Die Muschelmagier - Kai Meyer - E-Book

Die Muschelmagier E-Book

Kai Meyer

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Beschreibung

Eine Nebelwand schützt Aelenium vor den Blicken der Welt. Die schwimmende Stadt ist Wächter des gefährlichen Mahlstroms, der in den Tiefen der Karibik lauert. Aber Aelenium hat versagt. Während hinter dem Horizont der Mahlstrom die See verschlingt, ruht die letzte Hoffnung auf den Wellenläufern. Jolly und Munk werden in den Korallenpalästen der Stadt auf den Kampf gegen den Mahlstrom vorbereitet. Doch Jolly sehnt sich zurück nach ihrem Leben als Piratin. Als Klabauterheere vor Aelenium aufmarschieren, beginnt eine abenteuerliche Flucht: Über magische Brücken und dunkle Meere, durch wilde Dschungel und auf verlassene Inseln führt ihre Reise. Erst als Munk sie vor eine Entscheidung stellt, erkennt Jolly in ihm ihren gefährlichsten Gegner: Der Kampf um die Magie der Muscheln beginnt. Der zweite Band der Wellenläufer-Trilogie Band 1: Die Wellenläufer Band 2: Die Muschelmagier Band 3: Die Wasserweber

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Seitenzahl: 348

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Die Muschelmagier

Band 2 der Wellenläufer-Trilogie

Kai Meyer

Copyright © Kai Meyer 2003

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

www.kopainski.com

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-678-3

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Der Angriff

Brücke aus Feuer

Die Seesternstadt

Quappenzauber

Unter Wasser

Der Plan

Besuch bei Nacht

Urvater

Die Wahrheit über Spinnen

Gefressen

Der Geist im Fass

Allein auf See

Der Mann im Wal

Beim Rat der Kapitäne

Der Kannibalenkönig

Alte Freunde

Die Wasserweberinnen

Die Flotte der Feinde

Drachenpost

Der Angriff

Die Stimme des Acherus weckte sie. Jolly fuhr auf und hatte das Gefühl, mit dem Schädel gegen etwas Hartes zu stoßen, so heftig waren ihre Kopfschmerzen. Sie lag auf einer kratzenden Bastmatte, neben sich den verschlungenen Wulst einer Wolldecke. Durch das grob gehauene Fenster der Höhle fiel ein schmaler Streifen Tageslicht, der die Schatten rund um die zerwühlte Schlafstatt nicht vertreiben konnte. Den Wasserkrug musste sie in der Nacht umgestoßen haben, der Inhalt war in der drückenden Hitze verdunstet. Nicht einmal die Felswände, die sie von allen Seiten umgaben, kamen gegen die stickige Witterung an. Der Schrei des Acherus. Sie hatte ihn gehört, ganz sicher. Doch jetzt war da Stille – nein, keine Stille, nur das ferne Säuseln der Karibik, das Wispern der Winde und Rauschen der Brandung. Und … ja, Stimmen. Sehr weit entfernt. Wo war sie? Was tat sie hier? Die Erinnerung brauchte einen Moment. Doch dann flossen die Bilder zurück in ihr Bewusstsein, die meisten nicht weniger schmerzhaft als das, was hinter ihrer Stirn tobte.

Sie waren über Bord gegangen. Inmitten einer tobenden Seeschlacht, zwischen mörderischen Kanonensalven und Pulverqualm waren sie und Griffin im Wasser gelandet. Jolly entsann sich, wie sie im aufgeschäumten Meer nach Griffin gesucht hatte, wie sie ihn mit letzter Kraft an das Felsenufer einer Insel geschleppt hatte. Als die Sicht aufklarte, war ihr Schiff fort gewesen.

Mit der Carfax waren auch die Gefährten verschwunden: Munk, Captain Walker, der Pitbullmann Buenaventure, die Piratenprinzessin Soledad und der Geisterhändler hatten sich mit dem Qualm der Geschütze in Luft aufgelöst.

»Jolly! Du bist wach!«

Griffin trat gebückt durch den Höhleneingang. Der Piratenjunge passte gerade durch die schmale Öffnung. Wie alle Unterkünfte auf dem Eiland war auch diese hier kaum größer als eine enge Kajüte. Doch nachdem man den beiden Wasser und Nahrung gegeben hatte, war ihnen der düstere Felsverschlag wie ein Palast vorgekommen.

»Ich … ich hab was gehört«, brachte Jolly heiser hervor, als Griffin neben ihr in die Hocke ging. »Den Acherus, glaube ich.«

Für einen Sekundenbruchteil geisterte Besorgnis über die Züge des Jungen. Dann aber grinste er und schüttelte so heftig den Kopf, dass die Flut aus blonden Zöpfen wie Girlanden um seinen Schädel wirbelte.

»Das hast du geträumt«, sagte er sanft. »Hier ist nichts auf der Insel. Zumindest kein Acherus oder sonst was, das uns der Mahlstrom auf den Hals gehetzt haben könnte.«

Höchstwahrscheinlich hatte er recht. Jolly träumte viel, seit diese ganze Sache begonnen hatte.

Wieder und wieder sah sie die Bilder von den endlosen Klabauterheeren, die bis zum Horizont unter den Wogen lauerten. Sie spürte die toten Fische auf ihrer Haut, die vom Himmel geregnet waren, und roch den fauligen Atem des Acherus. Und doch wurde das Böse, das die entsetzlichen Geschehnisse hervorgerufen hatte, dadurch nicht greifbarer. Der Mahlstrom und das Mare Tenebrosum blieben hinter ihren eigenen Kreaturen verborgen – unvorstellbar, unfassbar und damit umso schrecklicher.

»Agostini meinte, ich soll dich holen«, sagte Griffin. »Er will mit uns raus auf die Brücke. Du kommst doch mit, oder?«

Sie nickte heftig, verzog aber sofort das Gesicht, als der Kopfschmerz sich erneut bemerkbar machte. Trotzdem -jede Ablenkung war ihr recht. Sie stand auf, ein wenig schwankend, wusch sich notdürftig an der Quelle im Felsspalt und eilte dann mit Griffin ins Freie.

Das Lager der Brückenbauer befand sich in einer Vielzahl winziger Höhlen, die das erkaltete Lavagestein auf dieser Seite der Insel wie Luftblasen durchzogen. Jolly und Griffin waren im Norden an Land gegangen; dort waren die Hänge des Bergkegels übersät mit Baumstümpfen, alt und ausgetrocknet, und der Boden hatte eine gelbbraune Färbung. Hier im Süden aber bedeckte eine graue, mehrere Meilen breite Schicht aus erstarrter Lava den Großteil des ehemaligen Vulkans. Vor Jahrtausenden musste sie sich aus dem Krater herabgewälzt haben und war auf ihrem Weg zum Wasser allmählich erkaltet. Die Zeit und das Wetter hatten einen verästelten Irrgarten aus Spalten und Schluchten in den Fels getrieben, der die Bewohner dieser Ödnis vor der Hitze, aber auch vor den gefürchteten Taifunen schützte.

Mittlerweile war es vier Tage her, dass die beiden Schiffbrüchigen hungrig und durstig in das Lager des Brückenbauers Agostini und seiner Leute gestolpert waren. Die langen Stunden waren angefüllt mit Warten und Nichtstun. Fast war Jolly erleichtert gewesen, als auch am zweiten und dritten Tag keine Spur der Carfax am Horizont auftauchte. Es sah immer mehr danach aus, dass die Freunde ohne sie den Weg in die Seesternstadt Aelenium fortgesetzt hatten. Sollten sie doch, dachte Jolly patzig. Auch wenn sie eine Quappe war – sie riss sich ganz bestimmt nicht darum, dem Mahlstrom entgegenzutreten. Sie wollte einfach nur an Bord des nächsten Versorgungsschiffes gehen, um endlich wieder zu ihrem alten Leben als Pirat zurückzukehren.

»Da seid ihr ja!«, rief Agostini, als sie das Labyrinth der Felsspalten verließen und die Klippen erreichten.

Der Brückenbaumeister kam ihnen mit großen Schritten entgegen, fuchtelte umständlich mit den langen Armen, gab Arbeitern, an denen er vorbeikam, Befehle, ließ sich eine Papierrolle reichen, begutachtete sie, gab sie wieder zurück, spuckte Kautabak aus, biss in eine Banane und rückte seinen breiten Hut zurecht – und das alles, ohne langsamer zu werden.

Agostini tat stets mindestens drei Dinge auf einmal. Und das nicht etwa, weil er keine Zeit hatte. Es lag wohl in seiner Natur, immerzu irgendetwas zu tun, zu sagen, sich zu bewegen, neue Pläne zu entwerfen oder alte zu überarbeiten. Der Mann wimmelte regelrecht, als hätte ein Ameisenhaufen menschliche Gestalt angenommen.

Heute wollte er Jolly und Griffin zum ersten Mal mit auf die unfertige Brücke nehmen.

Er drehte sich auf den Fersen um, als er die beiden erreichte, und lief neben ihnen her zurück zum Klippenrand, über eine Fläche aus porösem aschgrauem Fels, der mit Zelten, Werkstätten und dunkelhäutigen Menschen übersät war. Ein dutzend Eingeborene von den unterschiedlichsten Inseln arbeiteten für ihn.

Agostini hatte langes wehendes Haar und trug etwas, das gleichermaßen aus einer zerschlissenen spanischen Uniform, einer englischen Kapitänskluft und der Tracht französischer Farmer zusammengewürfelt war. Hauptsache, es erfüllte seinen Zweck. Das zerzauste graue Haar wallte unter seinem Schlapphut hervor und unterschied sich kaum von den verblichenen, schlaffen Federn, die unter dem roten Hutband steckten.

Ein Pulk von Brückenbauern wich plappernd auseinander, als Agostini in Begleitung der beiden die Baustelle erreichte.

Der Baumeister verharrte neben Jolly und Griffin und stand zum ersten Mal für einen Augenblick still. Er atmete tief durch. Jolly folgte seinem Blick zu der spektakulären Holzkonstruktion, die sich vom Rand der Lavafelsen bis in die Ferne erstreckte.

Als sie und Griffin die Brücke zum ersten Mal gesehen hatten, hatten sie kaum ihren Augen getraut. Über einen Meeresarm spannte sie sich zur nächsten Insel. Sie war noch nicht fertig gestellt, aber der Anblick des gigantischen Bauwerkes verschlug schon jetzt jedem Betrachter den Atem.

Agostinis Brücke war in der Tat erstaunlich: zweihundert Schritt lang, zehn Schritt breit; hoch über dem Wasser gewölbt wie eine Sichel, aber ohne eine einzige Säule, die sie stützte; vollkommen schmucklos, nur auf Zweckmäßigkeit hin entworfen und dabei doch von einer Eleganz, die die Brücke selbst zu einem Schmuckstück machte.

Sie bestand aus einem filigranen Gitterwerk von Planken und Brettern, das in den nächsten Wochen noch abgedeckt werden musste. Bis dahin balancierten die Arbeiter wie Seiltänzer über die Holzstreben, stets nur einen Schritt vom Abgrund entfernt. Auf beiden Seiten mündete die Brücke in Klippen hoch über dem Wasser. Bis zur Meeresoberfläche waren es an der höchsten Stelle der Brückenwölbung gut zwanzig Mannslängen.

Es war Größenwahnsinn, eindeutig. Was brachte einen Menschen dazu, ein solches Bauwerk mitten im Nichts zu errichten? Wer sollte die Brücke benutzen, wenn sie vollendet war? Warum wurde mit einem derartigen Aufwand eine Verbindung zwischen zwei öden Inseln geschaffen, die weitab aller Handelsrouten lagen, fern jeder Zivilisation? Agostini war ihnen die Antwort auf all diese Fragen schuldig geblieben.

Jolly vermutete, dass er schlichtweg verrückt war. Allerdings hatte der Baumeister sie und Griffin aufgenommen und mit allem Nötigen versorgt. Ehe sie von der Insel herunterkamen, waren sie auf seine Hilfe angewiesen, so wenig es ihr auch passte, auf diesem trostlosen Eiland festzusitzen.

Der Wind fauchte ihnen entgegen, als sie den festen Boden verließen und auf das Holz der Brücke traten.

»Seit heute Morgen ist sie komplett«, erklärte Agostini. »Die Arbeiter haben die letzte Lücke geschlossen.«

Griffin blickte ein wenig gequält auf den Abgrund zwischen den Planken. Er war wie Jolly auf Piratenschiffen aufgewachsen. Auf den Rahen eines Schiffes bewegte er sich ebenso wie sie mit blinder Sicherheit. Doch das hier war, aus Gründen, die ihnen selbst nicht ganz klar waren, etwas anderes.

Sie mussten Acht geben, wohin sie auf den schmalen Streben ihre Füße setzten. Vor allem für Jolly, die als Quappe auf dem Wasser laufen konnte, wäre ein Aufschlag auf der Meeresoberfläche fatal – die Wogen waren für sie so hart wie Stein, sie würde sich alle Knochen brechen. Aber auch für Griffin, für den Wasser nur Wasser war, mochte ein Sturz aus dieser Höhe schlimme Folgen haben.

Sie gingen am Rand der Brücke entlang und hielten sich mit einer Hand am Geländer fest. Ein paar der Eingeborenen turnten gewandt an ihnen vorüber – kein Wunder, die meisten von ihnen arbeiteten schon seit über einem Jahr auf dem Gerüst.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich dem höchsten Punkt des Brückenbogens näherten. Jolly war so in Gedanken ver–sunken, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie die Arbeiter nach und nach zurückgeblieben waren. Als sie jetzt aufschaute, sah sie, dass sie mit Agostini allein waren.

Griffin stellte aus Höflichkeit ein paar Fragen, aber Jolly hörte kaum hin. Erst als er wissen wollte, wie all das Holz ohne Säulen überhaupt in der Luft halten könne, und Agostini entgegnete: »Durch Magie«, da horchte sie auf.

Magie? Aber nur Quappen verstanden sich auf die Kunst der Muschelmagie. Nun, nicht alle Quappen. Von den beiden, die noch am Leben waren, verfügte offenbar nur Munk über dieses Talent. Jolly fehlte dazu die Geduld und auch das Können – selbst wenn der Geisterhändler etwas anderes behauptet hatte. Munk allerdings befand sich weit weg, wahrscheinlich war er mittlerweile schon mit den anderen in Aelenium angelangt.

Was aber war mit Agostini? Was wusste er über Magie?

Sie wollte nachhaken, als der Baumeister stehen blieb. Sie befanden sich jetzt in der Mitte der Brücke. Unter ihnen klaffte ein Abgrund von gut hundertzwanzig Fuß.

Agostini legte beide Hände an das Geländer, schloss die Augen und atmete tief durch. Sein langes Haar flatterte im Wind wie Asche auf einer Brise.

Griffin und Jolly wechselten einen Blick.

In der Ferne ertönte ein Heulen. Jolly fuhr erschrocken herum, doch es war nur der Sturm, der in die engen Klüfte zwischen den Felsinseln fuhr. Das Rauschen der aufgewühlten See wurde flüsternd von den Steinwänden zurückgeworfen, sogar bis hier draußen reichte der Hall des Echos.

Jolly wagte einen neuen Vorstoß. »Welchen Zweck soll denn nun eigentlich so eine Brücke haben, hier draußen am Ende der Welt?«

Der Baumeister lächelte, blickte aber nicht Jolly an, sondern über das Wasser zu den anderen Inseln. Das Panorama sah aus, als hätte jemand Schichten aus Grau- und Brauntönen auf eine blaue Leinwand aufgetragen.

»Sie hat den Zweck aller Brücken«, sagte er geheimnisvoll. »Sie wird von einem Ort zum anderen führen.« Es war das erste Mal, dass er so ruhig und leise sprach. Jolly musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen.

Griffin trat von einem Fuß auf den anderen. Sein besorgter Blick brachte Jolly zum Schweigen. Was ging es sie an? Es war wohl am besten, wenn sie für einen Moment die atemberaubende Aussicht genossen und dann an Land zurückkehrten.

»Diese andere Insel da drüben« – Jolly zeigte auf das Ende der Brücke und den bewaldeten Buckel, der sich dahinter erhob –, »warum haben Sie Ihr Lager nicht dort aufgeschlagen? Sie sieht viel gemütlicher aus, mit all den Bäumen.«

Etwas schlug in ihrem Hinterkopf Alarm, etwas in ihren eigenen Worten, ein verborgener Gedanke, dessen Bedeutung ihr selbst erst einen Atemzug später klar wurde.

Die Bäume … all die Bäume. Natürlich: Es sah aus, als wäre dort kein einziger Stamm gefällt worden. Nur auf der Vulkaninsel, aber nicht dort drüben.

Dabei konnten die Bäume des Eilands unmöglich ausgereicht haben, um diese gigantische Brücke zu errichten. Wenn sie es genau bedachte, dann wahrscheinlich nicht einmal alle Bäume der ganzen Inselgruppe.

»Jolly?« Griffin hatte bemerkt, dass etwas sie beschäftigte. »Was ist los?«

Sie gab keine Antwort, sondern sah stumm hinunter auf das Holz zu ihren Füßen. Auf den ersten Blick war daran nichts Ungewöhnliches. Sie ging in die Hocke und berührte es mit den Fingerspitzen. Es fühlte sich glatt an, obwohl die Oberfläche nicht poliert war, und es war faserig, fast wie Schilf oder Bambus.

»Das ist kein gewöhnliches Holz, oder?« Sie hob den Kopf. Auf Agostinis Lippen spielte noch immer dieses rätselhafte Lächeln.

»Nein«, flüsterte er.

Griffin sah von einem zum anderen, dann fasste er Jolly am Arm. »Lass uns zurückgehen.«

Jolly starrte den Baumeister unverändert an. »Wohin führt diese Brücke?«

Griffin sah sie mit großen Augen an. »Wohin?«, wiederholte er verwundert.

»Er weiß, was ich meine.«

Agostini nickte. »Jedenfalls nicht zur anderen Insel dort drüben.«

»Aber –«, begann Griffin, doch Jolly fiel ihm ins Wort: »Sie haben diese Brücke nicht allein entworfen, oder? Jemand hat Ihnen einen Auftrag gegeben. Und einen Großteil des Holzes gleich dazu.«

Wieder nickte der Baumeister. Seine rechte Hand begann, geistesabwesend an seiner Hutkrempe zu spielen. »Du bist zu früh gekommen«, sagte er. »Aber nun wird sich doch noch alles fügen, kleine Quappe.«

Sie hatte ihm nichts von ihren Fähigkeiten erzählt.

»Jolly, komm jetzt.« Griffin hatte es satt, dass die beiden über etwas sprachen, das er nicht verstand.

»Ich gehe auch allein, wenn du nicht …«

Diesmal wurde er nicht von Jolly unterbrochen, sondern von einem Aufruhr auf den Lavaklippen. Sein Kopf fuhr herum. Auch Jolly folgte seinem Blick.

Die Eingeborenen rannten und sprangen in Richtung Felsen, wo sich ein Pulk aus dutzenden von Männern gebildet hatte. Langsam formierte sich ein Kreis um etwas, das sich aus der Entfernung nicht erkennen ließ.

»Was ist da los?«, fragte Jolly.

Einige der Arbeiter schrien auf, an mehreren Stellen brach die Menge auseinander. Viele wandten die Gesichter zum Himmel, als erwarteten sie, dort oben etwas Außergewöhnliches zu sehen. Aber der blaue Karibikhimmel war so leer und blau und endlos wie an jedem Tag. Andere Eingeborene fielen auf die Knie, senkten die Köpfe und breiteten demütig die Arme aus.

Etwas klatschte vor Jollys Füße.

»Nicht schon wieder«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

Tote Fische stürzten wie aus dem Nichts auf sie herab, schlugen auf die Holzstreben, glitten ab und verschwanden in der Tiefe. Silberne Schuppenleiber, Oktopoden, kugelige Stachelfische, Krebse mit roten Scheren und aufgequollene Kadaver ohne Augen und Glieder – sie alle regneten jetzt aus dem wolkenlosen Himmel herab, ergossen sich wie ein makabrer Leichenschauer über die Brücke, die Klippen und die umliegende See.

»Runter hier!«, brüllte Griffin und wollte loslaufen.

»Kleine Quappe«, flüsterte Agostini. Und noch leiser wiederholte er: »Von einem Ort zum anderen …«

Ein schillernder Kadaver streifte seine Schulter, doch der Baumeister zuckte nicht einmal.

Jolly wollte sich Griffin anschließen und aufs Land zulaufen, doch schon nach wenigen Schritten blieben beide stehen.

Griffin zog scharf die Luft ein. »Mein Gott.«

Jolly brachte keinen Ton hervor. Sie sahen, wie der Pulk der Eingeborenen auseinander stob und die Männer in alle Richtungen flohen, eine Hand voll sogar zurück auf die Brücke. Im Hagel der Fischkadaver ließ sich kaum etwas erkennen, aber das wenige reichte aus, um die Panik der Eingeborenen zu verstehen. Zwischen ihnen waren kleine dunkle Schemen aufgetaucht, Gestalten, die mit viel zu langen Armen Hiebe austeilten und schnatternde Rufe ausstießen.

Jolly riss sich von dem Anblick los, beugte sich über das Brückengeländer und sah hinunter ins Wasser.

Die See war aufgewühlt von den Aufschlägen tausender Fische, die Wogen schienen zu kochen. Und doch waren es nicht nur die Kadaver, die das Meer in Bewegung brachten: Auch von unten stieß etwas durch das Wasser, dunkle Formen, die wie Seetang auf den Wellen trieben. Hunderte.

»Klabauter!« Griffin schnellte vom Geländer zurück, als wäre eines der furchtbaren Wesen geradewegs vor seiner Nase aufgetaucht.

Jollys Stimme war so heiser, dass sie zwischen ihren heftigen Atemzügen kaum noch zu verstehen war:

»Und noch etwas anderes.«

Griffin wich einem toten Tintenfisch aus und wurde dafür von einem anderen Kadaver am Hinterkopf getroffen. Er verzog das Gesicht. »Noch etwas?«

Sie nickte. Zweimal zuvor hatte sie einen solchen Fischregen erlebt. Das Zeichen war eindeutig: Eine Kreatur des Mahlstroms musste in der Nähe sein. Eine Bestie wie der Acherus, der Munks Eltern getötet hatte.

»Aber wieso greifen die Klabauter die Arbeiter an?«

Griffin starrte zu den Klippen hinüber, wo jetzt immer mehr dunkle Gestalten über die Eingeborenen herfielen, eine schwarze, glitzernde Woge nasser Leiber, unförmig, mit übergroßen, viel zu dürren Gliedern und schnappenden Mäulern. »Klabauter gehen nicht an Land!« Es klang schrecklich hilflos, wie er das sagte. »Niemals!«

»Jetzt schon.« Jolly stieß sich vom Geländer ab und warf einen angstvollen Blick durch das Gitterwerk der Brücke zum Wasser hinab. Zwischen den Wellenkämmen wimmelte es nur so von Klabauterschädeln. »Ihr Anführer treibt sie ans Ufer. Er muss ihnen größere Angst einjagen als das Land und die Luft.«

Agostini war auf das Geländer geklettert, hatte beide Arme erhoben und den Kopf in den Nacken gelegt. »Geh, kleine Quappe …«, flüsterte er scheinbar zusammenhanglos. »Du wirst erwartet.« Jolly hatte nicht gesehen, wie er auf das Geländer hinaufgekommen war, und sie verstand nicht, wie er sich freihändig da oben halten konnte. Doch seine Worte ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Was zum Teufel meinte er?

Ein tiefes Summen drang aus Agostinis Kehle. Eine Windbö trieb ihm den Hut vom Kopf, und jetzt flatterte sein graues Haar wie Rauchfetzen um seinen Schädel.

Griffin packte Jolly am Arm. »Die Klabauter folgen den Eingeborenen auf die Brücke! Komm, wir müssen weg von hier!« Er deutete auf das gegenüberliegende Ende der Brücke, wo hinter den prasselnden Fischleibern die bewaldeten Hügel der zweiten Insel zu sehen waren.

»Nein, nicht!« Jolly hielt ihn zurück. »Warte!«

Griffin sah über die Schulter zurück zur Vulkaninsel.

Krabbelnde, hangelnde und springende Klabauter drängten jetzt auf das Gitterwerk der Brücke, erreichten die flüchtenden Eingeborenen und schleuderten sie über das Geländer in die Tiefe. Einmal im Wasser aufgeschlagen, versanken sie unweigerlich unter den Fischkadavern und tauchten nicht wieder auf.

»Sie haben uns gesehen!«

»Natürlich«, sagte sie. »Wegen uns sind sie schließlich hier.« Es war eine nahe liegende Vermutung, aber noch während Jolly sie aussprach, zweifelte sie schon wieder daran.

»Wir können nicht da rüber«, rief sie, bemüht, das Prasseln der toten Fische zu übertönen und ihnen gleichzeitig auszuweichen.

»Warum nicht?«

»Was genau hat Agostini vorhin gesagt?«

Griffin starrte sie verzweifelt an, dann den Baumeister, der immer noch in seiner Haltung demütiger Anbetung auf dem Geländer stand. Er sah immer weniger aus wie ein Mensch, seine Proportionen wirkten verzerrt, als wüchsen seine ausgebreiteten Arme dem Himmel entgegen.

»Was hat er geantwortet, als ich ihn gefragt habe, wohin die Brücke führt?«

»Nicht zu der anderen Insel.«

»Nicht zur Insel«, wiederholte Jolly und versuchte, sich zum Nachdenken zu zwingen. Bleib ruhig! Streng dich an!

Griffin sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Aber wohin soll sie denn sonst …? Ich meine, wenn nicht zur Insel, dann …« Er brach kopfschüttelnd ab.

»Sie ist ein Tor. Oder ein Übergang. Eben eine … eine Brücke«, sagte sie hilflos, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Agostini hat tatsächlich eine Brücke gebaut, aber sie führt nicht zur Insel hinüber, auch wenn es so aussieht. In Wahrheit liegt da drüben etwas anderes. Vielleicht eine andere Welt.«

»Das Mare Tenebrosum?«

»Es wäre möglich, oder nicht?«

Griffins Züge verhärteten sich, sein Blick wurde grimmig. »Sie kommen. Wir müssen hier weg!«

Jolly rührte sich noch immer nicht. Sie machte einen Schritt auf Agostini zu, der ohne Unterlass in den Kadaverregen hinaussummte und wisperte und sie mit keinem Blick würdigte.

Die Klabauter kamen näher. Sie waren nicht so flink wie im Wasser, und die Höhe schien sie einzuschüchtern, mehr noch als der ungewohnte Untergrund oder das fremde Element. Und doch war ihre schnappende, zischende, kreischende Masse bedrohlich genug, um Griffin Recht zu geben. Sie mussten weg.

Es war, als liefe eine andere für sie, als würde Jolly von etwas vorwärts getragen und unempfindlich gegen ihr Entsetzen machen.

Nur für wenige Schritte. Dann blieb sie abermals stehen. Griffin taumelte, drohte abzurutschen, fing sich aber mit ihrer Hilfe im letzten Augenblick.

»Da vorne«, brachte sie tonlos hervor.

Sie waren der anderen Insel näher gekommen. Und doch erschien sie undeutlicher als zuvor. Ihre Form zerfaserte an den Rändern wie ein Gebilde aus dunklem Qualm. Zugleich wurde die Luft über ihr finsterer, nicht von Wolken, sondern so, als würde das Licht aus dem blauen Karibikhimmel gesaugt.

»Was ist das?«, fragte Griffin.

Die Klabauter stießen ein Konzert hoher, peitschender Schreie aus, während sie sich von hinten näherten. Sie waren jetzt nur noch vierzig Schritt entfernt.

»Weiter!«, brüllte Griffin, als er einen Blick über die Schulter warf.

»Wir können nicht .«

»Willst du dich von ihnen zerfleischen lassen?« Er packte sie am Arm und zog sie weiter. »Es reicht, wenn sie dich wie die anderen von der Brücke werfen. Der Aufschlag bricht dir das Genick – oder die Klabauter im Wasser erledigen das.«

Die Dunkelheit am Himmel hatte sich ausgebreitet. Nicht nur über ihnen, sondern auch neben und vor ihnen war es finster geworden. Der Inselbuckel wurde höher, breiter und zerfloss wabernd in alle Richtungen.

Ein Kreischen alarmierte sie und ließ beide herumwirbeln.

Etwas sprang mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, die Zähne gefletscht, die Finger mit den gespreizten Schwimmhäuten zu Klauen gebogen.

»Pass auf!«, rief Jolly.

Griffin duckte sich. Zugleich zog er seinen Dolch aus dem Gürtel. Die Klinge blitzte im letzten Schein von Himmelblau auf, das hinter ihnen über dem Brückenende leuchtete wie Licht am Ende eines Hohlwegs. Der Klabauter wich Griffins Messerhieb aus, schlenkerte wild mit den Armen und kam breitbeinig auf zwei Holzstreben zum Stehen. Sein hässlicher Schädel mit den viel zu vielen Zähnen pendelte lauernd von rechts nach links, immer wieder, während hinter ihm die Flut seiner Artgenossen näher kam.

Jolly riss ihr eigenes Messer aus dem Stiefel, drehte es flink in der Hand, packte es an der Spitze und schleuderte es in einer fließenden Bewegung auf die Kreatur zu, so wie Captain Bannon es ihr beigebracht hatte. Die Klinge schlug mit einem dumpfen Fummp in die Brust des Scheusals. Ein letzter hoher Schrei, dann verlor der Klabauter das Gleichgewicht und stürzte zwischen den Balken in die Tiefe.

Jolly wirbelte herum und nahm dankbar Griffins ausgestreckte Hand. Während sie weiter in die eingeschlagene Richtung stürmten, schoss ihr durch den Kopf, dass sie jetzt unbewaffnet war.

Die Klabauter blieben zurück, als hielte das verbliebene Licht sie fest.

Die Insel am Ende der Brücke war jetzt keine Insel mehr, sondern ein wogendes Herz aus Dunkelheit, das sich dehnte und streckte, pulsierend, als lebte es. Die Brücke schien länger geworden zu sein. Eigentlich hätten sie die andere Seite bereits erreicht haben müssen. Aber das Gerüst führte immer noch weiter, jetzt abwärts geschwungen, was es schwieriger machte, im Laufschritt genügend Halt auf den Streben zu finden und nicht von der eigenen Geschwindigkeit mitgerissen zu werden.

»Sie … sie bleiben zurück!« Griffins Stimme überschlug sich fast.

Ich weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist, dachte Jolly, sagte aber nichts. Ihr Hals fühlte sich rau an, und in ihrem Mund war ein übler Geschmack, irgendwo zwischen zerbissenen Pfefferkörnern und verdorbenem Fleisch.

Plötzlich klarte die Sicht auf, und die Dunkelheit wurde zu einer tiefen, sternenlosen Nacht, die sich wie eine Kuppel über einem stürmischen Meereshorizont spannte.

Ein Meer, das eben noch nicht da gewesen war. Ohne Inseln, ohne eine Spur von Land. Ein Meer aus schwarzem, öligem Wasser. Die Wellenkämme waren von dunklem Schaum gekrönt, der aus abermillionen winziger Lebewesen, kleinen Krebsen vielleicht oder Wasserinsekten, zu bestehen schien.

Hinter ihnen war jetzt kein Licht mehr. Jener Teil der Brücke, über den sie gekommen waren, führte geradewegs in die endlose Nacht dieses Ortes und verlor sich in der Finsternis. Die Klabauter waren verschwunden, sie konnten ihnen hierher nicht folgen. Oder wagten sie es nicht?

Das vor ihnen liegende Brückenende führte in einem seichten Bogen ins Wasser hinab. Die Wellenkämme brachen an dem Gitterwerk, spülten darüber hinweg und hinterließen dunkle Schmierspuren.

Mächtige Körper bewegten sich unter der Oberfläche, lang gestreckte Leiber, so breit wie spanische Kriegsgaleonen. Manchmal klatschte irgendetwas in die Wogen, das zuvor anderswo emporgesprungen war, doch in der Dunkelheit war auch das kaum zu erkennen.

Ein Urozean, wie es ihn zu Anbeginn der Welt gegeben haben mochte, und doch anders, fremder, beängstigender. Ein grauer Schimmer lag über dem Wasser. Vage umriss er die tobenden Wellenkämme und haushohen Wogen.

Jolly und Griffin blieben stehen, Hand in Hand, und starrten reglos hinaus in diesen Abgrund aus zeitloser Schwärze und Meerestiefe.

Blickten hinaus auf das Mare Tenebrosum.

Brücke aus Feuer

Jolly fühlte sich, als hätte man sie an den Füßen gepackt und auf den Kopf gestellt. Sie fand kaum noch Halt an dem Holzgitter der Brücke. Ihr Körper bebte und schwankte, und ihr Verstand schien sich in einem verwirrenden Nichts zu verlieren.

Griffin hielt ihre Hand (oder hielt sie die seine?), aber die Finger fühlten sich kalt an, als sauge die Leere über dem endlosen schwarzen Ozean ihnen alle Kraft aus, um damit seine eigenen, schauderhaften Wesenheiten zu beleben.

Blitze zuckten in der Ferne über dem schäumenden Wasser, über einem Horizont, der auf absurde Weise viel weiter entfernt zu sein schien als jener in ihrer Welt. Vielleicht war die Welt des Mare Tenebrosum nicht gebogen wie ihre eigene, oder aber hier war einfach alles gewaltiger. Die Entfernungen, die Dunkelheit, die Wellenberge. Die Lebewesen.

Jolly und Griffin standen immer noch da, unfähig, sich zu rühren. Und wohin sollten sie auch gehen? Die Brücke führte etwa dreißig Schritt weit abwärts, dann verschwand sie in den tranigen Wogen des Mare Tenebrosum, umspült von schwarzer Gischt und umrundet von riesenhaften Schatten, die in engen Kreisen um den Fuß des Bauwerks glitten. Manchmal kam es Jolly so vor, als hörte sie zorniges Gebrüll, lang gezogen und dumpf, als würden unter der Oberfläche Rufe und Schreie ausgestoßen. Dabei war der Lärm der Wellen selbst schon ohrenbetäubend. Und erst der Wind, der um das hölzerne Gitter fegte – er seufzte und kreischte, und manchmal schien er auch zu flüstern: Worte in fremden Sprachen, kalt und abscheulich.

Es roch nach fauligem Seetang und Algen, durchmischt mit dem Gestank toter Fische. Aber da war noch ein anderer Geruch, etwas, das Jolly nicht auf Anhieb erkennen konnte.

»Vanille«, sagte Griffin, als hätte er gespürt, was ihr durch den Kopf ging. Vielleicht hatte sie ihren Gedanken auch laut ausgesprochen, ohne es zu bemerken. »Es riecht nach Vanille.«

Sie nickte stumm, weil sie Angst hatte, ihre Stimme könne ebenso kläglich klingen wie seine. Das Süßliche inmitten all dieser scheußlichen Ausdünstungen machte den Geruch noch unerträglicher. Es erinnerte sie an die Möglichkeit von etwas Schönerem, Besserem, das an diesem Ort auf einen Schlag unerreichbar geworden war.

»Wir können nicht weitergehen«, brachte Griffin hervor. Jedes Wort kam nur mit Mühe über seine Lippen, behäbig wie Schnecken, die aus seiner Kehle emporkrochen.

Immer noch war hinter ihnen keiner der Klabauter aufgetaucht. Die Brücke war leer, ein endloser Bogen, der sich irgendwo in der Schwärze auflöste. Aber jedes Mal, wenn dort hinten Blitze zuckten, sahen sie, dass die Brücke sich tatsächlich in die Unendlichkeit fortsetzte, dünn wie ein Faden, dünn wie das feinste Haar, aber doch noch zu erkennen, so als wären alle Regeln der Sichtweite aufgehoben. Der Blick reichte in dieser Welt ins Endlose. Reichte er auch hinaus in die Zeit, in die Vergangenheit und Zukunft? War das Mare Tenebrosum tatsächlich ein Urozean am Anbeginn der Zeiten und zugleich jener Zustand, zu dem alles irgendwann zurückkehren würde?

Sie standen da und überlegten, was sie tun sollten, hielten sich dabei fest an den Händen, verstört, verwundert, überwältigt von der schieren Andersartigkeit dieses tiefschwarzen Ozeans. Standen noch da und fanden sich mit ihrem Ende ab –

– als die Brücke vor ihnen Feuer fing.

Flammen schossen zwischen den Balken empor. Die plötzliche Helligkeit schmerzte in ihren Augen. Eine Hitzewelle fauchte über sie hinweg.

Die dunkle Gischt am Fuß der Holzkonstruktion wich zurück wie ein Lebewesen und formte einen Krater aus Wasser. Zugleich ertönte ein Kreischen aus den Tiefen der See, nicht mehr von den unsichtbaren Wesen dort unten, nicht einmal von den geheimnisvollen Meistern dieser Welt, sondern vom Mare Tenebrosum selbst. Turmhohe Fontänen spritzten in die Luft, merkwürdig langsam, als erstarrten sie in der Zeit, bildeten wundersame Muster in der Schwärze und sackten dann schwerfällig in sich zusammen. Einmal sah die Gischt fast so aus wie ein riesenhaftes Maul, mit Fangzähnen aus Wasser, das sich rund um die Brücke öffnete und dann in sich zusammensackte.

Währenddessen schlugen die Flammen am Fuß der Brücke immer höher, krochen auf den Planken entlang wie glühende Ameisenschwärme, verzehrten in Windeseile die fremdartigen Fasern des Holzes – Holz, von dem Jolly jetzt annahm, dass es von Pflanzen aus den Tiefen dieses Ozeans stammte, fremdartigen Gewächsen, die an Orten gediehen, die leer und kalt und dunkel waren wie der Schlund zwischen den Sternen. Agostini musste sein Material von den Meistern des Mare Tenebrosum erhalten haben, um sein Vorhaben, nein, ihr Vorhaben zu verwirklichen.

Eine Brücke zwischen den Welten, viel kleiner als der Mahlstrom, der ebenfalls die Barriere durchbrechen sollte, dafür aber unauffälliger. Das perfekte Nadelöhr für jene Wesen, die die Herrschaft des Mahlstroms vorbereiten sollten.

Gab es noch mehr solcher Tore an abgeschiedenen Orten der Karibik? Vielleicht sogar auf der ganzen Welt?

Jolly blieb keine Zeit, den Gedanken weiterzuspinnen. Sie wurde von Griffin nach hinten gerissen. Während sie wie betäubt in die Flammen starrte, war das Feuer näher gekommen. Griffin zog sie mit sich, und dann sprangen und rannten sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren, dem unsichtbaren Übergang zwischen dieser und ihrer eigenen Welt entgegen.

Die Dunkelheit wich zurück, die Umgebung verschob sich, und einmal mehr durchfuhr Jolly der Gedanke, dass sie sich vielleicht auch in der Zeit bewegten, dass sie zurückkehrten vom Anbeginn der Äonen in ihre eigene, kurze, eng begrenzte Lebensspanne.

Die Brücke vor ihnen verkürzte sich, zog sich zusammen zu ihren ursprünglichen Ausmaßen. Aus der Vielfalt der Bilder und Farben und Klänge schälten sich die Körper der Klabauter, die hektisch zwischen den Streben des Holzgitters umhersprangen. Doch die Kreaturen beachteten die beiden nicht, die da vor ihnen aus dem Nebel der Zeiten und Welten wiederkehrten. Feuer war ihr natürlicher Feind, der Feind des Elements, in dem sie geboren wurden.

Auch auf dieser Seite des Übergangs loderte die Brücke lichterloh. Der schwarze Qualm der Flammen verdunkelte den Himmel, sodass der Wechsel zwischen den beiden Welten beinahe nicht zu bemerken war. Der Rauch biss in Jollys Lunge, sie hustete. Zugleich traf sie die Hitze wie ein Schlag, und sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Haarspitzen kräuselten und ihre Augenbrauen verglühten.

Die Flammen waren überall – hinter ihnen, vor ihnen, sogar zu beiden Seiten, wo sie auf dem Geländer tanzten wie eine Heerschar glosender Feuerteufel.

Auch Agostini war noch da. Er stand inmitten der Flammen, als könnten sie ihm nichts anhaben. Seine Kleidung brannte, und die Krempe seines Hutes loderte um seinen Schädel wie ein grotesker Heiligenschein.

Trotzdem verzog er nicht einmal das Gesicht.

Oder das, was von seinem Gesicht geblieben war.

»Ein Gestaltwandler«, entfuhr es Griffin mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er täglich mit solchen Kreaturen zu tun. »Ein Wyvern!«

Jolly gelang es, für eine Sekunde ihren Blick von dem, was einmal Agostini gewesen war, abzuwenden und Griffin fassungslos anzusehen. »Ein … was?«

»Ein Wyvern. Ich hab von ihnen gehört. In den Häfen erzählen sich die –«

Ein Aufschrei unterbrach ihn. Agostinis Schädel kreiste auf seinem Hals, der brennende Hut glitt herunter und verschwand in der Flammenwand. Der Kopf des Baumeisters hatte keine menschlichen Züge mehr, nicht einmal menschliche Größe –pumpend wuchs er auf den doppelten Umfang an, ein lang gezogenes Oval aus wimmelnden Punkten, die Jolly mit Schrecken an den lebenden Gischtschaum des Mare Tenebrosum erinnerten. Und in der Tat bestand Agostinis Körper jetzt aus winzigen Krebsen, keiner größer als Jollys kleinster Fingernagel. Sie wogten durcheinander, bildeten Zerrbilder von menschlichen Gliedmaßen, gaben dann aber auch diese Erinnerung an ihren alten Körper auf und glitten schließlich als vielarmiger Krake aus Agostinis brennenden Kleiderfetzen.

Jolly glaubte erst, die Kreatur – oder der Schwarm von Kreaturen – werde sich auf sie und Griffin stürzen, doch die Fangarme des Wesens zuckten in der Luft vor und zurück. Etwas schien es zu alarmieren, denn schlagartig sackte es in sich zusammen und ergoss sich durch die Öffnungen in der Brücke in die Tiefe.

Jolly blieb keine Zeit, über das nachzudenken, was mit Agostini geschehen war. Das Feuer hatte sie jetzt nahezu eingekesselt. Brennende Klabauter setzten mit panischen Sprüngen über das Geländer, durchbrachen Flammenwände und spritzten wie heißes Fett auseinander, bis Jolly und Griffin allein auf der Brücke waren.

»Zurück zur Vulkaninsel!«, rief Jolly halbherzig, um nicht untätig dazustehen, bis das Feuer sie erreichte.

Ihr war klar, wie schlecht ihre Chancen standen: Der Weg an Land war durch ein Flammenmeer versperrt, und auch die andere Richtung ins Mare Tenebrosum war durch die fauchende Feuersbrunst abgeschnitten. Ohnehin wollte sie lieber verbrennen, als noch einmal dorthin zurückzugehen oder auch nur einen Blick in diese Welt des Schreckens zu werfen.

Sie liefen los, vorbei an den brennenden Geländern, von denen jetzt immer neue Flammenzungen auf das hölzerne Bodengitter übergriffen. Nicht mehr lange, und die Brücke würde unter ihren Füßen zusammenbrechen.

Was von weitem wie eine Mauer aus Glut ausgesehen hatte, entpuppte sich als Labyrinth einzelner Flammennester, zwischen denen hindurch sie sich vielleicht doch noch einen Weg bahnen konnten. Falls die Brücke hielt. Und falls das Feuer sich nicht weiter mit solch halsbrecherischer Geschwindigkeit ausbreitete.

»Griffin!«, rief Jolly. »Du musst springen. Dir macht der Aufschlag auf dem Wasser nichts aus.«

»Und dich allein lassen?«

»Hör auf, den Helden zu spielen, und spring endlich!«

Im Laufen schüttelte er den Kopf. »Was hätte ich davon? Da unten warten die Klabauter.«

»Die sind längst weg. Sie haben noch mehr Angst vor dem Feuer als wir.« Sie war nicht sicher, ob das die Wahrheit war. Denn das, was die Klabauter dazu gebracht hatte, an Land zu gehen, konnte sie auch immer noch dazu zwingen, im Wasser auszuharren.

War das Wyvern ihr Befehlshaber? Wohl kaum, schließlich waren die Klabauter über die Eingeborenen hergefallen, bevor die Brücke vollendet war. Der Gestaltwandler war vermutlich ebenso von dem Angriff überrascht worden wie sie. Jemand oder etwas hatte seine Pläne geändert, ohne Agostini darüber in Kenntnis zu setzen.

Aber wer hatte dann die Brücke in Brand gesetzt?

Sie erreichten das vordere Drittel. Das Holz knirschte und knarrte unter ihren Füßen. Ihre Höhe über dem Meer betrug hier noch etwa fünfzehn Schritt, viel zu hoch für Jolly, um in die Tiefe zu springen. Durch die Spalten zwischen den Planken sah sie hinter schwarzen Qualmschwaden Ausschnitte des Wassers. Die wimmelnden Klabauterschädel zwischen den Wellen waren fort; ob aber ganz verschwunden oder nur untergetaucht, war ungewiss. Außerdem blieb immer noch das Wyvern, das unter der Oberfläche lauern mochte.

Auf dem letzten Stück unmittelbar vor den Klippen gab es kein Durchkommen mehr. Die Bretter und Balken brannten lichterloh. Die Hitze war nahezu unerträglich und kam jetzt von allen Seiten.

»Das war’s«, keuchte Griffin.

»Griffin«, sagte Jolly noch einmal, »du musst ins Wasser springen!«

Er wollte abermals widersprechen, aber die Worte blieben ihm im Mund stecken. Etwas Finsteres schoss hinter ihm in die Höhe, über das Geländer hinweg und auf sie zu. Aus dem Augenwinkel glaubte Jolly, mächtige Schwingen zu sehen, so dunkel wie die Lederhaut der Klabauter. Es hatte den Anschein, als wäre ein Stück des Mare Tenebrosum ihnen gefolgt und käme jetzt wie eine Riesenfledermaus über sie.

Der Schatten landete zwischen ihnen auf den Planken, die Schwingen – die keine Schwingen waren – blieben geöffnet, und eine Stimme brüllte:

»Zu mir! Schnell!«

Finsternis flatterte über sie hinweg und hüllte sie ein. Es war Stoff, dunkler, grober Stoff, und darunter roch es muffig und warm. Aber er hielt die Hitze von ihnen fern. Unter dem Stoff: ein hoch gewachsener Körper. Darüber: das Gesicht eines einäugigen Mannes.

Der Geisterhändler hielt mit dem rechten Arm Jolly gepackt, mit dem linken Griffin, beide eng umhüllt von dem weiten Gewand.

»Wo kommst du .«

Jolly brachte den Satz nicht zu Ende. Unter ihr verschwand der Boden. Erst glaubte sie, die Brücke sei eingestürzt und sie falle in die Leere. Doch dann wurde ihr klar, dass alles ganz anders war.

Die brennende Brücke blieb unter ihnen – über ihnen?, neben ihnen? – zurück, auf jeden Fall war sie fort, und Jolly, Griffin und der Geisterhändler schwebten sicher dem Wasser entgegen, das vom Schein des Feuers in ein Meer aus Lava verwandelt wurde.

Sie hatte den Geisterhändler schon früher solche Sprünge vollführen sehen, im Hafen von New Providence, als die spanische Flotte das Piratennest in Schutt und Asche legte. Jetzt hatte er es wieder getan. Kein Fliegen. Schon gar kein Hüpfen. Etwas ganz und gar anderes, Übermenschliches, das bei ihm so selbstverständlich wirkte wie bei jedem anderen Mann ein gewöhnlicher Schritt.

Er ließ Jolly aus seiner Umarmung gleiten, sie prallte auf den Wogen auf, kämpfte für einen Moment um ihr Gleichgewicht und kam dann endlich zum Stehen. Die lodernde Brücke war etwa zwanzig Schritt entfernt, eine riesenhafte, glühende Sichel vor einem Inferno aus dunklem Qualm. Die Hitze war selbst hier unten deutlich zu spüren. Nicht mehr lange, und die ganze wahnwitzige Konstruktion würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.

Sie waren nicht allein im Wasser, auch wenn Jolly die Einzige war, die mit den Füßen sicher auf den Wellen stehen konnte. Seltsame Kreaturen hatten einen Kreis um sie gebildet, Wesen, die auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit Pferden hatten, nur dass sie größer waren, und lediglich zur Hälfte aus den Wogen ragten. Der untere Teil ihres Körpers befand sich unter der Wasseroberfläche. Ihre raue, runzelige Haut schillerte in den Farben des Regenbogens. Anstelle von Ohren hatten sie stumpfe Hörner, und ihre Augen waren rund und fischig. Sie besaßen keine Glieder, ihr ganzer Leib war ein einziger breiter Fischschwanz, der nicht glatt, sondern verhornt und unregelmäßig gestuft war. Auf ihren Rücken trugen sie bizarre Sättel, die es ihren Reitern gestatteten, gerade darin zu sitzen. Jedes der wundersamen Tiere ragte mindestens sechs Fuß aus dem Wasser; Jolly vermutete, dass der verborgene Teil noch einmal so lang war.

Die Männer selbst, die sich scheinbar mühelos auf den gigantischen Seepferden hielten, trugen schlichte Kleidung aus Leder, die an manchen Stellen mit etwas besetzt war, das wie Stein aussah. Oder Korallen.

»Die Reiter Aeleniums«, rief der Geisterhändler vom Rücken eines Seepferdes zu ihr herab. Auch sein Tier hatte im Kreis der übrigen auf sie gewartet, sein spitzer Schädel war weiß wie aus Elfenbein, die Hörner bernsteinfarben. Der lidlose Blick des Wesens täuschte; tatsächlich beobachtete es die Umgebung mit wachsamer Intelligenz.

Jetzt verstand Jolly, weshalb der Händler sie auf dem Wasser abgesetzt hatte: Er benötigte beide Hände, um Griffin vor sich in den Sattel zu setzen. Erst dann streckte er Jolly eine Hand entgegen.

»Komm rauf!«, forderte er sie mit Nachdruck auf.

»Beeil dich!«

Sie ergriff seine Hand, ließ sich hinaufziehen und hinter ihm in den breiten, geschwungenen Sattel drücken. Im Rücken hielt Jolly ein Geflecht aus Gurten, das sich beim Hinsetzen um ihre Taille spannte.

»Auf jetzt!«, rief der Geisterhändler in die Runde der Seepferdreiter. Die Männer waren mit Säbeln und Schnappschlosspistolen bewaffnet. Die meisten trugen ihre Schusswaffen geladen in der rechten Hand, während die linke die Zügel des Pferdes hielt.

Jolly presste sich eng an den Rücken des Geisterhändlers. Sie verstand noch nicht, woher er kam und wer diese anderen Leute waren; dennoch war sie unendlich dankbar, dass sie im richtigen Moment aufgetaucht waren.

»Die Klabauter«, brachte sie gehetzt hervor. »Wo sind sie?«

»Abgetaucht.«

»Aber sie waren nicht allein!« »Nein.« Mit einem heftigen Ruck zog der Händler das Seepferd herum. Die übrigen Tiere folgten der Bewegung, behielten die schützende Kreisformation um sie herum jedoch bei. »Die Hippocampen wittern etwas.« Damit meinte er wohl die Seepferde.

»Das muss das Wyvern sein«, rief Griffin über die Schulter. »Ein –«

»Ein Gestaltwandler«, sagte der Geisterhändler und nickte. Die Seepferde bewegten sich vorwärts, fort von der Brücke, einer Schneise zwischen den zahllosen Inseln entgegen. Irgendwo in dieser Richtung lag die offene See, der endlose Atlantik.

»Du weißt also Bescheid über Agostini?« Jolly hatte kaum noch die Kraft, diese Frage zu stellen. Um nicht zu fallen, klammerte sie sich fester an den Geisterhändler.

»Agostini? Nennt er sich so?«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Griffin. »Vermutlich.«

»In Aelenium wusste man Bescheid über ihn. Und über diese Brücke. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.« Er blickte über die Schulter zurück zu Jolly. »Du wirst nicht raten, wer uns begleitet.«

»Munk?«, fragte sie schwach.

Erst nach einer kurzen Pause antwortete er: »Nein. Munk ist in Aelenium. Aber Walker ist hier. Und Soledad. Der gute Captain lässt die Prinzessin nicht mehr aus den Augen, seit sie ihn einmal zu oft angelächelt hat.«

Jolly schaute sich um. Ihr Blick flackerte über die anderen Seepferdreiter, doch sie verschwammen vor ihren Augen wie etwas, das gar nicht da war. Nur Trugbilder. Hirngespinste.

»Haltet euch gut fest!«, rief der Geisterhändler, als das Hippocampus seine Geschwindigkeit erneut steigerte.

Jolly bezweifelte, dass es Schiffe gab, die so schnell waren wie diese Wesen.