Die Wellenläufer - Kai Meyer - E-Book

Die Wellenläufer E-Book

Kai Meyer

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein magisches Beben erschüttert die Küsten der Karibik. In den Piratenhäfen werden Kinder mit einem besonderen Talent geboren: Sie können über Wasser gehen.  Vierzehn Jahre später glaubt Jolly, dass außer ihr keine Wellenläufer mehr leben. Bis sie Munk begegnet. Auch er geht auf dem Meer und kann aus Muscheln einen uralten Zauber wirken. Beide erwartet ein finsteres Schicksal: Mitten im Atlantik dreht sich ein gewaltiger Mahlstrom, dessen Boten Verderben über die Inseln bringen und Jagd auf die Wellenläufer machen. Nur Jolly und Munk können den Strudel zwischen den Welten schließen. Aber der Weg dorthin ist lang, gefahrvoll und wird ihre Freundschaft auf eine grausame Probe stellen. Der erste Band der Wellenläufer-Trilogie Band 1: Die Wellenläufer Band 2: Die Muschelmagier Band 3: Die Wasserweber

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 362

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Wellenläufer

Band 1 der Wellenläufer-Trilogie

Kai Meyer

Copyright © Kai Meyer 2003

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

www.kopainski.com

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-677-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Die Quappe

Treibgut

Muschelmagie

Das große Beben

Der Geisterhändler

Bote des Mahlstroms

Meer der Dunkelheit

Die Piratenstadt

Prinzessin Soledad

Gideons Grab

Feuersturm

Der Goldmacher

Die Tiefen Stämme

Tortuga

Die Stimme im Holz

Die Weisheit der Würmer

Seeschlacht

Feuer und Rauch

Die Entscheidung

Aelenium

Drachenpost

Die Quappe

Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean. Ihre nackten Füße versanken fingerbreit im Wasser. Unter ihr gähnte der tintenblaue Abgrund der See, bis zum Meeresboden mochten es einige hundert Mannslängen sein.

Jolly konnte seit ihrer Geburt über Wasser gehen. Mit den Jahren hatte sie gelernt, sich mühelos auf der schwankenden Oberfläche zu bewegen. Für sie fühlte es sich an, als liefe sie durch eine Pfütze. Flink sprang sie von einer Woge zur nächsten und wich den schaumigen Wellenkämmen aus, die manchmal zu tückischen Stolperfallen wurden. Um sie herum tobte eine Seeschlacht. Kanonenkugeln pfiffen ihr um die Ohren, aber selten kam ihr eine so nahe, dass sie den Luftzug spürte. Beißender Rauch trieb über das Wasser zwischen den beiden Segelschiffen und vernebelte Jollys Sicht. Das Knarren der Planken und Flattern der großen Segel mischte sich mit dem Geschützdonner. Der Qualm des entzündeten Schwarzpulvers brannte in ihren Augen. Sie hatte diesen Geruch noch nie gemocht, ganz im Gegensatz zu den anderen Piraten: Ihre Freunde von der Mageren Maddy sagten, nichts rieche so gut wie der Duft abgefeuerter Kanonen. Und wenn dann in der Ferne die Bordwände feindlicher Schiffe barsten und das Geschrei der Gegner über das Meer wehte, war das besser als jedes Gelage mit Rum und Gin, Jolly mochte Rum nicht besonders, genauso wenig wie den Qualm der Bordkanonen. Aber ganz gleich was ihre Nase davon hielt – sie kannte ihre Aufgabe, und sie würde sie zu Ende bringen.

Bis zu dem gegnerischen Schiff, einem spanischen Dreimaster mit zwei Kanonendecks und dreimal so vielen Geschützen wie auf der Mageren Maddy, waren es noch fünfzig Schritt. Die Galeone war rundherum mit prachtvollen Verzierungen geschmückt, geschnitzten Gesichtern, die dann und wann wie vorwitzige Fabelwesen durch die Rauchwände lugten. Manche wirkten selbst auf die Entfernung so echt, dass sie jeden Augenblick zum Leben erwachen mochten. Die Beiboote des Spaniers befanden sich an den Seiten des Rumpfes; eines war von einer Kugel der Maddy gestreift worden, ein Teil der Aufhängung war zerfetzt, und nun schaukelte das kleine Boot bei jeder Erschütterung gegen den mächtigen Rumpf und erzeugte dunkle, hohle Laute.

Die Strömung war auf Jollys Seite und trieb sie während ihres Laufs noch schneller auf die Galeone zu. Jolly musste nur einen Fuß auf das Wasser setzen, um zu spüren, in welche Richtung sich die See bewegte, manchmal gar, ob hinterm Horizont Unwetter aufzogen oder Stürme tobten. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, längere Zeit an Land zu verbringen. Sie brauchte die Vertrautheit des Ozeans, das Gefühl des bodenlosen Abgrunds unter ihren Füßen. So wie andere in großen Höhen Schwindel packte, so wurde Jolly von Panik ergriffen, wenn sie sich allzu weit vom Meer und seiner tosenden Brandung entfernte.

Inzwischen lief sie ein wenig geduckt, auch wenn auf dem Deck des Spaniers noch niemand auf sie aufmerksam geworden war. Sonderbarerweise entdeckte sie hinter den gedrechselten Geländern der Reling keine Menschenseele. Eine Galeone wie diese trug mindestens zweihundert Mann an Bord, und alle mussten damit rechnen, dass die Piraten von der Mageren Maddy versuchen würden, das spanische Schiff zu entern. Warum also zeigte sich niemand an Deck?

Normalerweise hätte Captain Bannon, der Anführer der Freibeuter und Jollys bester Freund, sich von einem Schiff wie diesem fern gehalten: zu groß, zu stark, zu schwer bewaffnet. Ganz zu schweigen davon, dass auf der Mageren Maddy gerade einmal siebzig Piraten Platz fanden und sie den Spaniern im Kampf Mann gegen Mann zahlenmäßig weit unterlegen waren.

Aber als das Schiff am Horizont aufgetaucht war, hatte trotz allem einiges dafür gesprochen, dass es ein lohnender Fang sein könnte. Captain Bannon persönlich hatte den Ausguck der Maddy erklommen und die Silhouette der Galeone lange mit dem Fernglas studiert. »Sie haben die Segel gerefft«, hatte er zu seiner Mannschaft hinabgerufen. »Sieht aus, als wären sie in Schwierigkeiten.«

Das Meer war an dieser Stelle zu tief zum Ankern. Das bedeutete, dass sich der Spanier trotz guter Windverhältnisse treiben ließ – was einfach keinen Sinn ergab. Aber Bannon wäre nicht einer der durchtriebensten Piraten der Karibischen See gewesen, hätte er sich in solchen Fällen nicht von seiner Nase und seiner Neugier leiten lassen.

»Ich hab ein seltsames Gefühl dabei«, hatte er gesagt, bevor er seine Männer an die Kanonen schickte, »aber vielleicht werden wir alle von dieser Sache noch mehr haben, als es jetzt den Anschein hat.« Captain Bannon sagte oft solche Dinge, deshalb wunderte sich niemand. Seine Mannschaft vertraute ihm – vor allem Jolly, für die Bannon so etwas wie Vater und Mutter zugleich war, seit er sie als kleines Kind auf dem Sklavenmarkt von Tortuga gekauft und zum Mitglied seiner Crew gemacht hatte.

Kanonendonner, lauter als zuvor, ließ Jolly einen Satz zur Seite machen. Sie spürte den Sog der schweren Eisenkugel und glaubte sie, kaum eine Armlänge entfernt, an sich vorüberpfeifen zu sehen. Als sie sich umschaute, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen.

Die Magere Maddy war getroffen.

Eine Wolke aus Wasser und Holzsplittern stieg vom Heck der schnittigen Schebecke auf, einem Schiffstyp, den man in dieser Gegend nicht oft sah. Die Reling der Maddy bestand nicht aus Schmuckpfeilern wie die der Galeone, sondern aus einer hüfthohen, schlichten Holzwand, in die man Öffnungen für die Geschützrohre eingelassen hatte. Das Schiff war blutrot angestrichen, und im vorderen Teil hatte Bannon weiße Fangzähne auf den roten Rand malen lassen, sodass der Bug den Eindruck eines offenen Raubtiermauls erweckte.

Aufgebrachtes Gebrüll schallte zu Jolly herüber, Stimmfetzen, die durch die grauen Qualmwände zwischen den Schiffen herüberwehten.

Jolly wandte sich halb um und zögerte. Von hier aus ließ sich nicht erkennen, ob die Maddy ernsthafte Schäden erlitten hatte. Bitte lass ihr nichts passiert sein!, flehte Jolly in Gedanken.

Dann aber erinnerte sie sich an Bannons Befehl, an ihre Verpflichtung ihm und den anderen gegenüber, und sie wandte sich wieder nach vorn. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Rumpf der spanischen Galeone und lief daran entlang, bis sie unter einer der hinteren Geschützpforten stehen blieb. Das untere Kanonendeck befand sich drei Meter über der Wasseroberfläche. Jolly war nicht einmal fünf Fuß groß, aber es würde ihr keine Mühe bereiten, eines der Wurfgeschosse aus ihrer Umhängetasche durch die Öffnung zu befördern.

Sie schlug die Klappe ihrer Ledertasche zurück und zog eine der Flaschen heraus, die bei jedem Schritt gefährlich gegeneinander klirrten. Sie waren mit einer bronzefarbenen Flüssigkeit gefüllt, die Hälse mit Wachs versiegelt.

Jolly holte aus, atmete tief durch – und schleuderte die Flasche durch die erste Geschützluke, knapp vorbei an der Mündung des Kanonenrohrs. Jemand stieß einen Alarmruf aus, laut genug, dass sie ihn hier draußen hören konnte. Dann schoss eine grüne Rauchwolke aus der Luke, so dicht und stinkend, dass Jolly rasch zur nächsten Öffnung lief. Dort zog sie eine zweite Flasche hervor und warf. So arbeitete sie sich von Öffnung zu Öffnung, bis aus den meisten Luken grüner Dunst wölkte. Keine der unteren Kanonen feuerte mehr. Die Kanoniere hinter den Geschützen mussten blind sein vor Rauch, und aus Erfahrung wusste Jolly, dass der Gestank selbst dem abgebrühtesten Seemann auf den Magen schlug.

Zur Abwechslung versuchte sie, die nächste Flasche auf das höher gelegene zweite Kanonendeck zu werfen. Auch hier traf sie zielsicher in eine der Luken. Wenn es so weiterging, würde ihre Mission zu einem vollen Erfolg werden. Mit etwas Glück würde sie die Mannschaft der Galeone im Alleingang außer Gefecht setzen. Bannon und seine Piraten mussten das Schiff nur noch entern und ihre hustenden und halb blinden Gegner an Deck in Empfang nehmen. Ernsthaften Widerstand hatten sie nicht mehr zu erwarten.

Doch Jollys nächstem Wurf zum oberen Kanonendeck war weniger Erfolg beschieden. Die Flasche flog gerade in jenem Moment durch die Luke, als die Männer im Inneren die Kanone nach außen schoben, um die nächste Kugel abzufeuern. Das Glas zerschellte am Stahl des Kanonenrohrs, die Flüssigkeit spritzte gegen den Schiffsrumpf und verdampfte augenblicklich zu ätzendem Dampf. Jolly hechtete vorwärts und warf sich flach auf die Wasseroberfläche, um dem Dunst zu entgehen. Zugleich wurde über ihr die Kanone gezündet. Einen Herzschlag später ertönte aus der Richtung des Piratenschiffs ein weiterer Einschlag. Holz zerbarst, gefolgt von einer Explosion – die Kugel war durch den Rumpf der Mageren Maddy gedrungen und hatte das Munitionslager getroffen.

Jolly schossen Tränen in die Augen, als sie sah, wie Flammen aus der klaffenden Öffnung loderten. Sie wusste, was ein solcher Treffer bedeutete – sie hatte es oft genug miterlebt. Sonst waren es immer die gegnerischen Schiffe gewesen, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Aber jetzt bestand kein Zweifel mehr. Die Maddy würde untergehen. Verdammt, wie hatte Bannon solch einen Fehler machen können! In ihrer Zeit als Zögling des Captains hatte Jolly auf drei Schiffen gelebt, doch die Maddy war ihr von allen am vertrautesten geworden. Sie sinken zu sehen war, als verlöre sie auf einen Schlag ihr Zuhause und einen guten Freund.

Für die Piraten gab es nur eine einzige Hoffnung: Es musste ihnen gelingen, in der wenigen Zeit, die ihnen blieb, die spanische Galeone zu kapern. Sonst würden sie mitsamt der Maddy auf den Grund des Meeres sinken.

Verzweifelte Entschlossenheit brachte Jolly erneut auf die Beine. Sie zog eine weitere Flasche hervor, und diesmal traf sie. Genauso mit der nächsten und übernächsten. Noch immer beugten sich keine Schützen über die Reling, um sie unter Feuer zu nehmen. Dann aber schob jemand den Kopf aus einer der Geschützpforten, entdeckte Jolly und brüllte: »Sie haben eine Quappe! Sie haben eine gottverdammte Quappe dabei!«

Ein zweiter Kopf erschien. »Es gibt keine Quappen mehr. Sie sind alle –« Da entdeckte er Jolly. Seine rußumrandeten Augen weiteten sich. »Oh Gott, verflucht, sie haben tatsächlich eine Quappe!«

Jolly schenkte den Männern ein verbissenes Lächeln. Sie zielte und warf eine Flasche haarscharf an den Gesichtern vorbei ins Innere der Galeone. Wirbelndes Grün schoss hinter den Köpfen hervor, einen Augenblick später waren sie nicht mehr zu sehen.

Jolly rannte weiter. Warf. Rannte. Und warf erneut. Der Gedanke an ihre Freunde trieb sie vorwärts. Sie achtete nicht mehr auf mögliche Gegner, auf ihre Deckung oder auf die Umrisse der Haie, die vor ein paar Minuten unter der Wasseroberfläche erschienen waren. Hier und da sah sie silbergraue Rückenflossen durch die Wogen schneiden wie Säbelklingen, aber sie verschwendete keinen Gedanken daran. Stattdessen schleuderte sie eine Flasche nach der anderen, bis ihre Umhängetasche leer war.

Sie war jetzt fast am Bug der Galeone angekommen. Aus allen oberen Geschützpforten quoll giftgrüner Rauch. Schüsse wurden keine mehr abgefeuert. Das Deck des Spaniers war mit dichten Schwaden eingenebelt, die einen weiteren Kampf unmöglich machten. Selbst die geschnitzten Gesichter rund um die Reling schienen vor lauter Qualm Grimassen zu schneiden.

Wenn es Bannon nun gelingen sollte, die Maddy – Ein Knirschen ließ Jolly herumwirbeln. Sie jubelte vor Erleichterung. Das sinkende Piratenschiff steuerte mit vollen Segeln auf das Heck der spanischen Galeone zu. Es sah aus, als hätte das aufgemalte Maul am Bug der Maddy die Lefzen hochgezogen, um ein letztes Mal spöttisch die Fänge zu blecken. Jolly brachte sich mit ein paar Sätzen in Sicherheit. Kurz darauf prallte Heck gegen Heck. Enterhaken und Wurfleinen flogen zum Deck des Spaniers hinüber. Eine wilde Piratenhorde, die sich gegen den grünen Qualm Tücher vor Mund und Nase gebunden hatte, kletterte am Rumpf des größeren Schiffes empor. Jolly kannte jeden Einzelnen von ihnen, manche schon ihr Leben lang, andere erst einige Monate. Die Piraten trugen Kleidung aus aller Herren Ländern: orientalische Pluderhosen, Baumwollhemden aus den Kolonien, Westen aus Italien und immer wieder Stückwerk aus Resten spanischer Uniformen. Manche hatten sich breite Schärpen umgebunden, einer trug als Umhang gar eine ausrangierte Totenkopfflagge. Wie kunterbunte Ameisen schwärmten sie am Holz hinauf, hangelten sich an Seilen entlang oder schwangen von den Spieren der Mageren Maddy hinüber in die Takelage ihrer Gegner.

Ganz kurz erhaschte Jolly einen Blick auf Captain Bannon, strohblond und wütend wie ein Derwisch, der an einem Strick und mit dem Säbel zwischen den Zähnen zu den Spaniern hinüberfegte. Ihr war, als träfen sich ihre Blicke in diesem kurzen Moment, und sie spürte, dass er zu ihr herablächelte, trotz des Tuchs vor seinem Gesicht; sie erkannte es nur an seinen Augen, die so viel Freundlichkeit ausstrahlen konnten, dass Jolly sich manches Mal wunderte, warum seine Opfer ihm ihre Schiffe nicht freiwillig übergaben, allein aufgrund der Wärme in diesem Blick, die so gar nicht zu seiner wilden Entschlossenheit und Skrupellosigkeit passen wollte.

Jolly riss triumphierend einen Arm in die Höhe, stieß einen Jubelruf aus, dann war auch sie an der Bugwand der gegnerischen Galeone, packte eines der herabhängenden Seile und kletterte flink wie eine Katze daran empor.

Der grüne Rauch an Deck verflog rasch. Noch während Jolly das Seil erklomm, hörte sie, dass der Kampf bereits endete, bevor er wirklich begonnen hatte. Die hustenden, spuckenden Spanier ergaben sich mit tränenden Augen und triefenden Nasen. Kaum einer erhob seine Waffe gegen die Piraten, und wenn doch, so war es nur ein müder Reflex, nicht der ehrliche Wille zu kämpfen.

Jolly schwang sich über die Reling. Bannon sah sie und eilte zu ihr herüber. »Gut gemacht«, sagte er und klopfte ihr mit seiner Pranke so kräftig auf die Schulter, dass sie fast in die Knie ging. Er wandte sich seinen Männern zu, die gerade die gefangenen Spanier auf dem Mitteldeck zusammentrieben.

»Kappt alle Seile zur Maddy, damit sie uns nicht mit in die Tiefe reißt. Die anderen entwaffnen unsere Freunde. Dies hier ist fortan unser neues Schiff!«

Mit einem Grinsen in die Richtung des Mädchens an seiner Seite rief er noch lauter: »Ich schätze, der Kahn braucht einen neuen Namen. Von heute an heißt er Jumping Jolly!«

Jolly wurde ganz schwindelig vor Stolz, während um sie herum die Piraten in Jubel ausbrachen.

Gleichzeitig aber drang von der Maddy ein Knirschen und Ächzen herüber. Das gemalte Raubtiermaul biss im Sterben die Zähne aufeinander.

Zehn Minuten später war die Magere Maddy noch immer nicht gänzlich gesunken. Schräg wie eine Klippe ragte sie aus dem Meer, ein Mahnmal vor der untergehenden Abendsonne. Die Aufbauten am Heck hatten fast die Wasseroberfläche erreicht, aber der gezahnte Bug stach weit heraus. Die Galionsfigur an seiner Spitze – ein finsterer Neptun mit Dreizack – erhob sich vor dem tiefblauen Himmel, als wollte sie der Welt einen letzten, stolzen Ruf entgegenschmettern.

Noch während die Piraten die Gefangenen in einem Pulk an Deck versammelten, zeichnete sich ab, dass etwas nicht stimmte. Der Captain gab sich siegreich und vergnügt, aber Jolly bemerkte – vielleicht als Einzige – die Beunruhigung in seinen Augen.

Die Spanier waren zu wenige.

Gerade einmal vierzig Seeleute waren an Bord. Nicht einmal genug Männer, um alle Geschütze zu bedienen, geschweige denn, auf einem Schiff wie diesem die nötigen Positionen zu besetzen. Selbst Bannon mit seiner siebzigköpfigen Mannschaft würde es nicht leicht haben, die Galeone unter Segel zu nehmen. Aber vierzig Spanier? Ganz und gar unmöglich.

Und noch etwas war sonderbar.

»Das sind gar keine Spanier«, sagte Christobal, Bannons Steuermann. »Die meisten sprechen spanisch, und ein paar sehen auch so aus, aber ich vermute eher, dass sie hier in den Kolonien geboren sind.«

»Und?«, fragte Jolly voreilig und erntete dafür einen rügenden Blick vom Steuermann, bevor er sich wieder seinem Kapitän zuwandte.

»Die meisten scheinen ziemliche Halsabschneider zu sein. Sieh dir die Narben an. Und die versoffenen Visagen.« Er grinste und zeigte einen schwarzen Schneidezahn. »Im Grunde genommen sehen sie aus wie wir.«

Bannon erwiderte das Grinsen nicht. Sorgenvoll schaute er über das Deck, musterte kurz die Gefangenen und blickte dann zum leeren Horizont. »Was soll das alles?«, flüsterte er tonlos und so leise, dass nur Jolly und Christobal es hörten.

Ein Schauder lief über Jollys Rücken. Eine Falle?

»Unsere Leute haben alles durchsucht«, sagte der Steuermann. »Keine weiteren Männer an Bord, auch kein Sprengstoff oder andere Schweinereien. Übrigens auch keine Ladung.«

»Wir verschwinden von hier«, entschied Bannon.

»Schnell.«

Mit ungewohnter Eile gab er seine Befehle an den Ersten Maat weiter. Gleich darauf schallte »Klar Schiff zum Segelsetzen!« über Deck. Ein Dutzend Piraten hangelten sich wie Spinnen an der Takelage empor.

»Was passiert mit denen?« Jolly zeigte auf die gefesselten Gefangenen. Christobal war zu einem von ihnen hinübergegangen, hatte ihn am Kragen gepackt und redete auf ihn ein.

»Wir setzen sie irgendwo an Land«, sagte Bannon nachdenklich und trat an die Reling. Nirgends waren feindliche Schiffe in Sicht.

Jolly blickte zur sinkenden Maddy hinüber. Noch immer lag sie schräg im Wasser. Die Strömung hatte die Galeone dreißig oder vierzig Schritt von dem Wrack abgetrieben, die Distanz vergrößerte sich mit jeder Minute.

Christobal kam zurück zum Captain.

»Und?«, fragte Bannon. »Was sagen sie?«

»Dass sie Gefangene waren. Alle zum Tode verurteilt. Man hat ihnen versprochen, sie freizulassen, wenn sie an Bord dieses Schiffes gehen und alles tun, um es zu verteidigen.«

»Zu vierzig Mann? Ein solches Schiff? Das ist lächerlich.«

»Wer immer diese Sache ausgeheckt hat, er hat vermutlich nicht damit gerechnet, dass einer dieser Kerle überlebt. Gemeinsam haben sie offenbar nur eines: Sie alle waren irgendwann einmal Kanoniere. Man hat sie nicht ausgesucht, um im Nahkampf ihren Mann zu stehen – sie sollten uns aus der Ferne wegputzen.« Der Steuermann rieb sich das stoppelige Kinn. »Und da ist noch was. Offenbar hat ein anderes Schiff sie hierher geschleppt. Sie sind nie unter vollen Segeln –«

Ein lautes Flattern übertönte seine Worte, als die Piraten in der Takelage die Segel öffneten. Die mächtigen Stoffpakete entrollten sich in Sekundenschnelle.

»Nein!«, entfuhr es Bannon.

Jolly sah, was er meinte. Und noch im selben Augenblick hörte sie es auch.

Aus den Segeln fielen Krüge. Große, braune Tonkrüge, die beim Aufprall auf dem Deck in tausend Scherben zersplitterten. Zwei, drei Dutzend mussten es sein, die überall an Bord mit hohlem Bersten auseinander brachen. Einige fielen mitten in den schreienden Pulk der Gefangenen, ein anderer traf Trevino, den Koch, am Schädel und streckte ihn nieder.

In den zerbrochenen Krügen befand sich etwas, das auf den ersten Blick wie dunkles Gewölle aussah, Knäuel aus dicken Fäden – bis sich die Knäuel aus eigener Kraft entwirrten und in hunderte kleiner Bälle zerfielen, die auf dürren Beinen in alle Richtungen ausschwärmten.

»Spinnen!«, kreischte jemand, dann nahmen andere den Ruf auf: »Spinnen … Die Krüge sind voller Spinnen!«

Bannon brüllte Befehle, die in der ausbrechenden Panik an Bord niemand mehr hörte. Die Gefangenen schrien wie am Spieß, als zwischen ihnen eine wahre Eruption aus Spinnenleibern emporschoss. Die Piraten sprangen an Deck umher, einige versuchten, die Tiere zu zertreten, gaben aber rasch auf, als sie bemerkten, welch hoffnungsloses Unterfangen das war. Zehn, dann zwanzig krabbelten über den Leib des bewusstlosen Kochs, andere suchten sich ihren Weg an Stiefeln und Hosen empor, an der Takelage und der Reling. Die Tiere mochten ebenso panisch und verwirrt sein wie die Männer an Bord, aber sie waren schneller und vor allem eines – gereizt.

Jolly zog sich in die Wanten hinauf. Ihre Hände waren schweißnass, und ihr Atem ging stoßweise. Überall brüllten und stampften und schüttelten sich die Piraten. Christobal schlug sich gleich mehrere Tiere vom Körper, aber er übersah eine besonders fette Spinne, die in seinem Nacken hockte. Er schrie auf, als sie zubiss.

Bannon hieb erst mit dem Säbel auf die Spinnen ein, dann mit den bloßen Händen. Er wollte Jolly nach oben folgen, aber da wurde auch er gebissen, gleich mehrfach, und der Schmerz ließ ihn seine Hände von den Seilen lösen. Mit einem Fluch polterte er zurück aufs Deck.

»Diese Hunde!«, brüllte er mit erlahmender Stimme, als ihn das Spinnengift betäubte. »Jolly … die Galionsfigur … denk an die … Galionsfi–«

Er sackte zusammen. Jolly starrte auf die leblose Gestalt unter ihr, und Tränen schossen ihr in die Augen.

Verdammt – sie musste etwas tun, musste Bannon und den anderen helfen, irgendwie. Verzweifelt sah sie sich nach einer Waffe um, und wusste doch gleichzeitig, dass alles vergebens sein würde. Niemand konnte der Übermacht der Spinnen Herr werden.

Sie unterdrückte ein Schluchzen, als sie sich daranmachte, die Wanten hinabzuklettern.

Jolly wusste genau, was Bannon ihr hatte sagen wollen.

Von ihrer erhöhten Position hatte sie einen freien Blick auf das Wrack der Maddy. Die Galionsfigur am Bug ragte empor wie ein ausgestreckter Finger, der ihr den Weg wies.

Jolly wich vereinzelten Spinnen aus und sprang zur Reling hinüber, auf der sie schwankend zum Stehen kam. Spinnen waren jetzt überall, ein wimmelnder dunkler Teppich, der das Deck und alle Menschen an Bord bedeckte. Die meisten Männer rührten sich nicht mehr, einige waren fast gänzlich unter haarigen, krabbelnden Leibern verschwunden. Ein paar riefen noch oben an den Masten um Hilfe, aber auch ihnen näherten sich schon ganze Scharen der achtbeinigen Kreaturen.

Ein letztes Mal blickte sich Jolly zu Bannon um, dann sprang sie in die Tiefe. Es war mehr ein Sturz als ein Sprung. Ebenso gut hätte sie auf einen Steinboden prallen können, als sie auf der Wasseroberfläche aufkam, ohne darin zu versinken. Sie hatte Glück, sich nicht alle Knochen zu brechen, rollte sich ab, wurde von ein paar Wellen wild umhergeschleudert, kam aber schließlich auf die Füße.

Silbrige Dreiecke glitten auf sie zu, umkreisten sie. Jolly hatte schon mehr als einmal mit Haien zu tun gehabt und wusste, dass sie nur die Umrisse ihrer Fußsohlen auf der Oberfläche wahrnahmen und sie nicht als lohnende Beute erkannten. Jolly zwang sich, nicht an die Männer zu denken, die aus Angst vor den Spinnen über Bord gesprungen waren. Sie hatten mit Sicherheit kein solches Glück gehabt wie sie. Hastig lief Jolly über das Wasser, mit großen Sprüngen der Maddy entgegen. Diesmal rannte sie gegen die Strömung an, ihr Atem raste, das Herz hämmerte in ihrer Brust, aber schließlich sah sie das Piratenschiff vor sich – oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war.

Hinter Jolly erhob sich die spanische Galeone vor dem dämmrigen Himmel. Von weitem sah es aus, als wäre das Holz selbst zum Leben erwacht. Die dunkle Oberfläche bewegte sich, bedeckt von wimmelndem Leben, das immer neue Schattierungen schuf.

Rund um die Maddy sprudelte das Wasser. Jolly hatte Mühe, den weißen Kämmen auszuweichen. Meerschaum war nicht zu trauen, die Oberfläche darunter gab manchmal nach, saugte die Füße ein wie Treibsand, und dann musste man Acht geben, sie rechtzeitig wieder herauszuziehen, bevor das Wasser um sie herum erstarrte und einen festhielt.

Sie bekam den Rand der roten Reling zu packen und zog sich daran hinauf. Sobald der Heckaufbau völlig versunken war und die Innenräume der Schebecke sich mit Wasser füllten, würde die Magere Maddy untergehen wie ein Stein. Nicht einmal einer Quappe wie Jolly würde es dann noch gelingen, rechtzeitig aus dem tödlichen Sog zu entkommen.

Jolly musste schneller sein. Noch schneller.

Mit einem Keuchen schwang sie sich über die Reling aufs Deck, verlor augenblicklich auf der nassen Schräge den Halt und rutschte ein paar Schritte abwärts. Sie tastete wild um sich, bekam ein Tau zu fassen, wollte sich festhalten – doch das Seil gab nach und fiel neben ihr aufs Deck. Jolly rutschte weiter, mit den Füßen voran, und jetzt kam sie dem sprudelnden, strudelnden Wasser gefährlich nahe. Im letzten Moment schlitterte sie über eine der Gitterluken zum Laderaum und verhakte sich darin mit Händen und Füßen. Bis zu dem tobenden Wasser waren es von hier aus noch zweieinhalb Mannslängen, aber das Schiff sank unaufhaltsam weiter. In weniger als einer Minute würde das Gitter unter Wasser stehen. Bis dahin musste Jolly von hier fort sein, musste die Galionsfigur erreicht haben, den einzigen Ort, der jetzt noch Rettung versprach.

Gewiss, sie hätte einfach über die offene See fliehen können. Doch der Lauf über das schaukelnde, wogende Meer war zehnmal so kräfteraubend wie die gleiche Strecke an Land, und Jolly hatte nirgends am Horizont eine Insel entdeckt. Irgendwann würde sie mitten auf dem Meer vor Erschöpfung zusammenbrechen, würde sich hinlegen müssen – und dann bot sie den Haien von unten denselben Anblick wie jeder Schwimmer oder große Fisch. Und selbst falls die Haie keinen Appetit haben sollten, was unwahrscheinlich war, würde sie irgendwann dort draußen verdursten.

Sie musste zur Galionsfigur. Sie war Jollys einzige Hoffnung.

Ein kräftiges Zittern lief durch das Schiff, dann stellte es sich mit einem Stöhnen aus seinem Inneren steiler. Mit jedem Winkelgrad, den die Maddy sich aufrichtete, wurde es schwieriger, an Deck hinaufzuklettern.

Noch etwas nahm Jolly wahr, erst nur am Rande ihres Blickfeldes, dann, als sie genauer hinsah, mit gnadenloser Gewissheit.

Zwischen den Strudeln und Schaumfontänen am Fuß des schrägen Decks bewegte sich ein Umriss im Wasser. Eine Gestalt, annähernd menschlich, aber mit langen, dürren Gliedern, einer Haut, die ölig in allen Farben des Regenbogens schillerte, und einer Fratze, die nur aus Schlund und einem halben Dutzend rasiermesserscharfer Zahnreihen bestand. Jolly sah die Kiefer der Kreatur auf-und zuschnappen, zornige, drohende Bisse in Schaum und Wellen.

Ein Klabauter! Ein leibhaftiger Klabauter! Es war lange her, dass Jolly einen gesehen hatte, zwei, drei Jahre, und damals war es nur ein Junges gewesen, das die Piraten mit ein paar gezielten Schüssen ins Wasser erlegt hatten.

Dieser Klabauter aber war ausgewachsen, und er tobte dort unten in Erwartung seiner Beute, als hätte er seit Monaten nichts zwischen die Zähne bekommen. Der Lärm der Schlacht musste ihn angelockt haben. Klabauter liebten Aas, vor allem menschliches, und es gingen Gerüchte um von schiffbrüchigen Mannschaften, die innerhalb weniger Minuten von einer Hand voll Klabauter zerrissen und aufgefressen worden waren.

Jolly hatte das Gefühl, ihren Körper nicht mehr zu spüren. Nicht genug, dass sie den Captain und all ihre Freunde verloren hatte, dass sie von einem Schiffswrack in die Tiefe gerissen wurde und ihre Kräfte allmählich schwanden – nein, es musste natürlich auch noch eine dieser Bestien auftauchen.

Erneut begann sie zu klettern, vorsichtiger diesmal. Erst an dem Gitter hinauf, dann zu einem Strick hinüber und von dort aus – endlich! – zurück zur Reling. Das Schnappen der Klabauterkiefer in ihrem Rücken übertönte sogar das gequälte Knirschen des Wracks und das Brausen der See. Die Bestie lauerte dort unten, fletschte die Zähne und konnte es gar nicht erwarten, dass Jolly endlich den Halt verlor.

Klabauter fürchten sich, das Wasser zu verlassen. Nur die Mutigsten unter ihnen strecken manchmal Kopf oder Klauen ins Freie; die meisten aber ziehen es vor, sich ihre Nahrung unter der Oberfläche zu suchen. Dass dieser dort unten mit den Armen nach Jolly tastete – auch wenn er sie nicht erreichen konnte –, war ungewöhnlich. Dass er einmal sogar den Oberkörper aus den tobenden Strudeln reckte, war eine Sensation.

Jolly kletterte weiter und gelangte zur Galionsfigur. Bannon hatte ihr den Mechanismus erklärt, mehr als einmal, in stillen Nächten, wenn nur sie und er an Bord noch wach waren. Damals hatte er sie in das bestgehütete Geheimnis der Maddy eingeweiht.

Die Galionsfigur mit ihrem grimmigen Tritonengesicht war hohl und bot Platz für einen erwachsenen Menschen. In wasserdichten Fächern in ihrem Inneren lagerten Vorräte für mehrere Tage. Mit Hilfe zweier Bolzen ließ sie sich vom Rumpf des Schiffes lösen und wurde für ihren Insassen zu einem perfekten Rettungsboot. Versteckte Gewichte sorgten dafür, dass sie sich stets mit dem Gesicht nach oben drehte; dort konnte man eine Luke öffnen, um Frischluft einzulassen.

Der Klabauter stieß einen grauenvollen Schrei aus, als einer der Masten brach und mit ganzem Gewicht auf ihn herabstürzte. Aus den Augenwinkeln sah Jolly, wie der Mast quer in den offenen Schlund des Ungeheuers krachte und es im selben Herzschlag in die Tiefe rammte.

Sie schnaubte grimmig, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu freuen. Mit letzter Willensanstrengung öffnete sie die verborgene Klappe am Rücken der Galionsfigur, hangelte sich mühsam hinein und zog den Einstieg hinter sich zu. Lederpolster dichteten die Ritzen ab. Im Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich, als hätte man sie lebendig in einen Sarg gepfercht. Panik schnürte ihr die Luft ab. Lieber wollte sie mit der Maddy untergehen, als sich dieser Enge auszusetzen. Dann aber gewann ihre Vernunft die Oberhand.

Das Wrack stellte sich steiler und steiler, jeden Augenblick konnte der endgültige Sturz zum Meeresgrund beginnen.

Jolly zog die beiden Bolzen aus ihren Vorrichtungen. Sie glitten mühelos heraus, als hätte Bannon sie erst kürzlich gefettet. Ein berstender Laut ertönte, und einen Moment lang glaubte Jolly, die Maddy bräche auseinander. Aber, nein – die Galionsfigur hatte sich vom Rumpf gelöst. Den freien Fall in die Tiefe bemerkte sie gar nicht, erst den Aufprall, der wie hundert Hammerschläge auf die hölzerne Außenhaut der Figur einschlug. Jollys Ohren dröhnten, sie war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Dann wurde die Galionsfigur von den Wellen erfasst. Ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte aus der Tiefe, vielleicht der sterbende Klabauter, oder aber die sinkende Maddy. Jolly konnte nur hoffen, dass sie bereits weit genug vom Wrack entfernt war und der Sog des sinkenden Schiffes sie nicht mit in die Tiefe riss.

Es war stockdunkel im Inneren der Figur, die Luft roch muffig. Jolly wagte noch nicht, die Klappe zu öffnen, aus Angst, das Wasser der aufgewühlten See könne eindringen und den Hohlraum fluten.

Ein dumpfer Schlag ertönte, als von unten etwas gegen die Figur stieß. Haie! Sie hielten den treibenden Umriss für eine besonders fette Beute. Jolly war nicht sicher, ob das Holz dem Tonnendruck der Zähne standhalten würde, falls wirklich einer von ihnen hineinbiss.

Etwas strich in der Finsternis über ihr Gesicht.

Sie schrie auf. Im ersten Moment hielt sie es für Finger. Aber das war Unfug. Zwischen ihrer Nasenspitze und der Holzwand des Hohlraums lag ein Abstand von nicht einmal einem Fuß. Sie war allein, natürlich.

Oder vielleicht… nicht ganz allein.

Eine Spinne war mit ihr in der Figur eingeschlossen! Sie musste an Bord der Galeone in Jollys Umhängetasche gekrochen sein.

Jetzt kroch sie frei auf ihrem Körper herum.

Jolly begann in der engen Röhre zu strampeln, hämmerte mit Händen und Füßen gegen das Holz, ehe sie ihre Panik so weit unter Kontrolle bekam, dass sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.

Lieg ganz ruhig. Sei ganz still.

Und horche!

Jolly hielt den Atem an. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper wie ein Panzer aus Eis, aber auch das war kein Schutz vor den Gifthauern der Spinne. Sie lauschte auf ihren eigenen Herzschlag, nicht dumpf, nicht leise, sondern so laut, dass sie glaubte, er müsse jeden Augenblick ihren Brustkorb sprengen.

Da war noch ein Geräusch. Kaum hörbar. Wie Fingerspitzen, die sanft auf einer hohlen Oberfläche trommelten.

Die Spinne krabbelte über das Holz, irgendwo weiter unten.

Jolly biss sich auf die Unterlippe, um ja keinen Laut von sich zu geben. Wenn sie nur etwas hätte sehen können. Ein winziger Lichtschimmer würde vielleicht schon genügen. Aber sie wagte nicht, eine Hand zu heben, um die Luftklappe über ihrem Gesicht zu öffnen, aus Angst, die Spinne damit erst recht zu reizen.

Irgendwie musste sie das Biest loswerden.

Sie atmete ganz langsam ein und aus, dann hielt sie erneut die Luft an. Wurde so starr, als sei sie selbst ein Stück Holz. Sie musste die Spinne in Sicherheit wiegen, durfte sie auf gar keinen Fall zu einem Angriff verleiten.

Und dann, wenn sie genau wusste, wo sich das Mistvieh gerade befand - Etwas zwickte sie am Rücken ihrer rechten Hand.

Jolly stieß einen wilden Schrei aus und schlug die Hand mit aller Kraft gegen die Innenwand. Der Spinnenkörper war härter, als sie erwartet hatte, die Borsten stachen wie Nadeln, aber Jolly schlug dennoch erneut zu, wieder und wieder. Die zuckenden Beine legten sich um ihren Handrücken wie Finger, sie spürte ihren Druck, dann ihr Erschlaffen.

Angewidert schüttelte sie ihren Arm, bis der leblose Spinnenleib hinunterglitt.

Es spielte keine Rolle mehr. Zu spät.

Die Spinne hatte zugebissen.

Jolly spürte, wie ihr die Sinne schwanden. Die Schwärze im Inneren der treibenden Galionsfigur gewann an Festigkeit, raubte ihr den Atem, schien ölig und kalt in ihre Nase, ihre Augen, in ihren Mund zu fließen.

Ich werde sterben, dachte sie mit verblüffender Sachlichkeit.

Noch einmal hob sie die Hand, ihre Finger fanden den Schieber über ihrem Gesicht, zogen ihn mit letzter Kraft beiseite.

Das Blau des Himmels über ihr stach wie Stahlklingen in ihre Pupillen. Salzige Luft strömte in den Hohlraum.

Atme, durchfuhr es sie.

Nun atme schon, verdammt!

Der Himmel verblasste, dann das Licht, die ganze Welt. Das Spinnengift pulste durch ihre Adern und presste jeden Gedanken aus ihren Poren.

Jollys Bewusstsein driftete davon wie Treibholz auf einem nachtschwarzen Ozean.

Treibgut

Der Junge saß auf einem Felsen hoch über der Bucht, die sich vor ihm wie ein Fenster zum Meer öffnete. Wann immer sein Vater ihn von seinen Pflichten auf der Farm entband, kam er hier herauf, um zu träumen: vom Meer und einem Leben auf den großen, prachtvollen Schiffen, die er dann und wann am Horizont sah.

Munks Hand lag auf dem rostigen Kanonenrohr, in dessen Mündung im letzten Jahr ein Vogelpaar genistet hatte. Er hatte gewartet, bis die Kleinen ausgeflogen waren, dann erst hatte er das Nest sorgfältig entfernt. Er wusste nicht, wie man eine Kanone bediente, dennoch hielt er es für eine gute Idee, dass sie jederzeit einsatzbereit war. Seine Eltern, Tabakfarmer und die einzigen Siedler auf dem winzigen Eiland, ahnten nichts von dem verrotteten Geschütz über der Bucht. Die Kanone war Munks Geheimnis. So wie dieser ganze Ort, diese Zuflucht auf dem Felsen mit Blick über die Bucht und das türkisblaue Karibische Meer.

Er hatte oft gehofft, von hier oben aus Piraten zu sehen, die stolzen Schaluppen und Brigantinen der Freibeuter, die die Karibik wie keinen anderen Ort der Weltmeere in Angst und Schrecken versetzten. Er wünschte sich sehnlich, einmal eine der schwarzen Flaggen am Horizont zu entdecken, mit dem Symbol des Totenschädels über gekreuzten Knochen oder Säbeln, den Glanz des Goldes, der aus ihren Ladeluken strahlte und ihre Segel in das Licht eines ewigen Sonnenaufgangs tauchte.

Träumereien, sagte seine Mutter. Versponnenes Zeug, sein Vater. Und beide hatten ihn mehr als einmal davor gewarnt, auf die fixe Idee zu kommen, eines der vorbeifahrenden Schiffe durch Rauch oder andere Zeichen auf die Insel aufmerksam zu machen.

Munk belächelte die Sorge seiner Eltern. Mochte er auch von Piraten und abenteuerlichen Kaperfahrten fantasieren, so wäre er doch nie so weit gegangen, eines der Schiffe heranzulocken. Wer war er denn schon? Nur ein Junge mit ein paar verschrobenen Talenten. Einen wie ihn würden sie nie an Bord nehmen. Er konnte nicht fechten, aber lesen; nicht schießen, dafür ein paar unnütze Zaubertricks. Falls wirklich einmal Piraten auf der Insel auftauchen sollten, war er gewiss der Erste, den sie über die Planke schickten.

Unnütz, das war das Wort, das er so hasste. Sein Vater hatte ihn einmal so genannt, als er wütend geworden war über eines von Munks Missgeschicken auf der Farm. Und, gewiss, er hatte ja recht. Munk würde nie ein ordentlicher Tabakfarmer werden, so viel war sicher. Dafür verlor er sich viel zu oft in seinen Tagträumen, dachte an alles Mögliche, nur nicht an die Ernte und die Aufzucht der jungen Pflanzen. Und mit den Feilschereien, die sein Vater so gut beherrschte, wenn dann und wann ein Händler zur Insel kam, hatte er erst recht nichts am Hut.

Munk seufzte und blinzelte in die Morgensonne. Die Basis der Kanone war so morsch, dass er sich lieber nicht darauf setzte, aus Sorge, das Holz könnte auseinander brechen. Er hatte sich oft gefragt, wer sie hier aufgestellt hatte. Insgeheim war er überzeugt, dass die Insel vor dreißig, vierzig Jahren, zu Zeiten der ersten Bukaniere und der Kaperfahrten Henry Morgans, ein geheimes Piratennest gewesen war. Vielleicht hatten sie sich hier oben vor den Spaniern verschanzt, oder – besser noch – ihre Schätze irgendwo im Dickicht des Dschungels vergraben.

Träume, dachte Munk. Nichts als dumme Träume.

Heute Mittag hatte er geglaubt, Kanonendonner in der Ferne zu hören, und ein-, zweimal war da ein helles Blitzen am Horizont gewesen, beschattet von etwas, das eine Rauchfahne sein mochte. Jetzt aber würde bald die Sonne untergehen, und es gab keine weiteren Anzeichen für eine Seeschlacht.

Nur eine weitere Täuschung. Eine weitere leere Hoffnung darauf, dass irgendwann einmal etwas Ungewöhnliches die Langeweile auf dieser Insel aufstören würde.

Er wollte sich gerade aufraffen, um zurück zur Farm zu laufen, als er etwas bemerkte. Draußen, wo das Wasser tiefer und dunkler wurde, wo das sandige Grüngelb der Bucht in das Blau des Ozeans überging, dort draußen entdeckte er etwas, das da nicht hätte sein dürfen.

Neugierig sprang Munk auf die Füße. Eine enge Kette von Riffen durchbrach dort die Oberfläche der See, ein Prellbock gegen die Brandung, um den ein immer währender Kranz von Schaum und Gischt lag wie eine Blütenkrone.

Zwischen zwei der äußeren Felsnadeln trieb etwas im Wasser. Es war ein wenig größer als ein Mensch und dunkelbraun. Nasses Holz, natürlich. Vielleicht ein Wrackteil. Oder, bei Morgans rotem Bart, eine Truhe!

Munk spürte, wie das Blut schneller durch seine Adern schoss. Erregung packte ihn. Er schob eine blonde Haarsträhne zurück, blinzelte prüfend zu dem Ding im Wasser hinunter und machte sich auf den Weg. Eilig stürmte er den schmalen Pfad hinab, der von der Felskuppe durch ein Bananenwäldchen zum Strand führte. Er achtete nicht auf die Äste und Blätter, die in sein Gesicht schlugen. Sand drang in seine Sandalen und schmirgelte schmerzhaft unter seinen Fußsohlen, doch nicht einmal das hielt ihn auf – in Windeseile erreichte er das Wasser, erst dort blieb er stehen. Aufmerksam schaute er sich um – nicht zum Meer hinaus, sondern landeinwärts, dorthin, wo der weiße Strand im Schatten der Palmen, Mahagonibäume und Baumfarne verschwand, eine dunkelgrüne Mauer, aus der das Geschrei der Papageien herüberwehte.

Niemand zu sehen. Seine Eltern mussten um diese Zeit eigentlich auf der Farm sein, wahrscheinlich wartete seine Mutter schon mit dem Abendessen. Falls sein Vater ihn beobachtete bei dem, was er vorhatte, würde es einen fürchterlichen Streit geben. Sie hatten es ihm verboten, erst unter Flehen, dann unter Drohungen, und selbst als er sie zum hundertsten Mal gefragt hatte, warum sie nicht wollten, dass er es tat, da hatten sie nur geschwiegen und unheilvolle Blicke gewechselt. Wie aber konnten sie erwarten, dass er sich an ihr Verbot hielt – in einem Augenblick wie diesem, da das große Abenteuer womöglich nicht weiter als einen Steinwurf entfernt lag?

Munk blickte ein letztes Mal über die Schulter zurück zum Dschungel, dann setzte er den linken Fuß aufs Wasser. Er hatte das zum letzten Mal vor über einem Jahr getan, ebenfalls heimlich, nur um zu sehen, ob er die Fähigkeit überhaupt noch besaß. Aber seine Mutter hatte recht gehabt, als sie gesagt hatte, er würde dieses Talent niemals verlieren. Er war der einzige Mensch auf der Welt, behaupteten sie und sein Vater, der über diese Kraft verfügte; sie selbst jedenfalls, dessen war er sicher, konnten nicht übers Wasser gehen.

Eine Quappe sei er, hatten sie gesagt. Und dass es Menschen gebe, die ihm seine Fähigkeit neiden und ihm Böses antun würden, wenn er sich ihnen offenbarte. Das war alles. Keine weiteren Erklärungen.

Eine Quappe, also. Die letzte auf der ganzen weiten Welt. Glaubte er daran? Er war nie in seinem Leben von der Insel heruntergekommen, und weder der Geisterhändler noch seine Eltern hatten ihm je eine befriedigende Antwort auf seine Fragen geben können.

Munk lief los. In der Brandung war es immer am schwierigsten, das Gleichgewicht zu halten. In der Bucht gab es kaum Wellen, sie brachen sich draußen an den Riffen, deshalb kam er einigermaßen voran. Auf offener See wäre er wohl schon nach zwei, drei Schritten gestürzt. Vielleicht war seine Fähigkeit überhaupt nur dazu gut, über stille Buchten und ruhige See zu laufen. Falls sie überhaupt zu irgendetwas nütze war.

Je sicherer er sich fühlte, desto schneller wurde er. Nicht allein aus Übermut, sondern auch weil er so rasch wie möglich zurück ans Land wollte. Himmel, es würde wirklich eine Menge Ärger geben, wenn sein Vater ihn sah.

Es dauerte nicht lange, bis er bei den Riffen angekommen war. Munk bemerkte im Vorüberlaufen, wie dicht sie mit Muscheln überzogen waren. Vielleicht konnte er später noch einmal zurückkehren und ein paar davon ablösen. Jetzt aber hatte er Wichtigeres zu tun.

Das längliche Holzding ragte halb zwischen den Felsen hervor, umspült von brodelnder Gischt. Es war eine Galionsfigur, das erkannte er jetzt, und mit ein wenig Glück konnte er den Dreizack des hölzernen Neptun packen, ohne seine Füße in den trügerischen Meerschaum zu setzen. Ja, geschafft. Ohne allzu große Mühe zog er die Figur zu sich heran. Mitten im Gesicht des Meergottes bemerkte er eine kleine Öffnung. Munk unterdrückte seine Neugier. Er würde später noch Zeit genug haben, das Ding zu untersuchen, hier in der Bucht war es zu gefährlich. Er verstärkte seinen Griff und schleppte die Figur landeinwärts, bis Sand unter dem nassen Holzrücken knirschte und er selbst wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Munk fiel auf die Knie und beugte sich über die Figur. Sie war vollkommen sauber, nichts hatte sich auf ihrer Oberfläche festgesetzt. An einer Seite befanden sich ein paar lange Furchen, die aussahen wie Bissspuren. Das Holz war dort sehr hell. Lange konnte die Figur nicht im Meer getrieben haben. Ob sie ein Wrackteil der Seeschlacht vom Mittag war?

Munk nahm sich die Öffnung im Gesicht der Galionsfigur vor. Die Sonne war in der Zwischenzeit noch tiefer gesunken. Sie hing zwischen den Dschungelwipfeln wie eine glühende Frucht. Tiefe Schatten lagen auf dem handtellergroßen Viereck im Holz. Munk musste die Figur ein wenig zur Seite rollen, um besser hineinschauen zu können.

»Bei Morgans rotem Bart!«, entfuhr es ihm.

Er sagte es noch mal und noch mal, bis er endlich den Einstieg am Rücken der Figur fand und das leblose Mädchen heraus auf den Strand zog.

Sie hatte langes pechschwarzes Haar, trug weite braune Baumwollhosen und ein weißes Männerhemd, das sie mit einem Gürtel um ihre schmale Taille zusammengezurrt hatte. Vier oder fünf Goldringe baumelten an jedem ihrer Ohren. Auf beiden Seiten ihrer Nasenwurzel, genau zwischen den Augen, befanden sich zwei winzige Diamanten, verbunden durch einen unsichtbaren Stecker unter ihrer gebräunten Haut.

Ihre Lider waren geschlossen, aber der Sonnenuntergang brach sich auf den geschliffenen Facetten der beiden Edelsteine, und Munk kam es vor, als blickte das Mädchen aus funkelnden Insektenaugen zu ihm empor.

Als Jolly erwachte, war die Welt von einem goldenen Glanz erfüllt, gelbroten Lichtstrahlen, die als Fächer durch Ritzen in einem palmblattgedeckten Dach fielen. Staub tanzte darin wie Schwärme winziger Fische.

»Guten Morgen«, sagte eine Stimme neben ihr.

»Verstehst du mich … ich meine, verstehst du meine Sprache?«

Jolly drehte den Kopf, erstaunt, wie leicht und schmerzlos das ging. Mit jedem Atemzug schien sie auch ein Stück ihrer Vergangenheit einzusaugen. Noch bevor ihr Blick auf das Gesicht des blonden Jungen fiel, kehrten die ersten Bruchstücke ihrer Erinnerung zurück.

»Wo sind die anderen?«, entfuhr es ihr. »Und wo bin –«

»In Sicherheit.« Das Lächeln des Jungen flackerte; er versuchte, seine Unsicherheit zu überspielen. »Hier tut dir keiner was.«

Jollys Blick wanderte durch den Raum. Die Einrichtung war einfach und spärlich. Auf einem Stuhl neben dem offenen Fenster lagen ihre Sachen, ordentlich gefaltet. Jolly entdeckte zuoberst ihren Gürtel, daneben den Dolch.

Zu weit weg, um von hier aus heranzukommen. Sie richtete sich langsam auf. Falls der Junge sich näher zu ihr vorbeugte, konnte sie ihn vielleicht an der Kehle packen, oder besser noch, mit dem Handkantenschlag außer Gefecht setzen, den Captain Bannon ihr beigebracht hatte.

»Du traust mir nicht, ich kann das spüren.« Er zuckte die Schultern. »Meistens liege ich damit richtig.«