuchte nicht mal zu lächeln. Da stand er mit seinem von Wetgel gebändigten Wuschelkopf, seinem Dreiecksoberkörper, diesem Gesicht das gleichzeitig streng und bubenhaft wirken kann, stand da in seinem Lederblazer, der schicke Herr Dichter, wie für ein Modemagazin aufgestellt – und wirkte doch heillos verloren. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich reckte mich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn zum Abschied. Es sind die Augen, dachte ich, Teddys Augen. Schwarze Knöpfe, glänzend und leer.

Etwas musste gerade verdammt schiefgelaufen sein in Marvins Leben. Aber was immer es war, es würde sich schon regeln lassen. Teddys Reise in die Dritte Welt hat am Ende ja auch nur auf den Dachboden geführt, versuchte ich, mich zu beruhigen. Doch das Schuldgefühl blieb trotzig, wollte selbst im Flugzeug nicht nachlassen. Wir hatten uns wirklich selten gesehen in den letzten Monaten. Und war er nicht immer schweigsamer geworden? Auch dass er mich zum Flughafen brachte, war keine Selbstverständlichkeit mehr. Ich hatte nur nicht gewusst, ob ich lieber Nina oder Pebbles beim Abschied sehen wollte. Mich von Marvin hinfahren zu lassen, so hatte ich gehofft, würde mir alle Wege offenhalten und keine der beiden Frauen nachhaltig vergrätzen. Die täglich ernster dreinblickende Nina nicht, die mit einer fast schon gleichgültigen Leidensbereitschaft um mich kämpfte, und nicht die sanfte, melancholische Pebbles, in deren Arme ich zuletzt immer häufiger geflüchtet war.

Soweit schien alles geklappt zu haben. Das Flugzeug schleppte sich in die Höhe. Ich war weg und konnte meine Entscheidung anderswo treffen. Nina oder Pebbles? Eine fast sechsjährige Beziehung gegen das von Sternschnuppen durchblitzte Traumgespinst einer aufkeimenden Liebe. Bei alldem die Gewissheit, dass man verlieren muss, was man auch tut.

Nein, über Marvin hatte ich mir keine Gedanken gemacht. So ist das eben mit Freunden. Wenn die gefräßigen jungen Schmetterlinge in der Bauchhöhle schlüpfen, wenn sie beginnen, sich zu den lebenswichtigen Organen durchzunagen, haben Freunde dort zu sein, wo man sie am nötigsten braucht, dann haben sie zu funktionieren. Und funktioniert hatte er, hatte mich anstandslos in meinem Wagen nach Schönefeld gefahren, mir Mut zugesprochen für die Entscheidung und sogar gemeinsame Reiseerinnerungen wieder wachgerufen, um meine Flugangst zu dämpfen. Perfekt hatte er funktioniert bis zu jenem letzten Moment, als ich ihn fragte, warum – verdammt – er nicht noch schnell das bisschen Geld zusammengekratzt hätte, das man in Südostasien ja nur brauchte, warum ich nun alleine fliegen müsste.

»Null ist ein schlechter Multiplikator.« Das war seine Antwort gewesen. Eine tonlose Frauenstimme hatte fast gleichzeitig die Flugnummer aus allen Lautsprechern der Abfertigungshalle verlesen. Ich war zur Passkontrolle geeilt, und Marvin war mit seltsam mechanischem Winken zurückgeblieben.

*

Das alles ist nun vier Monate her. Ich sitze nackt auf der mit großen, hässlichen Blüten gemusterten Nylondecke meines Hotelbetts. Von der Stirn perlt Schweiß, bildet Bäche, die die Augenbrauen nicht mehr eindämmen können, und aus dem Schoß, da quillt mir beunruhigend unablässig Blut raus. Um die Bettdecke zu schonen, und weil ich dachte, dass das bestimmt gleich wieder aufhören würde, habe ich mir die quietschgelbe Edeka-Einkaufstüte unter den Hintern gelegt, in der ich bislang meine Reiselektüre leidlich wasserfest bei mir trug. Aber es hört nicht auf. Das Blut läuft aus der winzigen Wunde, als gäbe es keine Gerinnung oder als wäre da ein lebenswichtiger Kanal aufgerissen worden. Wieder ufert die Pfütze aus. Wieder muss ich mit gespreizten Beinen die Edeka-Tüte zum Abfalleimer balancieren, das frische Blut dorthin gießen, wo älteres zeigt, dass es sehr wohl seinen Aggregatzustand ändern kann, nur eben nicht dort, wo es mir etwas nutzen würde. Zum Bett zurückeiernd, merke ich, dass mir schwindelig wird. Scheiße. Ist das schon der Blutverlust? Oder nur die Hitze und der ölige Mief dieses Hotelzimmers? Bestimmt Letzteres. An so was stirbt man ja wohl nicht! Ich bin männlich und Mitteleuropäer. Statistisch gesehen habe ich mit achtundsiebzig Jahren an Darmkrebs zu verscheiden. In diesem Moment kann ich mir nichts Besseres vorstellen.

Die Tüte klebt unangenehm am Hintern, und von draußen tönt der geschäftige Lärm der Sri Ayutthaya zu mir herein, manchmal überlagert durch ein Scheppern wie von Blechnäpfen, die erst langsam zu hohen Türmen gestapelt werden, um dann wieder in sich zusammenzufallen. Dieses Geräusch kommt aus dem Hinterhof, zu dem mein Fenster hinausgeht. Einmal hatte ich es geöffnet, um nach derQuelledes Schepperns Ausschau zu halten, aber es war nichts zu sehen gewesen. Dafür war die Außenluft in meine stickige Biosphäre geströmt, um mir den Rest zu geben. Bangkok stinkt nämlich.

Tatsächlich gehört es zu den wenigen Orten auf der Welt, an denen die Luft in den Gebäuden immer ein spürbaresQuäntchenbesser ist, als draußen. Vermutlich deshalb, weil sie außerhalb der Gebäude mit jedem Tag schlechter wird, vielleicht aber auch, weil die Türspalten, durch die sie in die Häuser eindringt, mit ihren Wülsten aus fettig verklebtem Staub als Filter fungieren. Ja, Bangkok stinkt. Insbesondere nach Abgasen, ranzigem Fett, Wäscheschimmel und dem exotischen Müll, den die Garküchen hinterlassen. Bereits nach wenigen Schritten unter der städtischen Dunstblase nimmt einfach alles diesen beißenden Geruch an: Klamotten, Haare, Haut. Morgens hustet man schwarzen Schleim unter der Dusche. Nur die Thai nicht. Die unteren Lohngruppen scheinen resistent zu sein, die oberen tragen kleine Atemschutzmasken auf der Straße. Bangkok ist widerlich. Um das zu bemerken, muss man sich die halbnackten Zwölfjährigen in den Gassen Phat Phongs nicht einmal angesehen haben. Man muss sich auch nicht die Gespräche der Rucksackreisenden in der Khao San Road anhören, wenn sie dahocken über ihren Eiskaffees, mit ihren langen Haaren und ameisenabweisenden Socken, sich über Heldentaten beim Feilschen um schlecht vernähte Levi’s-Jeans verbreiten. Das alles gibt es überall in Asien. Bangkok ist widerlich, weil es nicht mal Geschichte hat, keine sichtbaren Wurzeln vergangener Jahrhunderte, obgleich der Rest des Landes reichlich darüber verfügt. In diesem aufgeblasenen Handelsvorposten der Ersten Welt erinnern selbst die Tempel noch an das Teehaus im Park Sanssouci in Potsdam, diesen Hohenzollern-Fantasy-Kitsch zum Thema »fernes, reiches Asien«. Und Bangkok ist auch deshalb widerlich, weil ich hier blutend auf meiner bescheuerten Edeka-Tüte sitze und auf meinen Rückflug warte.

*

Als ich vor vier Monaten aus Berlin kommend, voller Gewissensbisse Nina und Pebbles gegenüber, zum ersten Mal auf dieses Bett in diesem Zimmer gefallen war, hatte ich natürlich nichts von alldem bemerkt. Bloß schnell ein Busticket kaufen und ab zu den Inseln! Nachdenken wollte ich, den Blick auf die wässrige Ewigkeit richten und in einsamer Seelenqual eine tragische Entscheidung mir abringen.»I’m a poor lonesome cowboy« – irgendwas in der Art.

Aber dort lag ich dann viel zu wolkig in meiner Hängematte über den zerklüfteten Felsen. Die Sonne brütete ein prächtiges Wohlgefühl in mir aus, Möwen kreischten, und zwei- bis dreimal am Tag kam das Äffchen der Wirtsleute vorbei, um sich Reste von meinem Obstteller oder ein Stückchen Snickers zu erbetteln. Der Anblick der See, die leichte Brise der beginnenden Regenzeit, der Geruch des Feuers, über dem allabendlich Fisch und Algen gebraten wurden – das alles schien plötzlich viel realer zu sein als das Gefühlskarussell der letzten Wochen in Berlin. Drahtige Beachboys sprangen Plastikscheiben hinterher. Technorhythmus. Tätowierte Blondinen in Öl.

Dann bin ich eben in Pebbles verliebt, dachte ich mir, na und? Das hat doch nichts mit meinen Gefühlen für Nina zu tun! Man muss diese Dinge einfach trennen! Wir leben ja nicht mehr im 19. Jahrhundert!

DaswarensodieGedanken,diemireinfielen,währendichinmeinerHängemattedahinschaukelte.AlsorauchteichlieberdasgutethailändischeGras,bisendlichauchsolcheÜberlegungenverschwanden.Weilessonstnichtszutungab,führteichmirSeiteumSeite,BuchfürBuchmeineReiselektürezu.Lesen,rauchen,schlafen–sogingendieTagedahin.EinmalspazierteichzumStrandhinunter,wodiemeistenanderenwohnten.DerBesitzerdesGuesthousesdortwareinschweigsamerMittvierzigerausBristol.VonmorgensbisabendsbastelteeraneinemKatamaranherum,dernichtsoaussah,alswürdeerjemalsfertigwerden.SeineFrauoderFreundin,einejungeThai,betriebdasRestaurant.BeijederBestellungfragtesie,obmandasGerichtmitMagicMushroomswolle.AndenNebentischenspieltensieTrivialPursuitoderPoker,kichertensichwegendiesermagischenPilzedieSeeleausdemLeib,bestauntengegenseitigihreneuenPiercingsundtrankenBeck’s.

PebbleshattevondieserBuchtgeschwärmt,Pebbleswarhierglücklichgewesen.GenauwieichhattesieobenaufderKlippegewohnt,ineinerderPfahlhütten.ZweiDutzendgabesvondenDingern.SiewarengrobzusammengenageltundschaukeltennachtsimWind.FünfHüttenwurdennochvermietet.Dierestlichenwarenbereitseingestürzt.DenGestendesWirtshatteichentnommen,dasssiejedesJahrneuaufgebautwurden.HierobenendetedieSaisonmitdenerstengrößerenStürmen.EinzigdasRestaurant,indemdieWirtsfamilielebte,warmassivergebaut.

Schon nach zwei Wochen war ich der letzte Gast auf der Klippe. Jede Nacht riss der Wind heftiger an den Pfählen. Manchmal schaukelte das Bett wie ein Boot. Ich bekam kaum noch ein Auge zu. Aber das war immer noch besser als das Getümmel unten am Strand.

Der Vollmond stand an, und ein neuer Schwung gut aussehender, junger Menschen hatte riesige Bass-Boxen mitgebracht. Tag und Nacht beschallten sie damit die Bucht. An Lesen war nicht mehr zu denken. Bei einem Morgenspaziergang fand ich kopulierende Pärchen zwischen den Felsen. Andere schliefen in nackten Haufen übereinander oder starrten mit riesigen Pupillen in den Himmel wie sterbende Robben.

Sechs Tage dauerte die Party. Dann schaukelten die Boote mit den Bass-Boxen aufs Meer zurück. Nahezu regungslos bammelten die Zurückgebliebenen in ihren Hängematten.

Auf den Stufen des Restaurants saß ein weinendes blondes Mädchen. Die Haare hingen ihm wie ein Schleier vor dem Gesicht, nur eine rosige Nasenspitze war zu sehen. Irgendwas an dem Mädchen erinnerte mich an Pebbles, und das war kein nüchterner Gedanke, sondern ein plötzlicher Schlag in die Magengrube. Warum konnte ich nicht einfach bei ihr sein? Was hatte ich auf dieser beschissenen Insel verloren? Ich beeilte mich, zurück in die Hütte zu kommen, zu meinen Büchern.

Zwölf Stück waren es. Die Reiselektüre eines Flüchtenden, wahllos aus den Regalen gegriffen, weil man weiß, dass man Bücher brauchen wird, aber der Kopf so voll ist, dass man nichts mehr entscheiden kann. Ein verwirrter Mensch vor dem Bücherregal: Natürlich, Reiseführer müssen mit. Was sonst? Ach, nimm halt das und das und das … Und ein paar Tage später sitzt man in diesem postmodernen Neo­hippie­pano­roma und liest Lautréamonts »Gesänge des Maldoror« oder Gottfried-Benn-Gedichte: »Mir klebt die süße Leiblichkeit / wie ein Belag am Gaumensaum.« Und das war nicht mal das Schlimmste. Lautréamonts Albtraumpoesie von klebrigen Amphibien und Mösen zerhackenden Hühnern war mir immerhin von Marvin nahegebracht worden, und der Benn soll mich ja nächstes Jahr zum Magister machen, wozu auch immer das gut sein mag. Richtig schlimm waren die Tage mit Arno Placks »Ohne Lüge leben«, soziologisch getarntem Psychoquatsch, den mir Nina geschenkt hatte: »Der Blick auf das Wünschenswerte muss illusionslos aus der Erkenntnis des Faktischen kommen, sonst richtet er sich wahnhaft in Luftschlössern ein.« Herzlichen Dank! Wenigstens waren noch Jörg Fausers »Blues für Blondinen«, Joseph Conrads »Herz der Finsternis« und ein paar andere Klassiker mitgereist. Ein konfuses Potpourri, Lektüre eines Menschen, der nicht hinwill, wo er hinwill, der eigentlich überhaupt nicht mehr wegwill.

Als Pebbles nach Thailand flog, hatte ich es für eine gute Idee gehalten, schnell das nötige Geld ranzuschaffen, um ihr so bald wie möglich hinterherzureisen. Aber dann, am Abend vor meinem Abflug, hatte das Telefon geklingelt und Pebbles war dran gewesen. »Max, rate mal, wo ich bin!«

Ich riet dreimal falsch, obwohl mir die richtige Antwort längst flau im Magen lag. Pebbles war auf ihrem Rückweg von Ko Pha Ngan nach Bangkok bestohlen worden und hatte den nächsten Flieger zurück nach Berlin nehmen müssen.

Dieser gespenstische Abend in ihrer Wohnung am Bundesplatz: Sie, die fröhlich herumhüpft, Reisetipps auf zerknitterte Landkarten malt – »Du musst unbedingt nach Ko Pha Ngan. Ich hab’ dir einen kleinen Gruß dagelassen!« –, Adressen kritzelt und vor Geschichten sprudelt. Ich, der ich eigentlich nichts sage, weil es nun kein Zurück mehr gibt. Wochenlang hatte ich der traurigen Nina wortreich erläutert, warum ich diese Reise einfach bräuchte, warum das auch für unsere Beziehung gut sei. Und Pebbles hatte ich in mehreren Briefen versichern müssen, dass nicht sie der Grund für meine Pläne sei. Nun waren da keine Worte mehr. Zu verwirrt, um den Rest des Abends mit Pebbles zu verbringen, und zu feige, mir auf der Treppe das Bein zu brechen, war ich nach Hause gefahren und hatte Arno Placks »Ohne Lüge leben« in meinen Rucksack gesteckt. Ende eines Traums.

Die Hütte wirkte hohl und tot, als ich vom Strand zurückkam. Ich legte mich aufs Bett und las die letzten dreißig Seiten von Peter Flemmings Reisebericht »Brasilianisches Abenteuer«von 1933:»Es gibt Umstände und Tage der Rückschau, an denen die Wirklichkeit nicht so weit wie üblich entfernt zu sein scheint.« Vielleicht wäre ich besser nach Brasilien geflogen. Aber sicher gab es auch am Amazonas längst Full-Moon-Partys und blonde Mädchen mit rosa Nasenspitzen.

Draußen wurde es Abend. Ich ging auf den Balkon und starrte übers Meer. Sieht sie wirklich so aus, wenn sie weint? Habe ich Pebbles überhaupt schon mal weinen sehen? Der Himmel färbte sich in einem Orange, das mich an den Widerschein der Stadtautobahn durch Pebbles’ Fenster am Bundesplatz erinnerte. Jetzt oder nie, dachte ich mir.

Ich kletterte den Klippenpfad hinauf. Manche der Hütten hier oben waren zusammengepresst, als hätte sich ein Riese draufgesetzt. Von anderen stand nur noch der Türrahmen. Pebbles’ Hütte hatte kein Dach mehr. Die Plattform ragte schräg über den Abgrund. Hinter dem Fensterrahmen, durch den sie aufs Meer geblickt hatte, zogen Sturmwolken heran. Ihre Botschaft für mich hatte sie unter das Fensterbrett gekritzelt. Die Kinderzeichnung einer lächelnden Sonne und ein paar Worte, wahrscheinlich ein Vers. Vorsichtig versuchte ich, näher ranzukommen. Etwas unter mir knirschte. Mit einem Ruck sackte die Plattform weiter ab. Ich taumelte rückwärts. Jetzt war durch das Fenster die Brandung zu sehen. Keine Chance mehr, näher ran zu kommen, und ein Fernglas hatte ich nicht. Wind kam auf. Unten am Strand eilten sie in ihre Behausungen. Vielleicht war es ja nur das feine blonde Haar gewesen, was mich an Pebbles erinnert hatte.

Ich las noch ein paar Tage vor mich hin, während der Strand langsam aus seinem Kater erwachte, zu Ballspiel und Sonnenbad zurückkehrte. Leider war bald alles ausgelesen, bis auf Becketts »Warten auf Godot« und dieses bedrohlich tausendseitige literarische Ungetüm in freud- und schmucklosem Suhrkamp-Orange, dick und hässlich wie ein Backstein: »Die Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss. Ich versuchte es mit »Godot«, merkte jedoch schnell, dass der passende Moment nicht immer der richtige Moment für ein Buch ist. Weil ich das Postkartenpanorama satthatte, und nicht bereit war, den Peter Weiss in einer solchen Umgebung auch nur zu öffnen, beschloss ich, die Bucht mit dem nächsten Boot zu verlassen.

Der Engländer hockte auf seinem halben Katamaran und starrte in die Ferne.

»I want to leave«, sagte ich.

»No problem«, antwortete er ohne sich umzudrehen. »You never arrived.«

Hippiearschloch, drogenkrankes, dachte ich, ließ mir den Ärger aber nicht anmerken.»What are you looking for?«

»Nothing … Anything …The sea.«Er schwieg eine Weile, dann fügte er an:»You won’t understand.I’ll send you the girl, when the boat comes.«

Drei Tage später war es endlich so weit. Zwei dunkelbraun gebrannte Australier mit Spiegelglasbrillen fuhren mit und auch das blonde Mädchen. Sie redeten über Pillen, Magic Mushrooms und ein Surfbrett, das sich die Australier kaufen wollten. Das Mädchen hatte durchstochene Lippen und einen Knopf auf der Zunge. Schwarzblaue Linien wanden sich aus ihrem Stringtanga dem Nabel zu. Als der Heckmotor angeworfen wurde, sanken alle drei lässig zurück, streckten die Beine von sich, drehten die Gesichter zur Sonne und ließen ihre Haare im Wind flattern.

Das Lied aus der Bacardi-Reklame fiel mir ein, und dass ich Pebbles natürlich schon weinen gesehen hatte. Mehrfach sogar. Pebbles schluchzte nicht. Sie weinte leise, während ihre Mundwinkel lächelten. Sie sah dann unglaublich klein aus, ihrer Traurigkeit so vollkommen ausgeliefert wie ein Kind. Und immer waren da dieses Lächeln und die plötzlich so schwarzen Augen, als würden die Tränen etwas von ihr abwaschen, ein verstecktes Wesen enthüllen, ängstlich und nackt. Pebbles war ein Traum, wenn sie weinte. Ein Traum mit rosa Nasenspitze. Wie hatte ich das vergessen können?

Die Australier fragten das Mädchen, bis wohin ihr Tattoo ginge. Sie kicherte, machte sich lang und hob mit zwei Fingern das Fetzchen Stoff zwischen ihren Beinen an. Einer der Australier langte kurz ins Meer, ließ ihr ein Rinnsal den Bauch hinablaufen. Wieder kicherte sie. Ich versuchte, mich halbwegs bequem an diesen absurden purpurfarbenen Rucksack zu lehnen, den mir Nina geliehen hatte. Es war kein Platz mehr, um die Beine auszustrecken. Das T-Shirt spannte um meinen Bauch, und die Sonne brannte auf der schwarzen Jeans. Der dicke Tölpel im Softporno. Das Boot knatterte um die Trümmer der Hütten herum, die zwischen den Felsen hin und her schwappten. Pebbles’ Botschaft war nicht zu sehen.

Als ich an Bord der Fähre ging, brach im Hafen großer Jubel aus. Menschen fielen sich küssend um den Hals. Irgendjemand, der viele Freunde hatte, war wohl unerwartet hier eingetroffen. Einer ihrer DJs vielleicht. Das Schiff legte ab. Ich blickte auf das malerische Palmengewuschel Ko Pha Ngans zurück, das langsam kleiner wurde, bis es als grüner Fleck mit dem Horizont verschmolz.

Dort, am Heck der Fähre stehend erst, fiel mir auf, dass ich nicht ein einziges Mal im Wasser gewesen war. Absurd. Lag es am Alter? Weil man im großen Azur eben Anfang zwanzig zu sein hat, vollgepumpt mit Partychemie, Saft und Illusionen? Weil ich mich nun unaufhaltsam der finsteren Dreißig näherte, ein gesellschaftlich nicht benötigter Magisteranwärter, dessen deprimierender letzter Verwendungszweck das Verfassen von Plattenrezensionen gewesen war? Vielleicht, dachte ich mir, sollte ich erst mal darüber nachdenken und mir Pebbles aus dem Kopf schlagen.

*

Zurück in Bangkok versuchte ich, Informationen über Kambodscha zu bekommen. Die hiesigen Zeitungen wussten auch nicht mehr zu berichten als die deutsche Presse. Die Blauhelme waren weg. Das Land galt als befriedet. Was konkret bedeutete, dass man in Phnom Penh mit den beiden dort ansässigen Parteien sicherheitshalber gleich zwei Regierungen installiert hatte, die einen schwierigen Waffenstillstand hielten. Vermutlich taten sie das hauptsächlich, weil draußen im Dschungel noch Tausende Khmer Rouge unter Waffen standen. Die Hauptstadt sei ruhig, hieß es, während jeder dritte Überlandzug gute Chancen hätte, gesprengt zu werden. Von den Fernstraßen wurde ebenfalls abgeraten. Eine Gruppe von fünf Westlern war gerade verschwunden, auf dem Weg nach Kampot. Einigermaßen sicher waren wohl Flugzeuge und die Boote auf dem Tonlé Sap. Wirklich gut klang das alles nicht. Aber in Thailand wollte ich nicht bleiben, und für den Rückflug war es noch zu früh.

Wie hatte Pebbles gesagt: »Die ersten vier Wochen sind nur Urlaub, das wirkliche Reisen beginnt danach. Du wirst Menschen treffen und Gespräche führen, die dein Leben verändern! Versuch es, Max!«

Die junge Frau im Reisebüro blätterte sinnlos in Papieren herum, während sie darauf wartete, dass ihr Chef nach hinten verschwand. Dann schüttelte sie den Kopf und flüsterte mir eindringlich zu: »No go Cambodia! Cambodia not good for white people!« Ich solle lieber nach Ko Pha Ngan fahren oder nach Pattaya. »Cheap girls in Pattaya. Good girls!«

Ich versuchte es bei anderen Reiseveranstaltern, aber dass die Reise möglich war, mochte mir niemand versprechen, obgleich man hier sonst nicht zimperlich war mit Versprechungen, wenn es etwas zu verkaufen galt. Ich verschob die Entscheidung, beschloss, erst mal den Peter Weiss zu lesen, kaufte mir ein Busticket in den thailändischen Norden und schlenderte ins Hotel zurück.

Im Gang vor meinem Zimmer roch es nach Gras. Warum nicht?, dachte ich und folgte dem Geruch.

AufdemGemeinschaftsbalkonsaßeinerdieserLanghaarigeninWickelhose,Batik-ShirtundquietschbuntenHigh-Tech-Sandalen.Kaumsaßichnebenihm,reichteermirschondenJoint.»Neuhier?«,fragteer.

»Bin gerade von Ko Pha Ngan zurück.«

»Warst aber nicht viel in der Sonne, was?«

»Hab’ gelesen.«

Er gickerte. »Nicht im Ernst?«

»Doch. Wollte eigentlich nach Kambodscha.«

»Krass. Soll ziemlich heftig abgehen da. Für mich wäre das nix. Ich steh’ mehr so auf Peace.«

Fast wäre mir ein »Ich find’ ja Krieg geil« entschlüpft. Stattdessen fragte ich ihn, wo er herkäme.

»War ’n halbes Jahr in Indien. Total entspannt die Inder. Kann man echt was von lernen. Und alles super billig. Noch billiger als hier. Alle kiffen und sind irgendwie peacemäßig unterwegs. Thailand find’ ich nicht so locker. Aber der Norden ist ziemlich cool. War in so ’nem Bergdorf, wo’s Opium gab. Hab’ den Namen vergessen.«

»Und jetzt?«

»Mal gucken. Noch ’n bisschen einkaufen und zurück nach Indien.«

Das Gras war stark, und ich hatte seit meiner Ankunft in Thailand kein wirkliches Gespräch mehr geführt. Erst probierte ich es mit Literatur, dann mit Politik, und schließlich erzählte ich ihm sogar noch von meiner Liebesmisere. Hoffnungslos. Was ich auch versuchte, es war, als würde man einem narkotisierten Primaten Gedichte vortragen.

Ich wollte mich schon verabschieden, da erklangen polternde Schritte auf der Treppe.

Um die Gangkehre bog ein Riese mit verspiegelter Cop-Brille, Muskelshirt und einer durchsichtigen Plastiktüte voll mit Bierbüchsen. Er krachte auf den Korbstuhl gegenüber und riss sich ein Bier auf. »Wollt ihr? Ist für alle. Sozialismus. Bin eigentlich halber Vietnamese, müsst ihr wissen.«

Ich konnte wirklich was zu trinken brauchen, griff zu und reichte ihm dafür den Joint.

»Super, ihr habt Kiff!«, freute sich der Riese. »Schön, mal patente Leute zu treffen. Sind sonst alles Arschlöcher hier. Oder Australier. Behaupten, sie sprächen Englisch, aber man versteht kein Wort. Wart ihr schon in Vietnam? Ist geil, Vietnam. Hab’ da ein Guesthouse. Wollte noch eins in Thailand aufmachen. Kannste vergessen. Hier ist nichts mehr rauszuholen. Die Thai sind nicht mehr, was sie mal waren. Fett und faul. Keine Power mehr. In Vietnam sind sie noch richtig heiß auf Geschäfte. Und alles super billig da.«

Der Langhaarige wurde hellhörig. »Echt?«

»Billiger als Indien. Außerdem stolpert man nicht ständig über Lepra­kranke. Mein Guesthouse ist im Norden, in den Bergen. Wird noch boomen der Norden. Kannste mir glauben.«

»Drogen?«, fragte der Langhaarige zurück.

»Alles, was du willst. Kein Thema. Und die Mädchen sind auch geiler als hier. Sehen besser aus und arbeiten härter.«

Wäre ich bloß gleich ins Bett gegangen, dachte ich, jetzt muss ich das blöde Bier austrinken. Die beiden begannen, sich über ihre Sandalen, ihre Opiumerfahrungen und Full-Moon-Partys auszutauschen. Ich sah den Moskitos dabei zu, wie sie in der Elektrofalle verrauchten.

»Und du, Weißgesicht?«, wandte sich der Riese an mich. »Bist sicher noch Frischling. Keinen Monat unterwegs, würde ich sagen. Woher?«

»Aus Berlin.«

»Ei, was willst du dann hier? Soll doch gerade gut abgehen bei euch. Technopartys, Drogen, freie Liebe und all das.«

»Interessiert mich nicht so.«

»Ach was, das will doch jeder! Bist halt ein bisschen moppelig und kriegst deshalb keine ab, hab’ ich recht?« Lachend schlug er mir auf die Schulter.

»Nee«, mischte sich der Langhaarige ein. »Der hat sogar zwei Schnecken. Hat er gerade erzählt.«

Ich hätte besser geschwiegen, stattdessen hörte ich mich sagen: »Das sind keine Schnecken. Und ich hab’ auch keine zwei. Ich habe eine Freundin und bin in eine andere Frau verliebt. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.Dashabe ich gerade erzählt.«

Der Riese brüllte geradezu vor Lachen. »Du bist mir ja einer, ­Dickie! Schau dich an: Wie wahrscheinlich isses, dass es zwei Frauen gibt, die auf dich abgehen? Sei klug und bleib bei deiner Alten!«

Immer noch prustend, riss er sich das nächste Bier auf. »Wie sieht’s aus Jungs, gehen wir noch ins Puff? Erste Runde auf mich!«

Der Langhaarige willigte ein, ich lehnte ab. Sie lachten noch, als sie unterm Balkon davonzogen.

Was tu ich hier eigentlich?, fragte ich mich, starrte in die leere Gasse und wurde den Gedanken nicht los, dass der Riese recht haben könnte. Im Geiste sah ich eine fröhliche Pebbles oben ohne über den Strand von Ko Phan Ngan tollen, sah sie beim Beachvolleyball mit muskulösen Australiern, sah sie tanzend, Opium rauchend und fickend mit dem Riesen unterm Vollmond. Ja, ich war verliebt in Pebbles. Aber konnte sie wirklich verliebt in mich sein?

*

NochmehrereWochenzirkelteich,SuhrkampsästhetischesKapital­verbrechen unterm Arm, ziellos durch dieses wohlstrukturierte Asia-Disney­landfürErwachsene.Ichliefviel,suchtemirtäglichneueAusflugsziele,trankWasserstattColaundversuchte,nureinmalamTagzuessen.SodrifteteichdiestrahlendbeleuchtetenBusstreckenentlang,nachNordenerst,indenFreizeitpark»GoldenesDreieck«mitseinenOpium-MuseenundElefantenritten,dannindenOstenmitseinenbuddhistischenHeiligtümern,diesichvorallemdeshalbvonAltöttingoderLourdesexotischunterschieden,weilmankeineKreuzeaufdieDächermontierthatte.HätteeinenderElefantimNordennochindenDschungelgetragen,sowurdeimOstenfürElefantenrittezuechtenArmeninechtarmerUmgebunggeworben.WenigstenswarKambodschanah.

Wie nah, erfuhr ich eines Abends von einem jungen Holländer, der mit Glatze und Schlabberorange den frisch bekehrten Reisenden gab. Pol Pot unterhalte ein Heerlager bei Trat, erklärte er mir, auf thailändischem Boden also. »Kannst denken, das wird slecht gesehen in die Westen. Die Westen gibt viel Geld zu die Thai, gegen Drogen, für Frieden, für Wirtsaft. Und dann lassen Massenmorder bei sich wohnen. Die Thai sagen, Massenmorder gibt auch Geld. Deshalb alle machen manchmal Meldung mit Tod von Pol Pot in die Presse. Mal Thai machen, mal Westen macht, immer gelogen, nur für Meinung von Öffentlichkeit. Und Pol Pot? Nimmt sexy Thai-Massage.« Er grinste.

Mir fiel ein, wie Marvin mal nach einem Seminar über fernöstliche Philosophie kopfschüttelnd erklärt hatte, europäische Buddhisten neigten dazu, Buddhismus mit Zynismus zu verwechseln. Jetzt verstand ich, was er damit gemeint hatte.

Wir plauderten noch ein wenig über Veganismus und inneren Frieden, bis es langsam dunkelte und die Kakerlaken von überall her auf die Straße trippelten. Ihre kleinen Leben mühsam achtend, hüpfte der Mönch schließlich heim ins sichere Kloster. Es sah aus, als würde er Himmel und Hölle spielen.

Am späten Abend stand ich auf meinem Bambusbalkon, löffelte das grüne Curry in mich hinein, auf das ich mich den ganzen Tag gefreut hatte, und starrte in den Teil der Schwärze, der jetzt wohl über Kambodscha lag. Ich lauschte den Fröschen im Garten und dem Schnatternder Gänse, die Jagd auf sie machten. Kambodscha. Angkor. So verdammt nah. Aber noch war der Peter Weiss nicht ausgelesen. Noch schrieb ich Liebesbriefe an zwei Frauen. Beides war kein Zustand.

Also fuhr ich zurück in den Westen, zu den Hügeln der Schmuggler am Grenzfluss zu Burma.

Auf burmesischer Seite gab es eine dreckige, kleine Handelsstadt, voller schwer bewaffneter Regierungssoldaten. In den Hügeln sah man Unterstände der Karen-Rebellen. Abends musste man zurück in Thailand sein, denn nachts erklangen Schüsse. Der Grenzmarkt am Fluss sah aus, wie solche Märkte eben aussehen, überall auf der Welt. Das Warenangebot, vor allem Zigaretten, Alkohol, T-Shirts und Kitsch, war nahe­zu identisch mit dem des Polenmarktes, der nach dem Mauerfall aus dem Brachland des Potsdamer Platzes gewachsen war. Nur dass die Polen noch leckere Räucheraale im Angebot gehabt hatten. Hier waren es verängstigte Hühner.

DasStädtchenMaeSotaufderthailändischenSeiteverfügtenatürlichübereinSchmugglermuseum.DieElefantenritteführtenzudenFlüchtlingslagernderKaren.EinbeliebterAusflug,geradebeiDeutschen,wiemirmeinlächelnderWirtversicherte,erhättedaeinenCousin…

Langsam begann ich mich zu fragen, ob nicht vielleicht was dran war, an diesen Elefantenritten, ob man sich nicht so ein echtes Flüchtlings­lager wirklich mal anschauen sollte. Immerhin war Burma für Pauschalreisen geöffnet, und dennoch knatterten allnächtlich die Sturmgewehre. Wie mochte es in Kambodscha aussehen, das den Pauschalreisenden noch gänzlich verschlossen war? Ja, so ein Elefantenritt wäre sicher auch ganz schön.

Der nötige Anstoß kam dann aber doch noch. Es waren keine Neuigkeiten aus dem Land der Khmer, die gab es hier einfach nicht. Es war Peter Weiss, der den Ausschlag gab. Das Buch ging seinem Ende zu, als der Erzähler von einem konspirativen Treff auf der Stockholmer Verkstadsgatan berichtete. Stahlmann musste er dort treffen, den löwenmähnigen Helden im schwedischen Untergrund. Und dieser hatte allerhand zu berichten auf ihrem Weg durch das Stockholm der Vierzigerjahre. Von seiner Ausbildung bei der Roten Armee erzählte er, und davon, wie er nach China verschifft worden war. Von einem französischen Kolonialbeamten, der ihm etwas Interessantes zeigen wollte, und davon, was er ihm zeigte: Angkor nämlich, das historische Herz Kambodschas, diese Tempelstadt weit draußen im Dschungel, das einzige Ziel, das meiner Reise noch geblieben war. Ich blinzelte ein paarmal, um den Schleier des Mekong-Whiskys von den Augen zu kriegen …

Ja, es stand da wirklich: Angkor. Unfassbar. Sorgsam verschachtelt hatte mich der Herr Weiss in den letzten Wochen durch innerdeutschen Widerstand und spanischen Bürgerkrieg geführt, hatte mich in den schwedischen Untergrund versetzt und in die letzten Kriegsjahre. Aber plötzlich stand da »Angkor« geschrieben, unübersehbar in tiefschwarzen Buchstaben, die Sätze bildeten über versehrte Schönheit und einen dschungeldurchfressenen fremden Mythos. Mein Traum stand da geschrieben, den ich in mir trug, seit ich als Kind mal einen Fernsehbericht über die Tempelstadt gesehen hatte. Der einzige Traum, den ich immer weiterträumte, unfreiwillig, wie fixiert, während andere von den Pyramiden schwärmten, dem World Trade Center oder dem Land »down under«.

StahlmannwarinAngkorgewesenaufseinemWegindieWirrendeschinesischenBürgerkriegs.ErhatteaufdemTempelbergBayongesessen, unter den vom Mondlicht durchtränkten Steingesichtern lächelnder Götter.IndieserNachtseierverrücktgeworden,erklärteStahlmann…

Nur zwei Nächte musste ich auf der Blümchendecke in Bangkok ausharren, das Scheppern der Blechnäpfe belauschen und im öligen Dunst zerfließen, dann ging der nächste Flug nach Phnom Penh.

Ich nutzte die Zeit für einen Besuch beim General Post Office. Zwei Briefe lagen da für mich, einer von Nina und einer von Pebbles. Ich redete noch ein bisschen auf die Schalterbeamtin ein, brachte sie dazu, den Stapel ein weiteres Mal durchzuwühlen, nach dem dritten Brief, der da sein musste, dem von Marvin nämlich. Er war nicht da. Ich war fast zwei Monate unterwegs, und Marvin hatte nicht geschrieben.

Auf dem Rückweg zum Hotel nahm ich eins der Schnellboote. Gischt durchnässte den Brief von Pebbles, den ich zuerst aufriss. Doch ihre poetischen Zeilen konnten die Flut der Befürchtungen, die mich plötzlich umspülte, nicht eindämmen. Irgendwas in Marvins Leben musste wirklich verdammt schieflaufen.

*

»Null ist ein schlechter Multiplikator.« Auch jetzt noch, längst zurück aus Kambodscha, in meiner Blutpfütze, auf meiner Tüte, rattert mir dieser Satz unablässig durch den Kopf. Aber morgen geht ja schon mein Flug nach Berlin. Bis dahin bringt es nichts, sich Sorgen zu machen. Besser sich auf den Blutfluss konzentrieren, versuchen, mental Einfluss zu nehmen, damit ich mich nicht noch zu einem dieser grinsenden Ärzte schleppen muss. Denn der würde mich sowieso nicht behandeln, weil ich die letzten paar Baht und Dollar auf jeden Fall für Hotelrechnung und Flughafengebühr brauche.

Kurzzeitig verfalle ich auf die Idee, die Wunde hochzulegen. Außer würdelosen Verrenkungen am Rande des Handstands und doch noch BlutfleckenaufderBettdecke,kommtnichtsdabeiraus.Bessersichablenken,daskleineroteSchulheftwiederzurHandnehmen,weiterschreiben.Reiseerinnerungen.»It’saholidayinCambodia,wherepeople dress in black«, leiert es dazu aus dem Billig-Walkman vom Woolworth an der Kurfürstenstraße.

*

Die thailändischen Zöllner waren nicht halb so akribisch beim Durchforsten meiner Habseligkeiten, wie ich gedacht hatte. Aber ich wollte ja auch nicht in den paranoiden Westen, der sich diese Kontrollen eine Menge Devisen kosten ließ. Ob man Drogen von Thailand nach Kambodscha transportierte, war wohl nicht nur den Geldgebern komplett egal, sondern auch den opportunistischen Thai-Schnüfflern in ihren blütenweißen Hemden.

Der Wartesaal bot noch weniger Abwechslung als die Haupthalle. Leere, graue Stuhlreihen. Meine Schuhe knatschten laut auf dem Linoleum.

WährendichnervösimPeterWeissblätterte,fragteichmich,wievieleWestleramEndeinderMaschinesitzenwürden.HattensiebessereInformationenalsich?

DreiodervierZigarettenspätertröpfeltenlangsamMenschenindenSaal.ZuerstkameneinpaarUniformierteohneWaffengehänge,Khmer-PolizistenaufdemRückwegvonVerhandlungenmitihrenThai-Kollegen.IhnenfolgtenkambodschanischeGeschäftsleute,ebenfallsinBeige.GroteskanmutendeSiebzigerjahre-Anzügetrugensie,dieHosenmitweitemSchlag.DarunterlugtenrehbrauneSchühchenhervor,diesicherschonvieleSohlengesehenhatten.DieSchlipseragtenextra­breitauslangenKragen.SoungefährsiehtmeinVateraufdiesenkleinen,quadratischenFarbfotosaus,diemeineMutterzwischendenWeihnachtsfestenineinemSchuhkartonarchiviert.DerdreijährigeZwergmitdemTeddy und der roten Strumpfhose, den er da auf seinem Arm trägt, das bin ich. In Kambodscha hatte sich in Sachen Mode wohl nicht viel getan seit Pol Pot. Aber falsche Rolex trugen die Geschäftsleute, und Goldzähne blinkten zwischen den Lippen hervor. Ihre Frauen waren traditionell gekleidet, mit bestickten Sarongs und Blusen, die von schwerem Goldschmuck gegen Spitzen-BHs gedrückt wurden. Immer mehr dieser Gestalten strömten nun in den Raum. Einen Thai konnte ich zwischen ihnen identifizieren, weil der einen Zweireiher von Boss trug und eine Brille ohne Horn. Westler sah ich keine. Manche der Khmer warfen mir irritierte Blicke zu. Mein Magen begann, sich unangenehm leicht anzufühlen. Es musste doch noch andere Reisende wie mich geben! Wenigstens ein paar Weißgesichter, dass man nicht der Einzige war, der auf die blöde Idee verfiel, seinen Urlaub zwischen Minen zu verbringen. Aber der einzige Weiße, der am Ende noch kam, trug eine Armeehose und ausgetretene Springerstiefel. Sein pockennarbiges Gesicht, aus dem harte, hellblaue Augen starrten, erinnerte an Jürgen Prochnow in »Das Boot«. Muskulös war er und hatte nur einen Arm. Scheiße. Vergleichend schaute ich an mir hinab: zehn, nein, fünfzehn Kilo zu viel, Fingerchen, die nur auf Computertastaturen zu gebrauchen waren, die eher kleinen Füße in schwarzen Stoffturnschuhen, dazwischen dieser alberne Rucksack, aus dem schlaff der Kopfhörer des Walkmans baumelte. Vielleicht bin ich doch eher der Typ für einen wohlorganisierten Thailand-Tourismus, dachte ich noch, da begann bereits das Boarding.

DasFlugzeugwarnichtgeradegroß,aberimmerhinnichtdierostige,vondenRussenausgemusterteTupolew-Propellermaschine,dieicherwartethatte.DieStewardessenmachtendieselbenschlaffenGestendieStewardessenimmermachen,wennsieeinemerklären,womandieNotfallutensilienfindet,undgleichzeitigvermittelnwollen,dassmandiejasowiesonichtbraucht.Allesganznormal.JürgenProchnownahmeinpaarReihenvormirPlatz.NachdemdieMaschinesichjaulenddurchdieDunstblaseüberBangkokgekämpfthatte,wurdeKaffeeausgeschenkt.

Ich griff mir eine Zeitung. »Phnom Penh Post« stand da in großen Lettern. Endlich brauchbare Nachrichten! Die Zeitung bestand aus zehnDIN-A3-Blättern. Sie war nicht gedruckt worden, sondern kopiert. Die Hälfte der Seiten war mit den verschlungenen Buchstaben der Khmer angefüllt, die andere Hälfte enthielt englische Berichte. Ein Wochenblatt. Alles, was ich las, war also nicht sehr aktuell, dafür waren die Informationen schlimm genug. Bei Battambang und Kampot hatten die Khmer Rouge gerade eine neue Offensive begonnen. Die Regierungstruppen vonFUNCINPECundCPPleisteten erbitterten Widerstand. Von Phnom Penh aus, setzte man schweres Gerät in Bewegung. Bei Bombenanschlägen in der Hauptstadt hatte es ein paar Dutzend Menschen erwischt, und die vermissten Westler hatte man in schmalen Erdlöchern draußen im Dschungel gefunden. Ein glücklicherweise sehr dunkles Foto illustrierte den Bericht. Ob sie erstickt waren, bevor die Ratten sie fraßen, war dem Schreiber des Artikels nicht bekannt. Auch waren gerade vier weitere Traveller auf der Bahnstrecke nach Kampot aus ihrem Abteil verschleppt worden, und das greise Staatsoberhaupt Prinz Sihanouk hatte den Weißen im Land zur Abreise geraten, da man ihre Sicherheit nicht mehr gewährleisten könnte.

Der Kaffee war kalt, als ich das Blättchen ausgelesen hatte. Mit einem Schluck kippte ich ihn in die große Übelkeit hinab. Kambodscha also. Na klasse. Den Abstecher nach Kampot strich ich schon mal von meiner Reiseroute.

Der Blick aus dem Fenster zeigte unbewegten Dschungel, keine Rauchwolken oder Feuersbrünste, obwohl wir recht nah an den umkämpften Gebieten vorbeiflogen. Beim Landeanflug sah ich quadratische Felder, Palmen und rackernde Wasserbüffel. Dann, ohne dass irgendwo eine Stadt zu sehen gewesen wäre, setzte das Flugzeug auf. Die Geschäftsleute klatschten. Ein Rauschen ertönte. Durch die knirschend aufbrechenden Türen fiel gleißender Sonnenschein.

Das Flugzeug stand auf einer staubigen Landebahn. Die einzige andere Maschine war tatsächlich eine rostige Tupolew, die seitlich auf einem Acker parkte. Ein Maschendrahtzaun umkränzte das Rollfeld, und ein einzelnes flaches Gebäude gab es. Dorthin schlenderten jetzt die Geschäftsleute.

Ich musste an das Heck des Flugzeugs treten, wo die Gepäckstücke in den Staub geworfen wurden, schnappte mir meinen Rucksack und eilte den anderen Passagieren nach. Sie strömten einfach durch das Gebäude und ein Spalier gackernder Uniformierter hindurch. Kontrollen gab es keine. Jürgen Prochnow, der Thai und ich wurden zu einem Klapptisch gewunken, wo man uns gegen fünf Dollar das Visum in den Pass stempelte.

Draußen umschwärmte uns eine Traube junger Mofafahrer. »Taxi! Taxi! Taxi!«, schrien sie und deuteten mit einladenden Gesten auf ihre Zweiräder. Über die Köpfe hinweg erspähte ich ein einziges Auto. Der Fahrer lehnte lässig an der Seite. Er hob kurz den Finger, als er meinen Blick bemerkte. Gerade als ich mich zu ihm durchgekämpft hatte, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um und blickte direkt in die kalten Augen Jürgen Prochnows.

»Bettergo to Capitol Hotel first!You’ll find friends there!«Er grinste, schwang sich auf eines der Mofas und war verschwunden. Der Fahrer des Wagens nahm mir den Rucksack ab. Er sprach ein paar Brocken Englisch, mit denen er versuchte, mich für ein anderes Hotel zu gewinnen, aber ich war nicht gewillt, das Bröselchen Information, das ich gerade erhalten hatte, wieder loszulassen.

Von dieser ersten Fahrt durch die Straßen Phnom Penhs ist mir kaum noch etwas in Erinnerung. Zu sehr war ich damit beschäftigt, aus dem Autofenster nach weißen Gesichtern Ausschau zu halten, die ich natürlich nicht entdeckte. Fast jeder im Straßenbild trug das traditionelle Krama, eine Art rot oder blau kariertes Geschirrhandtuch, locker um den Hals gelegt oder straff um die Stirn gespannt. Der Verkehr bestand hauptsächlich aus Fahrrädern, Fahrrad-Rikschas, Ochsenkarren und Mofas. Autos, selbst Lastwagen, waren eine Seltenheit. Die Straßen waren auch nicht danach. Halbmetertiefe Krater gähnten überall, dabei standen die Boulevards, die wir passierten, denen in Paris an weltstädtischer Breite kaum nach. Verkehrsregeln gab es offensichtlich nicht. Die bröckelnden Wohnhäuser mit ihren langgezogenen Balkonen gemahnten an die melancholischeren Gegenden Südfrankreichs. Einzig das Universitätsgebäude stach ein wenig hervor, der zerschossenen Fassade und der zersprungenen Scheiben wegen. Mit Bildung hatten sie es ja nicht so gehabt, die Khmer Rouge. Irgendwann stoppte der Wagen. Mein Fahrer wies schmunzelnd auf ein verlottertes Gebäude mit einer riesigen Markise, unter der lustlos zusammengezimmerte Sitzgruppen standen, alle leer.

Ein Kellner mit blauem Lidschatten und Löckchen stand an den Tresen gelehnt, glotzte ins Leere und fuhr sich kreisförmig mit der Hand über den Bauch. Ein Blick auf meinen Rucksack, schon wedelte er abwehrend mit beiden Händen in der Luft.»No!No! C’est le café ici!You room?Round corner!«

Seinen Gesten folgend, fand ich einen Seiteneingang. Auf dem Treppenabsatz hockte ein fetter Mann mit einem Buch auf dem Schoß. Neben ihm stand ein Schuhkarton mit Schlüsseln. Auf das Pappschild über seinem Scheitel hatte er »Reception« gekrakelt. Auch sein wirres Englisch durchsetzten französelnde Halbsätze.

Das Zimmer lag im zweiten Stock. Es sah aus, wie aus nikotingelbem Plastik gegossen, dabei war nur eine der Wände aus einem plastikartigen Material, bei den anderen erzeugte eine uralte Glanzlackierung denselben Effekt. Das Moskitonetz über der beulig ausgestopften Matratze war an ungefähr sechshundert Stellen gerissen. Der Luftschacht, der das Fenster ersetzten sollte, führte nicht nach draußen, sondern in ein anderes Zimmer. Jemand blätterte drüben in einem Buch. Aber der Deckenventilator, groß, grün und hässlich wie ein Flugzeugpropeller, sprang knatternd an, als ich an der Kordel zog. Ich warf meinen Rucksack aufs Bett und ging wieder.

DerdirekteWegzumCaféhinunterführteübereinendieserlangenBalkone.VonhieraushattemaneinenprächtigenAusblickaufdasGewimmelzwischendenSchlaglöchern.ÜberdieDächerhinwegsahicheinegewaltigeWolkenwand,ungefährdort,woichdenMekongvermutete.AmhinterstenEndedesBalkonsstandeinladendeinwahresUngetümvoneinemLiegestuhl.EswarkeinerdieserKlappstühle,erhattenurdieselbeForm.Ausmassivem,rötlichemHolzwarer,dieArmlehnenmitgeschnitztenOrnamentenüberreichverziert,unddieLiege­flächebildetendreipralle,blutroteSitzkissen.WeilmirweiterhindieseNervositätinderMagengrubeherumbiesterte,legteichmicherstmalindenrotenStuhlundließdenBlickschweifen.MancheStädtehasstman,mancheliebtman.Warum,daskannmanseltensagen,unddieEntscheidungfälltoftamerstenTag.AlsmeinBlicküberdasblässlicheOckerundBeigePhnomPenhsstreifte,überdieschimpfendenMofafahrerunddenOchsenkarren,dermiteinemRadsteckengebliebenwar,direktuntermir,wurdemirklar,dassichdieseStadtliebte,ganzegal,wasgeschehenwürde.IchlegtedenKopfzurückundschlossdieAugen…

»Non, non Monsieur! C’est pour Romains!«Die pummelige Kambodschanerin, die plötzlich mit einem Putzeimer neben mir aufgetaucht war, deutete auf den Liegestuhl und schüttelte immer wieder energisch den Kopf. Ich konnte mir zwar nicht recht vorstellen, warum der Stuhl ausgerechnet Römern vorbehalten blieb, erhob mich aber, weil sie das zu beruhigen schien. Eine Weile stand ich noch am Balkongeländer, dann schlenderte ich zum Café hinab.

*

EsgabeineenglischeKarte,aufdernebeneinheimischenSuppenjedeMengeeuropäischeGerichtemitwohlklingendenNamenverzeichnetwaren.AufeinenWinkhin,eiltedaslockigeMännleinherbei.IchorderteBœufStroganovundeinenMekong-Whisky,denWeinbrandfusel,denichausThailandkannte.Währendichwartete,trankichJasminteeauseinerangestoßenenKanne,dienebstblindenGläsernaufdemTischstand.MeineNervositätfraßsichmitjederSekundeweiterdurchdieMagenwand.Warumwarniemandhier,keineinzigerWestler?HattesichJürgenProchnoweinenSpaßgemacht,alsermirdiesesHotelempfahl?OderwarichtatsächlichdereinzigeIrreindiesemLand?DerKellnerstelltemir,mitdenblauenLidernklappernd,meinenFuselaufdenTischundfing,zurückinseinerEcke,wiederdieseBauchstreicheleian.DasmussteeinenationaleEigenartsein.DieMofafahrer,dieaufdembreitenGehsteigaufKundschaftwarteten,sahichdasselbetun,wieauchdenVerkäuferderGarküchegegenüberundnahezujedenZweitenimStraßenbild.Hattensieetwaszutun,wuseltensiemitfixenBewegungenumher,wurdensiegeradenichtgebraucht,verlorsichihrBlickimNichts,derUnterkieferklappteherunterunddieHandfanddenBauch.

Hin und wieder passierten Minenopfer bettelnd meinen Tisch. Dabei hielt der Kellner die meisten zurück. Sie hockten beinlos auf Rollbrettern oder hatten noch Gliederreste und humpelten an selbst gebastelten Krücken daher. Ich merkte schnell, dass die Auswahl des Kellners alles andere als willkürlich war. Später sollte ich erfahren, dass die Minenopfer eine ernst zu nehmende Größe in der Stadt darstellten. Sie bildeten eine Art Mafia, die sich Gewerkschaft nannte. Restaurants, die sich den Verstümmelten verweigern wollten, wurden kurzerhand angezündet, oder man warf ein paar Handgranaten hinein. Mit den anderen vereinbarte man feste Kontingente und Umsatzbeteiligungen. Minenopfer zu sein, war ein Beruf, und die Mitgliederliste der Gewerkschaft wurde stündlich länger.

Wurden mir mal keine martialischen Wundklumpen entgegengereckt, umschwärmten mich Kinder, die die Phnom Penh Post an den Mann bringen wollten und mit Papierkügelchen nach mir warfen. Ein thailändischer Technotrack stampfte leise aus verborgenen Boxen.

Nach einer halben Stunde kam das Bœuf Stroganov in Gestalt schwarz verbrannter Fleischwürfel an breiten, matschigen Pommes. Gleichzeitig fiel ein weißblondes Bübchen, wie aus der Decke gespuckt, auf den Stuhl gegenüber. »Can I sit here?«

Der Kellner stellte ihm unaufgefordert eine dampfende Schüssel unter die Nase. Sofort wurde die Suppe mit hektischen Bewegungen und gesenkten Blicks weggelöffelt. Kaum eins sechzig groß war das Bübchen, die Haare standen dornig vom Kopf ab, Löcher in der Jeans, mit Suppenflecken übersät dasExploited-T-Shirt. Ein Punk. Das Schicksal hatte mir einen Punk an den Tisch gespuckt. Einen extrem kurzsichtigen Punk außerdem, denn seine Augen schwammen in zentimeterdickem Glas. Da er mich nicht weiter zur Kenntnis nahm, streckte ich ihm die Hand entgegen.

»Hi!My name is Max. I’ve just arrived. I think I need someone to explain to me what to do or not to do in Cambodia.«

Kurz griff er zu, ohne das Löffeln zu unterbrechen.»You are talking to the right man. They call me Bart. Like Bart Simpson, the comic boy, you know, because I’m small and blonde. It’s your first day?«

»Yes.«

»Solet me think … First you need some money, not real money, but the shit they use here. Everything is much cheaper then. And you need some dope or grass. You like opium? Mushrooms? Pills? No? Okay, just grass. We should buy it at the old market, it’s quite good there. After that, we’ll take a ride to theFCCto meet the others!«

Er war fertig mit seiner Suppe, schlug vor, wir sollten uns ein Mofa teilen, weil das billiger wäre, und schon musste ich ihm hinterhereilen. Ich gab zu bedenken, dass ich nicht gerade ein Leichtgewicht sei und dass ich mir das schwer vorstellen könne, zu dritt auf so einem mickrigen Mofa. Er winkte ab. Bis zu sechs Kambodschaner hätte er schon auf einem Gefährt gesehen.

Während der Fahrt erfuhr ich, dass Bart Belgier war, aber hauptsächlich in Australien lebte. Er war auf der Suche nach seinem Zwillingsbruder, dessen letzter Brief aus Kambodscha gekommen war. Irgendwie war der hier wohl verschwunden. Damit gehörten wir beide der winzigen Gruppe der Reisenden an. Die meisten anderen Westler in Phnom Penh lebten und arbeiteten hier, zumeist als Englischlehrer an einer der privaten Schulen oder als Journalisten für heimatliche Blätter und die Phnom Penh Post.

Als wir den alten Markt erreichten, war ich längst seekrank vom ewigen Umkurven der Schlaglöcher. Bart führte mich zu einem Geldwechsler, der mit einer Handvoll Dollar hinter einem riesigen Glaskasten ­voller zerknüllter kambodschanischer Geldscheine saß. Für meinen Zehndollarschein stopfte er mir sämtliche Hosentaschen mit dicken Bündeln Riel voll. Schon musste ich wieder Bart nacheilen, der auf die Stände ­zuhielt. Abermals fragte ich ihn nach Verboten und Verhaltensregeln.

Er lachte.»Youcan do anything here! They’ve got two governments and definitely no law. You can do anything, and the cost of anything is at most one fucking dollar!«

Wir schlenderten vorbei an T-Shirts, auf denen Minenwarnschilder abgebildet waren, Gewürzen, Gemüse und Zigaretten. Schließlich kamen wir zu einem Stand, von dem riesige Plastiktüten mit Marihuana herabhingen. Bart fragte, ob ich lieber fertige Joints kaufen würde.

»No, I think this is allright.«

Er reichte mir einen Halbkilosack Gras. Dafür musste ich dem Händler den Gegenwert eines Dollars geben. Kleinere Mengen wurden gar nicht erst verkauft.

Der Besitzer des Nachbarstandes zog an meinem Ärmel und öffnete den Deckel eines Bastkorbs. In dem Korb lagen Handgranaten. Er spreizte fünf Finger von der Hand ab. Während ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich aktuell keine Verwendung für Handgranaten hätte, fragte ich mich, ob seine Geste eine Preisangabe war. Fünf Dollar? Nun hob er ein Tuch an, unter dem ein Sturmgewehr lag. Das brauchte ich auch nicht.

Während Bart mich zu unserem Fahrer zurückschleifte, fragte ich ihn irritiert, was das mit den Waffen bedeutete.

Wieder lachte er. »As I’ve told you: No law in Cambodia!«

Wir fuhren weiter. Von einem seiner Kumpels erzählte er mir, einem Englischlehrer, der eines Tages irgendwie irre geworden war vor lauter Gesetzlosigkeit, sich mit Opium und Speed zugeknallt, ein AK-47 gekauft und ein rotes Krama um die Stirn gebunden hatte, um dann wild in die Luft schießend über den Achar Mean Boulevard zu laufen, schreiend: »I’m a Khmer Rouge! I kill you all!«

Dafür hatte man ihn drei Monate lang, bei Wasser und fauligem Reis, in eine fensterlose Zelle gesperrt. Man nannte ihn AK-Ray seitdem, und seine Schüler hatten Angst vor ihm. Aber eigentlich sei er ein ganz netter Kerl, meinte Bart.

Noch ein paar Slaloms, und wir waren am Mekongzufluss. Eine prächtige Uferpromenade mit steinernen Tigern und stählernen Geschützen lag vor uns. Linker Hand die Trümmer einer riesigen Brücke im Tonlé Sap-River, daneben badende Menschen. Von den Sockeln der Gefechtsstände herab sprangen braun gebrannte Jungen lachend ins Wasser. Nur wenige Soldaten trugen so was wie Uniformen, die meisten hatten sich ihre Gewehre über den bloßen Oberkörper geschnallt. Darunter kurze Sarongs und Badeschlappen. Auch ihre Hände kreisten auf den Bäuchen. Ich fragte Bart nach dieser sonderbaren Geste. Er wusste es nicht, vermutete jedoch eine Volksneurose, der nunmehr dreißig Jahre Bürgerkrieg wegen.

Breit und ruhig floss das Mekongwasser seines Weges. Drüben, auf der anderen Seite, standen die Sturmwolken, die ich vom Hotel aus gesehen hatte, standen da einfach, den Mündungen der Geschütze gegenüber, wie eine düstere Drohung. Bart verschwand in einem der Uferbauten. »Foreign Correspondence Center« stand über der Tür.

DasFCCwar ein Musterbild an gepflegter Kolonialkultur – wie einer dieser Geschichten von Somerset Maugham entsprungen. Im zweiten Stock fand sich ein Café mit Bar. Wände und Decke waren mit dem rötlichen Holz getäfelt, das ich schon von dem Liegestuhl im Hotel kannte. Lautlos drehten sich hölzerne Deckenventilatoren. Die Sitzgruppen bestanden aus breiten Ledersesseln um Tischchen mit Glasplatten. Die Kellner trugen Fliegen, Lackschuhe und Servietten über dem Arm. Vor dem hinteren Fenster, das auf die geschwungenen, glühend roten Giebel des Museums blickte, stand ein Billardtisch, Schnitzwerk im besten Zustand. Vorne blickte man auf die Sturmwand hinterm Mekong und denQuaiKarl Marx. Einer der Tische am Fenster war von teuer gewandeten Botschaftsangestellten besetzt, an den anderen lungerten Westler in Jeans und Springerstiefeln, nippten an kristallenen Cognacschwenkern oder schweren Tumblern. Die Bar war reich ausgestattet mit Single-Malt-Whiskys und anderen Edeltropfen.

Ich gesellte mich zu Bart, der nun bei einem der Grüppchen stand und auf mich deutete.»This is Max. He’s just arrived.«

Man nickte mir zu. Der Reihe nach wurden Namen genannt. Nur einer sagte nichts, ein hagerer Kerl mit einem rättischen Ausdruck im ungewöhnlich blassen Gesicht, das er wie suchend über seinem Tumbler schwenkte. Erst als ich mich neben ihn setzte, warf er mir einen Blick zu und zischte etwas, das ich nicht verstand.

»Pardon?«

»I jussst asssked where you’re from!«

»Oh, sorry. I’m from Berlin, Germany.«

»Aaaah … deutschesss Reichhh!«, fauchte er, schlug die Hacken zusammen und machte den Hitlergruß.

»And you must be AK-Ray, are you?«, erwiderte ich in einem Anflug von Schlagfertigkeit.

Er war es. Die Runde brach in Gelächter aus. AK-Ray ließ wieder das Gesicht über seinem Glas kreisen. Der Kellner brachte mir einen doppelten Bowmore. Irgendwoher wurde ein Joint gereicht. Im selben Moment gab es einen lauten Knall auf der Straße. Ängstlich sprangen die Botschaftsangestellten auf und lugten aus dem Fenster.

»Jusssta fucking moto-misssfire! These embassy creeps they ain’t got no balls! I wishhh the Khmer Rouge would come and kill ’em!«Krachend setzte AK-Ray sein Glas auf den Tisch. Die Botschaftsangehörigen zuckten nun in unsere Richtung. »You sssee?«

*

Schnell sollte ich lernen, dass es einen geregelten Tagesablauf gab in der winzigen weißen Gemeinde Phnom Penhs. Bestimmt wurde er von den Arbeitszeiten der Lehrer, von Wetterumschwüngen, menschlichen Bedürfnissen und einem guten Schuss Krisengebietsmystik.

Morgens um acht schwangen sich die Englischlehrer, von denen einige dieser Sprache noch weniger mächtig waren als ich, auf die Mofas und ließen sich in ihre Schulen kurven. Nachmittags um drei waren sie fertig mit der Geldbeschaffung und trafen imFCC