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Die Alchimistin kehrt zurück
Prag, die Hauptstadt der Alchimie, ist fest in der Hand von Okkultisten und Scharlatanen, die mit raffinierten Theatertricks und kunstvollen Automaten Reichtümer anhäufen. Doch zwischen Kommerz und Dekadenz schmieden unsterbliche Verschwörer einen tödlichen Plan, um an das Geheimnis der ewigen Jugend zu gelangen. Als die Alchimistin Aura Institoris erfährt, dass ihre große Liebe Gillian entführt wurde und gefangen gehalten wird, macht sie sich auf den Weg in die Goldene Stadt und stößt auf die dunklen Mysterien einer uralten Dynastie.
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Seitenzahl: 551
An jenem Abend ging sie hinaus zu ihm auf die Klippe. Die Kreidefelsen waren in Purpur und Karmesin getaucht, und die Brandung griff mit ihrer Gischt herauf zu der einsamen Gestalt an der Steilküste.
Später würde Aura erkennen, dass sie in dieser Stunde alles aufs Spiel gesetzt und alles verloren hatte.
Die Sonne stand noch immer hoch genug, um Wolkenschatten über die Ostsee zu treiben, wie Umrisse formloser Wesen, die unter den Wogen zum Ufer strebten, sich träge aus der Brandung schoben und landeinwärts krochen.
Gillian hatte die See nie gemocht, Aura wusste das. Dennoch kam er oft hierher und schaute in die Ferne. Schaute in das Mysterium seiner Vergangenheit, vielleicht in ihre Zukunft.
»Es ist wie ein Geheimnis, das jeder kennt«, sagte er, als er ihre Schritte auf den Felsen hörte, »nur ich nicht.«
Die beiden Weingläser in ihrer Hand klirrten leise, als sie neben ihn trat und erst die Flasche, dann die Gläser am Boden abstellte. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich.
»Wenn alle es kennen, ist es kein Geheimnis mehr«, sagte sie und kam sich vor wie eine Spielverderberin. Zumal sie genug Erfahrung hatte mit Geheimnissen, um es besser zu wissen. Manchmal waren gerade jene am besten verborgen, die für jeden sichtbar waren.
»Alle lieben das Meer«, sagte er, »nur ich nicht.«
Das war die Stimmung, in der sie ihn oft hier draußen vorfand, anders als sonst, wenn er charmant und lakonisch, romantisch und zynisch sein konnte. Auf der Klippe überkam ihn stets eine rätselhafte Melancholie.
»Schon mal daran gedacht, in die andere Richtung zu schauen?« , fragte sie.
Endlich löste er seinen Blick vom Horizont, schenkte ihr ein Lächeln und fädelte mit den Fingerspitzen schwarze Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Dann küsste er sie mit salzigen Lippen.
In ihrem Rücken erhoben sich die Efeumauern des Schlosses. Das Gebäude nahm den größten Teil einer Felseninsel ein, kaum fünfhundert Meter von den weißen Dünen des Festlands entfernt. Drei Fensterreihen blickten hinaus aufs Meer. Hier, an der Rückseite des Gebäudes, vom Ufer abgewandt, gingen die Mauern fast überall in die Steilküste über. Nur an dieser einen Stelle gab es einen natürlichen Austritt, eine Ausbuchtung in den Kreidefelsen, die sie über eine schmale Tür im Efeu erreichen konnten.
Die Klippe ragte nicht weiter als zehn Meter ins Meer hinaus. Als Aura ein Kind gewesen war, hatte man ihr verboten, sie zu betreten, aus Sorge, der Seewind könnte sie in die Tiefe reißen. Natürlich war sie trotzdem immer wieder hergekommen, schon weil es im Schloss nicht viele Möglichkeiten gab, gegen Regeln zu verstoßen. Und auch, weil der Tod damals etwas Anziehendes, Faszinierendes gehabt hatte.
Heute war der Tod kein Thema mehr für sie. Nicht ihr eigener.
»Es wäre schön, wieder einmal etwas anderes zu sehen«, sagte sie. »Nicht immer nur die Gänge und Säle des Schlosses. Und das Meer und die leeren Dünen.« Sie glaubte, dass das auch seine Gedanken waren. Zwei Jahre nach ihrer Rückkehr aus Swanetien fiel ihr im Schloss Institoris die Decke auf den Kopf.
»Du möchtest reisen?«, fragte er.
»Ich möchte irgendwas tun, nur nicht hier.«
Sie sprachen nicht zum ersten Mal darüber, von hier fortzugehen, aber heute war der Tag, an dem vieles anders werden sollte.
Aura sah in sein schönes Hermaphroditengesicht, musterte die Anmut seiner Züge, nicht ganz männlich, auch nicht weiblich, sondern etwas dazwischen, das sich nie so recht fassen ließ. Gillian war zweigeschlechtlich, aber wie eine Frau erschien er nur, wenn er es wollte. Meist gab er seiner maskulinen Hälfte den Vorzug, und Aura hatte selten etwas anderes als einen Mann in ihm gesehen. Er hatte keinen Bartwuchs, besaß makellose Haut und fein geschnittene Wangenknochen. Die dunklen Augen bildeten einen schattigen Kontrast zu seinem blonden Haar, auch seine Wimpern und Brauen waren braun. Er war voller Widersprüche, außen wie innen, und dafür liebte sie ihn.
»Vielleicht«, sagte er mit einem Grinsen, »sollten wir wirklich bald verreisen, bevor ich alt und krumm bin und du noch immer aussiehst wie vierundzwanzig.«
Seit zwei Jahren wurde sie nicht mehr älter, auch wenn es ihr nicht anzusehen war. Vierundzwanzig und sechsundzwanzig bedeuteten im Spiegel keinen Unterschied, und auch für sie gab es Tage nach schlaflosen Nächten, an denen sie sich fühlte wie fünfundsiebzig. Die Unsterblichkeit, die ihr das Gilgameschkraut geschenkt hatte, mochte vieles sein – gewiss jedoch kein Mittel gegen Augenringe und Selbstzweifel.
Gillian war siebenunddreißig, sein Körper schlank und geschmeidig. Aura hatte ihm viele Male das ewige Leben angeboten, aber er hatte es stets ausgeschlagen. Und wenn sie ihn allein auf dieser Klippe sah, in Gedanken oder Erinnerungen versunken, dann konnte sie spüren, was ihn davon abhielt, unsterblich zu werden. Er war nicht unglücklich, nur rastlos.
Früher oder später mussten sie fort von hier. Gian, ihr gemeinsamer Sohn, war erst neun Jahre alt. Er brauchte die Stabilität einer Familie, brauchte seine Cousine Tess um sich, die wie eine Zwillingsschwester für ihn war; die beiden zu trennen war kaum vorstellbar. Und Sylvette, Auras jüngere Schwester, verhielt sich Gian gegenüber so liebevoll wie eine zweite Mutter. Manchmal schien sie mehr Mutter für ihn zu sein als Aura selbst.
Es hing alles zusammen. Gillians Ablehnung der Unsterblichkeit; die unsichtbare Kette des Kindes, das sie im Schloss festhielt; und Auras Überzeugung, dass alles besser sein würde, wenn auch für ihn die Zeit keine Rolle mehr spielte.
Viel später würde sie denken: Ich war erst sechsundzwanzig. Ich war naiv und selbstsüchtig. Ich wusste es nicht besser. Aber an jenem Tag auf der Klippe brannte die Überzeugung in ihr so heiß, dass sie alle Zweifel in Asche legte.
Seine Augen waren noch immer auf ihre gerichtet. Sein Lächeln war so einzigartig wie er selbst. Gillian, der Hermaphrodit und ehemalige Auftragsmörder. Schauspieler und Meister der Maskerade. Gezeugt als alchimistisches Experiment bei dem Versuch, eine lebende Inkarnation des Steins der Weisen zu erschaffen.
War da der Schatten einer Vorahnung hinter dem Glutrand, den der Sonnenuntergang um seine Pupillen legte? Sie musste den Blick senken, hinab zu der entkorkten Weinflasche und den beiden Gläsern, in denen sich das letzte Tageslicht brach.
»Es fühlt sich anders an, wenn die Zeit an Bedeutung verliert«, sagte sie. »Dann ist es nicht mehr, als würde man etwas verpassen oder Zeit verschwenden — es gibt ja unendlich viel davon.« Das behauptete sie nach ganzen zwei Jahren Unsterblichkeit, als hätte sie schon ein paar tausend hinter sich. Im Grunde war es lächerlich. Sie wusste das – und er wohl auch.
Wieder strich er ihr Haar zurück, weil der Wind es vor ihre Augen trieb. »Zeit bemisst nicht die Vergänglichkeit«, sagte er. »Zeit bemisst Veränderung. Ihr Unsterblichen seht die Dinge wachsen, aber ihr könnt nicht mit ihnen wachsen. Und das soll erstrebenswert sein?«
»Du sagst das so abfällig.«
»Nein.« Er küsste sie erneut. »Du hast dich dafür entschieden, und du hattest deine Gründe.«
Gründe?, durchfuhr es sie bitter. Es hatte keine Gründe gegeben. Nur eine Möglichkeit. Eine Tür, die sich für sie geöffnet hatte. Und sie war hindurchgetreten, ohne lange nachzudenken. Gründe? Nein, nur Leichtsinn. Und eine gehörige Portion Abenteuerlust.
Es war dieser Ort, der Stammsitz ihrer Familie. Das Schloss hatte ihn mit seiner Schwermut angesteckt. Die düsteren Zimmer und Buntglasfenster, durch die niemals reines Licht fiel. Die langen Korridore und Fluchten, die Treppenhäuser und verwitterten Mauern. Und natürlich Gillians Erinnerung an seine Freunde vom Templum Novum, die er hier beim Kampf gegen Morgantus hatte sterben sehen. Dass ihm die Aussicht auf Unsterblichkeit im Schloss Institoris wie eine Bürde erschien, konnte sie ihm schwerlich verübeln.
Aber wenn sie erst von hier fortgingen, dann würde auch er verstehen, was das ewige Leben ihnen beiden zu bieten hatte. Das war ihre tiefe, ehrliche Überzeugung.
Sie löste sich sacht aus seiner Umarmung und bückte sich, um den Wein einzuschenken. Es war, als gösse sie flüssiges Abendrot in die Gläser. Der Sud, den sie zuvor in den Wein gemischt hatte, war unsichtbar.
Als sie ihm ein Glas reichte, kreuzten sich abermals ihre Blicke. In seinen Augen lag ein Versprechen.
»Du bist so viel mehr, als ich jemals vom Leben erwartet habe«, flüsterte er in den Wind.
Sie neckte ihn mit leisem Lachen. »Du warst ein Straßenkind. Ich nehme an, deine Erwartungen waren nicht hoch.«
Seine Hand strich über ihre Wange, sein Daumen berührte ihr Kinn. »Ich dachte, da draußen ist die Welt und sie wartet nur auf mich. Aber du bist viel größer und besser als sie. Ich will immer bei dir sein, egal ob hier oder anderswo.«
Das war beinahe eine Herausforderung. Sie tat ganz sicher das Richtige. Er würde ihr verzeihen.
Erwartungsvoll sah sie zu, wie er das Glas an die Lippen hob. Der Wein benetzte seine Haut. Dann senkte er es wieder, ohne zu trinken.
Er weiß es, redete sie sich ein, insgeheim will er es so. Aber dann schämte sie sich und hätte ihn beinahe aufgehalten.
Doch er führte das Glas schon wieder zum Mund.
Nahm einen Schluck. Lächelte sie an. Trank einen zweiten.
Sie wollte etwas sagen. War plötzlich wie erstarrt. Wollte ihn warnen. Und um Verzeihung bitten.
Während sie ihr eigenes Glas über die Klippe schleuderte, sah sie, wie ihm seines aus den Fingern glitt. Sie war bei ihm, noch während seine Knie nachgaben, umfasste ihn und legte ihn unendlich sanft am Boden ab. Sein Kopf sank in ihre Umarmung, sein Körper erschlaffte.
Bevor er das Bewusstsein verlor, fing sie einen letzten Blick aus seinen schönen dunklen Augen auf. Diesmal erkannte sie etwas anderes darin. Begreifen. Und einen entsetzlichen Vorwurf.
Benommen blinzelte sie Tränen fort, bettete seinen Kopf in ihrem Schoß und presste ihre Lippen auf seine. Sie verloren schneller an Wärme als die eines Toten.
Er würde dreiunddreißig Stunden schlafen.
Dann begann seine Unsterblichkeit.
Zwei Tage später verließ Gillian das Schloss, und er verließ Aura.
Er kehrte nicht zurück.
Um Mitternacht, als wieder der Tod ins Schloss kam, schlug die Standuhr dreizehn Mal und sang mit hellen Vogelstimmen.
Das Zwitschern der Vögel schwebte wie ein körperloser Schwarm durch die Flure, die Treppen hinauf, vorbei an Messinglampen und brüchigen Ölgemälden, an verblichenen Samttapeten und Täfelungen.
Tess hatte vor zwei Stunden das Licht gelöscht. Seitdem hatte sie kein Auge zugetan.
Schon zu Beginn ihrer Schwangerschaft hatte sie entschieden, künftig früher zu Bett zu gehen. Aber immer wenn sie ins Schloss zurückkehrte, zu ihrer Mutter, den Dienern, dem Geruch des Parketts und Gesteins, horchte sie vor dem Einschlafen auf das Rauschen der Brandung an den Felsen. In Berlin hörte sie nachts nur das Knattern der Automobile auf dem Kopfsteinpflaster vor ihrem Haus, und so war es die See, die sie dort am allermeisten vermisste. Zuhause, während der Besuche im Schloss, wurde die Uhr zurückgedreht. Sie war wieder Kind, und das Wunderbare war, dass sie sich dann nur an die guten Tage erinnerte. Nicht an all das Schlimme. Daran fast überhaupt nicht.
Die Vogelstimmen legten sich so unvermittelt über das Säuseln der See, dass Tess im ersten Augenblick an Möwen dachte. Ständig kreisten sie um die Insel, saßen auf den Kaminschloten und Giebeln oder schossen im Sturzflug an den Mauern hinab, um sich die Fische aus der Gischt zu greifen.
Doch Möwen kreischten, sie zwitscherten nicht.
Diese Vögel sangen, und sie taten es mit einer Hingabe, als sei um Punkt zwölf der Frühling ausgebrochen.
Tess richtete sich auf. Wie immer war ihr Bauch im Weg. Der siebte Monat war der furchtbarste bisher, und ganz gleich was ihre Freundinnen in Berlin behaupteten, die Vorfreude machte es kein bisschen angenehmer. Sie würde genug Zeit haben, um glücklich zu sein, wenn das Kind erst da war; aber bis dahin konnte sie gar nicht genug Flüche finden für das, was mit ihrem Körper geschah.
Mit einem Ächzen schwang sie ihre Beine über die Bettkante und tastete mit den Füßen nach ihren Hausschuhen. Sie trug einen Schlafanzug für Männer, der viel zu groß war; nur um die Hüfte passte er wie angegossen. Es genügte, dass sie tagsüber diese furchtbaren Zelte tragen musste, wenigstens nachts wollte sie nicht auf Hemd und Hose verzichten. In Berlin kleideten sich mittlerweile viele Frauen wie Männer, und Tess war keine Ausnahme. Aber hochschwanger sah sie in ihren Sachen aus wie ein fetter Postbeamter. Darum hatte sie schließlich doch auf die schrecklichen Kleider zurückgegriffen, die die Kaufhäuser für Frauen in guter Hoffnung bereithielten. Tess’ größte Hoffnung war, dass sie nach der Geburt – überglücklich und so weiter – mit einem Fingerschnippen wieder ihre alte Figur zurückbekam.
Die Vögel waren im Haus. Sie war jetzt ganz sicher: Das Zwitschern kam nicht durchs Fenster, sondern vom Korridor. Im Mondschein, der durch das Buntglas hereinfiel und den Raum in ein Kaleidoskop verwandelte, warf sie sich den Morgenmantel über und eilte zur Zimmertür. Dort blieb sie stehen, blickte in einem Anflug unverhoffter Zuneigung an sich hinab und strich sich mit der Hand über den Bauch.
»Schlaf weiter«, flüsterte sie, verdrehte über sich selbst die Augen und trat hinaus auf den Flur.
Das Zwitschern erfüllte das ganze Schloss, als hätten sich riesige Schwärme zwischen Dielenbrettern und Fußleisten, Holzdecken und Stuck eingenistet. Doch nirgends war ein einziges Tier zu sehen. Tess machte sich auf in Richtung Treppenhaus, den leeren Gang hinunter, vorbei an all den unbewohnten Zimmern, bis sie die oberste Stufe erreichte. Dass sie nach dem Holzlauf des Geländers griff, war mehr Reflex als Notwendigkeit, zumindest redete sie sich das ein.
Das Schloss war ungewöhnlich hellhörig, weder dicke Teppiche noch Vorhänge und massive Möbel konnten daran etwas ändern. Die Vogelstimmen verbreiteten sich wie Rauch zwischen den hohen Wänden und Eichentüren, wehten durch Treppenschächte und den Speiseaufzug, wirbelten um goldene Kronleuchter und Kristallkandelaber.
Tess stieg die breite Wendeltreppe hinunter und erreichte das Erdgeschoss des Ostflügels. Schloss Institoris hatte die Form eines Hufeisens, die drei Flügel umschlossen einen dichten Zypressenhain. Vielleicht saßen die Vögel ja doch in den Bäumen und waren von etwas in Aufruhr versetzt worden. Einbrecher, dachte Tess, und damit kehrten Erinnerungen zurück, die sie gern unterdrückt hätte.
Mit einem Mal kam sie sich sehr schutzlos vor in ihrem Morgenmantel am Fuß der Treppe. Ihre Erlebnisse mit Angreifern bei Nacht lagen lange zurück. Solche Erfahrungen hatte sie anderen Fünfundzwanzigjährigen voraus, aber sie machten sie kein bisschen abgebrühter. Kälte stieg an ihren Beinen empor und drohte sie zu lähmen. Irgendwo im Haus erklangen Rufe, dann Schritte.
Erst langsam, schließlich immer resoluter setzte sie sich in Bewegung. Sie war schwanger, nicht behindert. Von einer Kommode nahm sie einen Kerzenleuchter und schwenkte ihn probehalber wie eine Keule.
Die menschlichen Stimmen drangen aus der Eingangshalle herüber, aber das Vogelzwitschern kam aus der entgegengesetzten Richtung. Tess folgte dem Korridor in Richtung Küche. Vorher würde sie den Großen Salon passieren, außerdem –
Die Tür zum Speisezimmer stand offen.
Der Raum hatte sich in ein Tollhaus aus Vogelrufen verwandelt. Als Tess in den Türrahmen trat, erwartete sie, dass die Tiere auf allen Schränken und Bilderrahmen saßen, auf den Lehnen der hohen Eichenstühle, dass selbst die Tafel unter gefiederten Leibern verschwunden war.
Aber der Raum war verlassen.
Sie ließ den Kerzenleuchter sinken. Zwischen den beiden Bleiglasfenstern erhob sich eine monströse Standuhr. Zweieinhalb Meter hoch, aus schwarz lackiertem Holz, dominierte sie das Zimmer seit Tess denken konnte. Gedrechselte Säulen flankierten die polierte Holztür, der Rumpf war mit Schnitzwerk verziert. In die Zeiger des goldenen Zifferblatts hatte man Rubine eingelassen. Jeden Abend um sieben erschien aus dem Inneren der Uhr ein bizarres Figurenspiel.
Es gab keinen Zweifel, dass die Vogelstimmen aus der Uhr drangen, ein grotesker, täuschend lebensechter Klangmechanismus, der – soweit Tess sich erinnern konnte – in dieser Nacht zum ersten Mal in Gang geraten war.
Langsam umrundete sie die Tafel. Die meisten der hochlehnigen Stühle wurden seit Jahren nur noch beim Putzen bewegt. Darüber hing ein Leuchter aus funkelndem Kristallgeschmeide.
Vor der Uhr blieb sie stehen und musste zum Zifferblatt aufblicken wie zu einem monumentalen Götzen. Ganz langsam hob sie die linke Hand und bewegte sie auf die Standuhr zu. Es gab kein sichtbares Pendel, lediglich die schwarz lackierte Tür, groß wie ein Sargdeckel. Darauf konnte sie ihr Spiegelbild erahnen, eine bleiche Gestalt mit ausgestreckter Hand. Jeden Moment würden sie sich berühren, Tess und das Gespenst, das dort im Holz gefangen war. Ihre Finger waren nur noch Millimeter davon entfernt – als das Vogelzwitschern verstummte.
Die Stille trat derart abrupt ein, dass Tess zusammenfuhr wie unter einem schrillen Laut.
»Fräulein Tess?«
Die Stimme erklang in ihrem Rücken, kam von der Tür zum Korridor.
»Fräulein Tess!« Der alte Diener, das Faktotum des Schlosses und einer der wenigen Angestellten, die auch die Nächte hier verbrachten, fuchtelte aufgeregt mit seinen dürren Armen. »Es ist etwas passiert, Fräulein Tess! Sie sollten lieber mitkommen.«
Das Zwitschern hallte noch in ihren Ohren nach, und so dauerte es ein paar Herzschläge, ehe sie seine Worte gänzlich erfasste.
»Bitte«, sagte er, »Ihre Frau Mutter verlangt nach Ihnen.«
Da löste sie sich endlich aus dem Menschmagnetismus der Standuhr und eilte quer durchs Schloss in den Westflügel, hinauf in den zweiten Stock.
Im Flur erwartete sie ein weiterer Geist, so blass wie der in der Uhr.
»Was ist passiert?«
Ihre Mutter Sylvette blickte ihr reglos entgegen, stand im weißen Nachthemd vor einer offenen Zimmertür, mit der Tess keine frohen Erinnerungen verband. Dahinter lagen die Räume ihrer Großmutter.
Charlotte Institoris war einmal eine stolze, herrische Frau gewesen, aber das wusste Tess nur aus Erzählungen. Als Kind war sie ihr wie eine Hexe erschienen, später wie ein Schatten, der nicht sprach, nichts sah, nur atmete und horchte. Charlotte hatte erst den Verstand und dann ihr Augenlicht verloren – vor zwanzig Jahren, als in den Gängen und Sälen des Schlosses Blut geflossen war.
Tess eilte auf Sylvette zu und blickte in ihr ausdrucksloses Gesicht, bar jeder Emotion. Ihre Mutter war erst siebenunddreißig, eigentlich viel zu jung für eine Tochter in Tess’ Alter, aber die Einsamkeit auf dieser Insel hatte sie verwittern lassen wie eine Marmorstatue. Sie war noch immer eine schöne Frau, ihr blondes Engelshaar lang und gelockt, ihr Körper zierlich wie der eines Mädchens. Doch ihre Züge verrieten Erfahrungen, die keinem Menschen zu wünschen waren, und in ihren Augen gab es Spuren eines mühsam unterdrückten Traumas.
»Mutter«, sagte Tess eindringlich, »was ist los?«
Der Diener lief an ihnen vorbei in Charlottes Gemächer, und jetzt hörte Tess noch eine weitere Stimme im Inneren, eines der Dienstmädchen.
»Charlotte?«, fragte Tess leise. Sie hatte die verrückte alte Frau schon lange nicht mehr Großmutter genannt.
Sylvette nickte. Nur einmal, fast unmerklich.
Da erschien wieder der Diener in der Zimmertür und brachte den Leidgeruch des Alters in solcher Intensität mit sich, dass es Tess einen Atemzug lang die Luft verschlug.
»Mutter ist tot«, sagte Sylvette sehr ruhig. Sie schien etwas hinzufügen zu wollen, machte aber eine Pause, als müsste sie in ihren Erinnerungen erst nach einem Namen suchen.
Tess streichelte ihre Wange und schenkte ihr ein tröstendes Lächeln.
Langsam drehte Sylvette ihren Kopf in die Richtung des Dieners, ohne den Oberkörper zu bewegen. Ihre trockenen Lippen lösten sich voneinander. »Schickt ein Telegramm an meine Schwester«, sagte sie. »Aura soll nach Hause kommen.«
Und wieder das Schloss, dachte Aura, als das Boot sie vom Strand hinüber zur Insel brachte.
Der Landungssteg blieb zurück, die Dünen verschwanden in milchigem Küstennebel. Unvermutet durchbrach der Bug eine Dunstwand und stieß hinaus in klare Seeluft. Die Schlossinsel mit den fünf kleineren Eilanden, die sie wie Fingerkuppen eines Handabdrucks umgaben, lag unverschleiert vor ihr. Den Leuchtturm auf der nördlichsten Felseninsel konnte sie von hier aus nicht sehen, das Schloss versperrte die Sicht, aber sie hörte die Möwen, die dort seit Jahr und Tag nisteten. Schrilles Kreischen, das sich mit dem Krachen der Brecher an den Steilwänden mischte.
All das hier hatte Aura nie losgelassen, ganz gleich wohin es sie während der vergangenen achtzehn Jahre verschlagen hatte. Die Villen in Portugal, Paris und Turin, zuletzt ein Haus in London – immer gab es irgendetwas, das sie an den Ort ihrer Kindheit erinnerte. Vor Jahrzehnten hatte das Schloss als Vorlage gedient für Böcklins Gemälde Die Toteninsel, und je älter Aura wurde, desto passender erschien ihr dieser Titel. Das Gemäuer hatte mehrere Unsterbliche hervorgebracht, trotzdem blieb der Tod die beständigste Erinnerung, die sie mit diesen Mauern verband.
Der dichte Zypressenhain im Zentrum der Insel verbarg den Mittelteil des Schlosses, rechts und links schauten die Seitenflügel hervor. Die Dächer und Kamine hoben sich schwarz von einem Himmel ab, aus dem alle Farbe entwichen war.
Der Stammsitz ihrer Familie.
Viel war von dieser Familie hier nicht übrig. Sie selbst war das ganze Jahr über unterwegs, Gian lebte in Paris, Tess in Berlin. Jetzt, da ihre Mutter tot war, war Sylvette die letzte Bewohnerin, Herrin über Dutzende Zimmer mit verhängten Möbeln und blinden Spiegeln. Aura verstand nicht, was sie an diesem Ort hielt. Die Institoris besaßen Häuser in mehreren europäischen Metropolen, Geld war noch immer genug vorhanden. Nichts zwang ihre Schwester zu bleiben. Nun erst recht nicht.
Das Boot passierte zwei Steinlöwen auf Kalksteinquadern, Wächter über die kleine Bucht am Fuß des Zypressenhains. Sanft legte es am Ende des Holzsteges an. Aura sprang an Land.
»Danke«, sagte sie zum Bootsmann, als er ihr Gepäck auf den Steg hob und ihr folgen wollte, um es ins Schloss zu tragen. »Ich schaffe das schon.«
Sie nahm ihren Koffer und die Tasche mit den Büchern, nickte ihm noch einmal zu und trat in den Schatten der Nadelbäume.
Ihr einstiges Kinderzimmer hatte sich nicht verändert, seit sie vor siebenundzwanzig Jahren ins Internat aufgebrochen war. Damals war sie siebzehn gewesen, aufsässig, voller Wut auf ihren Vater. Und sterblich.
Später, nach ihrer Rückkehr, hatte sie mit Gillian eines der größeren Schlafzimmer bezogen, ebenfalls im Ostflügel, möglichst weit entfernt von den Räumen ihrer Mutter im Westteil des Schlosses. Zwei Jahre später war Gillian gegangen.
Seither hatte sie meist eines der zahllosen Gästezimmer benutzt. Doch nun hatte sie darum gebeten, dass man diesen Raum für sie vorbereitete. Zur Charlottes Bestattung kam sie als Tochter, nicht als Erbin des alchimistischen Vermächtnisses ihres Vaters, nicht als jemand, der nur auf der Durchreise vorbeischaute. Dieses Zimmer gehörte zu der Rolle, die sie drei, vier Tage lang zu spielen hatte, bis sie hoffentlich eine Ausrede fand, um wieder verschwinden zu können.
Sie legte den Koffer aufs Bett und warf die Büchertasche daneben. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Erinnerungen auf sie einstürzen würden. Aber ihr Leben war derart von der Vergangenheit durchdrungen, dass sie ihr heute eine Pause gönnten. Das große Bett mit den Eichenpfosten, die Kommode und der Schminktisch, die beiden Schränke und der riesige Kachelofen – nichts davon erfüllte sie mit mehr als sanfter Nostalgie.
Sylvette war bei Auras Abreise ins Internat ein kleines Mädchen gewesen, ein hübsches Kind, das die schöne Frau, die später aus ihr werden sollte, bereits erahnen ließ. Bis zuletzt hatte sie ihre Mutter gepflegt und das Vermögen der Familie verwaltet. Es würde nicht leicht werden, ihr ohne Schuldgefühle in die Augen zu sehen. Während Aura Europa bereist und ganze Sommer lesend auf den Hotelterrassen der Riviera und Ägäis verbracht hatte, war Sylvette dem Irrsinn ihrer Mutter, ihrer Blindheit, ihrer metastasierenden Bösartigkeit ausgesetzt gewesen.
Darüber würden sie sprechen müssen. Ganz sicher würde Sylvette die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Drei Tage, dachte Aura. Höchstens vier.
Sie ging zum Fenster, legte die Hand an den Griff, hielt dann aber inne. Ein Lächeln erschien um ihre Mundwinkel. Das Buntglas war zur Darstellung eines großen Kessels zusammengesetzt, aus dem zwei Ferkel und ein Schwan mit Hörnern hervorschauten. Als Jugendliche hatte sie das Motiv gehasst, weil sie es kindisch gefunden hatte und überall im Schloss ernsthaftere Fensterbilder zu finden waren. Heute aber glaubte sie, dass ihre Mutter das Zimmer gerade deshalb vor über vierzig Jahren für sie ausgewählt hatte. Das Motiv mochte der Bildsprache der Alchimie entstammen, aber Ferkel und Schwan waren Tiere, die einem kleinen Mädchen gefallen konnten. Und Aura erinnerte sich dunkel, dass sie die drei Figuren im Kessel tatsächlich einmal gemocht hatte, mit fünf, sechs, sieben Jahren. Charlotte hatte es gut gemeint, damals, als sie noch bei Sinnen und voller Zuneigung für ihre neugeborene Tochter gewesen war. Sie war eine warmherzige Mutter gewesen, bevor Nestors Kälte und Selbstsucht eine verbitterte Frau aus ihr gemacht hatten.
Mit einem Ruck zog Aura am Fenstergriff. Salzkrusten bröckelten vom Rahmen, als das Buntglas knirschend nach innen schwang. Seeluft wehte herein, strich um ihre Wangen und fuhr in ihr schwarzes Haar. Es war kürzer als früher und zum Bubikopf frisiert, wie es in London und Berlin jetzt Mode war.
Sie trug Pullover, Jackett und eine weite Hose, alles in Schwarz wie eh und je. Die Jahre seit Kriegsende hatten viele Veränderungen gebracht, aber kaum eine war ihr so willkommen wie die neue Freiheit der Frauen. Weil es ihrem Lebensstil zupass kam, kleidete sie sich leger und bequem; die wallenden Röcke ihrer Jugend waren Vergangenheit.
Auras Zimmer lag am südlichen Ende des Ostflügels. Wenn sie sich ein wenig ins Freie beugte, konnte sie links in der Schlossmauer die Fenster der Kapelle sehen. Hundert Meter weiter draußen auf dem Meer thronte die Friedhofsinsel der Institoris, eines der fünf umliegenden Eilande. Morgen würde dort ihre Mutter zu Grabe getragen werden, in dem alten Mausoleum ihrer Familie.
Ihre Familie. Das klang falsch, und das war nicht die Schuld der anderen. Aura ging ihnen allen aus dem Weg, seit Jahren schon. Sie war unsterblich, alle übrigen waren es nicht. Aura hatte akzeptiert, dass sie jeden von ihnen beerdigen würde, eine Vierundzwanzigjährige am Grab ihres erwachsenen Sohnes, ihrer Nichte, ihrer einzigen Schwester. Sie hatte geglaubt, sie würde lernen, mit diesem Wissen umzugehen, aber tatsächlich wurde es schlimmer, mit jedem neuen Jahr.
Und so zog sie sich immer weiter zurück. Ihr war bewusst, dass sie damit nicht nur dem Tod der anderen aus dem Weg ging, sondern zugleich deren Leben verpasste – und dass sie das vielleicht irgendwann bereuen würde. Aber sie hatte einmal jemanden verloren, der ihr alles bedeutet hatte, aus Egoismus und verliebter Einfalt, und sie wollte das kein zweites Mal durchmachen.
Gillian war nicht tot, soweit sie wusste, aber in ihrem Herzen fühlte es sich so an. Er war der Einzige, der sie hätte verstehen können, ein Unsterblicher wie sie. Wenn auch ein Unsterblicher wider Willen.
Vor zehn Jahren hatten solche Gedanken sie dazu getrieben, sich im Bett zu verkriechen und an die Decke zu starren. Doch darüber war sie längst hinaus. Gewöhnung zog auch dem schlechtesten Gewissen den Stachel. Heute fiel es ihr leichter, sich an den Moment zu erinnern, an dem sie Gillian den Wein mit dem Sud des Gilgameschkrauts gereicht hatte. Sie hatte einen Fehler begangen und ihn bereut. Sie war in der Lage, mit den Dingen abzuschließen.
Und deshalb war sie letztlich hier. Um Abschied zu nehmen und abzuschließen. Um ein letztes Mal Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen, und sei es nur mit ihrem Leichnam.
Gillian, der Hermaphrodit, fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ihm das Gilgameschkraut nicht Unsterblichkeit, sondern Ewigkeit geschenkt hatte: eine Fortdauer über den Tod hinaus, eine unbegrenzte Existenz, auch wenn sein Körper zerstört war, sein Gehirn längst Staub.
War das, was er gerade durchmachte, das Leben nach dem Tod? Oder vielmehr der Augenblick seines Sterbens, zerdehnt zu Leere und schwarzer Unendlichkeit?
Um ihn war Dunkelheit. Nicht die geringste Spur von Licht, kein noch so schwacher Schimmer, an den sich seine Augen hätten gewöhnen können. Undurchdringliche Finsternis.
Er wusste nicht, wie lange er sich bereits in dieser Umgebung befand, war nicht einmal sicher, ob er wirklich wach war und, falls ja, ob das einen Unterschied bedeutete. Seine vagen Erinnerungen an die letzten Augenblicke vor der Schwärze waren nicht greifbar, sie mochten Stunden, Tage oder Jahre zurückliegen. Und das Dunkel schien sich beständig auszudehnen, fraß sich rückwärts durch seine Erinnerungen, verschlang Bilder und Töne und die Gewissheit, dass es überhaupt eine Zeit davor gegeben hatte.
Womöglich hatte dieser Zustand so wenig einen Anfang wie ein Ende und Gillian hatte nie anderswo existiert. Er drohte zu vergessen, wer er war. Vielleicht war er nie irgendjemand gewesen, nur ein Stück gestaltloser, charakterloser Verstand. Ein Denkding, das nichts anderes konnte, als seine Existenz in diesem einen Augenblick wahrzunehmen, ohne Davor und Danach.
Manchmal aber, wenn er kurz davor war, seine Lage zu akzeptieren, erwachte etwas in ihm, das ein Gefühl sein mochte. Mehr noch, ein Wunsch.
Nach Veränderung. Nach Licht.
Nach Ich.
Dann sträubte er sich gegen die Gleichgültigkeit und das Unausweichliche seiner Lage. Er wollte wieder mehr sein als ein Nichts im Nichts, suchte in sich nach Bildern und Tönen, nach Gewissheiten, die über die Finsternis hinausgingen. Und selten, so selten, regte sich in ihm eine Ahnung von Körperlichkeit. War er mehr als nur Geist, mehr als Fragen, auf die es keine Antworten gab? Verschwommen erinnerte er sich an seinen Namen. Und daran, dass er einmal Arme und Beine besessen hatte, einen Leib, der nicht Mann und nicht Frau gewesen war. Und ihm kamen Zweifel. Vielleicht besaß er diesen Körper noch immer und mit ihm auch die Macht, ihn zu beherrschen, zu benutzen und die Ketten seiner Gefangenschaft zu zerbrechen.
Denn ein Gefangener war er, zumindest dessen war er sich gewiss. Von Zeit zu Zeit, in den Sekundenbruchteilen blitzartiger Klarheit, spürte er etwas unter seinem Körper. Aus einer Vielzahl solcher Eindrücke, keiner dauerhafter als ein Lidschlag, setzte sich ein Bild seiner selbst zusammen, ein Mosaik von Empfindungen, aus dem eine Ahnung seines wahrhaftigen Zustands wurde.
Er lag auf dem Rücken, nein, er saß. Aufrecht, mit geradem Kreuz und herausgedrückter Brust, wie auf einem Thron. Er konnte sich nicht aus eigener Kraft bewegen, stattdessen wurde er bewegt. Rund und rund im Kreis. Übelkeit und Schwindel waren übermächtig, doch bewusst spürte er sie nur in wenigen kostbaren Augenblicken. Womöglich füllten sie ihn längst derart aus, dass sie jede andere Empfindung erstickten.
Er drehte und drehte und drehte sich auf seinem Sitz, Arme und Beine festgeschnallt, drehte und drehte sich, den Hals fest an die hohe Lehne gezurrt, die Augen verbunden, spitze Schnallen am Hinterkopf, schmerzhaft wie Nägel, die in seinen Schädel drangen.
Die Dunkelheit kehrte zurück in seine Sinne, brachte ihm Vergessen und den lindernden Sturz ins Nichts. Dann war er wieder nackte, entblätterte Existenz, kein Körper, kein Gefühl, kein freier Gedanke.
Was immer mit ihm geschah, es geschah schon immer mit ihm. Ein Kreislauf ohne Anfang, ohne Ende.
Er war einmal Gillian gewesen, der Hermaphrodit. Jetzt war er ein Gefangener. Und seit einer Ewigkeit konnte er nicht mehr aufhören zu schreien.
»Versuch’s mit dem Messer.«
»Gib mal her.«
»Warte ... hier.«
»Das ist kein Messer, das ist ein Opferdolch. Aus dem Kongo, wenn mich nicht alles täuscht.«
Tess starrte Aura an. »Du weißt das unnützeste Zeugs der Welt, ist dir das eigentlich klar?«
»Mein Dilemma. Ich lese Bücher, viel zu viele, und irgendwas bleibt hängen, und nach einer Weile hab ich das Gefühl, ein zwanzigbändiges Lexikon in meinem Kopf spazieren zu tragen. Nur kann ich mit nichts von all dem wirklich was anfangen. Ich meine, mit nichts! Frag mich nach was, das einem weiterhilft, wenn mal wieder die Telefonleitung gestört oder ein Wasserrohr verstopft ist. Oder nur nach einem verdammten Kuchenrezept ... Aber wenn du mal Interesse an Flamels Formel für die theoretische Verdampfung der Wirklichkeit oder am geheimen Testament des Demokrit von Abdera hast – dann bin ich genau die Frau, die du brauchst.«
Während Aura das sagte, lag sie auf dem Rücken vor der Standuhr im Speisezimmer, hatte den Oberkörper durch eine Luke unterhalb der Holztür ins Innere geschoben und ihre Schulterblätter auf der Schwelle mit einem Kissen abgestützt.
Von unten blickte sie in einen Mechanismus, wie ihr noch keiner untergekommen war. In der Mitte hatte sein Erbauer hochkant eine Zwischenwand eingezogen, jenseits der sich das eigentliche Uhrwerk befand. Davor waren die beiden großen Figuren untergebracht, die sich abends um sieben aus dem Kasten schoben. Aura konnte von unten nur ihre baumelnden Füße erkennen. Das eine Paar war skelettiert.
Hätte diese Standuhr Arme und Beine besessen, Aura hätte auf der Stelle glauben können, dass die Vielzahl der Zahnräder, Antriebsriemen und Spiralen ausreichte, um das verfluchte Ding zum Leben zu erwecken wie einen Golem.
Mit dem gebogenen Dolch, den ihre Nichte ihr gereicht hatte, stocherte sie ziellos in der vertrackten Mechanik. »Woher hast du den?«
Tess lachte leise. »Hab ich in meinem Zimmer gefunden, hinterm Schrank. Ich muss ihn als Kind mal da versteckt haben. Hat nicht Friedrich ihn damals mitgebracht? Von einer seiner Reisen nach Deutsch-Schwarz-Irgendwas-Afrika?«
Aura schob die Dolchspitze hinter ein komplexes Bündel aus Stahlfedern. »Der ehrenwerte Freiherr von Vehse ... An den hab ich lange nicht mehr gedacht.«
Friedrich war der Liebhaber ihrer Mutter gewesen. Vor einem Vierteljahrhundert hatte Auras Stiefbruder ihm auf der Friedhofsinsel mit einem Steinkreuz den Schädel eingeschlagen. Niemand konnte behaupten, die Familiengeschichte der Institoris sei unkompliziert.
Mit einem Stöhnen zog sie Arm und Klinge aus der filigranen Mechanik. »Von hier unten aus komme ich nicht ran. Es muss irgendeinen anderen Weg geben, dieses Zwitschern wieder abzustellen.«
In der vergangenen Nacht hatte sie es zum ersten Mal mit eigenen Ohren gehört. Seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Tagen erklang es regelmäßig um Mitternacht, ausgelöst von einem dreizehnten Gongschlag aus dem Inneren der Uhr.
Tess verzog das Gesicht. »Glaubst du, es hat was mit Charlotte zu tun?«
Aura rutschte auf dem Rücken aus dem Uhrkasten und setzte sich auf. »Mit ihrem Geist?«
»Ich glaube nicht an Gespenster. Du etwa?«
Aura zuckte die Schultern. Ihre Studien der Alchimie hatten sie schon früh auf okkulte Schriften aller Art stoßen lassen, aber erst seit einigen Jahren beschäftigte sie sich ernsthaft damit. Sie war weit davon entfernt, auf doppelt belichtete Photographien und unterbelichtete Wichtigtuer hereinzufallen, aber sie leugnete die Existenz des Übernatürlichen nicht mehr so kategorisch wie früher. Sie musste nur in den Spiegel sehen, um mit etwas konfrontiert zu werden, für das es keine natürliche Erklärung gab.
»Eigentlich«, sagte Tess, »meinte ich, ob Charlotte vielleicht irgendwas mit der Uhr gemacht hat. Vielleicht hat sie den Mechanismus blockiert.«
Aura stand auf und musterte die gewaltige Uhr. Im Inneren wurde sie von Seilzügen und Gewichten angetrieben. Die Rubine auf den Zeigerspitzen funkelten. In der unteren Hälfte des goldenen Zifferblattes gab es eine kleine Öffnung, in die ein spezieller Schlüssel passte. Mit seiner Hilfe musste die Uhr alle paar Tage aufgezogen werden.
»Hat Mutter ihr Zimmer zuletzt noch verlassen?«
»Nicht oft. Manchmal ist sie ziellos durchs Schloss gegeistert, bis irgendwer sie zurück ins Bett oder in ihren Sessel gebracht hat.«
Wenn Auras Unsterblichkeit überhaupt ein Gutes hatte, dann dass ihr dieses Schicksal erspart bleiben würde. »War sie auch hier im Speisezimmer?«
»Hier und überall sonst. Einmal hat man sie oben im Dachgarten gefunden, und da ist sie früher nie freiwillig hochgegangen.«
Ihre Mutter hatte das Glashaus auf dem Dach seit jeher gemieden. Zu viele böse Erinnerungen an Nestor, der sich jahrzehntelang dorthin zurückgezogen hatte.
Der Schlüssel zum Aufziehen der Uhr lag auf dem Esstisch, er ähnelte einem eisernen Schmetterling. Aura schob ihn in die Öffnung. Die Uhr ließ sich kinderleicht aufziehen, selbst nach so vielen Jahren bewegten sich die Zahnräder, als wären sie eben erst geölt worden.
Einem Impuls folgend drehte sie den Schlüssel in die entgegengesetzte Richtung. Erst stieß sie auf Widerstand, dann knackte es. Sie glaubte schon, sie hätte etwas beschädigt, doch dann bemerkte sie, dass sich die Uhr auch links herum aufziehen ließ.
»Seltsam«, murmelte sie. »Vielleicht ein eigener Mechanismus für das Figurenspiel.«
Tess schüttelte entschieden den Kopf und kam näher, bis ihr kugelrunder Bauch fast gegen das lackierte Holz stieß. Sie schrak zurück, so als wollte sie vermeiden, dass ihr ungeborenes Kind mit der Uhr in Berührung kam. »Ich hab das Ding oft genug aufgezogen. Die Figuren laufen mit übers Uhrwerk.«
Aura drehte den Schlüssel nach links bis zum Anschlag. Im Inneren begann es zu surren wie ein Insekt in einem Einmachglas. Als sie den Schlüssel aus der Öffnung zog, ertönte ein einzelner Vogelruf, dann herrschte Stille.
»Das ist es, oder?« Tess’ Miene verriet mehr Hoffnung als Überzeugung. Ob die Vogelstimmen fortan schwiegen, würden sie erst heute Nacht wissen.
Aura trat einige Schritte zurück, bis sie die Uhr zwischen den hohen Fenstern vollständig im Blick hatte. »Was für ein Mechanismus soll das sein, der verhindert, dass etwas geschieht? Normalerweise zieht man die Uhr doch auf, damit sie funktioniert.«
»Hast du eine Ahnung, wo Nestor sie herhatte?«
Aura schüttelte den Kopf. »Sieht jedenfalls so aus, als hätte Mutter den Mechanismus heimlich immer wieder aufgezogen.«
Doch warum hatte Charlotte ihn all die Jahre über mit keinem Wort erwähnt? Und weshalb hatte sie persönlich dafür gesorgt, dass die Vögel um Mitternacht schwiegen, statt einen Diener damit zu beauftragen?
Zwangsläufig dachte Aura an die Sprache der Vögel, einen geheimen Code der Alchimie. Hinweise darauf hatte sie immer wieder in der Literatur gefunden, obgleich sie niemanden kannte, der diese Sprache tatsächlich beherrschte – oder auch nur wusste, wie sie klang. In den alchimistischen Schriften wimmelte es von derartigen Begriffen, für die es keine Erklärungen gab und deren einzige Quelle oft genug die blühende Phantasie der Verfasser war.
Nachdenklich neigte sie den Kopf. »Vielleicht sollten wir den Kasten einfach ins Meer werfen lassen, dann ist ein für alle Mal Ruhe.«
Sie ließ ihren Blick noch einmal über die Uhr wandern, über die grazilen Schnitzereien, das schimmernde Zifferblatt. In einigen Stunden würde sich die große Tür öffnen. Dann würde ein klappriger Sensenmann erscheinen, gefolgt von einer grobschlächtigen Gestalt, die das Skelett von hinten bei den leeren Augenhöhlen packte und zurück in den Uhrkasten zerrte. Ein Mensch, der den Tod bezwingt. Falls es nicht Nestor selbst gewesen war, der dieses Ungetüm in Auftrag gegeben hatte, dann jemand, der ihn sehr genau gekannt hatte.
Die Luke, durch die sie ins Innere geblickt hatte, stand noch immer offen. Aura ging in die Hocke, um sie zu schließen, als ihr Blick auf etwas fiel, das ihr zuvor entgangen war. An der Innenseite der Holzklappe, einen Fingerbreit über dem unteren Rand, befand sich ein Brandzeichen, ein schwarzes Symbol.
Im Vergleich zu den feinen Schnitzereien an der Außenseite wirkte es so primitiv wie Buchstaben, die Verliebte in Baumstämme ritzen. Schwer vorstellbar, dass jemand, der so filigran arbeitete wie der Erbauer dieser Uhr, sein Werk mit einem derart plumpen Zeichen signierte.
Tess hatte es noch nicht bemerkt. »Hast du mal wieder was von Konstantin gehört?«
»Zuletzt vor zwei Monaten.« Nachdenklich folgte Aura dem Verlauf des Symbols mit der Fingerspitze.
»Schreibt er noch an seinem Buch über die Kathedralen?«
»Soweit ich weiß.«
Konstantin Leopold Ragoczy, der Graf von Saint-Germain, war unsterblich wie sie, besaß die Erfahrung von Jahrhunderten und hatte jeden Zweifel, jede Angst im Zusammenhang mit dem ewigen Leben längst hinter sich gelassen. Auf viele von Auras Fragen hatte er Antworten gekannt, er hatte sie aufgefangen nach den Ereignissen in Spanien, hatte Verständnis gehabt für ihre Erschöpfung, die Albträume und ihre Launen. Nach und nach hatte sie geglaubt, ihn lieben zu können, hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, nur um irgendwann zu erkennen, dass Mühe der falsche Einsatz war in einem Spiel, in dem es um etwas so Verletzliches ging wie Empfindungen. Langsam und unaufhaltsam waren sie auseinandergedriftet, ohne Vorwürfe, ohne ein böses Wort. Irgendwann war er aus der Villa in Sintra ausgezogen, bereiste seitdem Europa und meldete sich gelegentlich, um ihr von seinen Ergebnissen bei der Erforschung der gotischen Kathedralen und den verschlüsselten Botschaften ihrer Architekten zu erzählen.
Aura deutete auf das Symbol im Inneren der Uhr. »Irgendwo hab ich das schon mal gesehen.«
»Sind das Initialen?«
Aura berührte das Zeichen erneut, dann erhob sie sich mit einem Ruck. »Kannst du Treppen steigen?«
In Tess’ Augen blitzte es. »Neugier ist dein Dilemma, nicht die Bücher.«
Aura ergriff sie sanft bei den Schultern. »Kannst du dir vorstellen, wie langweilig das ewige Leben ohne Neugier wäre?«
»Er lebt noch immer hier oben«, sagte Tess, als sie die knarrende Treppe zum Dachgarten hinaufstiegen.
Einen Augenblick lang glaubte Aura tatsächlich, sie meinte Nestor. Und obwohl sie es besser wusste, schrak sie innerlich zusammen. Für Sekunden waren die Gefühle von damals wieder da wie ein Geruch, den sie nicht abschütteln konnte.
Tess deutete auf die Tür am Ende der Stufen, auf ein flaches Relief, das in das Holz geschnitzt war: die stilisierte Darstellung eines Pelikans mit vorgebeugtem Kopf, den langen Schnabel eng an die Brust gelegt.
»Der Vogel?«, murmelte Aura. »Er ist noch hier?«
Tess nickte. »Ich hab ihn gesehen, als ich das letzte Mal oben war. Ungefähr vor einem halben Jahr. Und Öffnungen gibt es genug im Dach.«
Der Pelikan hatte im Glashaus gelebt, so weit Aura zurückdenken konnte. Zum ersten Mal war sie ihm begegnet, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Das musste an die vierzig Jahre her sein und sie bezweifelte, dass es einen Vogel gab, der so alt werden konnte.
Da verstand sie, worauf Tess hinauswollte. »Du denkst, der Pelikan hat das Kraut gefressen?«
»Wäre möglich, oder?«
Aura hatte nie darüber nachgedacht, ob das Gilgameschkraut seine Wirkung auch bei Tieren zeigte. Ein Vogel, der ewig lebte? Warum eigentlich nicht?
Tess lachte. »Natürlich könnte es auch ein anderer Pelikan sein. Vielleicht hat der erste ein Ei gelegt.«
Aura war dankbar dafür, dass Tess ihr Gesellschaft leistete. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie den klaren Blick auf das Nächstliegende verlor und allerorts ungelöste Mysterien und Rätsel vermutete. Mit den Jahren war sie wunderlich geworden, vielleicht ein wenig weltfremd.
Tess war außer Atem, als sie vor der Speichertür stehen blieben. Aura beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Ihre Nichte bemerkte es sogleich. »Himmel, nun mach dir mal ja keine Sorgen um mich!«
»Kein bisschen.«
»Ich bin nur schwanger.«
»Ist mir aufgefallen.«
»Warum behandeln mich dann alle, als wäre ich eine gottverdammte Heilige aus Porzellan?«
Aura schenkte ihr ein Lächeln, dann öffnete sie die Tür. Zuletzt war sie vor Jahren hier oben gewesen, auf der Suche nach gewissen Büchern in Nestors Bibliothek. Jedes Mal fühlte sie sich, als beträte sie ein Mausoleum zu Ehren ihres Vaters, einen Ort, der so durchdrungen war von seiner Anwesenheit, dass sie am liebsten laut dagegen angeschrien hätte.
Dabei hatte sie nach Nestors Tod selbst viel Zeit hier oben verbracht, vor ihrem Aufbruch nach Swanetien. Sieben Jahre lang hatte sie sich allein in die Geheimnisse der Alchimie eingearbeitet, hatte Hunderte Bücher studiert, Experimente durchgeführt, einsame Erfolge erlebt und Tage der Verzweiflung. Heute war es, als läge das alles ein ganzes Leben zurück.
Tess tastete nach ihrer Hand. War ihr so leicht anzusehen, was in ihr vorging?
Die Vegetation kam ihr heute üppiger vor, ein Dschungel aus Bäumen und mannshohen Farnen, aus exotischen Blüten und Schlingpflanzen, die mit den Jahren weite Teile des Dachgartens umwoben und unbegehbar gemacht hatten.
Das gläserne Dach, das sich über den ganzen Mittelflügel des Schlosses wölbte, war schmutzig und salzverkrustet, aber bei Tageslicht blieben die Scheiben fast unsichtbar. Nur das rostige Gitterwerk warf ein Netz aus verzerrten Schattenstreben über den Garten. Die Wipfel der Pflanzen berührten mittlerweile die Decke; irgendjemand würde sie bald beschneiden müssen, sonst durchstießen die Äste das Glas.
Vor der Wand aus dschungelähnlichem Bewuchs befand sich eine freie Fläche. Dort stand, mit dem Rücken zur Glasschräge an der Südseite, ein altes Sofa, eingestaubt wie fast alles hier oben. Draußen vor den Scheiben stachen die Zypressen in den wolkigen Mittagshimmel. Sonnenschein und Dämmer wechselten sich schon seit dem Morgengrauen in rasendem Wechsel ab.
Links von Aura und Tess befand sich in einer ummauerten Nische das Alchimistenlabor, Tische und Schränke voller Glasbehälter, verkrusteter Tiegel und Bücher. Jenseits davon führte eine Tür in Nestors Bibliothek, das Archiv allen alchimistischen Wissens, das er auf Schloss Institoris zusammengetragen hatte.
Aura stand eine Weile lang da und ließ die Umgebung auf sich wirken. Tess fiel auf das Sofa, atmete tief durch, hatte aber nicht mit der Staubwolke gerechnet, die von den Polstern aufstob. Fluchend hielt sie die Armbeuge vor die Nase, blieb aber sitzen.
»Ich bin nicht erschöpft«, sagte sie gedämpft. »Falls es das ist, was du denkst.«
»Da sind Fußspuren im Staub.« Aura deutete auf Abdrücke, die vom Eingang zum Labor und von dort aus zur Tür der Bibliothek führten. »Sind die von dir?«
Tess schüttelte den Kopf. »Mutter kommt manchmal hier rauf.«
»Sylvette? Seit wann interessiert sie sich für all das hier?«
»Du unterschätzt sie.«
»Bestimmt nicht. Aber sie —«
»Weißt du eigentlich, wie übel sie es dir genommen hat, dass du Großvaters Leiche ausgegraben hast?«
»Das ist siebzehn Jahre her! Sie hat nie —«
»Manche Menschen verändern sich, wenn sie älter werden.« Tess verschränkte die Arme und grinste. »Nicht nur äußerlich.«
Aura seufzte leise. Nachdem Gillian sie verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, nie wieder über Leben und Tod eines anderen Menschen zu entscheiden. Da das Gilgameschkraut nur auf den Gräbern der Unsterblichen wuchs, hatte sie Nestors Überreste loswerden müssen. Seine Knochen auszugraben war leichter gewesen, als sie erwartet hatte; viel war nach all den Jahren nicht von ihm übrig gewesen. Sie hatte die Gebeine in einen Sack gesteckt und war hinaus aufs Meer gerudert. Nach allem, was sie über seine Verbrechen erfahren hatte, war es ihr nicht schwergefallen, ihn wie Abfall zu versenken.
Seitdem wuchs kein Gilgameschkraut mehr im Glashaus. Und ausgerechnet ihre Schwester sollte das bedauern? Sylvette hatte nie das geringste Interesse an der Alchimie gezeigt. Lysander, ihr leiblicher Vater, hatte sie im Namen der Geheimen Lehre verschleppt, missbraucht und dabei Tess mit ihr gezeugt. Als Aura sie nach vielen Jahren wiedergefunden hatte, in einem Templerkloster im Kaukasus, war Sylvette gezeichnet, aber nichtsdestotrotz entschlossen gewesen, wieder ein normales Leben zu führen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie beachtliches Organisationstalent entwickelt und sich fortan um die Verwaltung des Schlosses und die Güter der Familie gekümmert. Und sie hatte stets betont, dass sie keinerlei Ambitionen hegte, ewig zu leben.
»Sie hat sich in letzter Zeit verändert«, sagte Tess. »Anfangs waren es nur ein paar Bemerkungen, so ein Unterton, aber mittlerweile ist es mehr als das. Sie ist ziemlich verbittert, wenn du mich fragst.«
»Sie macht mir Vorwürfe? Ich weiß, dass sie wütend ist, weil sie sich um Mutter kümmern —«
»Alles ist an ihr hängen geblieben«, unterbrach Tess sie. »Du warst nicht da. Und ich irgendwann auch nicht mehr.«
»Aber sie hat ein Dutzend Dienstmädchen und Hausdiener!«
»Die größtenteils im Dorf übernachten. Charlotte hat zuletzt kaum noch geschlafen, jedenfalls nicht nachts. Und du kannst es drehen und wenden, wie du willst, am Ende hatte Mutter die gesamte Verantwortung und allen Ärger allein am Hals.«
Tess war ganz anders als Sylvette, aber in diesem Moment schienen sich die Gesichter der beiden zu überlagern. Mutter und Tochter hatten das gleiche hellblonde Haar, sogar ihre Stimmen ähnelten einander. Doch da war etwas in Tess’ Blick, in ihrem Tonfall. Sie wiederholte nicht nur die Dinge, die sie von Sylvette gehört hatte; sie teilte ihre Meinung, und das geschah nicht oft.
Umso härter trafen Aura ihre Anschuldigungen. »Sylvette hat das Kraut mir gegenüber seit Jahren mit keinem Wort erwähnt.«
»Und wie oft warst du hier? Ich meine, wie oft habt ihr wirklich miteinander geredet? Nicht nur über Geschäftliches, sondern darüber, wie« — Tess zögerte – »wie ihr euch fühlt.«
»Sie hat nie den Eindruck gemacht, als ob —«
»Hast du sie mal gefragt, wie sie mit alldem hier klarkommt, mit Großmutter und dem Schloss, überhaupt mit diesem ganzen Leben am Ende der Welt?«
»Natürlich! Sie ist meine Schwester.«
»Und wie oft hast du dir die Mühe gemacht, es so klingen zu lassen, als ob es dich wirklich interessiert?« Tess’ Lächeln machte es noch schlimmer. Sie kam auf Aura zu, berührte sie am Arm und sagte: »Ich hab dich lieb, Aura, das weißt du. Aber dein Talent, mit anderen Menschen umzugehen, ist nicht gerade dein größtes.«
»Ist das eine Anspielung auf Gian?«
Tess nahm ihre Hand. Mit einem Mal stand Wut in ihren Augen, aber sie galt nicht Aura. »Dieser Vollidiot! Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Dass es besser wäre, wenn wir uns nicht wiedersähen.«
Aura unterdrückte ein Lächeln. Sein Gespür für Diplomatie hatte er von ihr geerbt. Aber sie sah auch, dass Tess aufrichtig unter Gians Wunsch nach Abstand litt. Die beiden waren aufgewachsen wie Geschwister, bis die Katastrophe an der Ausgrabungsstätte von Uruk sie einander entfremdet hatte. Schließlich hatte Tess ihm verziehen, hatte sich zumindest alle Mühe gegeben, und deshalb hatte es sie umso härter getroffen, als er eines Tages verkündet hatte, er wolle fortgehen und, nein, Besuche hielte er für keine gute Idee.
»Er schreibt ab und an Briefe«, sagte Tess. »Ich hab aufgehört, sie zu lesen, schon vor Monaten. Er schickt sie immer noch hierher ins Schloss. Herrgott, er weiß nicht mal, dass ich schon ewig nicht mehr hier wohne! Mutter sammelt sie für mich, aber ich lege sie ungeöffnet in eine Schublade.«
»Deshalb hast du ein schlechtes Gewissen? Du hast doch allen Grund, ihm böse zu sein.«
»Und du? Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Ist eine Weile her.« Drei Jahre. Zu lange für eine Mutter und ihren Sohn. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich vermisst.«
»Tut mir leid, er ist dein Sohn und alles, aber manchmal —«
»Verhält er sich wie ein Hornochse, ich weiß.« Eine Woge tiefer Zuneigung überkam Aura. Sie und Tess hatten sich immer nahegestanden. So wie Gian oft Zuflucht bei Sylvettes Häuslichkeit und Ruhe gesucht hatte, war Tess zu Aura gekommen, wenn sie einen Rat oder einfach nur jemanden zum Zuhören gebraucht hatte – eine Erwachsene. Umso absurder schien es, dass Tess heute körperlich ein Jahr älter war als Aura es je sein würde.
»Komm«, sagte sie schließlich. »Dieses Symbol ... Ich glaube, ich hab es drüben in der Bibliothek gesehen.«
»In einem der Bücher?«
Aura schüttelte den Kopf, ging voraus und trat durch die Tür des Laboratoriums.
Die Bibliothek war groß und unübersichtlich, ein Labyrinth aus Regalwänden, jeder Fingerbreit oberhalb der Bücher ausgestopft mit weiteren, quer gestapelten Bänden. Der Raum nahm den gesamten Speicher des Westflügels ein. Hier bestanden die Schrägen nicht aus Glas, sondern aus Ziegeln und Gebälk. Spärliches Licht fiel durch zwei Fenster in nebeneinanderliegenden Dachgauben. Anders als alle übrigen Scheiben im Schloss waren diese beiden nicht mit Bildern verziert, sondern zeigten Reihen aus gläsernen Buchstaben.
Zwischen den Gauben stand ein Schreibtisch, leer bis auf eine Handvoll Bücher: Einführungen in die Alchimie und ihre Historie. Die Dienerschaft hatte strikte Order, die Dachböden des Schlosses nicht zu betreten. Dennoch war der Tisch staubfrei und aufgeräumt.
Nestor hatte hier einst seine Studien betrieben, später Aura selbst. Das Holz war voller Tintenkleckse und Kratzer; vor allem aber waren Zeichen, Buchstaben und verschlungene Furchen in die Oberfläche geritzt worden. Abkürzungen und unverständliche Inschriften aus vielen Jahrzehnten. Manche stammten von Aura. Beim Blättern und Lesen hatte sie gedankenverloren mit Stiften, Brieföffnern und was ihr sonst zwischen die Finger geriet auf dem Holz herumgeschabt. Ihr Vater hatte es vor ihr genauso gemacht.
»Hier«, sagte Aura, »das ist es.«
Tess trat neben sie und nickte.
Das gleiche Zeichen wie im Uhrkasten, kaum größer als eine Münze. Die Linien und Bögen waren so breit wie Streichhölzer, etwa zwei Millimeter tief und nachgedunkelt.
Das Symbol war nur eines unter zahllosen anderen. Aura hatte Jahre an diesem Platz verbracht, neue Zeichnungen und Worte hinzugefügt, ältere erweitert oder unkenntlich gemacht; fast alle waren Kritzeleien ohne tiefere Bedeutung. Sie hatte immer angenommen, dass auch ihr Vater sich bei den meisten nichts gedacht hatte. Doch aus irgendeinem Grund musste das Symbol aus der Uhr ihn beschäftigt haben, als er allein hier oben gesessen hatte, zurückgezogen von der Welt und seiner Familie, versunken in Gedankengänge so kalt und gewissenlos wie die eines Reptils.
»Könnte alles Mögliche sein.« Tess berührte das Zeichen mit der Fingerspitze. »Eine Rune, vielleicht.«
»Daran hab ich auch gedacht. Aber soweit ich weiß, hat er sich nie mit nordischer Kalligraphie beschäftigt.«
»Irgendwas Okkultes?«
Aura schüttelte den Kopf. »Davon hat er erst recht nichts gehalten. Er hat immer geglaubt, dass selbst die Unsterblichkeit wissenschaftlich nachvollziehbar sein müsste. Das war der Grund, warum er sich so lange dagegen gewehrt hat, die Morde an seinen Töchtern wieder aufzunehmen – und nicht etwa, weil er plötzlich ein besserer Mensch geworden wäre.« Sie rümpfte die Nase. »Es war ihm zuwider, sein Leben weiterhin auf eine Weise zu verlängern, die mehr nach Zauberei aussah als nach echter Wissenschaft. Dass Okkultismus und Alchimie immer wieder in einen Topf geworfen werden, hat ihn wütend gemacht. Er scheint das ziemlich persönlich genommen zu haben.«
Aura nahm einen Bleistift aus einer Schublade, fand ein leeres Stück Papier und fertigte einen Abrieb des eingeschnitzten Symbols an. Später wollte sie auch das Zeichen aus der Uhr kopieren, um beide miteinander zu vergleichen.
Nachdenklich löste sie sich vom Schreibtisch und trat vor eines der Buchstabenfenster. SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS stand dort in fünf Zeilen untereinander geschrieben, ein anagrammatisches Quadrat, lesbar aus allen Richtungen. Ein anderes war in dem zweiten Fenster abgebildet: SATAN ADAMA TABAT AMADA NATAS. Tageslicht projizierte verzerrte Abbilder der Lettern auf ihren Körper.
Die Satorformel, der lateinische Satz im linken Fenster, stammte aus der Symbolsprache der antiken Hermetiker. Der Sämann Arepo hält mit Mühen die Räder. Gemeint war das Ringen des Alchimisten um das aurum potabile, das Große Werk, die Suche nach dem Stein der Weisen.
Dagegen ergaben die Worte im zweiten Fenster in keiner bekannten Sprache einen Sinn. Auch sie bildeten immer wieder denselben Satz, ganz gleich, ob man das Buchstabenquadrat von links nach rechts, von oben nach unten oder umgekehrt las. Wie ein Zauberspruch, eine archaische Beschwörung. Nur eines der Wörter besaß eine erkennbare Bedeutung. Satan.
Standen demnach in diesen Fenstern Alchimie und Okkultismus gleichwertig nebeneinander? Warum hatte Nestor sie anfertigen und einbauen lassen, wenn ihm doch diese Verbindung derart zuwider war? Dass sein Schreibtisch sich ausgerechnet in der Mitte zwischen ihnen befand, war sicher kein Zufall. Hatte er seinen eigenen Überzeugungen misstraut, hin und her gerissen zwischen den Niederlagen seiner wissenschaftlichen Bemühungen und der Verlockung, dem Glauben an das Übernatürliche nachzugeben?
»Aura!« Tess nickte zum Eingang hinüber.
Dort stand der Pelikan, das weiße Gefieder gesträubt, den breiten Schnabel vorgereckt. Er verharrte mitten im Türrahmen, als hielte ihn etwas davon ab, die Bibliothek zu betreten.
Aura löste sich vom Fenster. Reglos blickte ihr der Vogel entgegen. Wenige Meter vor ihm blieb sie stehen, ging in die Hocke und streckte lockend eine Hand aus.
Da kam er watschelnd heran und stupste mit dem Schnabel an ihre Finger. Er gurrte leise, als sie einander erkannten.
Gillian drehte und drehte und drehte sich.
Seit Tagen schon, seit Wochen.
In der Finsternis gab es keine Zeit, keine Anhaltspunkte für seine Sinne. Nur das Gefühl seiner eigenen Bewegung in der Schwärze, wie ein Sturz in einen bodenlosen Abgrund. So muss es sein, dachte er, wenn von einem Augenblick zum nächsten keine Schwerkraft mehr existiert und man hinausfällt in den leeren Schlund zwischen den Sternen.
Dennoch – die Phasen, in denen er fast so etwas wie klare Gedanken fassen konnte, häuften sich. Dann wurde er aus seiner Selbstverneinung, der Vernebelung seines Geistes gerissen, ohne zu wissen, warum, für wie lange und ob es eine Möglichkeit gab, diesen Zustand bewusst herbeizuführen. Ihm war, als presste man ihn mit dem Kopf unter Wasser, um ihn dann und wann zurückzureißen, damit er Luft schnappen konnte. Nur dass er nie wusste, ob man ihm einen ganzen Atemzug gewährte und ob es vielleicht sein letzter sein würde.
In einem dieser Augenblicke fiel ihm wieder ein, dass er einmal Mann und Frau zugleich gewesen war, ein Zwittergeschöpf, eine hermaphroditische Züchtung der Alchimie. Und er wusste, dass er seine Zweigeschlechtlichkeit ausnutzen konnte, um für andere Menschen das zu sein, was sie sehen wollten. Für gewöhnlich war er ein Mann, sah sich selbst als einer, aber es gab Momente, in denen er zur Frau wurde und sich wohl dabei fühlte. Es war keine körperliche Verwandlung, keine Verformung seiner Physis – sein Fleisch blieb stets beides, Mann und Frau zugleich. Vielmehr veränderte sich die Wahrnehmung seines Gegenübers. Es genügte eine Kleinigkeit, vielleicht ein Kleidungsstück, um ein anderes Geschlecht zu suggerieren. Trug er einen Frack, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, eine Frau in ihm zu sehen. Ein Kleid hingegen ließ keinerlei Zweifel an seiner Weiblichkeit. In seinem früheren Leben, vor den Jahren im Templum Novum, war ihm das oft nützlich gewesen. Als Auftragsmörder hatte er seine Identitäten schneller gewechselt, als die Behörden hatten Fahndungen ausschreiben können.
Jetzt aber geschah etwas mit ihm, das er nicht beeinflussen konnte. Es schien ihm, als wechselte er sein Geschlecht im Sekundentakt, war mal Mann, mal Frau. Und obgleich die Veränderungen nicht körperlicher Natur waren – niemand zog und zerrte an seiner Haut, formte seine Konturen um, verschob sein Gesicht –, hatte es Einfluss auf sein Erscheinungsbild. Als würden alle Masken, die er jemals getragen hatte, in blitzschneller Folge über seine Züge flackern, sichtbar nur für andere, spürbar auch für ihn. Es trug dazu bei, dass sein wahres Ich zurücktrat hinter die Illusionen, mit denen er sich ein Leben lang umgeben hatte.
Gillian, der Mann. Gillian, die Frau. Sieh mich an und ich weiß, was du in mir sehen willst. Das war früher gewesen, als er noch Herr seiner selbst gewesen war.
Nun hatte er die Kontrolle darüber verloren. Es war wie Zuckungen während eines epileptischen Anfalls. Er saß festgeschnallt auf diesem Stuhl, der sich endlos drehte. Und manchmal, nur selten, hielt die Bewegung inne. Dann waren da Hände, die ihn betasteten und erforschten. Ihm etwas über Mund und Nase stülpten. Sie ließen ihn ein Gas einatmen, das ihm Willen und Erinnerung raubte, ihn vergessen ließ, wer und wo er war. Dann stürzte er abermals kreisend in den Abgrund, bis die Wirkung irgendwann nachließ, die Hände zurückkehrten und mit ihnen das Gas. Nicht nur der Stuhl, auf dem er saß, drehte sich. Seine ganze Existenz war eine Spirale, zirkelte abwärts in die Dunkelheit.
Übergeben konnte er sich schon lange nicht mehr, sein Hals war ausgetrocknet. Anfangs, als er sich unablässig erbrochen hatte, war er regelmäßig mit Wasser abgespritzt worden, ein breiter, schmerzhafter Strahl auf seinem Körper.
Lange Zeit über war ihm nicht klar gewesen, ob er Kleidung trug oder nicht. Mittlerweile war er sicher, dass sie ihn ausgezogen hatten. Vielleicht aus hygienischen Gründen, vielleicht auch, um ihn zu betasten. Gillian hatte immer eine erotische Anziehung auf andere ausgeübt, sie mit seiner zweigeschlechtlichen Attraktivität betört. Jetzt aber war dieses Talent außer Rand und Band geraten und er fragte sich, ob das der Grund war, weshalb man ihn nackt auf diesem kreisenden Stuhl sitzen ließ. Seine Peiniger waren um ihn, starrten ihn an, geblendet von seiner Ausstrahlung, unfähig, die Blicke von ihm loszureißen. Gefangene ihres Gefangenen.
Die Vorstellung verlieh ihm ein gewisses Triumphgefühl, aber es war nicht von Dauer. Er machte sich etwas vor, wenn er annahm, er hätte sie in der Hand. Falls sie ihn nur festhielten, weil sie nicht anders konnten, war er verloren. Wenn sie berauscht waren von dem, was sie in ihm sahen, wenn sein Charisma ihre Motive überstrahlte, dann hafteten er und sie untrennbar aneinander. Dann saßen auf beiden Seiten der unsichtbaren Gitterstäbe Menschen, die trotz all ihrer Macht über den anderen machtlos waren. Sie bestimmten Gillians Schicksal, zugleich hielt er sie fest in seinem Bann.
Wann hatten sie ihm zuletzt das Gas verabreicht? Die Zeit existierte nicht mehr in der Finsternis hinter seiner Augenbinde. Er spürte wieder die Schnallen an seinem Hinterkopf, enges Leder an den Schläfen. Sogar die Ringe, die seine Arme und Beine hielten, konnte er fühlen.
Dass er sich nicht länger drehte, bemerkte er erst nach einer Weile. Der Schwindel blieb, die Übelkeit wurde heftiger. War das nur eine Nachwirkung der Drehung? Es gab eine andere Möglichkeit, aber sie wollte ihm nicht einfallen.