Das geheime Sanatorium -  - E-Book
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Das geheime Sanatorium E-Book

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Beschreibung

Wohin wendet sich ein Werwolf, wenn er eine Blutphobie hat? Wo lassen sich Untote bei Problemen mit ihrer neuen Daseinsform beraten? Wo nimmt man eine liebreizende Drud ernst? – Natürlich im geheimen Sanatorium! Verborgen in den Karpaten befindet sich in einem unterirdischen Labyrinth eine Psychiatrie für Fantasywesen. Doch der Alltag ist dort keineswegs nur durch Therapiesitzungen geprägt! Im geheimen Sanatorium werden Verbrechen aufgedeckt, gibt es Liebeleien und Querelen, entstehen Freundschaften zwischen den aberwitzigsten Kreaturen ... 10 Autoren erzählen in 13 miteinander verknüpften Episoden von phantastischen Abenteuern zwischen Therapieraum und Salzsteinoase. Entschlüsseln Sie mit uns die verborgenen Winkel der Psyche! Der Beitrag "Der Fall Ernesto Tortuga - Maitre und Kosmonaut" von Günther Kienle aus "Das geheime Sanatorium" wurde beim Vincent Preis 2020/2021 (verliehen im April 2022) als beste Kurzgeschichte ausgezeichnet! Die gesamte Anthologie landete in ihrer Kategorie auf dem dritten Platz.

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SusannasPlace

Wenn es nichts besseres gibt...

Die Idee ist gut. Der Rest leider…
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Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

Gelesen dank Netgalley. Das geheime Sanatorium - eine Sammlung von Kurzgeschichten rund um eine Sanatorium für magische Wesen in den Karpaten. 3 junge Hexen betreiben eine Nacht lang Bingewatching dieser Fernsehserie und hoffen in dem Special einen Backstage-Tag im Sanatorium zu gewinnen. In diese Rahmengeschichte eingebettet lesen wir von den unterschiedlichsten magischen Wesen und ihrer Behandlung. Da die Geschichten von verschiedenen Autoren geschrieben sind, sind zwar die Hauptfiguren gleich, Stil und Aufbau der Geschichten ist aber sehr unterschiedlich und hält dadurch die Spannung aufrecht. Insgesamt war für mich aber auch in dem Umfang die Idee auserzählt - also interessanter Angang und gute Länge. Wie immer bei Geschichtensammlungen gab es stärkere und schwächere "Episoden" mal mit mehr, mal mit weniger Humor. Nett für zwischendurch und das Ende war auch gut und stimmig. #DasgeheimeSanatorium #Netgalleyde! #KathrinliebtLesen #Bookstagram
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Beliebtheit




Nadine Muriel, Rainer Wüst (Hrsg.)
Das geheime Sanatorium
Phantastische Geschichten von den Autoren: Effi Clifford Eweka, Andreas Flögel, Thomas Heidemann, Laurence Horn,Günther Kienle, Nadine Muriel, Michael Schmidt, Amandara M. Schulzke,Nele Sickel, Asmodina Tear, Günter Wirtz, Rainer Wüst
Anthologie

Inhalt

Reality SoapGrispaEin Bild von einem MannDer Fall Ernesto Tortuga – Maître und KosmonautHämatophobieReality SoapEine geheimnisvolle PatientinFemme FataleIn der Haut des TodesEntemapenteDer TrickserDer Tote in der SalzsteingrotteReality SoapPost mortemDie traurige VampirinHumphreyReality SoapAbspannViten

Reality Soap

(von Nadine Muriel)
Gina kicherte aufgekratzt, während sie den Tisch ihrer WG-Wohnküche freiräumte. Eine Socke, ein abgeknickter Zauberstab, diverse Tuben mit selbstgebrauten Salben, leere Schokochips-Packungen, ein Notizblock sowie mehrere zerfledderte Ausgaben der Zeitschrift »Hexen heute« verschwanden unter der Eckbank. Nur das Feuerzeug mit der himbeerfarbenen Aufschrift Das geheime Sanatorium legte Gina sorgsam auf das Regal zu den Plüschfiguren von den beiden Heinzelwesen Lotte und Jupp.
Neben ihr tänzelte Amalia herum, bekleidet mit einer tomatenroten Leggins sowie einem Shirt, auf dem das Gesicht von Dr. Bolze, dem Leiter des geheimen Sanatoriums, abgebildet war. Während Amalia eisgekühlten Cappuccino mit Amaretto mixte und in eine Thermoskanne füllte, trällerte sie lauthals den Titelsong der Serie »Das geheime Sanatorium«. Dazu schwenkte sie gutgelaunt ihre über hundert Kilo im Takt. Mehrere volle Thermoskannen waren bereits neben dem Herd aufgereiht.
Die Vorfreude sprühte wie ein Feuerwerk durch Gina hindurch. Diesem Tag fieberte sie seit Wochen entgegen! Amalias jauchzender Singsang ließ ihre angespannten Nerven zusätzlich vibrieren. Trotz ihrer eigenen Begeisterung hätte Gina ihrer Mitbewohnerin am liebsten ein Pflaster auf den Mund geklebt. Amalia sollte nicht so einen Radau veranstalten! Sonst würden die Dämonen nebenan ihnen wieder das Internet abschalten. Gina und ihre Mitbewohnerinnen durften zwar deren Router mitbenutzen, aber die Geduld ihrer Nachbarn war nicht unbegrenzt.
Während Gina ihren Kissenbezug – er war mit einem Bild von Peter Degenhardt, dem Chauffeur des geheimen Sanatoriums, bedruckt – auf dem Tisch ausbreitete, warf sie einen ängstlichen Blick auf den Laptop, der auf der Anrichte stand. Nein, alles okay, über den Monitor flimmerte weiterhin die Reportage über die Versammlung einer Interessensvertretung seeuntüchtiger Klabautermänner.
Jasmin, ihre andere Mitbewohnerin, trat mit einer Platte selbstgebackener Muffins neben sie. In ihrem braunblonden Haar glänzte die silberne Haarspange in Form einer Blüte, die sie immer zu besonderen Anlässen trug.
»Moment, ich bin noch nicht fertig!«, schrie Gina gegen Amalias Gesang an. Sie zog die Gartenzwerg-Servietten aus der Tischschublade. Im Fan-Shop des geheimen Sanatoriums waren Servietten schon seit Wochen ausverkauft. Offensichtlich waren Gina, Amalia und Jasmin nicht die einzigen, die in liebevoller Akribie die »lange Sanatoriumsnacht« zelebrieren wollten. Umso glücklicher war Gina, dass sie bei ihrem letzten Ausgang in die Stadt zufällig diesen Ersatz entdeckt hatte. Gartenzwerge hatten zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit Heinzelmännern und -frauen.
Jasmin bedachte erst Gina, dann Amalia mit einem genervten Blick. »Meine Güte, ihr führt euch nur wegen dieser trivialen Arztserie mal wieder auf wie Katzen, die zu lang am Baldriankissen geschnuppert haben«, brummelte sie.
Amalia wirbelte herum, die Thermoskanne gegen die füllige Brust gepresst. »Warum schaust du dir denn mit uns ›Das geheime Sanatorium‹ an, wenn du es zu albern findest?« Sie starrte demonstrativ auf Jasmins Fan-Shirt, auf dem das Faktotum Boris Horowicz abgebildet war, und schmunzelte gutmütig.
Jasmin reckte ihr spitzes Kinn nach oben. »Aus wissenschaftlicher Neugier.«
»Klar, biologisches Interesse an der Anatomie eines gewissen Schlüsselmetamorphs.«
Jasmin errötete. »Unsinn. Du weißt doch, ich hab ein paar Semester Psychologie studiert, bevor … Na ja, ich finde es spannend zu analysieren, nach welcher Lehrmethode Bolze jeweils vorgeht. Es ist echt in jeder Folge eine andere.«
»Wenn wir den Backstage-Day gewinnen, kannst du ja ausführlich mit ihm darüber fachsimpeln.«
»Ach was, da können wir uns höchstens zusammen mit ein paar Schauspielern in irgendeiner unterirdischen Kulisse in den Karpaten den Allerwertesten abfrieren. Du glaubst doch nicht, dass es das geheime Sanatorium wirklich gibt?«
»Aber laut Programmheft ist ›Das geheime Sanatorium‹ eine Reality Soap, keine normale Serie. Und auch in der Online-Fan-Community hat erst kürzlich wieder eine Fee, Fabricia, geschrieben, dass sie tatsächlich mal dort in Behandlung war, wegen ihrer Scherbenphobie.« Amalia gestikulierte aufgeregt. Die Thermoskanne schwankte besorgniserregend. »Sie meinte, man muss am Empfang unterschreiben, dass man damit einverstanden ist, gegebenenfalls in der Serie gezeigt zu werden, und …«
Ein Scheppern ertönte. Amalia kreischte auf wie eine rostige Kreissäge.
Gina, die dem üblichen Geplänkel ihrer Mitbewohnerinnen nur halbherzig zugehört hatte, fuhr auf.
Amalia presste erschrocken beide Hände vor den Mund. Neben ihr auf dem Boden lag die Thermoskanne, aus der ein letztes Rinnsal tröpfelte. Ihr ehemals weißes Shirt war mit einer milchigbraunen Flüssigkeit durchtränkt. Das Konterfei von Dr. Bolze darauf sah nun aus, als habe der Psychotherapeut einige intensive Sitzungen auf der Sonnenbank hinter sich. Allein bei dieser Vorstellung gluckerte das Kichern in Gina empor wie Sprudelbläschen in einem Limoglas.
Aber ein Blick in Amalias Gesicht zeigte ihr, dass jegliche Witzeleien jetzt unangebracht waren. Ihre Mitbewohnerin schaute so verzweifelt, als hätte sie gerade das Sofa in ein menschenfressendes Ungeheuer verhext und den Zauberspruch vergessen, um die Verwandlung rückgängig zu machen.
»Ich … die Kanne … Plötzlich ist sie mir aus der Hand gerutscht.« Amalias Stimme kiekste und ihre Unterlippe zitterte. »Immer bin ich so ein Tollpatsch! Kein Wunder, dass ich schon im ersten Hexenexamen durchgefallen bin.« Sie krallte ihre rotlackierten Fingernägel in das Shirt.
Ist doch nicht so schlimm; die lange Sanatoriumsnacht wird nicht weniger schön, nur weil du ein anderes Shirt trägst, wollte Gina sagen, brachte es jedoch nicht übers Herz. Sie würde ja klingen wie ihre eigene Mutter! Die andauernden Ermahnungen – nun werd nicht hysterisch, steiger dich da nicht so rein, würdest du nur in wichtige Sachen so viel Ener­gie legen wie in deine Spinnereien – hallten noch immer in Ginas Ohren. Das fühlte sich an, als würde jemand mit Kreide auf einer Glasscheibe kratzen. Und nein, verdammt, wenn man sich wochenlang auf einen Abend gefreut und mit viel Herzblut alles daran gesetzt hatte, dass er perfekt wurde, war ein ruiniertes Fan-Shirt eben keine Lappalie!
»Vielleicht können wir ja ausnahmsweise den Fleck weghexen?«, schlug sie vor.
Jasmin bedachte sie mit einem Blick, der selbst einen Großbrand hätte gefrieren lassen. »Nein! Du kennst unsere WG-Regeln: Hexen ist in der Wohnung strikt verboten. Grundsätzlich. Wir hatten schon genug Ärger deswegen.« Dann legte sie behutsam einen Arm um Amalias Schultern. »Komm, wir schauen gemeinsam, was dein Kleiderschrank sonst noch Schickes zu bieten hat. Eigentlich ist das T-Shirt doch sowieso viel zu schlicht für so einen besonderen Abend.«
Gina sah ihnen nach, wie sie in den Flur verschwanden. Jasmin war einfach ein Goldstück, trotz ihrer oftmals ruppig zur Schau gestellten Besserwisserei.
Dann wandte sie sich wieder dem Tisch zu, verteilte die Servietten, füllte Erdnüsse in Schälchen und platzierte schließlich die Platte mit Muffins in der Mitte. Dabei stellte sie fest, dass auf alle Gebäckstücke Zuckeraugen geklebt waren – jeweils ein blaues und ein braunes. Genau wie bei Boris Horowicz. Die Striche aus Lebensmittelfarbe sollten wohl den Mund sowie die Narbe auf Boris Wange darstellen.
Grinsend kramte Gina aus dem Geschirrberg in der Spüle die drei Fan-Tassen hervor. Klar, ganz egal, was Jasmin behauptete – auch sie liebte das »geheime Sanatorium«. Kein Wunder, diese Serie war einfach grandios. Gebannt verfolgten Gina, Amalia und Jasmin Woche für Woche in ihrer WG-Wohnküche, wie der kluge Psychotherapeut Emil Bolze mit Charme und Geschick in seinem Sanatorium phantastische Kreaturen mit psychischen Problemen therapierte. Mal war es ein Zombie mit Minderwertigkeitskomplexen, ein andermal eine traumatisierte Nixe, dann wiederum wollte ein Drache seine Flugangst überwinden … Dabei ging es jedoch keinesfalls nur um tranige Therapiesitzungen. Im geheimen Sanatorium wurden Intrigen geschmiedet, Verbrechen aufgedeckt, Rachegelüste ausgelebt oder vereitelt, es gab Liebschaften unter den Patienten und zwischenmenschliche Querelen … Und es gab Peter Degenhardt, den Fahrer: Eloquent, höflich, attraktiv … Genau so einen Freund hatte Gina sich immer gewünscht. Wenn man das geheime Sanatorium als einen Cocktail spritziger Ideen sah, dann war Peter Degenhardt die Zuckerkirsche darauf.
Früher, als Gina noch in der Menschenwelt lebte, hatte sie manchmal die Schwarzwaldklinik geschaut – aber die war eine Einschlafhilfe im Vergleich zum geheimen Sanatorium. Längst war in ihrer Hexen-WG jeder Sonntagabend dem geheimen Sanatorium gewidmet. Jasmins Genörgel gehörte ebenso zu dem liebgewonnenen Ritual wie der Iced Cappuccino Amaretto, das Kult-Getränk der beiden Heinzeldamen Lotte und Hanne.
Und heute stand etwas ganz Besonderes an: die lange Sanatoriumsnacht! Von zehn Uhr nachts bis sechs Uhr morgens würde »Das geheime Sanatorium« ausgestrahlt; ältere und neue, bisher nicht gezeigte Folgen. Zum Schluss sollte es noch ein Special geben … Ja, sogar ein Gewinnspiel war geplant! Während der Filme, so hatte es in der Vorankündigung geheißen, würden acht Fragen eingeblendet. Wenn man sie richtig beantwortete, ergab sich nach und nach das Lösungswort. Der erste Preis war ein Backstage-Day für drei Personen im geheimen Sanatorium.
Gina wusste, die Chance war ausgesprochen gering. Allein die Online-Fan-Community zählte über eine Million Mitglieder. Und das war nur die Spitze des Eisbergs. Erst kürzlich hatte Gina in »Hexen heute« gelesen, dass »Das geheime Sanatorium« bei den fantastischen Kreaturen auf Platz zwei der beliebtesten Serien weltweit lag. Man konnte sich also vorstellen, wie viele Hexen, Magier, Geister und andere Wesen heute gebannt die lange Sanatoriumsnacht verfolgten, Stift und Papier griffbereit, um anschließend das Lösungswort auf die Reise zu schicken … Gina hatte in der Schule in Wahrscheinlichkeitsrechnung nie gut aufgepasst, wusste aber auch so, dass sie sich eigentlich keine Hoffnung zu machen brauchte. Und trotzdem …
In diesem Moment betraten Amalia und Jasmin die Küche. Amalia trug jetzt zu ihrer knatschroten Leggins einen taubengrauen, flauschigen Glitzerpulli mit einem Muster aus Strasssteinchen am Ausschnitt. Jasmin hatte über ihr Fan-Shirt eine kimonoartige Seidenjacke gestreift.
»So was wie das geheime Sanatorium nennt man Scripted Reality«, redete Jasmin gerade auf Amalia ein. »Das bedeutet, sowohl das Drehbuch als auch die gesamte Inszenierung sind darauf angelegt, dem Zuschauer größtmögliche Authentizität vorzugaukeln. Dieses Konzept funktioniert deswegen so gut, weil es keine Kennzeichnungspflicht für fiktionale Inhalte gibt. Oder anders ausgedrückt: Kein Gesetz verbietet es, ein erfundenes Fernsehformat mit dem Untertitel Reality Doku oder Reality Soap zu versehen.«
»Aber diese Fabricia in der Online-Fan-Community …«
»… arbeitet wahrscheinlich für den Sender und hat die Aufgabe, unter wechselnden Nicknames in diversen Fan-Portalen regelmäßig spektakuläre Infos zu verbreiten, um so das Interesse anzufachen«, dozierte Jasmin weiter. »Oder sie ist einfach eine geltungssüchtige Wichtigtuerin.«
Also waren Amalia und Jasmin mal wieder bei ihrem Lieblings-Diskussionsthema angelangt: der Frage, ob das geheime Sanatorium wirklich existierte.
Tief im Innern wusste Gina ja, dass Jasmin vermutlich recht hatte. Aber sie wollte so gern glauben, dass irgendwo in den Karpaten tatsächlich das herrlich verrückte geheime Sanatorium lag, mit seinen Heinzelmännchen als Pflegekräften, den kräftigen Golems und natürlich Dr. Bolze. Der unscheinbare Psychotherapeut mit dem schütteren Haar, der Brille und der Vorliebe für Polohemden wirkte wie ein sicherer Hafen, in dem man mit jedem nur erdenklichen Seelenballast unbesorgt ankern konnte. Und vor allem wollte Gina so gern glauben, dass sie, falls sie wirklich den ersten Preis bei der langen Sanatoriumsnacht gewannen, Peter Degenhardt treffen würde … Allein bei der Vorstellung, ihm gegenüberzustehen, wurden ihre Hände schweißnass und ihre Kopfhaut prickelte. Hoffentlich würde sie nicht in hysterisches Gekicher ausbrechen! Ihr war ja schon jetzt zumute, als flute Sekt durch ihre Adern.
»Hi Peter. Es war schon immer mein Wunsch, eine Limousine zu steuern … Hättest du Lust, mit mir eine kleine Spritztour zu unternehmen?«, formten ihre Lippen lautlos. Nicht mal Amalia und Jasmin durften wissen, dass sie schon seit Wochen diesen Satz täglich vor dem Spiegel übte.
»Bist du endlich fertig?«, grummelte Jasmin und riss Gina damit aus ihren Träumereien. »Es geht gleich los.«
Tatsächlich: Über den Laptop-Monitor lief bereits der Abspann der Reportage über die seeuntüchtigen Klabautermänner. Ginas Herz klopfte noch schneller als zuvor.
Jasmin und Amalia hatten sich inzwischen auf das Sofa gesetzt.
»Fast.« Gina stellte drei Tassen auf den Tisch – für sich natürlich die mit dem Bild von Peter Degenhardt, für Amalia die mit Boris Horowicz und Jasmin bekam Mel Lawisstan, einen der beiden Psychotherapeuten, die in den älteren Staffeln Bolze bei seiner Arbeit unterstützt hatten. Verschwörerisch zwinkerte sie Amalia zu, schenkte allen Iced Cappucino Amaretto ein und quetschte sich neben ihre Mitbewohnerinnen auf das Sofa.
»Ich bin ja so gespannt, ob sie diesmal auch die Folge zeigen, in der dieser Succubus sich in einen Golem verliebt hat und ihn mit nach Hause nehmen wollte«, quasselte Amalia aufgeregt.
Die Golems bildeten das Sicherheitspersonal im geheimen Sanatorium. Sie wurden in einer Abstellkammer aufbewahrt. Es war dem Succubus nicht schwer gefallen, den Golem zu manipulieren; immerhin brauchte es nur den richtigen Befehl auf dem Zettel, den man in den Mund des Lehmwesens schob.
»Ich würd lieber die Story mit der traurigen Vampirin sehen.« Während sie sprach, vertauschte Jasmin scheinbar beiläufig ihre Tasse mit der von Amalia. »Die ist so … ergreifend.«
Gina und Amalia grinsten einander an. Auch Jasmins unauffälliges Ringen um die Tasse mit Boris Horowicz gehörte zu ihrem allwöchentlichen Ritual.
Dann richteten sich alle Blicke gebannt auf den Laptop.
Die Kamera schweifte über eine majestätische Landschaft aus wolkenverhangenen Gipfeln, schroffen Felsen und gigantischen Nadelwäldern. Gina atmete tief ein. Ihr war, als könne sie den wilden, herben Duft aus dem Bildschirm heraus riechen.
Langsam wurde an ein edles Waldschloss herangezoomt, über dessen Tür die Aufschrift »Hotel spa« prangte.
»Versteckt in den geheimnisumwitterten Karpaten liegt ein prunkvolles Gemäuer«, ertönte eine sonore Stimme aus dem Off.
Wie Jasmin und Amalia kannte auch Gina den Vorspann auswendig. Unisono sprachen sie jedes Wort mit: »Aufmerksamen Betrachtern fällt jedoch rasch auf, dass es sich keineswegs um ein normales Kurhotel handelt.«
Die Kamera fuhr an der Fassade entlang, zeigte vergitterte Fenster, dann schweifte sie zu der hohen Mauer, die den Hotelpark umgab.
»In dieser sonderbaren Behausung verbirgt sich ein Luxus-Nervensanatorium für Reiche und Berühmte, die inkognito bleiben wollen. Doch dieses vermeintliche Geheimnis, das mit etwas Hartnäckigkeit leicht zu lüften ist, lenkt nur davon ab, dass das Gebäude noch ein weiteres Mysterium birgt …«
Der Sprecher machte eine bedeutungsschwere Pause. Verzerrte Synthesizerklänge jagten – wie immer an dieser Stelle des Vorspanns – einen Schauer über Ginas Rücken.
»Denn unter dem ›Hotel spa‹, tief in den Eingeweiden des Berges, befindet sich das geheime Sanatorium für phantastische Kreaturen, geleitet von Dr. Emil Bolze, der einst aus Köln in die Karpaten kam. In seinem Gefolge ein Trupp treuer Heinzelmännchen und -weibchen …«
Die Kamera schwenkte zu einem heruntergekommenen, offenbar ungenutzten Wirtschaftsgebäude rechts neben dem Eingang des Hotel spa. Vernietete Eisenplatten ersetzten Fenster und Türen.
Die düstere Geräuschkulisse ging in die lebhafte Titelmelodie über. Die Eisentür flog wie von Zauberhand auf. Gleich darauf zeigte der Bildschirm einen lichtdurchfluteten Raum mit einer hellen Sitzgarnitur: der Aufnahmebereich des geheimen Sanatoriums. Am Empfangstresen stand ein stämmiges Heinzelweibchen mit großen Brüsten und einem knielangen Bart. Fröhlich winkte es in die Kamera. Neben ihr erschien in geschwungenen Lettern der Schriftzug »Lotte«.
Zeitgleich wurde in einem blumenumrahmten Kasten die erste Frage eingeblendet: »Wie lautet der erste Buchstabe vom Namen des Heinzelweibchens an der Rezeption?«
Jasmin stöhnte entnervt auf.
Amalia knallte ihre Tasse so vehement auf den Tisch, dass ein Schluck Cappuccino über Mel Lawisstans Gesicht schwappte. »Wollen die uns veralbern?«
Auch Gina hätte am liebsten vor Empörung aufgeschrien. Wie unfair! Solche Kinkerlitzchen konnte ja jeder Hohlschädel beantworten. Wenn die Rätsel derart himmelschreiend schlicht blieben, schmälerte das ihre eigenen Chancen auf den Hauptgewinn immens. Nun würde womöglich irgendeine Dumpfgurke, die nicht mal wusste, dass das geheime Sanatorium einen eigenen Fahrer hatte, Peter Degenhardt die Hand schütteln …
Unterdessen sah man auf dem Laptop den altertümlichen Aufzug, der tief in den Berg und damit in das eigentliche Sanatorium führte, dann einige Gänge des verschachtelten unterirdischen Labyrinths. Heinzelmännchen und –weibchen eilten geschäftig umher. Im Aufenthaltsraum stand Jupp, das Heinzelmännchen, das die Aufgaben der übrigen koordinierte.
Rasch spülte Gina ihren Ärger mit einem großen Schluck Cappuccino herunter. Sie wollte sich die lange Sanatoriumsnacht nicht verderben lassen. Dass nicht ausgerechnet sie den Backstage-Day ergattern würde, war ja eigentlich ohnehin klar.
Während die Titelmelodie weiterlief, wurde der Salzsteingarten gezeigt: eine verwinkelte, parkähnliche Anlage mit schillernden, sinnverwirrend verdrehten Stalagmiten und Stalagtiten, bizarren Felsgebilden in allen erdenklichen Farben, sprudelnden Bachläufen und zahlreichen Grotten. In einer davon verschwand gerade eine ätherisch wirkende Gestalt. Das war der Berggeist, die personifizierte Seele des Berges, die seit jeher in diesem unterirdischen Höhlensystem residierte. Bolze hatte sie bei seiner Ankunft bereits dort vorgefunden und musste es akzeptieren, dass sie gelegentlich in Gestalt einer betörend schönen Frau seine Patienten becircte oder eigenmächtig in die Geschehnisse eingriff.
Amalia seufzte hingebungsvoll. Auch Gina wurde erneut wehmütig. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, selbst in diese märchenhafte Phantasmagorie zu gelangen …
Emil Bolze wurde in einem der vielen Therapieräume gezeigt. Der schmächtige Mittfünfziger mit dem Spitzbart trug ein dezentes nachtblaues Polohemd und machte eine beschwichtigende Geste in Richtung eines wütend aufstampfenden Zentauren.
Den Abschluss des Vorspanns bildete Boris Horowicz. Die hünenhafte Gestalt mit den harten Gesichtszügen und der Narbe auf der linken Wange streckte den rechten Zeigefinger aus, der sich sogleich in einen Schlüssel verwandelte.
»Der Hausmeister ist so cool«, murmelte Gina verzückt, trank ihren Iced Cappuccino Amaretto aus und schenkte sich sofort nach.
Als sie zum ersten Mal »Das geheime Sanatorium« gesehen hatte, war sie überzeugt gewesen, dieser furchteinflößende Koloss könne nur einer Schläger-Gang angehören. Aber stattdessen erwies der Schlüsselmetamorph sich als ungemein gutmütig und seine Hilfsbereitschaft kannte keine Grenzen – solange man nicht seine Hände berührte, denn das versetzte Boris stets in einen berserkerhaften Blutrausch.
»Im geheimen Sanatorium gibt es keinen Hausmeister«, korrigierte Jasmin. »Boris ist das Faktotum, also das Mädchen für alles. Das ist etwas ganz anderes.«
»Ist doch egal«, warf Amalia ein. »Ich frage mich immer, was ihn und Emil Bolze verbindet. Ist euch schon mal aufgefallen, dass Boris sich gegenüber Emil fast alles herausnehmen kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden?«
»Vielleicht zeigen sie ja im Special, woher Emil und Boris sich kennen?«
»Nun seid doch endlich ruhig, es geht los!«, schimpfte Jasmin. »Sonst beschwert ihr euch nachher wieder, dass ihr nicht wusstet, um was es geht, weil ihr den Anfang verpasst habt.«
Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem gerade Lotte zwei Gestalten durch einen serpentinenartigen Tunnel führte. Überlagert wurde die Szene von dem Schriftzug »Grispa«.

Grispa

(von Günter Wirtz)
Emil Bolze war in seinem Leben schon den absonderlichsten Wesen begegnet. Aber die beiden Gestalten, die das Heinzelweibchen Lotte soeben von der Aufnahme in sein Behandlungszimmer geführt hatte und die nun vor ihm schwebten, brachten selbst ihn zum Erstaunen. Mehr noch, die Erscheinung der einen Frau versetzte ihn, den kaum etwas aus der Ruhe bringen konnte, in eine namenlose Furcht. Kein Wunder, sah sie doch aus, als wäre sie geradewegs der Hölle entstiegen, und zwar dem neunten, dem innersten Kreis, wo die Ausgeburten der düstersten Phantasien hausten. Aber nicht, wie Dante sie sich vorstellte, sondern er selbst. Und das war das eigentliche Grauen. Dass die Gestalt vor ihm offenbar in dem schlammigen Boden seines Seelentümpels gründelte, um Ängste aufzuscheuchen, von deren Existenz er bislang nur dunkel etwas geahnt hatte.
Aus ihrer Kopfhaut räkelten sich fingerdicke Aale, die mit zahnlosen Mäulern nach Luft schnappten. Die Augen der Frau waren Löcher, sodass er durch sie hindurch auf die Regalwand mit seinen Fachbüchern blicken konnte. Nase und Mund suchte er vergeblich. Stattdessen wölbte sich aus der Mitte des Gesichts eine Schnauze mit spitzen Zähnen. Einen Hals konnte Emil nicht erkennen. Es sah aus, als wäre der Kopf direkt mit dem Rumpf verwachsen, der von einem Rollkragenpullover bedeckt wurde. Unter der kratzig wirkenden Wolle erhoben sich zwei enorme Brüste, die wie Torpedorohre auf ihn zielten und jede seiner Bewegungen verfolgten. Beine schien dieses Wesen nicht zu besitzen.
Für eine Weile starrte der Arzt sein Gegenüber sprachlos an, um die grauenvollen Erinnerungen, die es in ihm weckte, zu verdauen.
Aale: Vor etwa vierzig Jahren hatte Emil den Film »Die Blechtrommel« gesehen. Seitdem bekam er das Bild von den Aalen, die sich in dem Pferdekopf suhlten, nicht mehr aus dem Kopf.
Löcheraugen: Die Vorstellung, nicht mehr sehen zu können, war für einen Mann, dessen Lebensziel darin bestand, andere zu durchschauen, unerträglich.
Hundeschnauze: Kynophobie, die Angst vor Hunden, ausgelöst von einem rotzfrechen Pekinesen, der ihn als Kind auf dem Schulweg immer angekläfft hatte.
Rollkragenpullover: Seine mit einer stattlichen Oberweite ausgestattete Tante hatte ihm jedes Jahr zu Weihnachten einen Rollkragenpullover gestrickt. Das Kratzen am Hals würgte ihn schon damals wie die Hanfschnur eines Galgenstricks. Es war der Inbegriff eines Über-Ichs, von dem er sich zu befreien suchte. Letztlich war es der Rollkragenpullover, der ihn dazu veranlasst hatte, Psychologie zu studieren. Nebenbei erklärte dies seine Vorliebe für Polohemden – und auch, warum er Frauen mit opulenten Brüsten lieber aus dem Weg ging.
Erschüttert zog Emil sein Fazit. Nur ein Wesen war imstande, all das zu wissen und als individualisierter Alptraum vor ihm zu erscheinen: eine Drud.
Die Drud schien sich ihrer Wirkung bewusst zu sein, denn die Lefzen der Schnauze wölbten sich grinsend nach oben.
»Ich schätze, Sie haben ein besonderes Anliegen, das Sie aus Ihrer Heimat zu uns in die Karpaten führt. Wie kann ich Ihnen helfen?« Emil schaute sie über seine Brillengläser hinweg an. Zum einen, um seine intellektuelle Ausstrahlung zu betonen, zum anderen, um sie weniger deutlich zu sehen.
»Mir müssen Sie nicht helfen! Mit mir ist alles in Ordnung, wie Sie selbst sehen können. Aber mit meiner Nichte Grispa stimmt etwas nicht … wobei etwas stark untertrieben ist, denn alles stimmt nicht mit ihr. Oder andersherum: Nichts ist so, wie es sein sollte. Schauen Sie selbst. Ist das etwa eine Drud?«
Die zweite Gestalt, die sich bis jetzt schüchtern im Hintergrund gehalten hatte, wurde von ihrer Tante nach vorne geschoben. Der Psychotherapeut bereitete sich auf eine weitere Konfrontation mit den verdrängten Traumata seiner Seele vor. Doch das Gegenteil war der Fall: Grispa wirkte wie ein Engel. Allerdings nicht im herkömmlichen Sinne. Sie besaß weder weiße Flügel noch trug sie irgendein harfenähnliches Instrument. Aber sie sah wunderschön aus. Ihr kastanienbraunes Haar fiel in leichten Wellen über die zierlichen Schultern und umrahmte ein Gesicht, das dem klassischen Ideal der bildenden Künste entsprach. Ohren, Nase, Augen, Mund, alles war exakt dort, wo es sein sollte, und harmonierte in vollkommener Symmetrie. Unter ihrem schlanken Hals trug sie ein mintfarbenes Poloshirt, vor dem sich ihre Arme verlegen überkreuzten.
Emil kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie im Gegensatz zu ihrer Tante gerade nicht die Gestalt annahm, die der Betrachter in seinem tiefsten Inneren fürchtete, sondern als Bild in Erscheinung trat, das alle Sehnsüchte verkörperte.
»Ich verstehe.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem schwarzen Seidentuch, diesmal um schärfer zu sehen, denn Druden hatten stets etwas Flüchtiges, leicht Verschwommenes an sich.
»Dann verstehen Sie auch, dass es so nicht weitergehen kann. Grispa ist eine Schande für meine Schwester und meinen Schwager, ja, für das ganze Drudenvolk! Im gesamten Alpenvorland lästert man schon über sie, nennt sie Abschaum, Missgeburt, krank. Bitte, Herr Bolze, es heißt, dass Sie eine Konifere auf Ihrem Gebiet sind. Machen Sie meine Nichte wieder gesund!«
»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete Emil diplomatisch, ohne die Drud auf ihren Wortfehler aufmerksam zu machen. Er unterdrückte ein Lächeln, weil er wusste, dass eine Drud nichts mehr hasste, als im Gesicht ihres Gegenübers Freude zu sehen. Stattdessen strich er über seinen Spitzbart, wie immer, wenn es galt, seine Worte sehr vorsichtig zu wählen, denn die Drud vor ihm schien sehr aufgebracht zu sein.
»Aber sehen Sie, Frau …«
»Hapyra, ohne ›Frau‹!«
»Sehen Sie, Hapyra. Wir sind hier eine geschlossene Anstalt. Vielleicht wäre es im Fall Ihrer Nichte besser, keine stationäre Therapie zu verfolgen. Schließlich geht von ihr keine Gefahr aus.«
Die Löcheraugen der Drud nahmen die Größe von Billardkugeln an und ihre Torpedobrüste wuchsen um eine weitere Handbreit. »Sie ist für sich selbst eine Gefahr. Stellen Sie sich vor, sie hat versucht, sich umzubringen!«
Der Psychotherapeut stutzte. Wie um alles in der Welt sollte sich eine Drud umbringen?
Hapyra las seine Gedanken.
»Wir konnten gerade noch verhindern, dass sie sich in das Weihwasserbecken unserer Dorfkirche stürzte. Sehen Sie sich ihren Arm an! Er ist noch jetzt voller Brandblasen. Hat man davon schon gehört? Eine Drud, die sich das Leben nehmen will, anstatt anderen das Leben zur Hölle zu machen!«
»Das ändert natürlich den Sachverhalt.« Emil klingelte nach Boris und Lotte. »Ich schlage vor, wir nehmen Ihre Nichte zunächst für eine Zeit von vier Wochen auf, um sie zu beobachten und den Ursachen für ihr … undrudenhaftes Verhalten auf die Spur zu kommen.«
Hapyra war einverstanden. Um seine Verunsicherung zu überspielen, stellte Emil ihr noch einige weitere Fragen zu Grispa und ihrer Familie, bis endlich Lotte kam, um Hapyra mit dem Aufzug zurück zum Ausgang des geheimen Sanatoriums zu bringen. Der Psychotherapeut atmete auf. Es gab kaum ein Wesen, das mehr Beklemmungen verursachte als eine Drud. Von Grispa, die immer noch schweigend vor ihm schwebte, abgesehen.
Fast im gleichen Moment erschien auch Boris. Als das hünenhafte Faktotum die Drud sah, bekamen seine harten Gesichtszüge etwas Weiches, und in das grüne und braune Auge kehrte ein melancholischer Glanz. Emil ließ sich seine Überraschung nicht anmerken und bat Boris, Grispa im Ferrum unterzubringen. Das Ferrum war ein fensterloser Raum, dessen Wände und Eingangstür mit Eisenplatten ausgeschlagen waren, das einzige Mittel, um eine Traumgestalt wie einen Nachtmahr daran zu hindern, einfach durch Mauern zu gehen.
Obwohl es Emil drängte, dem Fall Grispa auf den Grund zu gehen, musste er sich zuerst um dringlichere Dinge kümmern. Da war zum einen die Anfrage aus dem Hotel spa. Der Sohn eines Milliardärspaars, der dort untergebracht war, legte nach Aussage seiner Eltern ein extrem pathologisches Verhalten an den Tag. Sie wünschten eine »schnelle und effektive Behandlung«. Aber sogar die musste warten, denn Vorrang hatte Patient 21, ein alkoholabhängiger Zwerg aus dem Riesengebirge. Er litt unter Delirium tremens. Während seiner Anfälle hielt er die als Pfleger eingesetzten Heinzelmännchen und Heinzelweibchen für armgroße Kakerlaken mit Bärten und bunten Mützen, die er, einer inneren Stimme folgend, mit seiner Streitaxt erschlagen wollte. Natürlich hatte man ihm – wie allen Insassen des Sanatoriums – seine Waffen bei der Aufnahme abgenommen, doch in seinen Wahnvorstellungen sah er in seiner Faust ein Beil, und das hatte gereicht, um vier der fleißigen Helfer krankenstubenreif zu schlagen.
Zunächst begab sich Emil also zu Jupp, um sich bei ihm nach dem Befinden seiner Artgenossen zu erkundigen.
Der konnte ihn beruhigen. »Ein paar Beulen und Prellungen, aber nichts Ernstes. Gegen den Schrecken habe ich ihnen eine Flasche Klosterfrau Melissengeist von der Arzneimittelausgabe besorgt. Sie sind schon wieder guter Dinge. Aber wenn Boris nicht einen Golem ins Leben gerufen und ihm den Befehl erteilt hätte, Grambart k.o. zu schlagen, hätte die Sache übel ausgehen können.« Jupp schüttelte den Kopf, als wollte er gar nicht daran denken. Dabei pendelte sein langer Bart hin und her.
»Ich kümmere mich sofort darum«, versprach Emil und suchte den Rosentrakt auf, in dem Patient 21 und andere besonders schwierige Fälle untergebracht waren. Er fand Grambart niedergesunken auf seinem Gummisessel, die Augen auf Halbmast. Man hatte ihn auf Emils Anordnung mit hundert Milliliter Elfenruh sediert. Hinter dem Sessel stand der Golem, dessen hünenhafte Statur den Zwerg noch kleiner wirken ließ. Der Golem hielt die Arme vor der Brust gekreuzt und schwieg. Seine Augen wirkten wie Lampen, die man ausgeschaltet hatte und die nur darauf warteten, wieder angeknipst zu werden. Aus seinem Mund ragte der Zipfel eines Papiers, auf das Boris seine Befehle für ihn aufgeschrieben hatte.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, murmelte Grambart schlaftrunken, als er den Psychotherapeuten erkannte. »Ich musste diese Monster einfach töten. Sie haben mich angegriffen. Ich weiß, sie waren nicht echt, aber in dem Moment … Es tut mir so leid. Vielleicht, wenn Sie mir nur ein bisschen Bier verschreiben würden … einen Krug, mehr nicht … Elfenruh schmeckt grässlich. Ein solches Gebräu konnten nur diese mickrigen Wald- und Wiesenviecher erfinden!«
Während sich Grambart weiter das Leid von der Seele jammerte, dachte Emil, dass sein Gegenüber selbst ziemlich mickrig war und dass ein gewöhnlicher Zwergenkrug mit zwei Litern Fassungsvermögen weitaus mehr als ein »bisschen« Flüssigkeit in sich aufzunehmen vermochte. Die verfremdete Selbstwahrnehmung des Patienten war typisch für das Krankheitsbild.
Nachdem Emil sicher war, dass sich der Zwerg psychisch stabil zeigte, verließ er das geheime Sanatorium und suchte das benachbarte »Hotel spa« im Waldschloss auf. Bei dem zu »pathologischen Verhaltensweisen« neigenden Patienten handelte es sich um Julius Alexander, einen Jugendlichen, der sich laut Auskunft der hektisch wirkenden Mutter weigerte, mit seiner Umwelt zu kommunizieren und sich stattdessen mit düsterer Miene gewaltverherrlichenden Spielen »und was weiß ich, was für anderen Dingen« hingab. Jegliche Versuche, dem Sohn das Handy wegzunehmen, seien an seiner Drohung gescheitert, sich aus dem Fenster zu stürzen. Emil überlegte, dass sich dieses Problem hier im Hotel spa nicht stellte, da die Familie eine der Luxussuiten im Erdgeschoss angemietet hatte, verkniff sich aber eine entsprechende Bemerkung, da Mutter und Sohn dem Lachen nicht zugeneigt schienen.
Nachdem Emil eine Stunde lang vergeblich versucht hatte, aus dem pickligen Nerd mehr als ein unwilliges Schnaufen herauszubringen, gab er auf. Stattdessen ging er zurück in die Eingeweide des geheimen Sanatoriums und dort auf direktem Wege zum Ferrum. Nach dem frustrierenden Anblick des spielsüchtigen Adoleszenten freute er sich auf die Begegnung mit der bemerkenswerten Drud. Ein solcher Fall war ihm in seiner langjährigen Berufstätigkeit noch nie begegnet.
Bevor er das Eisenzimmer betrat, zog er ein Amulett in Form eines Drudenfußes aus seinem Arztkoffer, um zu verhindern, dass die Patientin entwischte, sobald er die Tür öffnete. Doch Grispa schien nicht an Flucht zu denken, denn als er den Raum betrat, schwebte der Nachtmahr als flirrende Wolke friedlich über seinem Bett.
Ein Bett für eine Drud? Das ist absurd, dachte Emil. Als er näher herantrat, verwandelte sich die Wolke wieder in die Gestalt einer jungen Frau. Diesmal trug sie ein mokkafarbenes Polohemd, das hervorragend zu ihrem kastanienroten Haar, den Sommersprossen und ihrem schwarzen Minirock passte. Das breite Lächeln, mit dem sie Emil begrüßte, hob seine Stimmung, als hätte er eine Prise Hexentanz geschnupft. Er würde sich bei der ersten Sitzung Zeit lassen.
»Deine Tante macht sich große Sorgen. Sie versteht nicht, dass du so bist, wie du bist.« Emil zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.
»Auch ich verstehe es nicht«, erwiderte Grispa und nahm in ihrer Frauengestalt auf der Bettkante Platz, wobei sie sich kerzengerade hielt – eine Angewohnheit, die Emil bei Menschen sehr schätzte. »Ich bin keine Drud, sondern eine Schande, sagen die anderen. Und sie haben recht. Anstatt Menschen in Furcht und Schrecken zu versetzen, möchte ich ihnen gefallen. Ich meine, ich bin als Drud geboren. Da muss ich doch tun, was in der Natur eines Druds liegt. Aber in meiner Natur finde ich davon nichts wieder. Ich ekle mich vor meinesgleichen. Sie sind alle so hässlich und grausam und böse. Auch ich soll so sein, aber ich kann es nicht.«
»Das geht sehr vielen Wesen so, selbst uns Menschen. Die meisten glauben, so sein zu müssen, wie es die eigene Art verlangt, um vom sozialen Umfeld akzeptiert zu werden. Aber wer hat festgelegt, dass du als Drud andere erschrecken sollst? Wer, dass man als Zwerg nach Gold buddeln soll und wer, dass Menschen sich die Erde untertan machen sollen? Kein Gott, kein über allem stehendes Gesetz, sondern die Druden, die Zwerge, die Menschen selbst. Sie gehen davon aus, dass richtig ist, was normal ist. Und normal ist, was die Mehrheit macht, das entspricht unserer sozialen Wahrnehmung. Das Abnorme wird unter den Teppich gekehrt, und dabei finden sich gerade dort die wertvollsten Eigenschaften. Du bist keine Schande, sondern ein Schatz. Befreie dich von dem Gedanken, so sein zu müssen, wie andere dich haben wollen.«
»Du meinst, ich muss mich nicht ändern, um von meiner Krankheit geheilt zu werden?«
»Nein. Manchmal sind nicht die krank, die hier als Patienten eingeliefert werden, sondern diejenigen, die sie einliefern. Die schlimmste Krankheit ist die, andere für krank zu halten, weil sie nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen.«
»So habe ich die Sache noch nicht gesehen. Ich danke dir.«
Wieder schenkte sie Emil ein Kokainlächeln. Grispa entsprach nicht nur in ihrem Äußeren dem Idealbild des Nervenarztes, sondern auch in ihrem Verhalten. Die Bereitschaft, zuzuhören und Auskunft über ihre Gefühle und Gedanken zu geben, war mustergültig und stand im kompletten Gegensatz zu seiner Sitzung mit Julius Alexander.
Obwohl Emil seine Patientin nach menschlichen Maßstäben für völlig gesund hielt und es schon nach dem ersten Gespräch geschafft hatte, ihr Selbstbild positiv zu beeinflussen, blieb sie auch die nächsten zwei Wochen im Ferrum. Emil hatte dabei ein schlechtes Gewissen, weil er sich eingestehen musste, dass dies keine uneigennützige Entscheidung war. Denn die täglichen Gespräche bestärkten Grispa nicht nur darin, ihre Andersartigkeit als Besonderheit zu begreifen, auf die sie stolz sein sollte, sondern waren auch für ihn eine Wohltat. Wenn Emil bei ihr war, erholten sich seine Nerven, die vom Leid anderer permanent strapaziert wurden.
Soeben war Emil von einer weiteren erfolglosen Sitzung mit Julius Alexander zurückgekehrt. Immerhin hatte sich das Schnaufen in ein mantraartig gemurmeltes »Weiß nich« verwandelt. Jetzt freute sich Emil auf Grispa.
Diesmal strahlte ihr Polohemd so weiß wie ihre Zähne, und ihr Lächeln besaß die Kraft eines Waschpulvers, das imstande war, auch den hartnäckigsten Seelenschmutz zu lösen. Nur mit der in langen Jahren erworbenen Selbstbeherrschung widerstand Emil dem Drang, sie zu umarmen und zu küssen.
Er hatte Grispa gerade den Vorschlag gemacht, sie morgen in ein anderes Zimmer mit Blick auf den Salzsteingarten zu verlegen, als draußen jemand panisch seinen Namen rief. Selbst durch die Eisentür erkannte er Jupps Stimme. Sogleich war Emil alarmiert. Wenn irgendetwas das Heinzelmännchen in Angst versetzt hatte, musste die Lage wirklich brenzlig sein.
Er hastete zur Tür und öffnete sie.
»Kommen Sie, schnell!« Jupp stand im Flur und untermalte seine Aufforderung mit hektischen Gesten.
Emil spürte, wie eine Ladung Adrenalin durch seinen Körper pulsierte, aber nicht wegen Jupps Geschrei, sondern wegen der blutigen Flecken auf seinem gelben Hemd. Lief Boris etwa Amok, weil ihn jemand an den Händen angefasst hatte?
Erfüllt von düsterer Vorahnung folgte Emil dem Heinzelmännchen durch die Gänge des Sanatoriums in den Orchideentrakt. Pfleger, Angestellte und Patienten kamen ihnen schreiend entgegen. Ein Kobold zeigte voller Panik auf die Arzneimittelausgabe am Ende des Flurs. Von dort drangen weitere Schreie.
Emil überholte Jupp, erreichte die Tür, die zum Warteraum der Patienten führte, und stieß sie auf. Was er dort sah, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen.
Mehrere leblose Körper lagen blutüberströmt auf dem Boden. Das Panzerglas, das die Arzneimittelausgabe vom Wartezimmer trennte, war zersplittert. Vor dem Tresen stand Boris, die Hände nach vorne gestreckt. Hatte Emil es doch geahnt!
Im selben Moment kam eine weitere Gestalt hinter der Theke hervor. Grambart! In seinen Händen hielt er eine Streitaxt. Mit grotesk verzerrtem Gesicht starrte der Zwerg den Therapeuten an. In seinen Augen spiegelte sich eine Mischung aus Angst und Mordlust. Emil begriff sofort: Grambart hielt ihn für eine Kakerlake im Polohemd. Wo bei allen Dämonen hatte Grambart nur seine Axt her?
Dem Zwerg folgte eine weitere Gestalt, noch größer als Boris: der Golem! Aber warum griff er nicht ein? Und was für ein Lappen hing ihm da aus dem Mund?
Schlagartig wurde Emil alles klar. Der Zwerg musste die Zettel ausgetauscht und dem Golem seine eigenen Befehle diktiert haben, die da lauteten: »Beschaff mir meine Streitaxt aus der Waffenkammer und töte alles, was sich dir in den Weg stellt!«
Hier war jeder Versuch einer therapeutischen Gesprächsführung vergeblich.
Fass Boris an den Händen! Fass Boris an den Händen!, versuchte der Therapeut, Grambart mit seinen Gedanken telepathisch zu beeinflussen. Doch der stieß nur ein hysterisches Lachen aus und machte dem Golem ein Zeichen. Der Lehmkoloss packte Boris an den Schultern und warf ihn quer durch den Raum, als wäre er eine Schaufensterpuppe.
Emil wollte ihm zu Hilfe eilen. Im nächsten Moment rutschte er aus. Verdammt, die Blutlache, in der er gestanden hatte, war sein Verhängnis geworden! – Mit diesem Gedanken stürzte Emil zu Boden. Vor Angst unfähig, sich zu bewegen, sah er, wie Grambart und der Golem auf ihn zutraten.
Der Zwerg erreichte ihn als erster, hob die Axt und … erstarrte ebenso wie der Golem. Ihre Augen waren nicht auf Emil, sondern auf etwas oder jemanden über ihm gerichtet. Grambarts Blick verklärte sich. Angst und Mordlust wichen einem verträumten Lächeln. Und auch der Golem, der nie eine Miene verzog, machte ein Gesicht, als würde ihm jemand einen Strauß Blumen überreichen.
Emil sah sich um. Dicht hinter ihm schwebte ein Wesen in der Luft. Es trug ein graues Polohemd, einen schwarzen Rock und schenkte ihm einen Alles-wird-gut-Blick. Emil wusste, dass der Zwerg und der Golem etwas anderes sahen. Grambart vermutlich eine liebliche Zwergenfrau, die ihm mit einem Bierkrug zuprostete, und der Golem einen Rabbiner, der ihm erklärte, dass er von nun an mit einem eigenen Willen ausgestattet und für alle Zeit frei sei.
Der Zwergenkrieger ließ seine Axt fallen, sank zu Boden und weinte. Auch der Golem setzte sich, ohne den Blick von Grispa abwenden zu können. Emil erhob sich langsam und nahm dabei die blutige Waffe an sich. Dann ging er zu dem Golem und zog ihm den Stofffetzen aus dem Mund. Schlagartig erlosch der Glanz seiner Augen und er erschlaffte.
In den folgenden Wochen machte sich Emil heftige Vorwürfe. Zwei Heinzelmännchen, ein Satyr und ein Vampir waren dem Zwerg und dem Golem zum Opfer gefallen. Boris war mit einem Schlüsselbeinbruch davongekommen. Grambart, der nach dem Anfall tiefste Reue zeigte, gestand, beobachtet zu haben, wie Boris dem Golem einen Zettel in den Mund gesteckt hatte. Als er selbst später mit dem Golem allein in seinem Zimmer war, hatte er dem Riesen den Zettel mit einer blitzschnellen Bewegung entrissen und stattdessen ein Stück Betttuch zwischen die Zähne geklemmt, das er zuvor mit seinem eigenen Blut beschriftet hatte. Emil zog daraus die Lehre, nie mehr einen Golem mit einem Patienten alleine zu lassen. Und noch eine Erkenntnis gewann er aus dem Vorfall.
»Grispa, was hältst du davon, hier bei uns im Sanatorium zu bleiben?«, fragte er bei der nächsten Therapiesitzung die Drud. »Du müsstest nicht länger bei Druden leben, die dich nicht für ihresgleichen halten, sondern hättest dein Zuhause hier, wo dich jeder so akzeptiert und liebt, wie du bist. Versteh mich nicht falsch! Du würdest nicht als Patientin hier wohnen, sondern als meine Assistentin.«
»Deine Assistentin?«, wiederholte Grispa ungläubig und glättete mit ihren schmalen Fingern ihr orangefarbenes Polohemd.