Sechs Tage im April - Markus Liske - E-Book

Sechs Tage im April E-Book

Markus Liske

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Nur sechs Tage lang, vom 7. bis zum frühen Morgen des 13. April 1919, währte die "Bairische Räterepublik", die auch als "Dichterrepublik" in die Geschichte einging und deren wichtigstes Sprachrohr der Dichter Erich Mühsam war. Bis heute beflügeln diese sechs Tage sozialrevolutionäre Träume von einer gesellschaftlichen Alternative zu Parlamentarismus einerseits und Parteidiktatur andererseits. Doch wie genau sah Mühsams Vision aus, und woran scheiterte sie? Markus Liske montiert und kommentiert Texte, Tagebuchauszüge und Briefe Erich Mühsams zu einer umfassenden Erzählung seines jahrzehntelangen Ringens um eine wirklich freie Gesellschaft – zu einer individuellen ideengeschichtlichen Reise, die 1901 in Friedrichshagen bei Berlin beginnt und die mit der sechsjährigen Festungshaft dieses außer gewöhn lichen Dichters und Menschenfreundes endet.

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Vorwort
I. Poesie der Revolution
II. Alle Macht den Räten!
III. Testament der Freiheit
Literatur (Auswahl)
Impressum und Copyright
Markus Liske
SECHS TAGE IM APRIL
Erich Mühsams Räterepublik
Von deutschen Dichtern lies am meisten,nur die so viel wie Mühsam leisten.
Mynona alias Salomo Friedlaender
Vorwort
Runde Jubiläen bedeutender historischer Ereignisse bringen gewöhnlich eine wahre Schwemme von mehr oder weniger wissenschaftlichen Büchern und Artikeln mit sich, die oft mehr über die Zeit aussagen, in der sie geschrieben wurden, als über die Zeit, die sie zu beschreiben vorgeben. So war es auch, als man 2018 des hundert Jahre zurückliegenden Revolutionsversuchs im Deutschen Reich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gedachte. Da dieser von Arbeitern und Soldaten getragene Aufstand letztlich in eine repräsentative demokratische Verfassung mündete, und wir heute in Zeiten leben, in denen diese Form der Demokratie scheinbar ihren Glanz verloren hat, weltweit wieder autoritäre Regime auf dem Vormarsch sind, mag es nachvollziehbar sein, die sogenannte Weimarer Republik als wenn auch labiles, so doch strahlendes Ergebnis einer vollendeten Revolution umzudeuten. Falsch ist es dennoch.
Diese nach dem Ort ihrer verfassungsgebenden Nationalversammlung benannte Republik war de facto eine Fortsetzung des Deutschen Reiches. Ihre maßgeblichen Konstrukteure, die Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, waren keine Revolutionäre, sondern Repräsentanten des alten Systems. Die tatsächlichen Revolutionäre wurden auf ihren Befehl hin überall im Reich von rechtsextremen Freikorps-Verbänden zusammengeschossen, wurden mithilfe haarsträubender Rechtsverdrehungen zu langen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. Damit bereiteten Ebert und Scheidemann bereits 1919 den Boden für den Aufstieg des deutschen Faschismus. Dass das sicherlich nicht ihre Intention war, dass sie vielmehr wohl dachten, ohne eine Einbindung des nationalistisch-autoritären Bürgertums und gegen die Interessen der kapitalistischen Elite des Kaiser­reichs könne kein neues System geschaffen werden, sei dahingestellt. Doch das Gemetzel an den Revolutionären auch in der Rückschau nicht als entscheidenden Geburtsfehler der Republik zu erkennen und die Revolution mithin als eine gescheiterte zu beschreiben, ist nur um den Preis möglich, dass man den Ermordeten unterstellt, sie seien Feinde der Republik gewesen, ihr Ziel eine Parteidiktatur, wie jene, die sich in der Sowjetunion herausbildete.
So kommt es wohl, dass die Bayerische Räterepublik, deren gewaltsames Ende zugleich das Ende der Revolutionszeit markiert, in den meisten Publikationen des Jahres 2018 eher randständig, zuweilen gar als bloße Skurrilität beschrieben wird. Dass sie überdies meist mit dem USPD-Sozialdemokraten Kurt Eisner, der ihr Zustandekommen gar nicht mehr erlebte, identifiziert wird. Und dass ihr entschiedenster Verfechter und lebenslanger Apologet zuweilen nicht einmal erwähnt wird: der 1878 in Berlin geborene und 1934 im KZ Oranienburg ermordete anarchistische Dichter Erich Mühsam.
Als Manja Präkels und ich 2014 für den Verbrecher Verlag das Erich Mühsam-Lesebuch »Das seid ihr Hunde wert!« zusammenstellten, war es unser Ziel, Originaltexte Mühsams unkommentiert zu einer künstlerischen Autobiographie zu montieren, die alle Phasen und Facetten seines Lebens beleuchten sollte. Die Zeit seines Engagements für die Bayerische Räterepublik und die Idee einer von autoritären Strukturen befreiten Gesellschaft, die ihn lebenslang umtrieb, konnten dabei notgedrungen nicht in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. Mit diesem Buch nun möchte ich das nachholen und damit zugleich die bedauerliche zeitliche Lücke in der wunderbaren Gesamtausgabe von Mühsams Tagebüchern, die die letzten Kriegsjahre und die komplette Revolutionszeit umfasst, wenigstens ein bisschen schließen.
Dass es diese Lücke überhaupt gibt, ist zweifellos der Tatsache geschuldet, dass Mühsams Tagebuchhefte jener Jahre Bewertungen von Begegnungen und Gesprächen mit späteren Parteikommunisten enthielten, die der sowjetischen Zensur nicht genehm waren. Jedenfalls waren die Tagebücher komplett, als Zenzl Mühsam nach der Ermordung ihres Mannes in die Sowjetunion floh und dessen Nachlass dem Maxim-Gorki-Institut übergab. Als sie 1955, nach fast zwei Jahrzehnten in sowjetischen Gefängnissen, Straflagern und Verbannung, in die DDR ausreisen durfte, waren sie es nicht mehr.
Der Leidensweg Zenzls in der Sowjetunion und ihre späteren Schwierigkeiten, wenigstens ein paar von Mühsams Texten in der DDR zu veröffentlichen, belegen, für wie gefährlich seine libertären Ansichten von Parteikommunisten und -sozialisten auch lange nach seinem Tod noch erachtet wurden, und dass die Räterepublik, wie sie Mühsam in Bayern realisieren wollte, in scharfem Gegensatz zum autoritären Staatssozialismus späterer Jahre gestanden hätte.
Wie schon bei »Das seid ihr Hunde wert!« habe ich auch in diesem Buch auf Kommentare von Zeitzeugen komplett verzichtet und lasse ausschließlich Erich und Zenzl Mühsam selbst zu Wort kommen. Das Buch hat mithin nicht den Anspruch, eine umfassende historische Darstellung der Revolutionszeit in Bayern zu liefern, sondern ausschließlich den, die subjektive Perspektive Mühsams zu beleuchten.
Zur besseren Lesbarkeit wurden die Texte in neue Rechtschreibung gesetzt und offensichtliche Druckfehler der Originalausgaben behoben. Des Weiteren wurden bei Mühsam unsystematisch variierende Begrifflichkeiten, etwa bei Parteikürzeln, zum leichteren Verständnis vereinheitlicht. Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD bzw. MSP) erscheinen hier daher durchgängig als SPD, die Unabhängigen Sozialdemokraten, von Mühsam hin und wieder nur mit USP abgekürzt, unter dem gebräuchlicheren Kürzel USPD.
Mein Dank gilt all denen, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte um Mühsams Werk verdient gemacht haben, insbesondere den Herausgebern der Tagebücher Chris Hirte und Conrad Piens sowie unseren gemeinsamen Verlegern Jörg Sundermeier und Kristine Listau. Außerdem möchte ich meiner Frau, Freundin und Kollegin Manja Präkels für zahllose inspirierende Diskussionen danken, den Musikerkollegen unserer Band Der Singende Tresen für all die gemeinsamen Auftritte in Sachen Mühsam, meiner guten Freundin Anja Exner für ihre Hilfe bei der Transkription und Maria Oschana dafür, dass ich dieses Buch in ihrer schönen, stillen Wohnung über den Dächern von Exarchia fertigstellen konnte. Danke.
Markus Liske Athen, Januar 2019

I. Poesie der Revolution

Hoffnung
Von meiner Hoffnung lass ich nicht,ich ließe denn mein Leben,dass einmal noch das Weltgerichtein Lächeln muss umschweben.
Und kann es nicht durch Gott geschehn,dass sich die Menschheit liebe,so muss es mit dem Teufel gehn,dem sich die Welt verschriebe.
Der Teufel hol Gesetz und Zwangsamt allen toten Lettern!Er leih dem Geiste Mut und Drang,die Tafeln zu zerschmettern!
Am Anfang trennte Gottes Ratdie Guten von den Bösen.Am Ende steht die Menschentat,den Gottesbann zu lösen.
Stumm starrt der Weltengeist und friert,wo wild Begriffe toben.Wenn einst das Wort die Tat gebiert,wird er uns lächelnd loben. 1
Es müssen beeindruckende Bilder gewesen sein: Zehntausende Menschen strömen auf die Münchener Theresienwiese, und es ist nicht Oktoberfest. Sie singen in den großen Bierkellern der Stadt, und es sind keine Volkslieder. Aus den Fenstern hängen Fahnen, die nicht blau-weiß sind wie der bayerische Himmel, sondern – rot. November 1918. Die Revolution hat München erfasst und wird hier, im rückständigen Süden des Deutschen Reiches, fünf Monate später ihre unwahrscheinlichste und anrührendste Blüte hervorbringen – die Bayerische Räterepublik. Ein politisches Kuriosum, ersonnen von anarchosozialistischen Dichtern und Querdenkern, gesellschaftlichen Außenseitern, eben noch Spottfiguren des monarchistischen Bürgertums. Eine kurze Episode nur in dieser Zeit der Unruhe, weniger noch als der sprichwörtliche Wimpernschlag der Geschichte. Ein Moment der Freiheit, bevor aus Bayern der reaktionärste Teil der sogenannten Weimarer Republik werden wird, aus München Adolf Hitlers »Hauptstadt der Bewegung«. Und doch beflügelt die Bayerische Räterepublik bis heute die Fantasien jener, die die Welt, in der wir leben, nicht für die beste aller möglichen halten, und die zugleich der Überzeugung sind, dass es linke Perspektiven jenseits von Parteidiktatur und tristem Bürokratismus gibt. Jener also, die Gleichheit nicht gegen Freiheit aufwiegen mögen. Die eigentliche Bayerische Räterepublik, von Nationalsozialisten und Konservativen später gern als »Literatenrepublik« oder »Judenrepublik« verächtlich gemacht, von Parteikommunisten als »Scheinräterepublik« diskreditiert, dauerte gerade einmal sechs Tage. Dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) haftet ihr der Zauber des nicht gewählten Weges im Sinne von Robert Frosts berühmtem Gedicht »The road not taken« an.
Andere Wege – parlamentarische Demokratie, Faschismus, Staatssozialismus – wurden lange genug beschritten, um sie in all ihren Facetten analysieren zu können. Dieser Weg aber fand, zumindest für den deutschsprachigen Raum, im Frühjahr 1919, kaum dass er betreten war, ein blutiges Ende. Wobei allerdings sein Anfang nicht erst im November 1918 zu suchen ist, auch wenn er sich Vielen erst im Zuge der Revolution als ernsthafte Perspektive offenbarte. Im weiteren ideengeschichtlichen Rahmen war zu diesem Zeitpunkt bereits eine jahrhundertelange Strecke auf Trampelpfaden am Rande der Hauptstraße der Historie zurückgelegt worden, und auch die konkrete Vorarbeit der wichtigsten Akteure dieser Bayerischen Räterepublik hatte schon Jahre zuvor begonnen, zu einer Zeit, als das deutsche Kaiserreich noch unumstößlich, seine Gesellschaftsstruktur festgefügt und keine Revolution in Sichtweite schien.
Selbstverständlich gibt es keinen einzelnen Punkt auf der Zeitachse, der sich als ein klar definierter Ursprung markieren ließe, von dem aus sich alles Weitere in kausaler Zwangsläufigkeit entwickelt hätte. Was es aber gibt, das sind folgenreiche Begegnungen, erstere längere Gespräche zwischen Menschen, deren äußere Gegebenheiten und konkrete Inhalte weitgehend unserer Fantasie überlassen bleiben. Im Falle der Bayerischen Räterepublik ist die wahrscheinlich wichtigste Begegnung dieser Art im Jahr 1901 und fast 600 Kilometer nordöstlich vom späteren Schauplatz München zu verorten. Man kann sie sich so vorstellen: Zwei schmächtige, zottelbärtige Männer mit breitkrempigen Hüten spazieren am Ufer des Müggelsees entlang. In ihren ausgebeulten schwarzen Anzügen wirken sie zwischen den mit weißen Kleidern, Rüschenblusen und Sonnenschirmchen, mit Frack und Zylinder oder mit pickelhaubengekrönten Ausgehuniformen herausgeputzten Sommerfrischlern der Berliner Oberschicht wie zerzauste Rabenvögel, die in einen Zuchttaubenschwarm geraten sind. Sich jederzeit der missgünstigen Blicke gewiss, schlendern sie aufreizend lässig dahin. Der ­ältere von beiden doziert über eine freiere und gerechtere Gesellschaft jenseits von Kaiserverehrung, preußischem Uniformfetischismus, Ausbeutung, Kapitalismus, Krieg. Der Mann ist mit seinen gerade mal 31 Jahren längst kein Unbekannter mehr. Seit zehn Jahren schon gehört er zum Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises, war zwischenzeitlich Herausgeber der Zeitschrift Der Sozialist gewesen und hatte 1893 die Berliner Anarchisten auf dem Sozialistischen Arbeiterkongress der II. Internationale in Zürich vertreten. Sein Name ist Gustav Landauer, Sohn einer jüdischen Schuhhändlerfamilie aus Karlsruhe, studierter Germanist und Philosoph. Im Gegensatz zu den marxistischen Sozialisten, die überwiegend in der SPD ihre politische Heimat sehen, betrachtet er die Welt nicht allein materialistisch. Ein anderes, besseres Leben, so seine Überzeugung, wird auch neue Menschen brauchen. Die möchte er in ländlichen Siedlungen aufziehen und unterrichten. »Umbildung der Seelen« nennt er das.
Der acht Jahre jüngere Mann an seiner Seite lauscht begierig. Auch er stammt aus einem bürgerlich-jüdischen Elternhaus. Vor Kurzem erst ist er nach Berlin gezogen und hat an Silvester 1900 seinen verhassten und nur auf Druck des Vaters erlernten Beruf aufgegeben, um fortan als Dichter zu leben. Doch dieser private Befreiungsakt genügt ihm nicht. Alle Formen von Zwang und Ungerechtigkeit sind ihm ein geradezu körperliches Gräuel, gleich, ob sie ihn persönlich betreffen oder nicht. Er sucht nach Visionen einer freieren Welt, wie sie Landauer zu bieten hat, aber er will diese Welt nicht als eine irgendwann kommende vorbereiten, sondern selbst in ihr leben oder beim Versuch sie zu errichten sein Leben lassen. Der Name dieses hitzköpfigen jungen Poeten, den es zur Revolution drängt, koste es was es wolle, ist Erich Mühsam. Was ihn antreibt, ist dem ersten Text zu entnehmen, den er wenig später als Redakteur für die anarchistische Zeitschrift »Der arme Teufel« verfasst:
»Nolo« will ich mich nennen – nolo: ich will nicht! Nein, ich will in der Tat nicht! Nein, ich will nicht mehr all die unnötigen Leiden sehn, deren die Welt so übervoll ist; mich all den Torheiten fügen, die uns die Freude rauben und das Glück in all den Ketten hängen, die unsere Füße hindern, auszuschreiten, und unsere Hände, zuzugreifen. Ich will nicht mehr mit ansehen, wie ungerecht und chaotisch des Lebens höchste Güter – Kunst und Wissen, Arbeit und Genuss, Liebe und Erkenntnis – verstreut liegen. Ich will nicht mehr – nolo! (…) Ein neues Wissen, eine neue Kunst ringt hervor. Neue Wahrheiten erzwingen sich ihren Weg. Helfen wir ihnen zum Licht und zum Leben! Die alten Dogmen müssen dem Neuen weichen, das gewaltig hereintritt. 2
Der junge Dichter Mühsam will keine Kompromisse – nicht für die Welt und nicht für sich. 18 Jahre später allerdings wird es sein deutlich besonnenerer Mentor Landauer sein, den der Kampf um die Räterepublik auf grausame Weise das Leben kostet. Mühsam wird zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Zelle sitzen, zur Untätigkeit verdammt, das Schicksal verfluchend. In diesem schlimmsten aller Kompromisse – zwischen Leben und Tod – gefangen, verfasst er, gerade 41 Jahre alt geworden, eine »Selbstbiographie«:
Nicht die äußeren Daten eines Lebenslaufs geben das Bild eines Schicksals, sondern die inneren Wandlungen eines Menschen bezeichnen seine Bedeutung für die Mitwelt. Nur im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen haben die Begebenheiten im Leben des Einzelnen Interesse für die Gesamtheit. Wessen Privatleben niemals die Zentren des Gesellschaftslebens berührt, dessen Biographie kann für Seelenforscher höchst wichtig sein, die Allgemeinheit geht sie nichts an.
Wäre meine Lyrik als Ausdruck meiner Gesamtpersönlichkeit alles, was ich den Volksgenossen zu bieten hätte, dann hätte ich der Aufforderung, eine Selbstbiographie zu schreiben, in der Weise entsprochen, dass ich den Literaturhistorikern Gelegenheit gegeben hätte, mich zu klassifizieren: Geboren 6.April 1878 in Berlin; Kindheit, Jugend, Gymnasialbesuch in Lübeck; unverständige Lehrer, niemand, der die Besonderheit des Kindes erkannt hätte, infolgedessen: Widerspenstigkeit, Faulheit, Beschäftigung mit fremden Dingen. Frühzeitige Dichtversuche, die weder in der Schule noch im Elternhause Förderung finden, im Gegenteil als Ablenkung von der Pflicht betrachtet werden und deshalb im Geheimen geübt werden müssen. Dummejungenstreiche, zuletzt – als Untersekundaner – geheime Berichte über Schulinterna an die sozialdemokratische Zeitung; daher wegen »sozialistischer Umtriebe« Relegation. Ein Jahr Obersekunda in Parchim (Mecklenburg), dann Apothekerlehrling in Lübeck; 1900 Apothekergehilfe an verschiedenen Orten, zuletzt in Berlin. Als freier Schriftsteller Teilnahme an der »Neuen Gemeinschaft« der Brüder Hart; Bekanntschaft mit vielen öffentlich sichtbaren Persönlichkeiten. Freundschaft mit Gustav Landauer, Peter Hille, Paul Scheerbart und anderen. Bohemeleben; Reisen in der Schweiz, in Italien, Österreich, Frankreich; schließlich 1909 dauernder Wohnsitz in München; Kabaretttätigkeit, Theaterkritik, schriftstellerische Tätigkeit, meist polemisch-essayistisch. Freundschaftlicher Verkehr mit Frank Wedekind und vielen andern Dichtern und Künstlern. Drei Gedichtbände, vier Theaterstücke; 1911–14 Herausgeber der literarisch-revolutionären Monatsschrift »Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit«, die vom November 1918 bis April 1919 als reines Revolutionsorgan in neuer Folge erschien. Seitdem in den Händen der konterrevolutionären bayerischen Staatsgewalt.
Mit diesen Mitteilungen wäre meine Biographie erschöpft, wenn ich mein Leben allein in meinen literarischen Leistungen charakterisiert sähe. Aber ich betrachte meine schriftstellerische Arbeit, vor allem meine dichterischen Erzeugnisse, nur als das Archiv meiner seelischen Erlebnisse, als Teilausdruck meines Temperaments. Das Temperament eines Menschen ist die Summe der Stimmungen, die Hirn und Herz von den Ausströmungen der Umwelt empfangen. Das meinige ist revolutionär. Mein Werdegang und meine Lebenstätigkeit wurden bestimmt von dem Widerstand, den ich von Kindheit an den Einflüssen entgegensetzte, die sich mir in Erziehung und Entwicklung im privaten und gesellschaftlichen Leben aufzudrängen suchten. Die Abwehr dieser Einflüsse war von jeher der Inhalt meiner Arbeit und meiner Bestrebungen.
Im Staat erkannte ich früh das Instrument zur Konservierung all der Kräfte, aus denen die Unbilligkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen erwachsen ist. Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen, Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt, war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens. Ich war Anarchist, ehe ich wusste, was Anarchismus ist; ich war Sozialist und Kommunist, als ich anfing, die Ursprünge der Ungerechtigkeit im sozialen Betriebe zu begreifen. Die Klärung meiner Ansichten verdanke ich meinem Freunde Gustav Landauer; er war mein Lehrer, bis ihn die weißen Garden ermordeten, die eine sozialdemokratische Regierung zur Niederzwingung der Revolution nach Bayern gerufen hatte.
Meine revolutionäre Tätigkeit hat mich oft mit den Staatsgewalten in Konflikt gebracht. So stand ich 1910 vor Gericht wegen des Versuches, das sogenannte Lumpenproletariat zu sozialistischem Bewusstsein heranzuziehen … Während des Krieges stand ich in den Reihen der Opposition gegen die Lenker der deutschen Schicksale … Wegen der Weigerung, eine Arbeit im vaterländischen Hilfsdienst anzunehmen, wurde ich Anfang 1918 nach Traunstein in Zwangsaufenthalt geschickt, wo ich bis zur Auflösung der »Großen Zeit« in Niederlage und Zerfall blieb.
Selbstverständlich fand mich die Revolution von der ersten Stunde aktiv auf dem Posten … 3
Im Jahr 1901 allerdings, als Mühsams Traum von der Revolution beginnt, ist von einer revolutionären Situation weit und breit noch nichts zu sehen. Das erst dreißig Jahre zuvor gegründete Deutsche Reich ist eine hermetische Klassengesellschaft, getragen von einem völkisch-nationalistisch geprägten Bürgertum, dessen besinnungslose Kaiserverehrung ein Spiegelbild jener eigenen Sehnsucht nach Größe und Bedeutung ist, die bereits in der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49 mitgeschwungen hatte. Genährt werden die identitären Fantastereien von einem romantisch überformten Militarismus und einer konstruierten Volkshistorie, die ihren steinernen Ausdruck in immer bizarreren Monumentaldenkmalen findet: das Hermannsdenkmal (1875), das den Sieg vermeintlicher Vorfahren über Rom feiern soll, das Niederwalddenkmal (1883) als »Wacht am Rhein« gegen den französischen Erzfeind, das Kyffhäuserdenkmal (1886) für den zum Paten des Reiches berufenen Kaiser Friedrich Barbarossa, das Reiterstandbild am Deutschen Eck (1887) für seinen halluzinierten Wiedergänger WilhelmI.und schließlich das Völkerschlachtdenkmal (1913), dessen düster-dräuende Formgebung aus heutiger Perspektive bereits die Weltkriege und den Nationalsozialismus anmoderiert. Das gebildete Bürgertum ergötzt sich am bombastischen Sound der Wagner-Opern, lässt seine Kinder die klassischen »Dichter und Denker« auswendig lernen. Die Studenten grölen in ihren Burschenschaften Schmählieder auf die französischen Nachbarn, antisemitische und ­rassistische Theorien sind auch an den Universitäten zunehmend en vogue. Unter dem Bildungs- und Wohlstandsfirnis vegetieren die von Tuberkulose und Typhus geplagten Arbeiter der prosperierenden deutschen Industrie zusammengepfercht wie Nutztiere in dunklen Hinterhöfen. Ihre parlamentarische Vertretung, die SPD, hat sich zwar längst zur Massenpartei entwickelt und wird ab 1912 sogar stärkste Kraft im Reichstag sein, hat aber den Schock des bismarckschen Sozialistengesetzes so tief in den Knochen sitzen, dass sie sich stets bemüht, keinen Zweifel an ihrer Treue »zu Kaiser und Vaterland« aufkommen zu lassen.
Der junge Erich Mühsam hat mithin gute Gründe, seine politische Heimat nicht in dieser marxistisch daherschwadronierenden ­Partei, die da glaubt, den Sozialismus für sich gepachtet zu haben, zu verorten und stattdessen neue Wege zu Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zu suchen. Er weiß, was er nicht will, aber was er will, das muss er erst noch herausfinden. In seiner frühen Novelle »Tante Klodt« lässt er den Ich-Erzähler sagen:
Ich fühlte den unwiderstehlichen Drang in mir, es den anderen gleichzutun, mitzureden im Rat der Weisen und womöglich meine freiheitlichen Ansichten – oh, ich hatte schon Zeitung gelesen und manchmal mit zugehört, wenn mein Vater mit guten Freunden über Politik redete – in gesetzgeberischer Tätigkeit zu verwerten. Aber wie sollte ich es anfangen, mein wertvolles Ich zur Geltung zu bringen? In den Rat der Stadt würde mich zunächst noch keiner wählen. In Volksversammlungen als Redner auftreten, das ging auch nicht. Da würde mir mein Vater schön auf den Kopf kommen, da würde mein Lehrprinzipal schöne Augen machen. So entschied ich mich denn, meine Lebensweisheit an einen Stammtisch zu tragen. Ja, beim vollen Schoppen Bier im Kreise gewiegter und erfahrener Männer, da wollte ich es herauslassen, was mich erfüllte, da sollten meine Ideale den erstaunten Hörern mit schwungvollen Worten entwickelt werden. 4
Tatsächlich treibt sich der frisch in Berlin eingetroffene Mühsam erst einmal an verschiedenen Künstlerstammtischen herum, sucht im Café des Westens5, das schon bald zu einer Art Lebensmittelpunkt für ihn werden wird, nach Anschluss. Zum wichtigsten Anlaufpunkt aber wird die »Neue Gemeinschaft« der Brüder Heinrich und Julius Hart, zweier Dichter aus »besserem Hause«:
Heinrich Hart war derjenige, der mich bei dem Ursprung aus dem bürgerlichen Beruf eines Apothekergehilfen ins Ungewisse dessen, was mir Freiheit schien und was sich auf dem schwanken Grunde der erwerbsmäßigen Schriftstellerei aufbauen sollte, ermutigte und förderte und mir so lange ein selbstloser und guter Berater war, bis mein Enthusiasmus für die von ihm und seinem Bruder Julius Hart begründete »Neue Gemeinschaft« verflogen war und mein rebellisches Temperament mich steinigere Wege aufsuchen ließ. 6
Was diese »Neue Gemeinschaft« ausmacht, was sie will, ist schwer auf einen Punkt zu bringen. Vor allem ist sie ein Sammelbecken für Künstler und Denker unterschiedlichster Provenienz, die nicht im Elfenbeinturm sitzen, sondern das Leben der Menschen tätig verändern wollen, mit eigenem Beispiel voran. Unter ihnen sind Vegetarier und Veganer, Anhänger von Freikörperkultur und freier Liebe, Mystiker, Psychoanalytiker und Anarchisten. Damit ist die »Neue Gemeinschaft« Teil der oft ins Skurrile driftenden Lebensreformbewegungen, die das erstarkende deutsche Bürgertum seit Mitte des 19.Jahrhunderts hervorbringt. Und da diese Szene nicht sehr groß ist, kennt jeder jeden, gibt es zahlreiche personelle Überschneidungen zu anderen Initiativen, wie dem Friedrichshagener Dichterkreis oder der Freien Volksbühne, einem der politischeren Projekte, das sich gegen die staatliche Zensur wendet und versucht, Proletariern und Arbeitslosen Zugang zur Kultur zu ermöglichen. Heinrich Hart wird zu Mühsams Türöffner, und durch ihn nimmt er auch erste Fühlung zu seinem späteren Mentor auf:
Heinrich Hart schien meine Befangenheit gar nicht zu bemerken. Er behandelte mich wie einen Gleichaltrigen und Gleichklugen und berichtete von den Veranstaltungen, die die »Neue Gemeinschaft« schon geleistet hatte, von denen, die demnächst folgen sollten, von der Wohnung in der Uhlandstraße, wo bald im eigenen Heim Vorträge und gesellige Zusammenkünfte neue Menschen zu neuem Leben vereinigen würden, bis ein großes Landgut erworben werden könne, und da sollten wir dann als Vorläufer einer in sozialer Verbundenheit wirkenden großen Commune der Menschheit eine Gemeinschaft des Glücks, der Schönheit, der Kunst und der von neuer Religiosität erfüllten Weihe »vorleben«. Ich war aufs höchste begeistert von all den herrlichen Aussichten und auch von dem Mann, der so gläubig und von seiner Mission erfüllt, und dabei doch so klar und stellenweise sogar humorvoll in seiner harten westfälischen Aussprache mir jungem Menschen seine Ideen und Pläne darlegte. Dann fragte er mich nach meinen eigenen Angelegenheiten, und als ich ihm nun erzählte, dass mir die Apothekerei bis zum Halse stehe, dass ich die Berufung zum Dichter in mir fühle, dass ich deshalb meine Existenz als freier Schriftsteller führen wolle, dass mir aber von allen Seiten abgeraten und die schrecklichste Enttäuschung prophezeit würde, da rief er fröhlich: »Unsinn! Wenn Sie keine Angst haben vor ein bisschen Hunger und ein paar Fehlschlägen, dann tun Sie getrost, was Sie ja doch tun müssen. Wie kann man denn einem Menschen von dem abraten, wozu es ihn drängt!« Er stellte mir seinen Rat zur Verfügung, ermunterte mich, ihm meine Gedichte zu bringen, und lud mich ein, zur Eröffnung des Gemeinschaftsheims und zu dem Vortrag zu kommen, den Gustav Landauer an dem und dem Tage im Architektenhause über Tolstoi halten werde. Beim Abschied schenkte er mir die zweite Flugschrift vom Reich der Erfüllung: »Die ›Neue Gemeinschaft‹, ein Orden vom wahren Leben. Vorträge und Ansprachen, gehalten bei den Weihefesten, den Versammlungen und Liebesmahlen der ›Neuen Gemeinschaft‹ mit Beiträgen von Heinrich Hart, Julius Hart, Gustav Landauer und Felix Hollaender«.
Beglückt zurückgekehrt an meine Arbeitsstätte am Wedding, stürzte ich mich auf das Buch. Darin aber fand ich einen Aufsatz, den ich fünf-, sechsmal hintereinander las, der mich erschütterte, aufwühlte, überwältigte und mit einer Klarheit erfüllte, die mir zugleich zeigte, wie wenig Klarheit ich aus den Hymnen und Lyrismen des ersten Bändchens gewonnen hatte. Den Namen des Verfassers dieses Aufsatzes kannte ich bis dahin noch nicht, diese Berühmtheit war meinem und offenbar auch Curt Siegfrieds 7 literarischem Spürgeist entgangen, und ich ahnte auch jetzt noch nicht, wie schlechthin entscheidend für mich der geistige Einfluss und die bis zu seinem gewaltsamen Tode anhaltende Freundschaft mit der Persönlichkeit werden sollte, die hier als Autor der Arbeit »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« zum ersten Male in meine werdende Welt trat. Es war Gustav Landauer. Die von Heinrich und Julius Hart in den violetten Heften zuerst publizierte Arbeit aber hat Landauer später in sein Werk »Skepsis und Mystik« übernommen, ein Buch, dessen wesentlicher Inhalt bezeichnenderweise gerade eine scharfe Polemik gegen Julius Harts verschwommene Philosophie vom Neuen Gott und von der neuen Weltanschauung ausmacht. 8
Die esoterisch-verquaste Überhöhung und Ritualisierung der »Neuen Gemeinschaft« stößt Mühsam bald ebenso ab wie die bourgeoise Lebensführung der Hauptprotagonisten. Da kann und will er nicht mithalten, sucht sein Heil lieber in ungezügelter künstlerischer Rebellion. Der kategorisierende Begriff dafür liegt ihm deutlich näher: Boheme. In seinen »Unpolitischen Erinnerungen« schreibt er:
Vor zwanzig Jahren wurde schrecklich viel über den Begriff der Boheme und des Bohemiens orakelt, und ich gehörte zu denen, die sich gelegentlich in Zeitschriften um die Klärung des wichtigen Problems bemühten, ob ein Bohemien als Produkt sozialer Gegebenheiten oder als ahasverischer Menschentypus anzusehen sei, wie er, unabhängig von Zeit und Umwelt, aus dem Zwang individueller Eigenschaften entsteht. In einem Artikel, den Karl Kraus 1906 in seiner Fackel druckte, habe ich mich, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, im Sinne der Auffassung ausgesprochen, dass Boheme die gesellschaftliche Absonderung künstlerischer Naturen sei, denen die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und der öffentlichen Ordnung nicht entspreche. Wogegen ich besonders polemisierte, war die neckische Leutseligkeit, mit der die Verehrer des »munteren Künstlervölkchens« einen Taler springen ließen, um irgendwo ein gereimtes Dankeschön zu erwischen oder sich im Kreise von Malern, Dichtern und hübschen Modellen angenehm und ein wenig sündhaft unterhalten zu lassen.
Meine eigene Lebensführung entsprach so wenig den Anforderungen grundsatzfester Zeitgenossen an geregelte Ausgeglichenheit, dass das Bestreben, mich doch wie jeden Menschen irgendwo einzuordnen, nur durch die Etikettierung als Bohemien erreicht werden konnte. Die mit dieser Bezeichnung verbundenen Assoziationen werden gemeinhin von Murgers Zigeunerleben und Puccinis Oper hergeleitet, wo materielle Kalamitäten so lange mit leichtsinnigen Scherzen ­verpflastert werden, bis die Kunstjünger arrivieren und die Kapitulation vor sittenstrammer Moral und staatsbürgerlicher Korrektheit vollziehen. Man braucht nur an die ganz großen Bohemenaturen der Weltliteratur, etwa an Li Tai Pe oder François Villon, zu erinnern, um die Seichtigkeit solcher Vorstellungen zu zeigen. Ich habe gewiss viele recht vergnügte Stunden in Gesellschaft künstlerischer Menschen verlebt, und wir haben uns gewiss, wenn kein Geld da war, mit allerlei gewagten Mitteln zu helfen gesucht, weniger, um uns zu amüsieren, als um in häufig schlimmster Not unsere Kameradenpflicht zu erfüllen, aber dass das sozusagen organisierte Bummeln den Lebensinhalt geistig bewegter Persönlichkeiten ausgemacht hätte, dafür habe ich kein Beispiel gefunden. Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Boheme, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.
Stimmt die Definition, dann habe ich nichts gegen meine Charakterisierung als Bohemien einzuwenden, dann ist aber auch klar, dass Boheme angeborene Eigenschaft von Menschen ist, die sich dadurch nicht ändert, dass der Freiheitswille nicht auf die Führung des eigenen Lebens in größtmöglicher Ungebundenheit beschränkt bleibt, sondern sich in Arbeit für die soziale Befreiung aller umsetzt. Bewusst oder geahnt – der Rebellentrotz der Fronde war bei all den Bohemenaturen lebendig, die nur je meinen Weg gekreuzt haben, ob sie sich aus dumpfen Proletarierkreisen, aus bigottischer Kleinbürgeratmosphäre, aus behütetem Bürgerwohlstand oder aus dem Museumsstaub adliger Herrenschlösser zur Freiheit der Künste und zur Geselligkeit auf sich selbst gestellter Menschen geflüchtet hatten. (…)
Die »Neue Gemeinschaft« ließ den sprühenden Glanz ihres Heiligenscheins rasch matt werden. Weihe in Permanenz schafft Narren, Zeloten und Spekulanten. Die Wohnung in der Uhlandstraße diente uns Jungen immerhin in den weihefreien Stunden als Klubraum zur Selbstbeköstigung. Zuerst hatten Gustav Landauer und ich uns die Erlaubnis erwirkt, dort zu kochen. Mir wurde die Erlaubnis dazu allerdings von Landauer bald entzogen, und er, der damals keine Familie hatte, übernahm die Bereitung der Mahlzeiten allein, nachdem ich einmal zur Herstellung von Omeletten alle Milch- und Eiervorräte verrührt hatte, ohne dass die Eierkuchen aufhörten zu zerbröckeln; ich hatte nämlich eine falsche Tüte genommen und statt Mehl Gips erwischt. Bald fand sich als dritter Mittagsstammgast ein Blumen- und Ansichtskartenmaler, Albert Jung, ein, und als Landauer dann zur Begründung seiner zweiten Ehe mit Hedwig Lachmann nach England abreiste, etablierten etliche junge Leute eine reguläre Tischgemeinschaft, und eine Anzahl Damen der »Neuen Gemeinschaft« übernahmen je einen Wochentag, um uns mit einem regelmäßigen Mittagessen zu versorgen. (…) Wir sollten bestimmte Verpflegungsbeiträge leisten, taten es aber selten und ließen uns recht gern von unseren freiwilligen Köchinnen gratis bewirten, am liebsten von der schönen, jungen Ludmilla von Rehren, die stets erlesene Speisen auf den Tisch stellte und in die wir samt und sonders verliebt waren.
Diese Tischgemeinschaft hatte mit Boheme herzlich wenig zu schaffen, sie war für die eigentlichen Zigeuner unter uns Verbürgerlichung, für die zu bürgerlichem Wandel Hinstrebenden so etwas wie Sturm und Drang, für uns alle eine faute de mieux-Angelegenheit, die kennzeichnender für die Entwicklung der »Neuen Gemeinschaft« war als für uns. Die »Neue Gemeinschaft« selbst alterte mit unheimlicher Geschwindigkeit. Die Harts und einige der Gläubigsten erhielten sich ihren Optimismus, andere fanden sich bald enttäuscht. Denn aus dem Überschwang des Sternenfluges zu neuen Lebensformen wurde Gewöhnung und in Jugendstil, der dazumal revoltierend modern war, gekleidete Spießerei. Regelmäßig zweimal wöchentlich gab es Vortragsabende, bei denen manchmal ausgezeichnete Köpfe ausgezeichnete Gedanken entwickelten: Martin Buber zum Beispiel, noch sehr jung, aber schon priesterlich versonnen, sprach im modernen Geiste von altjüdischer Mystik, Dr.Magnus Hirschfeld erzählte von sexuellen Absonderlichkeiten, die beim Namen zu nennen damals noch grauenvoll verwegen schien, es gab sehr interessante und wertvolle Diskussionen – aber der Freiheitsdrang derer, die im »Orden vom wahren Leben« grundstürzende Erschütterung von Himmel und Erde fördern und feiern wollten, blieb ungestillt. Kritik schuf Verstimmung, und der Zorn der Eiferer wandte sich nicht gegen das Kritisierte, nicht dagegen, dass schöngeistige Damen sich gewöhnten, mit Häkelarbeiten dabeizusitzen, wenn Julius Hart unsere Seelen mit All-Einheit impfte, nicht dagegen, dass spleenige Weltreformer zu Dutzenden in der »Neuen Gemeinschaft« ihre Traktätchen zu verhökern suchten, sondern gegen uns junge Stänkerer mit dem Eigensinn des unbestechlichen Idealismus, die wir Verwirklichung forderten und die Gemeinschaft der Vereinsversimplung anklagten.
Die Idee, auf eigener Scholle Verbindung von Arbeit und Verbrauch zu schaffen, lockte sogar Makler herbei, die mit sauber ausgerechneten Voranschlägen in der Tasche an Sonnenwendfeiern draußen in der Mark teilnahmen und zwischen Chorgesang und Weiherede ein smartes Grundstücksgeschäft anregten. Schließlich versackte die ganze Siedlungsidee in einem Kompromiss, der den Bohemecharakter des Plans, Menschen, fern von aller Konvention, ein freies Leben in selbst gewählten Formen führen zu lassen, zur komischsten Karikatur verzerrte. Statt Land zu erwerben, wurde in Schlachtensee ein Säuglingsheim gemietet, dessen Räume nach Bedarf und Zahlfähigkeit unter die Familien verteilt wurden, welche sich bereit zeigten, die Überwindung der Gegensätze durch Benutzung einer gemeinsamen Küche vorzuleben. Auch ein paar junge Adepten der neuen Weltanschauung durften mit hinausziehen; ich gehörte schon nicht mehr dazu, war aber in der ersten Zeit noch häufig als Gast draußen und sah ingrimmig und höhnend die erträumte Herrlichkeit in einem Lustspiel-Pensionat grotesken Kalibers dahinschwinden. Ein paar schöne Feste und künstlerische Veranstaltungen konnten die ursprüngliche Idee nicht retten. 9
So erinnert sich ein etwas altersmilder Mühsam. Der junge Mann aber braucht einen radikalen Bruch und vollzieht ihn 1904 mit einem Artikel für die Zeitschrift »Der Anarchist«. Unter dem deutlichen Titel »Das Ende vom Liede« heißt es dort:
Deutschland ist bekanntlich das Land der »Dichter und Denker«; und es ist erfreulich, dass der Sprachgebrauch diese beiden Kategorien immerhin wertvoller Abarten der Gattung Mensch sorglich auseinanderhält. Denn es gibt nichts Bedenklicheres, als wenn’s die Dichter mit dem Denken, oder die Denker mit dem Dichten kriegen. Solches Zusammenkochen von Hirnschmalz und Seelenbrühe bewirkt fast immer eine ungenießbare Moralsuppe, die auszulöffeln selbst den Urhebern oft recht sauer wird. Am besten ist es hier, man gießt die Terrine einfach aus, wenn man merkt, dass der Inhalt unschmackhaft ist. Zu diesem Radikal-Verfahren scheinen sich denn nun auch die lieben Schlachtenseer entschlossen zu haben, nachdem sich die Köche, die den Brei verdorben haben, zuerst gründlich den Magen vergiftet hatten.
Wen beschliche nicht ein Weltenschauer beim Anblick der beiden gelben und violetten Wedeltücher, die an Sonn- und Feiertagen aus der Urchristen-Brutanstalt am Schlachtensee dem Fremdling der neuen Götter neue Welterkenntnis zuwinken! Diese schmucken Fahnen also sollen, wie glaubwürdig versichert wird, mit dem 1. Oktober dieses Jahres endgültig eingezogen, und dann voraussichtlich zu Reformkleidern für einige der am Religionsstiften seinerzeit beteiligt gewesene Damen umgearbeitet werden.
Wenn Euch also, liebe Genossen, im nächsten Winter in Berlin ein paar sezessionistisch angetane Reformweiber in Tao-Gewändern begegnen, so erkennt daran, wie recht Julius Hart mit seiner Verwandlungslehre hat. Denn, wenn man erwägt, dass die Fahnen, aus denen diese Gewänder entstanden sind, das Symbol einer Gemeinschaft waren, die die Lösung aller ethischen, ästhetischen, religiösen und sozialen Fragen versprach – und nach Julius Harts Philosophie ist ja das Symbol mit dem Symbolisierten identisch – so erhellt daraus, dass jene Damen als wandelnde Lösung der sozialen Frage in Erscheinung treten werden.
Freilich! Als ich vor gut 3 1/2 Jahren mit dem ganzen Enthusiasmus eines vom bourgeoisen Betrieb Angeekelten in der Neuen Gemeinschaft Zuflucht suchte, in der sicheren Voraussetzung, dass all das, was die Brüder Hart damals in ihren Broschüren über das neue Land sagten, das sie gründen wollten, nicht nur Worte seien, sondern Aufstachelungen zu kräftigem Tun; dass das, was Gustav Landauer in seinem Aufsatz »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« (…) ausführte, von denen, die es der Öffentlichkeit übergaben, verstanden und gewürdigt wurde; – da glaubte ich nicht, dass all das, was viele wertvolle und freiheitlechzende Menschen begeistert zusammenführte, eines Tages als Damenkleider-Schleppen durch den Kot gezerrt werden; und dass die so enthusiastisch begrüßte Neue Gemeinschaft keinen andern als den von Frauengewändern herrührenden Tiergartenstaub aufwirbeln würde.
Denn alle die, die sich wirklich der Sache – nicht bloß dem philosophischen Sport – hingaben, taten dies mit dem ausgesprochenen Zweck, dem sozialistisch-individualistischen Ideal zu dienen – und sie alle zogen sich nach und nach zurück, als aus der groß angelegten Idee der »Neuen Gemeinschaft« allmählich erst eine immerhin wertvolle Organisation zur Veranstaltung künstlerischer Soireen, dann – in der Uhlandstraße – eine literarisch-gesellige Vereinigung, dann – in Schlachtensee – eine Familien-Haushaltungs-Genossenschaft, – weiterhin ein Hotel mit Selbstbedienung – und schließlich ein Berliner Vororts-Pensionat wurde, das sich von ebensolchen Institutionen nur noch durch das ethische Aushängeschild unterschied.
Dass man am 1.Oktober nun endlich in Schlachtensee die Bude zuklappen will, ist das erste Versöhnliche, was von der Neuen Gemeinschaft seit langer Zeit zu verzeichnen ist. Wenn nur nicht etwa ein paar Unentwegte auf den Einfall kommen, in erneuten Verbrüderungs-Orgien eine Neuauflage dieser Hartschen Weltbeglückung in Szene zu setzen. Woran scheiterte denn nun die an sich so schöne Idee einer Neuen Gemeinschaft? Erstens an den Gründern! Die Brüder Hart – deren Name als Stürmer und Dränger in der Zeit der sogenannten Literatur-Revolution der 80er Jahre in allen Ehren – kamen auf die überaus verständige Idee, eine Anzahl Menschen um sich zu sammeln, mit denen sie sich aus dem ganzen widerwärtigen kapitalistischen und staatsautoritativem Getriebe absondern wollten, um mit ihnen ein Stück Land zu erobern, auf dem in gemeinschaftlicher Arbeit alles hergestellt werden sollte, was das tägliche Leben erforderte. Dass dieser Plan gut, gesund und durchführbar ist, leuchtet ohne weiteres ein. Die Harts glaubten aber, dass ein gemeinschaftliches Zusammenwirken nicht anders denkbar sei als auf Grund einer gemeinsamen »Weltanschauung«, d.h. gemeinsamen Dogmenglaubens. Jede Glaubenslehre erzeugt aber pfäffische Unduldsamkeit und weiterhin bei denen, die sie ausbreiten, einen Unfehlbarkeitsdünkel, der über dem Bestreben, die Überzeugung vom eigenen Wert allen anderen aufzuoktroyieren, alles praktische Tun vergisst und verhindert.
Nun kommt im Falle Julius Hart hinzu, dass seine Philosophie ein ganz ungenießbares Ragout aus persischen Dichtern und indischen Denkern ist; wobei es gleichgültig ist, ob er das Dichterische durch das Denkerische oder umgekehrt verdorben hat. Jedenfalls stellt diese ganze »Philosophie« aus Gegensatzüberwindung, Verwandlung von Abstraktem in Konkretes, Alleinheit, Autotheismus, Kosmopolitismus und Gegenseitigkeitsverständnis allenfalls eine Dichterphantasie dar, die man zwar nicht konsequent und logisch, aber doch wortreich und anmutig nennen kann; nie und nimmer aber eine Grundlage, auf der sich sozialistische Experimente verwirklichen lassen können. Die positiven Ziele der Gemeinschaft gingen dann auch dadurch glücklich in ihrer positivistischen Umrahmung verloren. Was von Priestern geschoben wird, kippt stets am Felsblock der Pfafferei und fällt entweder in den weichen Dung irgendeiner Konfessions-Sekte oder aber – im günstigeren Falle – zerschellt es. 10
Diese brachiale Abkehr von der »Neuen Gemeinschaft« bedeutet jedoch keinen absoluten Bruch mit der Szene, der sie entsprungen ist, oder gar den Menschen aus ihrem Umfeld. Viel zu überschaubar ist in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts jener Teil der Gesellschaft, der sich über alternative Lebensformen Gedanken macht, Kritik und Zweifel nicht als Ausdruck »jüdischen Zersetzungswillens« erachtet, sich für die Freiheit des Denkens und der Kunst einsetzt. Man kennt sich, man trifft sich, ist letztlich abhängig voneinander. Ohne regelmäßige (auch finanzielle) Unterstützung aus diesen Kreisen wäre Mühsams Lebensentwurf als freier Dichter in jener Zeit schlichtweg nicht denkbar. Aber Mystizismus, Vegetarismus und andere die soziale Frage aussparende lebensreformerische Ansätze werden für ihn künftig nur noch Material für Spottgedichte sein. Seine regelmäßige Tätigkeit als lyrisch-satirischer Kommentator politischer Tagesereignisse in Zeitschriften wie »Der wahre Jakob« oder »Der arme Teufel« und seine Leidenschaft für Schüttelreime haben ihn inzwischen zum gerngesehenen Akteur diverser Kabarettbühnen gemacht. Dennoch sieht er sich nie ausschließlich als Satiriker. Die Liste seiner frühen Veröffentlichungen ist von skurriler Vielfalt: 1903 erscheint die Broschüre »Die Homosexualität. Ein Beitrag zur Sittengeschichte unserer Zeit«, 1904 das gemeinsam mit Hanns Heinz Ewers verfasste Kinderbuch »Billys Erdengang. Eine Elefantengeschichte für artige Kinder« und schließlich mit »Die Wüste« sein Debüt als »ernsthafter« Lyriker, der allerdings auf Haltung nicht verzichten will:
O ihr Verständigen, ihr Gehirnathleten! –Ihr wisst im tiefsten Weltenschrein Bescheid.In euern Rechenseelen grämt kein Leid, –Ihr müsst zu keiner fernen Sehnsucht beten!Der Brummer, der schon früh im BetteDie Qual der Welt ins Ohr mir summt,Euch schreckt er nicht. Ihr wisst: das fetteSechsbein ist ein Insekt, das brummt.Wohl dem, der klug ist und gelehrt!Es stimmt zufrieden, viel zu wissen. –Ihr habt dem frechen Vieh gewehrtUnd wühlt euch wärmer in die Kissen. – –Die Fliege kommt zu mir und andern Tieren,Zu euern Kindern auch, die nicht so klug.Wir fühlen in dem drohungsschweren FlugDen Schmutz der Welt. – Wir schrecken auf und frieren. 11
Wenig später erscheinen die Broschüre »Ascona«, eine weitere Abgrenzung zu den Mystikern und Lebensreformern seines Umfelds, das humoristische Büchlein »Die Psychologie der Erbtante. Eine Tanthologie aus 25 Einzeldarstellungen als Beitrag zur Lösung der Unsterblichkeits-Frage« und schließlich das Lustspiel »Die Hochstapler«. Parallel dazu ist Mühsam inzwischen ständig auf Reisen – in die Schweiz, nach Italien, Frankreich und Österreich, zumeist gemeinsam mit seinem Freund Johannes Nohl, mit dem er zeitweilig auch eine Liebesbeziehung führt. Ihr weitgehend auf Pump oder mit kleinen Gaunereien finanziertes Vagabundenleben ist geprägt von hemmungslosem Hedonismus. Mühsam schreibt zahllose Bettelbriefe an Familie, Freunde und Kollegen, verdingt sich als Kabarettist und verfasst Gedichte und Artikel für zahlreiche Zeitschriften, um ihren exzessiven Lebensstil aufrechterhalten zu können. Fast scheint es, als hätte er sich vom libertären Sozialismus seines Mentors Gustav Landauer abgewendet, hin zum amoralisch-individualistischen Anarchismus Max Stirners. Aber so ist es nicht. In einem Artikel für Karl Kraus’ Magazin »Die Fackel« schreibt er 1906 über sein Boheme-Leben:
Ich persönlich, der ich bei der Untugend der Deutschen, jeden Menschen, mit dem sie sich abzugeben haben, auf eine bestimmte Note festzulegen, das Pech habe, wo immer von mir die Rede ist, mich als das Musterexemplar eines Bohemiens bezeichnet zu finden, verwahre mich entschieden und ausdrücklich gegen diese Charakterisierung, solange sie von den äußeren Symptomen meines Wesens, etwa von meiner Haartracht oder meiner nicht eben übermäßig eleganten Toilette hergeleitet wird.
Was in Wahrheit den Bohemien ausmacht, ist die radikale Skepsis in der Weltbetrachtung, die gründliche Negation aller konventionellen Werte, das nihilistische Temperament, wie es etwa in Turgenjews »Väter und Söhne« zum Ausdruck kommt, und wie es Peter Kropotkin als das Charakteristikum der russischen Nihilisten in den »Memoiren eines Revolutionärs« schildert.
Gewiss offenbart sich dieses Temperament, das alle Anpassung an die uniforme Lebensart des Philisters fanatisch perhorresziert, äußerlich in der Methode, die der Bohemien wählt, um sein eigenes Ich gegen die Masseninstinkte der Gesellschaft durchzusetzen. Immer wird der Bohemien ein Sonderling sein, und schon deshalb wäre es lächerlich, ein Schema für die Lebensweise der Boheme aufzeigen zu wollen. (…)
Die Verzweiflung über die Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen sich und der Masse, die Wut gegen den vertrottelten Konventionsdrill der Gesellschaft mag natürlich den Bohemien oft genug zum bewussten Auftrotzen gegen das Gewöhnliche verführen, das sich in der brutal zur Schau getragenen Unterstreichung des Andersseins äußert. Den Schluss, den Julius Bab in seiner Arbeit über die Berliner Boheme 12 daraus zieht, indem er den Bohemien »asozial« nennt, halte ich für falsch. Im Gegenteil wird die schroffe Ablehnung der bestehenden Zustände mit allen ihren Ausdrucksformen in den allermeisten Fällen mit der sehr sozialen Sehnsucht nach einer idealen Menschheitskultur verbunden sein.
Sehr verdienstvoll ist dagegen die Parallele, die Bab zwischen der Boheme und dem Anarchismus zieht. Der Hass gegen alle zentralistischen Organisationen, der dem Anarchismus zugrunde liegt, die antipolitische Tendenz des Anarchismus und das anarchistische Prinzip der sozialen Selbsthilfe sind wesentliche Eigenschaften der Bohemenaturen. Daher stammt denn auch das innige Solidaritätsgefühl zum sogenannten fünften Stande, zum Lumpenproletariat, das fast jedem Bohemien eigen ist.
Es ist dieselbe Sehnsucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet, seien sie nun ausgestoßen von der kaltherzigen Brutalität des Philistertums, oder seien sie Verworfene aus eigener, vom Temperament diktierter Machtvollkommenheit. Die Mitmenschen, die mit lachendem Munde und weinendem Herzen die Kaschemmen und Bordells, die Herbergen der Landstraße und die Wärmehallen der Großstadt bevölkern, der Janhagel und Mob, von dem selbst die patentierte Vertretung des sogenannten Proletariats weit abrückt –sie sind die engsten Verwandten der gutmütig belächelten, als Folie philiströsen Größenwahns spöttisch geduldeten Künstlerschaft, die in ihrer verzweifelten Verlassenheit mit der Sehnsucht eines erhabenen Zukunftsideals die Welt befruchtet.
Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Boheme, die einer neuen Kultur die Wege weist. 13
Tatsächlich verfasst Mühsam auch während seiner »Wanderjahre« aufrührerische Flugblätter und hält flammende Reden auf politischen Versammlungen im gesamten deutschsprachigen Raum. Seit 1903 wird er deshalb regelmäßig von Polizeispitzeln überwacht, deren Berichte ihn als »gefährlichen Agitator« und »einen der zügellosesten anarchistischen Hetzredner«14 klassifizieren. In seinen »Unpolitischen Erinnerungen« schreibt er über diese Zeit:
Ich galt ja wohl lange Zeit als »Prototyp eines Kaffeehausliteraten«, und doch war es für niemanden ein Geheimnis, dass ich in Arbeiterzirkeln verkehrte, mit Zettelverteilung und Hauspropaganda Kleinarbeit tat, an Gruppenabenden Vorträge und in öffentlichen Versammlungen Agitationsreden hielt. Ich stand als Angeklagter in politischen Prozessen vor dem Strafrichter, und jeder wusste, dass ich im Privatleben unter Künstlern zigeunerte, in Kabaretts lustige Gedichte, Schüttelreime und allerlei Bosheiten vortrug, mich in Berlin, München, Zürich, Genf, Florenz, Paris, Wien herumtrieb, in fidelen Ateliers, ein Mädel auf dem Schoß, schlechte Witze riss, mit den zeitlosen Schwärmern der Boheme, wie dem prachtvollen Friedrich von Schennis, ganze Nächte durch zechte und mit vielen berühmten Leuten, die ich – nicht immer bloß für mich – anpumpte, befreundet war. 15
Wie man sich den jungen Mühsam als Agitator unter polizeilicher Beobachtung vorstellen kann, zeigen die Polemiken, die er in jenen Jahren in verschiedenen linkssozialistischen Zeitschriften veröffentlicht, wie hier 1904 unter dem Titel »Die Knute im Rechtsstaat«:
Bei uns konnten so energetische Bewegungen, wie sie seit drei Jahren und länger in Russland von den revolutionären Sozialisten und Anarchisten gefordert werden, nicht aufkommen, obgleich immer wieder behauptet wird, das Polizeiregime in Russland sei das kulturwidrigste der Welt. Freilich will ich damit unerörtert lassen, ob nicht die Sozialdemokratie dadurch, dass sie bei zu kräftiger revolutionärer Propaganda gewisse politische Interessen gefährdet sieht, solche geflissentlich hintangehalten hat. Auch dürfte es sich ja mit Rücksicht auf das Strafgesetzbuch nicht eben für mich empfehlen, die terroristischen Akte der revolutionären Elemente Russlands als vorbildlich für die deutschen Unterdrückten hinzustellen.