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Die Einsamkeit Siziliens birgt düstere Mythen und Legenden. Raubtiere jagen menschliche Beute in den Hügeln. Raubtiere, die sich hinter der Maske verfeindeter Mafiaclans verbergen. Als eine Tragödie Rosa aus New York nach Italien führt, ahnt sie nicht, dass sie viel mehr ist als nur ein Mädchen auf der Flucht. Bis sie Alessandro begegnet. Seine kühle Anmut, seine animalische Eleganz faszinieren und verunsichern sie. Nach den Gesetzen der Mafia müsste er ihr Todfeind sein – doch dann stoßen sie gemeinsam auf das uralte Geheimnis ihrer Familien. Die Arkadien-Trilogie Band 1: Arkadien erwacht Band 2: Arkadien brennt Band 3: Arkadien fällt
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Seitenzahl: 513
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Copyright © Kai Meyer 2009
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by
Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
Die Übersetzung des einführenden Zitats stammt aus
Angela Carter,
Die Braut des Tigers, in: Blaubarts Zimmer. Märchen aus der Zwischenwelt,
übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt © 1982 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg – mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Originalcopyright © 1979 by Angela Carter
ISBN 978-3-95991-808-4
Alle Rechte vorbehalten
Das letzte Kapitel
Rosa
Alessandro
Der Clan
Fleischfresser
Feindschaft
Bestiarium
Das Buch des Sklaven
Fundling und Sarcasmo
Isola Luna
Gaias Geheimnis
Das Mädchen an der Kette
Familienfehde
Tiger und Schlange
Kaltblüter
Wilde Hunde
Castello Carnevare
Das Ende der Straße
Regenschatten
Jagdtrieb
Die Zwinger
Die Arkadischen Dynastien
Das Haus im Wald
Rom
Schwestern
Dunkelkuss
Katzenherz
Nachtfahrt
Das Amphitheater
Der Racheschwur
Iole
Am Meeresgrund
TABULA
Verbündete
Der Pakt
Haus der steinernen Augen
Das Rätsel von Messina
Versprechen
Das verborgene Zimmer
Verrat
Die Erbin
Überläufer
Das Monument
Die Ruinen
Blut fließt
Der Spitzel
Im Dunkel
Panthera
Zoes Botschaft
Das Geheimnis
Zwei Tiere
Eine Nachricht
Der Abschied
Epilog
Drachenpost
Für Steffi
Er knurrte hinten in der Kehle, senkte seinen Kopf, ließ sich auf die Vorderpfoten nieder, fauchte, zeigte mir seine rote Kehle, seine gelben Zähne.
Und jeder Schlag seiner Zunge riss mir eine Haut nach der anderen fort, all die Häute eines Lebens in der Welt, und übrig blieb eine eben geborene Patina aus glänzenden Haaren. Meine Ohrringe wurden wieder zu Wasser und sickerten mir auf die Schultern; ich schüttelte die Tropfen aus meinem wunderschönen Fell.
Angela Carter, Die Braut des Tigers
Eines Tages«, sagte sie, »fange ich Träume ein wie Schmetterlinge.«
»Und dann?«, fragte er.
»Lege ich sie zwischen die Seiten dicker Bücher und presse sie zu Worten.«
»Was, wenn jemand immer nur von dir träumt?«
»Dann sind wir beide vielleicht schon Worte in einem Buch. Zwei Namen zwischen all den anderen.«
Über dem Atlantik weckte sie die Stille. Sie kauerte mit angezogenen Knien auf ihrem Sitz, verbogen und verdreht von fünf Stunden Enge. Die Fenster des Flugzeugs waren verdunkelt, die meisten Passagiere schliefen unter grauen Decken.
Keine Stimmen, keine Laute. Sie brauchte einen Moment, ehe sie den Grund erkannte.
Ihr Kopfhörer schwieg.
Ein Blick aufs Display ihres iPods: Alles gelöscht, mehrere Wochen Musik mit einem Schlag verschwunden. Nur ein einziges Genre war noch da, ein einziger Interpret, ein einziges Lied. Eines, das sie nie zuvor gehört und sicher nicht selbst aufgespielt hatte. Sie klickte sich noch einmal durch das Menü.
Andere.
Scott Walker.
My Death.
Sonst nichts. Alles weg.
Leere passte gut zum Neubeginn ihres Lebens.
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und hörte My Death als Endlosschleife, die nächsten drei Stunden bis zur Landung in Rom.
* * *
Am Flughafen Fiumicino erfuhr Rosa, dass ihr Anschlussflug nach Palermo wegen eines Lotsenstreiks ausfiel. Die nächste Maschine ging in fünfeinhalb Stunden. Sie war hundemüde und My Death rotierte in ihrem Kopf nun auch ohne Ohrstöpsel.
Während der Wartezeit musste sie das Terminal wechseln. Mit ihrem Handgepäck stand sie schläfrig auf einem endlosen Laufband. Draußen war es noch dunkel, sechs Uhr am Morgen, und das hell erleuchtete Innere des Korridors spiegelte sich in riesigen Fensterscheiben. Rosa sah sich selbst auf dem Band, das lange blonde Hexenhaar zerzaust wie immer, ganz in Schwarz gekleidet, und die Schatten um ihre eisblauen Augen so dunkel, als hätte sie zu viel Kajal benutzt. Tatsächlich war sie ungeschminkt. Seit der Nacht vor einem Jahr ließ sie die Finger von Make-up.
Das Trägertop betonte ihre puppenhafte Gestalt. Zu klein und zu schmal für ihre siebzehn Jahre. Aber jetzt sah sie eine Familie hinter sich auf dem Band, mit dicken Kindern und dicken Lunchpaketen, und sie war froh, dass sie dünn und appetitlos und eben anders und so schwierig auf die Welt gekommen war.
Eine Schwangere stand vor ihr. Rosa hielt Abstand, ohne der Gruppe hinter ihr zu nahe zu kommen. Im Flugzeug hatte sie trotz aller Enge ihren eigenen Sitzplatz gehabt, um den sie in Gedanken einen Käfig gebaut hatte. Ihre kleine Welt am Fenster. Aber hier am Boden war alles in Bewegung; zu viele Menschen, zu großes Durcheinander, um klare Grenzen zu ziehen.
Sie steckte wieder die Stöpsel ins Ohr. Ein rätselhaftes Lied, das nach einem schwarz-weißen Europa klang, nach alten Filmen mit Untertiteln. Nach Gangstern in schwarzen Anzügen auf hitzedurchglühten Strandpromenaden und nach wunderschönen Französinnen mit Sonnenhüten, die von eifersüchtigen Liebhabern erdrosselt wurden.
Das Lied hätte nicht My Death heißen müssen, um sie auf solche Gedanken zu bringen. Es war etwas im aufgepeitschten Drama der Musik, im Klang der tiefdunklen Männerstimme. Todessehnsucht mit einem Beigeschmack von eisgekühlten Martinis.
My death waits like
A bible truth
At the funeral of my youth
Weep loud for that
And the passing time.
Sie träumte von verwischten Blutstropfen auf den Decks weißer Mittelmeerjachten, von melancholischem Schweigen zwischen Liebenden unter südlicher Sonne.
Das Laufband spie sie in die überfüllte Wartehalle.
* * *
Andere trugen zur Sicherheit Elektroschocker oder Pfefferspray. Rosa hatte sich einen Tacker gekauft, in einem Eisenwarenladen an der Baltic Street, Ecke Clinton. Die Idee dahinter war simpel: Ein Stromschlag ist unangenehm, hinterlässt aber keine Spuren. Sie hingegen konnte einem Angreifer erst mal zwei, drei Eisenklammern in den Körper tackern. Dann musste er sich überlegen, ob er es mit ihr aufnehmen oder nicht doch lieber die Klammern aus seiner Haut ziehen wollte. Genug Zeit, um ihm eine zu verpassen. Beim letzten Mal hatte sie sich einen Fingernagel abgebrochen. Unangenehm.
Den Tacker hatte sie mit ihrem Koffer aufgeben müssen. Ihre schwarze Jacke trug sie in der linken Hand; die ausgebeulte Seitentasche verriet, wo sie das Ding sonst aufbewahrte. Der Anblick störte sie, weil etwas fehlte. Neurotisch, hätte ihre Schwester Zoe gesagt. Rosa beschloss die Tasche mit etwas zu füllen. Ihr Blick fiel auf einen Süßigkeitenstand am Rand der Wartehalle. Der Verkäufer lehnte dahinter an der Wand und döste mit halb geöffneten Augen. Außer der Familie vom Laufband hatte in der letzten halben Stunde niemand etwas gekauft.
Rosa stand von ihrem Platz auf und schlenderte hinüber. Ihr hellblondes Haar war noch verwuschelter als sonst; es hing ihr weit ins Gesicht und verdeckte die äußeren Augenwinkel. Ihr Minikleid hatte einmal Zoe gehört und war Rosa zu groß, der Saum reichte bis zu den Knien. Der Blick des Verkäufers glitt daran hinab zu ihren dünnen Beinen in den schwarzen Strumpfhosen. Sie endeten in klobigen Schuhen mit Metallkappen, die sie eng um die Knöchel geschnürt hatte. Wenn sie zutreten musste, wollte sie nicht, dass sie abfielen. Wie peinlich wäre das.
»Willkommen in Italien, Signorina«, sagte er in akzentschwerem Englisch. Er trug eine Mütze, die aussah wie ein Papierschiffchen, und weiß-rote Kleidung. Sie verstand nicht, warum lächerliche Hüte jemanden dazu verführen sollten, mehr Schokolade zu kaufen, aber irgendwer musste sich darüber Gedanken gemacht haben.
»Ciao. Den da bitte.« Sie suchte einen Riegel aus, den letzten dieser Sorte, und bemerkte, dass der schwarze Nagellack auf ihrem Zeigefinger abgesplittert war. Sie schob rasch den Mittelfinger darüber, aber der sah nicht viel besser aus. Offenbar hatte sie im Schlaf wieder an etwas gekratzt.
Der Verkäufer hatte ein nettes Gesicht und seine Freundlichkeit hatte nichts Zudringliches. Er bückte sich, um einen neuen Riegel hinter der Theke hervorzufischen. Sie nutzte es aus, um unbemerkt vier andere in die Jackentasche zu stopfen. Dann bezahlte sie den einen, den er ihr hinhielt, schenkte ihm ein Lächeln und ging zurück zu ihrem Platz zwischen den überfüllten Stuhlreihen.
Eines der dicken Touristenkinder saß darauf und grinste sie herausfordernd an. Sie wünschte sich den Tacker herbei, sagte aber nichts und suchte sich ein freies Stück am Boden unter dem Fenster. Sie legte sich mit angezogenen Knien auf ihre Jacke, zupfte ihr Kleid zurecht, schob sich die schwarze Reisetasche unter den Kopf und schloss die Augen.
Als sie erwachte, war es hell und die Schokolade unter ihrem Körper geschmolzen. Sie warf alle Riegel ungeöffnet fort, den bezahlten und die vier gestohlenen. Der Junge auf ihrem Platz sah fassungslos zu, wie die Süßigkeiten im Abfall verschwanden. Der Verkäufer winkte ihr zu, als sie an ihm vorüberging. »Schöner Hut«, sagte sie.
Bei der Kontrolle am Gate sprach eine Stewardess sie an. Norditalienerin, dem Dialekt nach.
»Rosa Alcantara?« Die Frau war zu stark geschminkt und sah aus, als würde sie sich nach einer Notlandung als Erste in Sicherheit bringen, um ihr Deo aufzufrischen.
Rosa nickte. »Das ist der Name, der da draufsteht, oder?«
Die Stewardess blickte auf das Ticket, tippte etwas in einen Computer und sah Rosa mit gerunzelter Stirn an.
»Ich war’s nicht«, sagte Rosa.
Die Runzeln vertieften sich.
»Die Granaten in meinem Koffer. Muss mir einer untergeschoben haben.«
»Nicht witzig.«
Rosa zuckte gleichgültig die Achseln.
»Wir haben Sie ausrufen lassen. Über Lautsprecher.«
»Ich hab geschlafen.«
Die Stewardess schien zu überlegen, ob Rosa wohl Drogen nahm. Hinter ihr in der Schlange plärrte ein Kind. Jemand murrte ungeduldig. Eine zweite Flugbegleiterin schleuste die übrigen Passagiere an Rosa vorbei. Alle starrten sie an, als hätte man sie bei dem Versuch ertappt, die Maschine zu kapern.
»Also?«, fragte Rosa.
»Ihr Koffer –«
»Ich sag’s doch.«
»– ist versehentlich beschädigt worden. Beim Transport. Schwer beschädigt.«
Rosa blinzelte. »Kann ich Ihren Laden dafür verklagen?«
»Nein. Das steht in den Geschäftsbedingungen.«
»Ich komme also ohne saubere Sachen in Sizilien an?« Und ohne Musik. Nur mit My Death.
»Die Gesellschaft bedauert den Verlust –«
So siehst du aus.
»– und er wird Ihnen selbstverständlich erstattet.«
»Ich hatte wahnsinnig teure Klamotten.« Sie strich über das alte Kleid ihrer Schwester, das sie seit zwei Jahren auftrug.
Die Stewardess verzog den Mund, ihr Kinn verschrumpelte. Es sah aus wie ein Pfirsichkern. »Wir haben Experten, die das feststellen können.« Und fast genüsslich fügte sie hinzu: »Anhand der Überreste.« Sie händigte Rosa ein Formular aus. »Rufen Sie die Nummer an, die daraufsteht, dann wird man Ihnen weiterhelfen. Unten können Sie Angaben zum Inhalt des Gepäckstücks machen.«
»Darf ich jetzt ins Flugzeug?«
»Natürlich.«
Als die Frau ihr die Bordkarte zurückgab, streiften Rosas Finger ihr Handgelenk. »Danke.«
Unten im Bus, eingezwängt zwischen anderen Passagieren, öffnete sie die Hand. Darin lag ein goldener Armreif. Rosa steckte ihn einer Japanerin in die Jackentasche und schob sich die Stöpsel ins Ohr.
Sie waren eine Dreiviertelstunde in der Luft, als der Mann neben ihr den Rufknopf für das Bordpersonal betätigte.
Überraschung, Überraschung, dachte Rosa, als die Stewardess vom Gate auf dem Gang erschien.
»Die Signorina weigert sich, die Jalousie vor dem Fenster zu öffnen«, sagte er. »Ich möchte die Wolken sehen.«
»Und sich dabei über mich beugen«, bemerkte Rosa, »und in meinen Ausschnitt glotzen.«
»Das ist lächerlich!« Der Mann sah sie nicht an.
Der Blick der Stewardess streifte zweifelnd ihr schwarzes Top.
»Das wird noch«, sagte Rosa beruhigend, »keine Sorge.«
»Ich will doch nur die Wolken sehen«, wiederholte der Mann.
»Mein Fensterplatz, meine Jalousie.«
»Irrtum. Das Fenster gehört nicht zu Ihrem Platz.«
»Und die Wolken nicht zum Unterhaltungsprogramm.«
Der Mann wollte sich aufplustern, aber die Stewardess lächelte mit dem Liebreiz einer Schaufensterpuppe. »Zwei Reihen weiter vorn ist ein Platz am Fenster frei. Den kann ich Ihnen anbieten. In ein paar Minuten bringe ich Ihnen einen Sekt vorbei. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.«
Der Mann öffnete unwirsch seinen Gurt und zwängte sich mit leisen Beschimpfungen hinaus auf den Gang.
»Wir Frauen müssen zusammenhalten«, sagte Rosa.
Die Stewardess schaute sich um, glitt auf den frei gewordenen Sitz und senkte die Stimme. »Hör zu, Kindchen. Ich kenne solche wie dich … Gib mir meinen Armreif.«
»Welchen Armreif?«
»Den du mir gestohlen hast. Die Frau in der letzten Reihe hat dich beobachtet.«
Rosa erhob sich halb und blickte über die Schulter. »Die mit den Diamantohrringen?«
»Gib ihn mir und wir vergessen das Ganze.«
Rosa sank zurück auf den Sitz. »Wenn diese Frau Ihre Tochter beschuldigen würde, irgendwelche Klunker gestohlen zu haben, würden Sie das dann glauben?«
»Versuch nicht –«
»Warum tun sie’s dann bei mir?«
Die Stewardess funkelte sie wütend an, schwieg einen Augenblick, dann erhob sie sich. »Ich melde das dem Kapitän. Bei der Landung in Palermo werden die Carabinieri auf dich warten.«
Rosa wollte etwas erwidern, aber eine Stimme aus der Reihe vor ihr war schneller: »Das glaub ich kaum.«
Rosa und die Stewardess wandten gleichzeitig die Köpfe. Ein Junge in Rosas Alter blickte über die Rückenlehne und schenkte ihnen einen ernsten Blick. »Ich hab einen Armreif am Gate liegen sehen. Auf dem Boden, gleich da, wo Sie gestanden haben.«
Rosa lächelte die Stewardess an. »Sag ich doch.«
»Kommt schon, das ist –«
»Aussage gegen Aussage.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Und was die Polizei angeht – so einfach ist das nicht. Der Kapitän wird Sie darüber belehren. Übrigens wartet der Mann in der Reihe vor mir auf seinen Sekt.«
Die Stewardess machte den Mund auf und zu wie ein Fisch, stand mit einem Ruck auf und ging.
Er schien die Frau im selben Moment zu vergessen und sah Rosa neugierig an. Abwartend.
»Warum kümmerst du dich nicht um deinen Scheiß?«, fragte sie freundlich.
Er sah gut aus, keine Frage.
Dabei besagte die Wahrscheinlichkeit genau das Gegenteil: Falls einem wirklich mal jemand zu Hilfe kam, sah er niemals gut aus. Kein norwegischer Popstar. Nicht mal der aknenarbige Quarterback vom Highschool-Team. Nur irgendein Kerl mit fettigen Haaren und Mundgeruch.
Er aber war anders.
Rosa musterte ihn zwei, drei Sekunden lang, dann stand sie auf. »Moment.«
Sie glitt hinaus auf den Gang und ging langsam zur letzten Reihe. Die Frau mit den Diamantohrringen blickte von ihrer Illustrierten auf.
»Falls das Flugzeug bei der Landung zerschellt«, sagte Rosa zuckersüß, »dann stehen die Chancen zweiundneunzig zu acht, dass alle Passagiere im hinteren Teil der Maschine lebendig verbrennen.«
»Ich weiß nicht, was Sie –«
»Wir anderen weiter vorn überleben wahrscheinlich. Vor allem die Bösen. Das Leben ist ungerecht und der Tod ist ein richtiger Scheißkerl. Trotzdem weiterhin guten Flug.«
Ehe die Frau etwas erwidern konnte, war Rosa schon wieder unterwegs zu ihrem Platz.
Der Junge hatte die Unterarme auf seiner Kopfstütze übereinandergelegt und beobachtete, wie sie sich setzte. »Was hast du zu ihr gesagt?«
»Dass wir bald landen.«
Seine Augen waren ungewöhnlich grün. Ihre eigenen waren gletscherblau, sehr hell. Falls er sie darauf ansprach, würde sie ihn ignorieren. Einfach so tun, als wäre er gar nicht da. Viel zu langweilig.
»Tut mir leid wegen deines Koffers«, sagte er, aber es klang nicht besonders mitfühlend. »Ich hab’s gehört, ich stand hinter dir.«
»Hast du ihn kaputt gemacht?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Dann braucht’s dir auch nicht leidzutun.«
Sie unterzog ihn einer Begutachtung, weil er ihr keine andere Wahl ließ. Die Jalousie zur Vorderreihe war noch nicht erfunden. Und er machte keine Anstalten, sich wieder hinzusetzen.
Er sah nicht sehr sizilianisch aus, auch wenn man ihm anhörte, dass er auf der Insel aufgewachsen war. Vielleicht war er nur froh, die Sprache wieder benutzen zu können, und betonte deshalb den Dialekt. Sie erinnerte sich jetzt, dass sie ihn schon am Flughafen in New York gesehen hatte. Ferien bei Verwandten, vielleicht. Oder Rückkehr nach einem Auslandssemester. Allerdings war er nicht viel älter als sie. Demnach konnte er noch keine italienische Uni besuchen. Vielleicht war es umgekehrt: Er ging in den Staaten aufs College und besuchte seine Familie in Italien.
Sein Gesicht kam ihr vertraut vor, auch wenn sie nicht hätte sagen können, ob sie ihm vor der Abreise schon einmal begegnet war. Eine schmale gerade Nase, dichte dunkle Brauen. Ein Aufblitzen von Zynismus in seinen Augen und um seine Mundwinkel. Er hatte winzige Grübchen, auch ohne zu lächeln. Seine Haut besaß einen leichten Goldton, ganz im Gegensatz zu ihrer eigenen. Rosa wurde niemals braun, trotz ihres italienischen Vaters. Den irisch-amerikanischen Teint hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Nichts sonst, hoffte sie inständig.
Sein dunkelbraunes Haar sah aus, als wäre er eben erst mit den Händen hindurchgefahren. Die strubbeligen Strähnen umrahmten ein Gesicht, das sie jetzt, als sie in Gedanken einen Schritt zurücktrat, darauf brachte, dass er etwas Aristokratisches an sich hatte. Nicht, dass sie Adelige von irgendwoher als aus dem Fernsehen kannte. Aber das Wort fiel ihr unwillkürlich zu ihm ein. Noch eine Spur mehr Symmetrie, ein wenig mehr Ebenmaß und Perfektion, dann wäre er beinahe zu schön gewesen, auch wenn sich seine Züge in den nächsten zwei, drei Jahren noch entwickeln mochten, vielleicht ein wenig rauer und härter wurden.
»Störe ich dich beim Lesen?« Er deutete auf das eingerollte Magazin, das sie zwischen Armlehne und Bordwand geschoben hatte. Sie kannte nicht mal den Titel. Sie hatte einfach eines von den Stapeln am Einstieg genommen, nur weil sie da lagen. Ihr üblicher Impuls.
»Nein«, sagte sie, zog das Heft aber hervor und legte es auf ihren Schoß.
»Interessant?«
Das amüsierte Blitzen in seinen Augen ließ sie seinem Blick auf das Titelbild folgen. Ein Ratgebermagazin für Männer. Zehn Tricks, um SIE glücklich zu machen stand als Aufmacher unter dem Foto eines Paares, beide wie aus Wachs gegossen. Und klein gedruckt: So bekommt SIE nie genug.
Rosa sah zu ihm auf. »Ich schreibe für die. Tipps und Erfahrungsberichte. Jemand muss es ja machen.«
»Ich soll dich in Ruhe lassen, oder?«
»Dann würde ich sagen: Kümmer dich um deinen Kram.«
Sein Blick wurde schattig. Er drehte sich um und wollte sich setzen.
»Hey«, sagte sie.
Er schaute über die Schulter.
»Warum fliegst du nach Sizilien?«
»Familienangelegenheiten.«
Damit verschwand er aus ihrem Blickfeld. Sie hörte, wie er sich auf seinem Sitz zurechtrückte. Seine Rückenlehne vibrierte leicht gegen ihre Knie und erzeugte ein ganz sanftes Kribbeln in ihren Beinen. Zugleich bekam sie eine Gänsehaut.
Sie schlug das Magazin auf und studierte die zehn Tricks.
Glücklicher machte sie das nicht.
* * *
Während der Landung in Palermo erspähte sie durch den Spalt zwischen den Vordersitzen, wie die Adern und Sehnen auf seinem Handrücken hervortraten. Seine Finger waren fest um die Armlehne geschlossen. Er hatte schmale, gebräunte Hände mit gepflegten Nägeln. Auf der anderen Seite seines Sitzes, zur Bordwand hin, schaute ein Stück seiner Lederjacke hervor. Rosa musste sich nicht einmal anstrengen, um in die Seitentasche zu blicken.
Einen Moment später hielt sie seinen Reisepass in den Fingern. Alessandro Carnevare. Drei Monate älter als sie, in ein paar Wochen würde er achtzehn. Geboren in Palermo. Seine Postanschrift war auffällig: Castello Carnevare. Genuardo. Keine Straße und Hausnummer. Den Namen des Ortes hatte sie nie gehört, aber das bedeutete nichts. Sie war vier gewesen, als ihre Mutter sie mit nach Amerika genommen hatte. Seitdem war sie nicht mehr auf Sizilien gewesen.
Alessandro Carnevare.
Sie ärgerte sich, weil er sie so wortkarg abgespeist hatte. Familienangelegenheiten. Die hatte sie auch. Keine unkomplizierten.
Statt den Pass zurück in seine Jacke zu stecken, ließ sie ihn beim Verlassen der Maschine auf einen leeren Sitz am Ausstieg fallen. Sollte das Personal entscheiden, ob sie ihn zurückgaben. Nicht Rosas Problem.
Die Blicke der Stewardess brannten in ihrem Rücken, als Rosa die Gangway hinunterstieg. Sie blickte sich nicht um.
Familienangelegenheiten.
Sie fragte sich, ob Zoe einmal im Leben pünktlich sein würde.
* * *
Die Milchglastüren zischten auseinander und gaben den Blick auf die Wartenden frei. Hinter der Absperrung standen Generationen sizilianischer Familien, mit verhutzelten Großmüttern in schwarzen Kleidern – Ich in achtzig Jahren, dachte Rosa verdrossen – und kleinen Schreihälsen mit Luftballons. Aufgetakelte junge Frauen, die auf ihre Ehemänner – oder Liebhaber – warteten. Eltern, die dem alljährlichen Besuch ihrer erwachsenen Kinder aus dem Norden entgegenfieberten. Anzugträger mit Sonnenbrillen und handgeschriebenen Namen auf Pappschildern.
Nur keine Zoe. Nirgends.
Rosa war die Erste, die in die Halle trat. Sie fragte sich einmal mehr, was die in Rom mit ihrem Koffer angestellt hatten. Dabei fiel ihr auf, dass sie den Zettel mit der Servicenummer verloren hatte. Schade, denn sie hatte aus Langeweile während des Fluges eine fantasievolle Liste mit Kleidungsstücken zusammengestellt.
Hitze empfing sie im Freien, sogar noch Anfang Oktober. Der Bereich vor dem Eingang war betonüberdacht, am Rand des Gehwegs parkten Taxis. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein niedriges Parkhaus. Durch seine Gitterstruktur konnte sie das Mittelmeer sehen, schäumende Gischt auf blauen Wellenkämmen. Der Flughafen Falcone e Borsellino, benannt nach zwei Richtern, die von der Mafia ermordet worden waren, lag auf einer Landspitze.
Auch hier keine Spur von Zoe.
Ihre Schwester war drei Jahre älter als sie, seit einem Monat zwanzig. Vor zwei Jahren war sie aus den Staaten hierher zurückgekehrt. Zoe war sieben gewesen, als ihr Vater Davide gestorben war; damals hatte die Familie gegen den Willen des Alcantara-Clans bereits eine Weile in den USA gelebt. Im Gegensatz zu Rosa hatte Zoe sich noch an vieles erinnern können. An das alte Familienanwesen zwischen knorrigen Olivenbäumen und Feigenkakteen. An ihre Tante Florinda Alcantara, die Schwester ihres Vaters und heute das Oberhaupt der Familie.
Für Rosa war ihre Tante nur ein verwischter Fleck in der Erinnerung, noch unwirklicher als ihr Vater, und auch mit ihm verband sie nur Empfindungen, kaum klare Bilder.
Um sie wälzten sich Menschenströme in den Flughafen und wieder hinaus. Verloren stand sie in der brütenden Hitze, inmitten der Abgaswolken von Taxis und Bussen, ließ ihre Reisetasche mit beiden Händen vor den Knien baumeln und suchte in sich nach einem Gefühl von Heimkehr.
Nichts.
Eine Fremde zu sein wäre nichts Neues gewesen, damit kannte sie sich aus. Sie wunderte sich nur, dass sie so gar nichts spürte.
Links von ihr, hinter der Taxireihe, parkte ein Militärjeep, auf dem sich ein paar bewaffnete Soldaten langweilten. Sie hatte gehört, dass in Italien die Armee zur Unterstützung der Polizei eingesetzt wurde. Aber sie so offen dastehen zu sehen, die Maschinenpistolen wie Umhängetaschen über den Schultern, war ungewohnt. Einer der jungen Männer sah sie allein in der Sonne stehen und stieß einen anderen an. Die beiden Soldaten grinsten.
»Keine Sorge«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihr, »die schießen nur auf Mafiosi.«
Alessandro Carnevare war mit einem schwarzen Rollkoffer zu ihr auf den Bürgersteig vor der Flughafenhalle getreten. Er musste seinen Pass zurückbekommen haben, sonst hätte er die Einreisekontrollen nicht so schnell hinter sich gebracht.
»Alessandro«, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen. Seine Finger waren jetzt nicht mehr verkrampft wie bei der Landung. Geschmeidig und kraftvoll.
»Rosa.«
»Holt dich jemand ab?«
»Meine Schwester. Falls sie’s nicht vergessen hat.«
»Wir können dich mitnehmen.«
»Wir?«
Er deutete auf eine schwarze Limousine, die in diesem Augenblick unweit des Eingangs anhielt. Rosa sah gerade noch ein auf den Asphalt gemaltes Parkverbots-Zeichen unter dem Wagen verschwinden. Niemand kümmerte sich darum. Die Soldaten kauten Kaugummi und warfen neugierige Blicke auf die blitzende Luxuskarosse. Erst die Motoren, dann die Mädchen. Sie war heilfroh darüber.
»Also?«, fragte Alessandro.
»Zoe müsste jeden Moment hier sein.«
»Zoe?« Er legte den Kopf schräg. »Seid ihr Amerikanerinnen?«
»Hier geboren, in Brooklyn aufgewachsen.« Sie trat einen halben Schritt zurück, weil so viel Nähe sie nervös machte. Seltsamerweise vollzog er im selben Moment die gleiche Bewegung, so dass mit einem Mal fast zwei Meter Abstand zwischen ihnen lagen.
»Natürlich!«, sagte er in plötzlichem Begreifen. »Zoe Alcantara. Ihr seid die Verwandten von Florinda Alcantara, oder?«
»Nichten. Sie ist unsere Tante.«
Die Tür der Limousine schwang auf. Die Scheiben waren rundum verspiegelt. Der Fahrer, der nun ausstieg, sah erstaunlich jung aus. Schwarze, ziemlich wilde Haare, nicht älter als achtzehn. Ein schwarzes Hemd, lose über dem Hosenbund, und schwarze Jeans. Braune Augen, die sie fixierten und dann blitzschnell woandershin sahen. Er kam herüber, schüttelte Alessandro die Hand und wollte schon nach seinem Koffer greifen.
»Fundling«, sagte Alessandro. »Das ist Rosa Alcantara … Rosa, Fundling.«
Bei der Erwähnung ihres Nachnamens hob der Junge mit dem sonderbaren Namen eine Augenbraue, reichte ihr fahrig eine Hand, zog sie aber gleich wieder zurück, als sie nicht schnell genug danach griff. »Ciao«, sagte er knapp und zog Alessandros Gepäck zum Kofferraum des Wagens.
Sie musterte ihn verwundert, obwohl sie ihn nicht unsympathisch fand, aber dann beanspruchte Alessandro von neuem ihre Aufmerksamkeit. »Nimm’s ihm nicht übel«, sagte er.
»Tu ich nicht.«
»Wir setzen dich am Palazzo deiner Tante ab, wenn du willst. Ist kein Umweg.«
Sie trat auf der Stelle, reckte den Hals und schaute sich vergeblich nach Zoe um.
Sie war nach Sizilien gekommen, um Ruhe zu finden. Um allein zu sein und nachzudenken. Neue Leute kennenzulernen war nicht gerade eine ihrer Prioritäten. Dass es nun doch dazu gekommen war, entzog sich ihrer Kontrolle, und sie hasste das. Innerlich kämpfte sie darum, wieder die Oberhand zu gewinnen. Tu nur, was du willst. Lass dich nicht drängen.
»Es ist natürlich deine Entscheidung«, sagte er mit einem Lächeln. Er hatte keine Ahnung, was er damit anrichtete.
Um sie schien sich die Luft um mehrere Grad abzukühlen. »Nein«, entgegnete sie abweisend. »Nicht nötig.«
Und damit drehte sie sich um und ging an der Reihe der Autos entlang. Gott, wie sie diesen Satz verabscheute. Es ist deine Entscheidung. Vor einem Jahr hatte sie ihn viel zu oft gehört.
Ihre Entscheidung. Sie wünschte, das wäre es jemals gewesen. Ganz allein ihre Entscheidung.
Beinahe erwartete sie, dass Alessandro ihr etwas nachrufen würde. Dass er versuchte sie aufzuhalten. Aber das tat er nicht. Auch sie blickte sich nicht um.
Einige Augenblicke später fuhr die Limousine im Schritttempo an ihr vorüber. Rosa konnte nicht anders, als hinzuschauen. Doch sie sah nur sich selbst in den verspiegelten Scheiben, mit ihrem schwarzen kurzen Kleid und den zerzausten langen Haaren.
Dann war der Wagen vorbei, fuhr zügig die Straße entlang und bog ab Richtung Autobahn.
Ihr wurde schwindelig.
Die Soldaten lachten wieder.
Sie ließ die Reisetasche fallen und musste sich abstützen.
Im selben Moment entdeckte sie Zoe. Ihre Schwester eilte mit großen Schritten auf sie zu, strahlte sie an und sagte etwas, das zeitverzögert und mit einem seltsamen Hall an Rosas Ohren drang, wie eine leiernde Vinylplatte.
Sie lehnte sich auf den glühend heißen Kotflügel eines Taxis, keuchte vor Schmerz – und auf einen Schlag war die Welt wieder die alte. Die Fahrzeuge bewegten sich schneller, der Lärm kehrte zurück, ihr Schwindel verschwand.
Zoe zog sie an sich und umarmte sie. »Gut, dass du endlich da bist.«
Rosa roch Zoes Parfum, ein anderes als damals. Sie sagte ein paar Dinge, von denen sie annahm, dass sie von ihr erwartet wurden – dass sie sich freute hier zu sein und dass sie es gar nicht hatte erwarten können. Das war nicht gelogen, nur ein bisschen übertrieben.
Sie lösten sich voneinander, und nun hatte Rosa Gelegenheit, ihre Schwester genauer zu betrachten. Während der vergangenen zwei Jahre hatte sie Zoe nur auf einer Handvoll Fotos gesehen, die sie ihr geschickt hatte. Sie war einen halben Kopf größer als Rosa, daran würde sich auch nichts mehr ändern. Zoe hatte das gleiche blonde Haar, lang bis auf den Rücken, aber stufig geschnitten; obwohl es natürlich aussah, erkannte Rosa, dass es sorgfältig frisiert war. Auch Zoes Make-up war mit einiger Raffinesse aufgetragen, sehr dezent, aber wirkungsvoll. Nicht mal ein Hauch von Schweiß war auf ihrer Stirn und ihren Wangen zu sehen, trotz der Hitze.
Rosa selbst hatte das Gefühl, in einer Pfütze zu stehen, so sehr schwitzte sie. »Du bist dünn geworden«, stellte sie fest. Mager wäre das richtige Wort gewesen.
»Das sagst ausgerechnet du?« Zoe lächelte und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Rosa hatte den Eindruck, dass sie das nur tat, um ihre hohlen Wangen zu füllen. Aber es gab anderes zu bereden. Den Flug, den Jetlag, den kaputten Koffer.
Zoe hatte ihrer Mutter schon immer sehr ähnlich gesehen und nun als Zwanzigjährige bestätigte sich die Vermutung, dass Gemma Alcantara – oder Gemma Farnham, wie sie sich heute wieder nannte – eine Doppelgängerin zur Welt gebracht hatte. Bei Rosa war die Ähnlichkeit längst nicht so ausgeprägt wie bei ihrer Schwester. Keine der beiden war besonders stolz darauf und als Kinder hatten sie sich oft gewünscht, dass der väterliche Anteil, das Italienische, stärker durchgeschlagen wäre. Wie sie überhaupt ihre Wurzeln im fernen Sizilien gern und immer wieder heraufbeschworen hatten, in Träumereien von eigenen Pferden und Ausritten zwischen Palmen und Kakteen, prachtvollen Festen in marmornen Ballsälen und Ausflügen auf Segeljachten.
Im Parkhaus führte Zoe sie zu einem gelben Nissan, den ein Aufkleber an der Heckscheibe als Mietwagen kennzeichnete. Rosa war zu geschafft, um sich darüber zu wundern. Sie warf ihre Reisetasche auf die Rückbank, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und streckte ihre Beine aus, so gut es eben ging.
Ein Mann in einer scheußlichen Schlangenlederjacke zog einen Koffer an ihnen vorbei und verschwand zwischen den geparkten Fahrzeugen. Als Rosa ihm amüsiert nachblickte, schüttelte Zoe den Kopf und sagte leise: »Wahre Schlangen tragen ihre Schuppenhaut nach innen.«
Ein paar Minuten später rasten sie auf der Autobahn nach Süden. Links von ihnen erhoben sich schroffe Felsen und Weinberge, rechts schimmerte hinter dem flachen Ufer das Tyrrhenische Meer. Zwischen den Leitplanken auf dem Mittelstreifen wucherte Oleander. Es war früher Nachmittag, die Sonne brannte steil vom klaren Himmel herab und die fehlenden Schatten raubten dem Land alle Konturen. Palmen und haushohes Schilf rauschten hinter den Scheiben vorüber, flossen verschwommen ineinander.
Zoe redete unablässig davon, wie gut es ihr hier gefiel, aber schon bald nickte Rosa ein. Sie träumte, dass sie verfolgt wurden und Zoe mit waghalsigen Überholmanövern versuchte den anderen Wagen abzuhängen. Als sie erwachte, vielleicht nur ein paar Minuten später, fuhr der Nissan auf der linken Spur. Zoe wirkte noch immer gelöst und glücklich über ihr Wiedersehen.
»Hier«, sagte sie, als sie bemerkte, dass Rosa aufgewacht war, »das ist für dich.« Sie reichte ihr eine kleine Schachtel mit einer Schleife. Darin lag ein vergoldetes Handy. In die Tasten waren winzige Edelsteine eingelassen.
»Dein altes kannst du hier nicht benutzen«, erklärte Zoe. »Andere Frequenzen als in den Staaten. Und dass du nur ja angemessen beeindruckt bist – ich hab es selbst für dich ausgesucht.«
»Und so stilsicher.« Erst als Rosa das sagte, wurde ihr klar, dass Zoe es ernst meinte: Sie fand dieses Ding tatsächlich schön. Mit einem Anflug von Reue beugte sie sich zu ihrer Schwester hinüber und küsste sie auf die Wange. »Danke. Lieb von dir.«
Sie nahm das Handy aus der Schachtel, schaltete es ein und entdeckte, dass Zoe ein Foto ihres toten Vaters als Hintergrundbild gespeichert hatte. Er war ein attraktiver Mann gewesen, schwarzhaarig, sehr südländisch.
»Danke«, wiederholte sie.
»Da ist noch was drin«, sagte Zoe.
Rosa schob das Handy in ihre Jackentasche und fand am Boden der Schachtel einen Personalausweis und einen Führerschein. Beide waren auf ihren Namen ausgestellt. Als sie Zoe mit erhobener Braue einen Seitenblick zuwarf, lächelte ihre Schwester. »Das Geburtsdatum«, sagte sie.
Einunddreißigster Januar, das stimmte. Nur das Jahr war falsch. Beide Dokumente machten sie ein Jahr älter. Damit war sie volljährig.
»Das haben hier alle«, sagte Zoe lachend. »Ist nichts Besonderes. Auto fahren kannst du doch, oder?«
Rosa hatte ihren Führerschein kurz nach Zoes Abreise gemacht, mit sechzehn, wie es üblich war in Amerika. »Ich kann auch Autos klauen.«
»Das überlassen wir hier anderen«, erklärte Zoe ganz ernsthaft. »Das und noch ein paar Dinge. Die Familie kommt kaum damit in Berührung.«
Die Familie. Natürlich. Ihre Mutter hatte in den Alcantara-Clan eingeheiratet, wohl wissend, auf was sie sich einließ. Erst später war es zum großen Bruch zwischen Gemma Alcantara und dem Clan gekommen, nachdem sie und Davide in Amerika mit ihren Töchtern ein neues Leben begonnen hatten. Skrupel, vielleicht Angst vor Abhängigkeit hatten sie nach Davides Tod davon abgehalten, von ihrer Schwägerin Florinda Unterstützung für die beiden Mädchen anzunehmen. Rosa und Zoe hatten sich damit abfinden müssen, dass Geld immer knapp war. Erst vor kurzem hatte Rosa erfahren, dass Florinda Zoe dann und wann heimlich Schecks geschickt hatte; und dass ein Teil davon für sie bestimmt gewesen, aber nie bei ihr angekommen war. Sie nahm es ihrer Schwester nicht übel. Als Kinder mochten sie gemeinsam vom märchenhaften Reichtum der Alcantaras geträumt haben, aber mittlerweile hatte Rosa jedes Interesse an Geld und Prestige verloren. Es genügte ihr, einige von Zoes besseren Kleidern aufzutragen; mit vierzehn oder fünfzehn hatte sie sich darin reif und erwachsen gefühlt. Erst vor einem Jahr hatte das Schicksal die Sache mit dem Erwachsensein eine Spur zu wörtlich genommen.
Zoe war auf der Suche nach einem anderen, bequemeren Leben mit achtzehn zurück nach Sizilien gegangen. Rosa hingegen lockten das viele Geld und die Aussicht auf Luxus nicht. Sie wollte hier zu sich selbst finden, sagte sie sich an guten Tagen. Davonlaufen, an den schlechten.
Ein Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Zoe überholte einen Viehtransporter. Strauße mit gesträubtem Gefieder blickten durch das Lattengitter. »Wir wär’s, wenn du Mom eine SMS schickst, dass du gut angekommen bist?«
»Später. Vielleicht.«
* * *
Sie waren keine halbe Stunde gefahren, als Zoe die Autobahn verließ, einer gewundenen Landstraße durch Weinberge folgte und schließlich auf eine Schotterpiste abbog. Sie führte hinauf zu einer kahlen Erhebung.
Dort oben wartete ein Helikopter.
»Haben das auch alle hier?«, fragte Rosa.
Zoe ließ den Schlüssel stecken und holte Rosas Reisetasche vom Rücksitz. Gemeinsam gingen sie zum Hubschrauber. Der Pilot begrüßte sie einsilbig und half ihnen beim Einsteigen. Zoe schenkte ihm dafür ein hinreißendes Lächeln, aber Rosa war zu müde für solche Höflichkeiten. Beide bekamen Ohrenschützer, die wie dick gepolsterte Kopfhörer aussahen, und mussten sich anschnallen, bevor der Hubschrauber vom Boden abhob.
Als Rosa zurück nach unten blickte, sah sie eine lang gestreckte Staubwolke, die sich von der Landstraße den Hügel heraufzog. Ein zweiter Wagen hielt neben dem abgestellten Nissan. Ein Mann und eine Frau stiegen aus, beide mit Lederjacken und Sonnenbrillen. Der Mann telefonierte, während er zum Himmel hinauf gestikulierte.
»Sie geben sich keine große Mühe«, brüllte Rosa über den Lärm des Helikopters hinweg.
Zoe schüttelte den Kopf. »Wir sollen wissen, dass sie uns beobachten. Irgendeine neue Strategie der Staatsanwaltschaft. Rund um Palermo und Catania ist es besonders schlimm. In den Bergen und anderswo sind sie nicht ganz so dreist. Es ist wie ein Spiel – eigentlich wissen sie genau, wohin wir unterwegs sind.«
Rosa stellte fest, dass ihr Puls nur mäßig beschleunigt war. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Der Flug im Helikopter war aufregender als die Tatsache, dass Polizei und Staatsanwaltschaft die Alcantaras observierten.
Mit zwölf war sie zum ersten Mal verhört worden, obwohl sie damals schon seit acht Jahren keinen Kontakt mehr zum Clan ihres Vaters gehabt hatte. Ein zweites Mal mit vierzehn, und seither jährlich. Hätte ihre Mutter sich einen vernünftigen Anwalt leisten können, hätte er das womöglich unterbunden. So aber ließen sie es einfach über sich ergehen, von Mal zu Mal gelangweilter.
Hätten sie etwas zu verheimlichen gehabt, hätte das die Sache zumindest spannend gemacht. So aber antworteten sie auf alle Fragen mit »Nein« und »Keine Ahnung«, jemand machte Haken auf einem Bogen Papier, ein anderer übersetzte für den italienischen Richter und danach gingen sie alle ihrer Wege.
Wirklich, es gab Weltbewegenderes als eine Familie, die seit Generationen zur Mafia gehörte.
* * *
Sie flogen über eine atemberaubende Landschaft aus steilen Hängen, schroffen Felsformationen und ockerfarbenen Flecken, die sich im Näherkommen als Gewimmel winziger Häuserklötzchen entpuppten. Bergdörfer klammerten sich an steile Felswände, hingen wie Adlernester über bodenlosen Klüften. In den Tälern sah man endlose Reihen aus Weinreben, dann und wann Zitronenplantagen und verdorrte Weiden. Enge Straßen verliefen in verschlungenen Serpentinen von Ort zu Ort, manche endeten im Nirgendwo.
Je tiefer sie ins Innere der Insel kamen, desto sonnenverbrannter und leerer wurde das Land. Am auffälligsten waren die zahllosen Ruinen verlassener Gehöfte, Überbleibsel einer Zeit, als darin die Bauern und Tagelöhner der Großgrundbesitzer gelebt hatten. Heute waren die einen wie die anderen verschwunden und niemand machte sich die Mühe, die letzten Erinnerungen an diese Zeit zu beseitigen. Wind und Wetter erledigten das irgendwann von allein.
Rosa war überwältigt von der rauen Anmut dieses Landes. Hin und wieder sahen sie auf Bergkuppen am Rand der Dörfer heruntergekommene Villen, manche befestigt wie Burgen, mit zinnenbewehrten Mauern und Wehrtürmen, mit Kapellen und eigenen Friedhöfen. Zoe erklärte ihr über den Lärm hinweg, dass man vielen dieser uralten Gemäuer noch den Einfluss der Araber ansah, die Sizilien vor langer Zeit besetzt hatten.
Einmal flogen sie über geborstene Säulen und Tempeltrümmer, die wie eine Miniatur der Akropolis aussahen, schließlich über den Steintrichter eines antiken Amphitheaters. Nirgends rund ums Mittelmeer gebe es derart viele griechische Ruinen auf so engem Raum, sagte Zoe. Die Insel war einst eine Kolonie der Griechen und nicht ohne Grund hieß es, dass viele Abenteuer des Odysseus an den Küsten Siziliens stattgefunden hatten. »Ungeheuer gab es hier schon immer«, rief Zoe, während sie einmal mehr Rosas Ohrenschützer anhob, »nicht erst seit der Cosa Nostra.«
Irgendwann wurde das Land wieder grüner. Ginsterbüsche, Oleander und Kakteenfelder gingen in lichte Wälder über. Der Pilot gab ihnen ein Zeichen und gleich darauf senkte er die Flughöhe. Der Helikopter drehte eine weite Runde über einem Hang voller Olivenbäume.
Das ist es, formte Zoe stumm mit den Lippen.
Rosa presste die Nase ans Glas und sah unter sich das Ziel ihrer Reise. Genau das, was sie gesucht hatte. Jede Menge Einsamkeit.
Palazzo Alcantara.
Willkommen«, sagte die hochgewachsene Frau, als die Schwestern den Rand der Wiese erreichten und das Rotorengeräusch des Helikopters in ihrem Rücken erstarb.
Vor dem Hintergrund des barocken Anwesens wirkte Florinda Alcantara wie eine Erscheinung aus vergangenen Tagen. Sie stand im Schatten einer mächtigen Kastanie, wie es sie hier zu Dutzenden gab; sie bildeten einen dunklen Wall vor den knorrig verdrehten Olivenbäumen.
Florinda war Mitte vierzig und besaß die süditalienischen Züge ihrer Vorfahren. Ihre hohen dunklen Brauen verliehen ihr einen strengen Zug, während die vollen Lippen etwas sehr Sinnliches hatten. Das hochgesteckte Haar, eigentlich schwarz, hatte sie hellblond gefärbt. Der Ansatz war nachgedunkelt.
Die Herzlichkeit ihrer Umarmung war eine Überraschung. Ebenso der Kuss, den sie Rosa auf die Stirn gab. »Wir haben uns sehr auf dich gefreut«, sagte sie und ihr Strahlen warf Rosas ersten Eindruck gründlich über den Haufen. Wenn Florinda lächelte, wirkte sie liebenswürdig und warmherzig. Nur wenn sie ernst dreinschaute, lag eine bedrückende Düsternis in ihrem Blick. Dann sah sie aus, als plagten sie Sorgen, und das nicht erst seit gestern.
Auf dem Weg zum Haus warf Rosa einen Blick zurück zum Helikopter. Jetzt fiel ihr auf, dass an vielen Stellen Lack abgeplatzt war. Eine dünne Rauchfahne, die sich aus dem Getriebe des Heckmotors kräuselte, beschäftigte den Piloten. Er stand breitbeinig davor im Gras, hatte die Hände in die Seiten gestemmt und begutachtete den Schaden. Wenig später hörte sie ihn mit einem Hammer auf Blech schlagen.
Das Landgut der Alcantaras umwehte die welke Pracht früherer Jahrhunderte. Die breite Fassade beschattete einen Kiesplatz, in dessen Mitte sich ein gewaltiger Brunnen erhob. Kein Wasser floss aus den Mündern der steinernen Faune. Beim Näherkommen entdeckte Rosa in dem ausgetrockneten Becken Dutzende leere Vogelnester; jemand musste sie aus den Bäumen gepflückt und hier gesammelt haben.
Schmiedeeiserne Balkone dominierten die Front des Anwesens. Die Wand war mit kunstvollen Stuckarbeiten besetzt. Figuren aus hellbraunem Tuffstein bewachten den Vorplatz von ihren Nischen aus. Die meisten Bildhauereien waren beschädigt, fast alle mit Moos und Flechten bewachsen.
Florinda führte sie durch einen hohen Rundbogen unter dem vorderen Teil des Gebäudes hindurch. Nach dem Tortunnel – zehn Meter, auf denen es erstaunlich kühl wurde und nach schimmeligem Verputz roch – öffnete sich ein sonnenbeschienener Innenhof. In der Mitte befand sich ein großes Beet, ungepflegt und voller Unkraut. Das Haupthaus des Palazzo dahinter war höher als die drei anderen Flügel. Die gleichen Stuckverzierungen, Eisenbalkone und Bildhauereien wie an der Außenfassade. Zwei breite Steintreppen mit wuchtigen Geländern führten von rechts und links hinauf zum Haupteingang im ersten Stock. Ein Teil des halbrunden Portals stand offen.
Florinda erkundigte sich nach dem Flug und dem Umsteigen in Rom; sie selbst halte die ganze Prozedur für eine Zumutung, sagte sie. Rosa konnte nur zustimmen.
»Deine Schwester hat mir erzählt, dass du Vegetarierin bist«, sagte Florinda, während sie mit den beiden die Treppe zum Eingang hinaufstieg. Die Farbe der Türflügel war abgeblättert. Eine Eidechse huschte vor ihnen über das aufgeheizte Gestein und verschwand im Gebäude.
»Schon seit Jahren.«
»Ich kann mich nicht erinnern, schon mal von einem Alcantara gehört zu haben, der kein Fleisch mochte.«
»Immerhin mag irgendwer hier keine Vögel.«
Florinda schwieg, während sie die letzte Stufe nahm.
Zoe warf Rosa einen Seitenblick zu. »Florinda stört das Gezwitscher. Die Gärtner sind angewiesen alle Nester aus den Bäumen zu holen. Alle paar Wochen werden sie verbrannt, im Brunnenbecken, damit die Flammen nicht außer Kontrolle geraten können. Waldbrände sind hier ein ziemliches Risiko. Lass dich nicht von dem Grün in dieser Gegend täuschen. Im Sommer ist die ganze Insel ungeheuer trocken, erst recht wenn der Scirocco aus Afrika übers Meer bläst.«
»Scirocco?«
»Heiße Winde aus den Wüsten. Oft bringen sie Sand aus der Sahara mit sich.« Sie hob die Schultern. »Schlecht für die Haut.«
»Und die Nester –«
»Nur die Nester«, kam ihre Tante ihr zuvor. »Nicht die Vögel.« Jetzt setzte sie wieder ihr gewinnendes Lächeln auf. »Ich bin kein Unmensch.«
Sie betraten die Eingangshalle, die hoch und dunkel war und voller verblichenem Prunk. Florinda entschuldigte sich; sie müsse sich um die Vorbereitungen für das Abendessen kümmern. Offenbar kochte sie selbst. Vor acht Uhr, erklärte Zoe, nehme man auf Sizilien keine warme Mahlzeit zu sich.
Sie führte Rosa eine Steintreppe mit ausgetretenen Teppichstufen hinauf, dann durch lange Korridore in den rückwärtigen Teil des Haupthauses. Unterwegs begegneten sie keiner Menschenseele.
»Ich dachte, hier gibt es Angestellte.«
»Nicht viele«, sagte Zoe. »Florinda mag keine Fremden im Haus. Das war bei den Alcantaras offenbar schon immer so, auch bei unseren Großeltern und Urgroßeltern. Vormittags kommen ein paar Frauen aus dem Dorf hinter dem Berg zum Saubermachen, aber keine von denen lebt hier im Haus. Die beiden Gärtner sind für ein paar Stunden am Nachmittag da, aber das reicht kaum, um das Nötigste zu erledigen.«
»Vogelnester einsammeln?«
Zoe zuckte die Achseln.
Rosas Zimmer entpuppte sich zu ihrer Überraschung als heller, sonniger Raum, groß genug, um anderswo als Saal durchzugehen. Bis auf ein Himmelbett mit aufwendig geschnitzten Pfosten und eine antike Kommode mit marmornem Schminktisch war es leer. Eine Nebenkammer diente als begehbarer Kleiderschrank. Die Wände des Schlafzimmers waren mit alten Stofftapeten bedeckt. Neben der Tür hatte sich ein Stück gelöst, darunter kamen verblichene Malereien zum Vorschein.
»Dann will ich mal einräumen.« Mit großer Geste warf Rosa ihre Reisetasche in das Nebenzimmer, wo sie zwischen den leeren Regalwänden und Schränken liegen blieb.
Zoe redete ununterbrochen weiter. Von der Köchin, die manchmal allein kochte, oft aber auch nur Handreichungen erledigte, wenn Florinda sich persönlich der Zubereitung der Speisen widmete. Von dem Piloten des Helikopters, der in Piazza Armerina wohnte und eigentlich Automechaniker war. Und von den Wächtern, die in Florindas Auftrag durch die umliegenden Olivenhaine und Pinienwälder streiften.
»Das heißt, dass neunzig Prozent der Zimmer leer stehen, oder?«
»Eher fünfundneunzig. Nur nachts klingt es, als wären sie alle bewohnt. Es knackt und knirscht überall.«
Rosa flüsterte: »Das trostlose Erwachen des Opiumessers aus seinem Rausch … Vielleicht sollte ich mir die Fassade genauer ansehen und sichergehen, dass keine Risse darin sind.«
»Wie bitte?«
»Edgar Allan Poe. Der Untergang des Hauses Usher. Mit dem Erwachen des Opiumessers vergleicht der Erzähler das Gefühl, als er das Haus der Ushers zum ersten Mal vor sich sieht. Am Ende bricht der ganze Kasten auseinander … Schullektüre, Zoe. Kennst du nicht.«
Ihre Schwester kräuselte die Stirn. »Hier gibt’s jedenfalls keine Gespenster.«
»Madeleine Usher war kein Gespenst. Sie war scheintot und ihr Bruder hat sie lebendig begraben, bevor sie wieder aus ihrem Sarg gekrochen ist. Apropos: Wo ist die Familiengruft?«
Zoe betrachtete kritisch Rosas schwarz lackierte Fingernägel. »Du stehst noch immer auf diesen Horrormist.«
Rosa berührte sanft ihre Hand. »Zeigst du mir Dads Grab?«
* * *
Eine Granitplatte, zwischen vielen anderen eingelassen in einer Wand der Toten. Keine Bilder, keine Blumen, nur ein steinernes Schachbrettmuster aus gemeißelten Namen.
Davide Alcantara. Nicht mal Geburts- oder Todestag.
Die Gruft befand sich in einer Kapelle, die an den Ostflügel des Anwesens grenzte. Es gab eine Verbindungstür zum Haupthaus, aber Rosa bat ihre Schwester, außen herum zurückzugehen.
Im Freien roch es nach Ginster und Lavendel. Der Palazzo lag an einem Hang, der nach Osten hin sanft anstieg. Jenseits der Kastanien erstreckte sich der Pinienwald bis zum Bergkamm hinauf. Die weiten Olivenhaine begannen hangabwärts auf der Westseite, unterhalb der Panoramaterrasse, und waren von hier aus nicht zu sehen.
Etwas zog Rosas Blick an der Kapelle nach oben. Eine gusseiserne Glocke war über dem Portal in einer Nische der Fassade angebracht, alt und krustig schwarz, als hätte sie im Feuer gehangen.
»Hat da drin mal ein Vogel genistet?«
»Florinda mag eben kein Zwitschern. Du magst keine Menschen. Was soll’s?«
»Jeder mag singende Vögel.«
»Sie nicht.« Zoe winkte ab. »Und das mit dem Singen sieht sie anders, glaub’s mir.«
Rosa blickte noch einmal zu der schweren Glocke hinauf, dann zum offenen Eingang der Grabkapelle. »Ich hab ihn gar nicht gekannt. Nicht so wie du.«
»Er war in Ordnung, glaube ich.«
»Warum hat er dann Mom geheiratet?«
»Sie ist nicht so schlimm, wie du denkst.«
»Du warst nicht dabei.«
Zoe senkte den Blick. »Nein, war ich nicht. Tut mir leid.« Sie schwieg einen Moment. »Ich hätte dir helfen müssen.« Aber es klang, als wäre sie noch immer froh darüber, dass sie damals weit weg gewesen war.
Rosa nahm Zoe bei der Hand. »Komm, zeig mir die Umgebung.«
Gemeinsam umrundeten sie den Palazzo unterhalb der Kastanien. Zwischen den Bäumen sahen sie die schimmernden Scheiben eines Palmenhauses, das als lang gestreckter Glasfinger aus der Rückwand des Anwesens ragte. Rosa hatte es schon vorher bemerkt, von ihrem Zimmer aus; es lag genau unter ihrem Fenster.
An der Westseite, in den Ausläufern der Olivenhaine weiter unten am Hang, begegneten sie weder den Gärtnern noch den Wächtern des Anwesens. Rosa lief benommen, wie auf Watte, aber sie wusste, wenn sie sich jetzt ins Bett legte, würde sie nicht schlafen können.
»Florinda will, dass wir sie morgen begleiten«, sagte Zoe.
»Wohin?«
»So eine offizielle Sache. Familienpolitisch gesehen.«
»Eine Bank ausrauben?«
Eine steile Falte erschien zwischen Zoes Brauen. »Ich hab doch gesagt, damit haben wir nichts zu tun.«
»Wir kassieren nur Abgaben von denjenigen, die in unserem Gebiet die Verbrechen begehen, richtig?«
»Viele Geschäfte sind mittlerweile, na ja, sagen wir: halb legal. Weißt du, womit Florinda Jahr für Jahr ein kleines Vermögen verdient? Mit Windrädern. Überall in den Bergen, auf ganz Sizilien, lässt sie durch eine ihrer Firmen Windräder bauen, streicht Millionen an Fördergeldern aus Rom ein – und produziert nicht ein einziges Watt Strom. Die meisten drehen sich nicht mal im größten Sturm.« Als sie bemerkte, dass Rosa kaum noch zuhörte, seufzte sie. »Also, morgen, das ist eine Beerdigung. Alle müssen hin, jede Familie schickt ihre Vertreter. Einer der großen capi ist gestorben. Der Respekt verlangt, dass ihm alle die letzte Ehre erweisen, auch seine Feinde … Ehrenkodex, blablabla.«
»Seine Feinde?«, fragte Rosa. »Sind wir das?«
»Alcantaras und Carnevares sind sich seit jeher so was von spinnefeind. Aber es gibt eine Art Waffenstillstand, den niemand zu brechen wagt.«
Rosa blieb wie angewurzelt stehen. »Dieser Name.«
»Carnevare? Sie beerdigen morgen ihr Oberhaupt. Baron Massimo Carnevare.«
Die Watte unter Rosas Füßen gab ein Stück nach.
Familienangelegenheiten, hatte er gesagt.
Sie schlief bis weit in den Vormittag hinein. Nach dem Frühstück im Speisesaal erkundete sie das Gebäude. Im ersten Stock, dem primo nobile mit seinen Salons voller ausgebleichter Wandfresken und einem staubigen Ballsaal, begegnete sie einer der Haushälterinnen, die stundenweise versuchten, des Staubs der Jahrhunderte Herr zu werden. Die Frau grüßte einsilbig und huschte in einen der anderen Räume.
Im zweiten Stock entdeckte sie am Ende eines langen Korridors Florindas Arbeitszimmer, einen weiten Saal mit dunklen Holztäfelungen. Es gab keine Tür, nur einen offenen Rundbogen, durch den sie geradewegs auf den Schreibtisch blickte. Ein schmiedeeiserner Balkon überschaute den Innenhof des Palazzo. Die Glastür stand offen. Draußen war es still, nur ein paar Zikaden zirpten in dem verwilderten Beet unten im Hof.
Auf einem Seitentisch stand ein Computer. Rosa schaute sich um, und weil niemand da war, den sie hätte um Erlaubnis bitten müssen, setzte sie sich vor den Monitor. Als sie die Maus bewegte, erwachte er zum Leben.
Von einer Torrentseite lud sie My Death auf Florindas Desktop und legte das Lied als Hintergrund auf ihre MySpace-Seite. Ihre Angaben hatte sie seit über einem Jahr nicht aktualisiert und ihre Freundesliste war so tot wie die Namen auf den Grabkammern der Familiengruft. Bei Facebook das Gleiche. Sie checkte Twitter und ihre Mails, fand ein paar von den Leuten, mit denen sie sporadisch übers Netz kommunizierte – und nur übers Netz –, hatte aber keine Lust zu antworten und schloss das Programm gleich wieder. Anschließend zog sie die Musikdatei in den Papierkorb und leerte ihn.
Sie wollte gerade aufstehen und sich weiter im Palazzo umsehen, als ihr etwas einfiel. Sie öffnete abermals ihre MySpace-Seite, suchte in ihrem Profil und stieß auf den Satz »Wäre gern so selbstbewusst wie meine Schwester«. Es fühlte sich an, als hätte sie ihn vor hundert Jahren geschrieben, und sie erwog ihn zu löschen, zusammen mit all dem anderen Unsinn, der nichts mehr mit ihr zu tun hatte. Aber dann kam es ihr vor, als würde sie damit einen ganzen Menschen ausradieren, ihr altes Ich, die frühere Rosa von vor einem Jahr und davor.
Es war albern und kindisch, aber sie brachte es nicht über sich, ihr Profil einfach auszukehren wie ein Zimmer, das zu lange nicht mehr betreten worden war. Die Tür dorthin würde sie nie wieder öffnen. Zugleich faszinierte sie etwas daran: Rosa, wie sie früher einmal war, würde im Internet weiterexistieren, als hätte sich nichts geändert. Als wäre die Welt nicht für einen Moment stehengeblieben, um sich dann in eine ganz neue Richtung zu drehen.
Während Scott Walker vom Tod sang, starrte sie die Angaben einer Fremden an und ein Foto, auf dem sie sich alle Mühe gab, melancholisch und tiefgründig auszusehen. Mit einem Kopfschütteln ließ sie alles, wie es war, schloss den Browser ein zweites Mal und hatte das Gefühl, sich selbst gerade tief im Netz zu begraben, unter einer Granitplatte ohne Todestag.
Draußen knirschte Kies unter Autoreifen, als ein Wagen auf den Innenhof fuhr. Möglich, dass es Florinda war, die von irgendwoher nach Hause kam; im Palazzo war Rosa ihr am Morgen nicht begegnet.
Sie gab den Namen des verstorbenen Barons ins Suchfenster ein. Massimo Carnevare. Um sicherzugehen, schrieb sie dahinter den Ortsnamen, den sie in Alessandros Pass gelesen hatte. Genuardo.
Eine Autotür wurde zugeschlagen. Eilige Schritte.
Auf dem Bildschirm erschienen zahllose Einträge, die meisten im Zusammenhang mit allerlei Firmennamen. Der Großteil klang ehrbar und langweilig. Bauunternehmen, Import von Landwirtschaftsmaschinen, sogar eine Stiftung, die benachteiligte Kinder aus den Wohnsilos von Palermo und Catania unterstützte. Aber dazwischen auch Pressemeldungen über Gerichtsverhandlungen, Finanzskandale beim Bau von Regierungsgebäuden und angebliche Kontakte zu nordafrikanischen Drogenbaronen. All das hatte sie erwartet. Hätte sie Florindas Namen eingegeben, wären vermutlich ähnliche Stichworte aufgetaucht. Und Windräder, die sich niemals drehten.
Sie löschte den Vornamen Massimo und ersetzte ihn durch Alessandro.
Sie schaute kurz in Richtung des Eingangs, durch mehrere Räume bis zur anderen Seite des Flügels. Niemand zu sehen.
Enter.
Vor einem Jahr war Alessandro Mitglied der Leichtathletikmannschaft einer amerikanischen Privatschule im Hudson Valley gewesen. Dann Teilnahme an einem Nachwuchsforum für angehende Wirtschaftsjuristen. In Gedanken sah sie ihn in einem grauen Anzug, mit einem Laptop an einem Rednerpult, wie er andere Siebzehnjährige über die Faszination gefälschter Bilanzen belehrte.
Sie verlor gerade das Interesse, als sie an zehnter oder elfter Stelle auf einen Bericht über eine Spendengala in Mailand stieß. Der Artikel baute sich nervtötend langsam auf; die Datenleitungen im sizilianischen Hinterland ließen zu wünschen übrig. Erst erschien der Text, dann nach und nach die Bilder.
Alessandro lächelte ihr entgegen, das Haar so widerspenstig wie im Flugzeug. Er sah blendend aus, unerwartet elegant in einem dunklen Anzug. Nicht einmal das Blitzlicht konnte ihm viel anhaben. Am Kinn hatte er, wahrscheinlich vom Rasieren, eine Blutkruste. Gott sei Dank gab es keine Fotos von Rosas Schienbeinen.
Neben ihm stand ein Mann um die fünfzig, mit hohem schwarzen Haaransatz, dunklen Brauen und dem eingefrorenen Grinsen eines Politikers.
Baron Massimo Carnevare, stand darunter, mit seinem Sohn Alessandro.
* * *
Sie begegnete keiner Menschenseele, als sie den Palazzo verließ, den schattigen Ring der Kastanien durchquerte und den Rand der Olivenhaine erreichte. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock, ein schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug Bessere Lügner gibt es immer und ihre Metallkappenschuhe. Die Lackreste hatte sie am Morgen von ihren Fingernägeln entfernt.
Sie hatte noch auf einen weiteren Artikel geklickt, zu dem sie Alessandros Name geführt hatte, auch wenn es darin eher um seinen Vater und dessen Geschäfte zu gehen schien. Mehr als den ersten Satz hatte sie nicht lesen können, bevor es ihr zu brenzlig geworden war, in Florindas Computer herumzustöbern:
Allein in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts starben in Süditalien zehntausend Menschen durch die Mafia – dreimal mehr als im nordirischen Bürgerkrieg in fünfundzwanzig Jahren.
Wie viele dieser Opfer auf das Konto der Carnevares und Alcantaras gingen, wusste sie nicht. Heute würde sie vielen der Männer und Frauen begegnen, die für die Massaker der Cosa Nostra verantwortlich waren. Denjenigen, die schon damals Entscheidungen getroffen und Befehle gegeben hatten. Das machte sie ein wenig kribbelig, so als wäre sie am Nachmittag zum Weltkongress der Serienmörder eingeladen.
Gott, was zieh ich nur an?
Sie lächelte in sich hinein, weil das wahrscheinlich die Frage war, die Zoe sich seit Tagen stellte.
Mittlerweile war sie tief in die Olivenhaine vorgedrungen und schlenderte gedankenverloren zwischen den verkrüppelten Stämmen hangabwärts. Florindas Männer mussten in der Nähe umherstreifen – mit Sicherheit blieb das Anwesen zu keiner Zeit unbewacht –, aber sie entdeckte niemanden und war froh darüber.
Am Flughafen hatte Alessandro Carnevare ihr angeboten sie am Palazzo abzusetzen. Kein großer Umweg, hatte er behauptet. Blödsinn. Das Dorf Genuardo, zu dem der Stammsitz der Carnevares gehörte, war über eine Stunde von hier entfernt, so viel wusste sie mittlerweile. Hatte Alessandro sie nur als Vorwand benutzen wollen, um ungestört ins Herz eines gegnerischen Clans vorzudringen und später vor den Söhnen der anderen Bosse, der capi, damit zu prahlen? Sie traute ihm nicht.
Dabei lag das wahre Problem auf der Hand: Sie konnte sich selbst nicht mehr vertrauen. Das hatte sie lernen müssen, vor einem Jahr, und nun war sie gezwungen damit zurechtzukommen. Es war leichter, ihr Misstrauen auf andere abzuwälzen, als in den Spiegel zu schauen, den vorwurfsvollen Blick ihrer Kajalaugen-ohne-Kajal zu ertragen und sich zu sagen: Du bist es. Du bist das Problem.
Etwas bewegte sich. Rechts von ihr.
Sie blieb stehen und blickte angestrengt in das Raster aus Schatten und Sonnenschein. Ein Rascheln fauchte durch die Blätter. Hinter dem Gewirr einiger Feigenkakteen ertönte ein Knurren.
Sie versuchte etwas zu erkennen. Aber da war nichts. Nur Hell und Dunkel in harten Kontrasten, als wäre sie versehentlich von einem farbigen Fernsehprogramm in ein schwarz-weißes geraten.
Wieder das Fauchen. Das war nicht der Wind.
Aus dem Streifengitter von Licht und Dunkel glitt ein Tiger.
Seine Bewegungen waren so schnell, dass er von einem Augenblick zum nächsten vor ihr stand, den gelb-schwarzen Schädel erhoben, das Maul leicht geöffnet. Er sah ihr genau in die Augen.
Nichts rührte sich. Die Welt war wie erstarrt. Was Rosa gerade eben noch gedacht oder gefühlt hatte, war unwichtig geworden. Die Kreatur beherrschte ihr Denken und Empfinden. Nur sie und der Tiger. Nichts sonst.
Seine Klauen waren so groß wie ihr Kopf. Seine muskulösen Hinterbeine breiter als ihr Oberkörper. Seine Fänge glänzten von Speichel, der sich in schwarzen Lefzen sammelte. Er roch wie eine Mannschaftskabine nach einem Footballspiel.
Etwas war definitiv falsch. Sie wusste wenig über Europa und den Rest der Welt, doch dieser Anblick gehörte nicht hierher. Verwilderte Hunde und Hauskatzen, ja. Keine Tiger.
Eine Welle lief durch seinen Körper. Er setzte zum Sprung an.
Der Schwindel kehrte zurück, noch heftiger als bei ihrer Ankunft. Diesmal gab es keine glutheiße Karosserie, mit der sie sich Schmerzen zufügen konnte, um klar zu werden. Ein Traum, dachte sie. Ganz sicher nicht die Realität.
Sie wankte, drohte zu stürzen, hörte eine Stimme. Zoes Stimme. Von irgendwoher rief sie Rosas Namen.
Ich bin hier, dachte sie.
Ich und der Tiger.
Aber dann klärte sich ihr Blick und sie war allein, und was immer dort vor ihr gestanden hatte, war fort. Ein paar Olivenblätter rieselten von den unteren Zweigen. Eines legte sich sanft auf ihre Hand. Die Berührung war kaum spürbar.
»Rosa?«
Sie drehte sich um, noch immer im Kampf um ihr Gleichgewicht.
»Ich hab dich überall gesucht«, sagte ihre Schwester. »Was tust du denn hier?«
Kein Wort, dachte Rosa. Kein Wort über den Tiger. Oder sie werden glauben, dass du noch verrückter bist, als alle sagen, und schicken dich sofort nach Hause.
»Fuck, Rosa – du willst nicht in dem T-Shirt zur Beerdigung gehen, oder?«
* * *
Schwarze Limousinen reihten sich auf der schmalen Bergstraße aneinander. Im Schritttempo rollten die verspiegelten Luxuskarossen die Serpentinen hinauf, so langsam, als wären sie Teil einer gewaltigen Inszenierung.
Rosa blickte aus dem Seitenfenster und beobachtete, wie die endlose Reihe der Fahrzeuge weiter oben über den braunen Bergkamm kroch, schimmernde Umrisse vor dem tiefblauen Himmel.
»Sie kommen von der ganzen Insel«, sagte Zoe. Sie saß neben Florinda im weiträumigen Heck der Limousine. Rosa hatte die zweite Rückbank für sich allein und saß den beiden gegenüber.
»Warum kommen sie nicht mit ihren Helikoptern?«
»Pietät hat deine Mutter dir offenbar nicht vermittelt«, sagte ihre Tante.
»Die soll ich von dir und deinen Freunden lernen.«
Mit ihren riesigen Sonnenbrillen blickten Florinda und Zoe wie zwei Gottesanbeterinnen zu Rosa herüber. Mehr noch als zuvor kam sie sich wie eine Fremde vor, die nur versehentlich in diesen Wagen, in diese wilde, archaische Landschaft geraten war. Die enge Bindung zwischen den beiden war nicht zu übersehen. Obwohl Zoe ihrer Mutter so ähnlich sah, wirkten Florinda und sie in diesem Moment, ganz in Schwarz und mit identischen Sonnenbrillen, wie Zwillingsschwestern.
Rosa sah sich vierfach in schwarzen Gläsern gespiegelt. Ihr langes Haar war zu widerspenstig, um mit einer Bürste gebändigt zu werden. Sie hatte es mit einem Tuch am Hinterkopf hochgebunden, damit Zoe Ruhe gab und ihr keinen weiteren Vortrag über angemessene Kleidung und demutsvolles Auftreten hielt. Überhaupt, Demut – dass dieses Wort einmal über die Lippen ihrer Schwester kommen würde, hätte sie vor zwei Jahren für undenkbar gehalten.
Der Fahrer, einer der Männer aus dem Dorf, die seit Generationen für die Alcantaras arbeiteten, lenkte die Limousine in die nächste Kurve. Genuardo und das Castello Carnevare mussten ganz in der Nähe sein, aber beides hatte sie noch nicht zu sehen bekommen. Hinter einem der kahlen, sonnenverbrannten Hügel, vermutete sie. Hier gab es nichts als struppiges Gras, an dem da und dort Rinder kauten und verwundert der Fahrzeugkolonne nachblickten.
In einer Staubwolke erreichten sie den Bergkamm. Rosa rutschte zur anderen Seite ihrer Sitzbank und erblickte den Friedhof. Er war von einer drei Meter hohen Mauer umgeben und lag hier oben auf diesem Hügel als kantige, kompakte Festung, weiß und blassgelb wie die weite Landschaft, die sie seit einer Stunde durchquerten. Hinter der Mauerkrone ragten die spitzen Dächer zahlloser Familiengrüfte empor, ein Wald aus Steinkreuzen und Heiligenfiguren. In Süditalien war es Sitte, dass wohlhabende Familien ihren Toten aufwendige Kapellen als letzten Ruheort errichteten, und auf den Friedhöfen reihte sich eines dieser reich verzierten Bauwerke an das andere.
Ein warmer Wind bog die Wipfel der Zypressen jenseits der Friedhofsmauer. Für eine ländliche Gegend wie diese war der cimitero von Genuardo erstaunlich groß.
Zehntausend Tote in zehn Jahren, erinnerte sich Rosa. Wahrscheinlich gab es auf Sizilien eine ganze Menge großer Friedhöfe.
Die Wagenkette schob sich weiter. Rosas Blick strich über den abgeplatzten Verputz der Mauer. Hin und wieder gab es Lücken, verschlossene Gittertore, durch die sie in Gassen zwischen den Gräbern blicken konnte. Einige der einfacheren Grabstätten waren auffällig geschmückt und mit Spielzeug behangen, mit sonnengebleichten Puppen und wettergebeutelten Stofftieren. Außer den Zypressen gab es keine weiteren Bäume. Die Sonne entzog Mauern und Landschaft alle Farben.
»Sieh dir das an«, sagte Zoe.
Vor einem Grab, unmittelbar hinter einem der Gittertore, stand gebückt eine Gestalt, von Kopf bis Fuß ins Schwarz der einfachen Landfrauen gekleidet.