Glückssehnsucht - Andrea Hinze - E-Book

Glückssehnsucht E-Book

Andrea Hinze

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Beschreibung

Auf der Suche nach dem wahren Glück – Tauche ein in Thomas und Sarahs bewegendes Liebesabenteuer! Was, wenn dein Leben gar nicht so erfüllt ist, wie du bisher angenommen hast? Was, wenn du auf einmal mehr willst? Was, wenn du dir allein plötzlich nicht mehr genügst? Thomas' Leben gerät aus den Fugen, als er in der brandenburgischen Uckermark auf etwas stößt, das seine bisherige Existenz infrage stellt: Neben unglaublich schlampig geführter Buchhaltung trifft er auf glückliche Menschen, die zufrieden sind mit dem Wenigen, was sie haben! Ein unerwarteter Unfall zwingt ihn, die wahre Bedeutung von Glück und Zufriedenheit neu zu überdenken. Kann materieller Reichtum wirklich glücklich machen, oder verbirgt sich das wahre Glück woanders? Die Britin Sarah hat in ihrem Leben bereits einige Höhen und Tiefen überstanden und scheint schließlich mit ihrem eigenen Hof in Brandenburg ihr Glück gefunden zu haben. Doch als Thomas in ihr Leben tritt, gerät alles ins Wanken. Ihr Verstand will den Störfaktor Mann so schnell wie möglich loswerden, doch ihr Herz spricht eine andere Sprache. Eine herzergreifende Geschichte über dreibeinige Hunde, wilde Eber und die Suche nach dem wahren Glück. Ein Mann, der seine Bestimmung finden will, und eine Frau, die lernen muss, das Glück zuzulassen.

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Schon immer fasziniert vom gedruckten Wort, war mindestens ein Buch stets in ihrer Nähe. Im sagenumwobenen Thüringen aufgewachsen und später, über Umwege, in das geschichtsträchtige Berlin übergesiedelt, waren potenzielle Geschichten, die erzählt werden wollten, immer um sie herum. Zunächst als Erzieherin, später Journalistin, lebt sie heute ihre Kreativität in ihren eigen verfassten Geschichten aus und veröffentlicht sie auf Portalen, wie Wattpad, wo sie sich einer regen Leserschaft erfreut. Andrea Hinze lebt mit ihrer Familie im Norden von Berlin.

Inhaltsverzeichnis

1. Unerwartete Zwischenfälle

2. Neue Bekanntschaften

3. Es hätte schlimmer kommen können

4. Begutachtung

5. Ein Schwan kommt selten allein

6. Das muss ich mir nicht antun

7. Was bedeutet Glück?

8. Schnupperpraktikum im glücklich sein

9. Neue Erfahrungen

10. Alles aus?

11. Hundekumpel in Not

12. Stubenarrest

13. Badespiele

14. Endlich ...

15. Kinderüberraschung

16. Leben reloaded

17. Ehrlichkeit ist das Fundament einer Beziehung

18. Jeder einmal in Berlin … und wieder weg

19. Überraschung

20. Was hast du sagen wollen?

21. Alltagsszenen

Epilog

Danksagung

Quellenverzeichnis

1.

Unerwartete Zwischenfälle

Schon als Sarah an der Unfallstelle eintrifft, weiß sie, dass das kein Spaziergang werden wird.

»Scheiße«, flucht sie und parkt ihren alten Jeep am Straßenrand, direkt hinter dem heruntergekommenen Viehtransporter des Metzgers. Mit einer flüssigen Bewegung löst sie den Gurt, öffnet die Tür und steigt aus. Ein ergrauter, rundlicher Mann, der mitten auf der Fahrbahn steht, hebt abwehrend die Hände und höhnt: »Du kommst zu spät, Mädel. Wir sind uns schon einig.« Selbstgefällig verschränkt er die Arme vor der Brust. Skeptisch zieht Sarah die Augenbrauen hoch. »Ich will doch nur mal schauen, Herbert«, gibt sie lässig zurück.

»Ja, ja, dein Anschauen kenn ick. Aber hier haste ken Glück. Der Gaul kommt inne Wurst.«

Kopfschüttelnd geht sie an ihm vorbei, zum Anhänger, der gekippt im Straßengraben liegt. Der schwarze Ford Ranger steht, vom Unfall unbehelligt, davor. Qualvolles Wiehern tönt aus dem Innern des umgestürzten Transporters. Das Technische Hilfswerk ist bereits dabei, das Pferd aus seiner misslichen Lage zu befreien. Daneben, mit verschlossenem Gesichtsausdruck, steht Detlef Hohenfels, hiesiger Gestütsbesitzer. Sarah kennt ihn seit Jahren und liegt ebenso lange mit ihm im Clinch. Ihre unterschiedlichen Auffassungen vom Tierwohl lassen beide immer wieder aneinandergeraten. Auch heute ist Sarah mal wieder gerade noch rechtzeitig gekommen. Nicht zum ersten Mal würde sie eines seiner Pferde vor dem Metzger Herbert Müller retten.

»Du hast mir gerade noch gefehlt«, brummt Hohenfels, als er ihrer Gewahr wird.

»Verlässlich wie immer«, kontert sie und sieht zu, wie das verletzte Tier über Kran und Trage aus dem havarierten Anhänger gehoben wird.

Hohenfels wendet sich ihr zu. »Mädel ...«

Nach all den Jahren ist es ihr immer noch schleierhaft, warum sie hier alle älteren Herren Mädel nennen. Mit ihren 34 Jahren zählt Sarah doch wohl kaum noch zum jungen Gemüse.

»... mit diesem Pferd machst du dich nur unglücklich. Glaub mir. Der ist zu nichts mehr zu gebrauchen«, sucht er sie von vornherein zur Umkehr zu bekehren.

»Na ja, unsere Ansichten, was ein Leben wert ist, gehen ganz schön auseinander, Herr Hohenfels.«

»Der ist verletzt. Und zwar schwer. Ist nicht so, als wäre er 'ne alte Mähre.«

Sarah brummt etwas Unverständliches.

Detlef Hohenfels gibt nicht nach. »Die Tierarztkosten, bis das Pferd wieder so hergestellt ist, dass man drauf reiten kann, sind utopisch.«

»Na, wie gut, dass ich nur die Materialkosten zahlen muss.«

Selbstgefällig grinst sie ihn an.

»Pha«, macht der andere.

Um das Ganze abzukürzen, fragt sie direkt, »Wie viel zahlt Müller Ihnen?«

“350.«

»Prima. Ich zahle Ihnen 400.«

Lachend kratzt er sich am Bart. »Mädel, das Pferd kommt sicher nie mehr auf die Beine. Mach dich doch nicht unglücklich.«

»Über meinen Zustand müssen Sie sich keine Gedanken machen«, rät sie freundlich. »Ich komm’ schon klar. Also ...« Siegessicher hält sie ihm die ausgestreckte Hand hin. »... schlagen Sie ein?«

Hinter ihnen war Metzger Müller herangetreten. »Nee nee nee, Fräulein.

Ick hab hier den Zuschlach bekomm. Diesma musste ohne Gaul abziehn.«

Ihn ignorierend sieht Sarah selbstsicher dem Pferdebesitzer in die Augen. »Herr Hohenfels?«

Dieser sieht nacheinander zu ihrer Hand, dem Metzger und ihrem Gesicht.

»Herr Hohenfels ...«, mahnt Müller. »Se ham doch jesacht ...«

»Ja, ja.« Energisch bringt Hohenfels den anderen mit erhobener Hand zum Schweigen. Man sieht ihm den inneren Kampf an, doch schließlich siegt die Aussicht, nach höherem Profit. »Sie zahlt mir 400«, erklärt er laut und schlägt in den Handschlag ein.

»Prima!«, ruft Sarah erleichtert. »Damit ist der Kauf besiegelt. Herr Müller, ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«

Der Unterlegende brummt etwas Unverständliches, dreht sich grußlos um und schlurft von dannen.

»Gut. Haben Sie das Geld dabei?«, fragt Hohenfels.

»Selbstverständlich. Ich gehe nie ohne ein paar Scheine aus dem Haus«, erklärt die junge Frau fröhlich. Alle Anspannung ist von ihr abgefallen.

»Schließlich weiß ich nie, ob nicht irgendein verletztes Tier vor dem Abdecker gerettet werden muss.«

»Mädel, du kannst doch nicht alle Tiere des Landkreises retten«, mahnt der Gestütsbesitzer kopfschüttelnd. Nimmt aber die vier, einhundert Euro Scheine an und steckt sie sich zusammengefaltet in die Brusttasche seiner Weste. »Irgendwann ist doch auch dein Hof voll.«

»Noch ist Platz genug«, kontert sie und geht zu ihrem Pferd. »Sagen Sie mir was über ihn!«

“'Be nice to me' heißt er. Ist vier Jahre alt und steht ganz am Anfang seiner Ausbildung.«

»Na, das bleibt dir ja nun erspart«, flüstert sie und klopft dem Wallach sanft auf den Hals. Sein rotbraunes Fell glänzt vor Schweiß im Sonnenlicht. Laut sagt sie, »Na besonders nett wollten Sie ja nicht gerade mit ihm umspringen.«

Hohenfels macht ein abfälliges Geräusch. »Für mich ist er jetzt unbrauchbar. Niemand will ein Fohlen von einem Krüppel.«

Ihr Blick fliegt über den Pferdekörper. Aus einer Wunde am Oberschenkel tritt einiges an Blut aus. Ein nicht unerheblich großes Stück Rohr steckt darin. Sarah beschließt, es an Ort und Stelle zu belassen und es erst später, unter steriler Umgebung herauszuziehen.

Sorgsam tastet sie seine Beine nach weiteren Verletzungen ab. Das Tier schnaubt ängstlich, doch zum Wehren oder gar Aufstehen, fehlt ihm die Kraft.

»Na, bist du derselben Ansicht. Das Pferd ist hin«, urteilt Hohenfels.

»Das ist doch noch gar nicht raus«, widerspricht Sarah. »Vielleicht wird er auch wieder?«

Doch ihr Gegenüber ist anderer Meinung. »Nee nee, glaub mir mal.

Sicherlich wird der nie wieder jemanden auf seinem Rücken tragen. Vom Springen will ich gar nicht erst anfangen.«

Detlef Hohenfels ist im gesamten Landkreis für seine vorzüglichen Spring- und Vielseitigkeitspferde bekannt. Sarah, die Pferde lieber dösend auf der Koppel stehen sieht, ist da ganz anderer Auffassung. Ihr genügt es, ab und an gemächlich auszureiten. Auf ihrem Gutshaus Greiffenberg betreibt sie bereits seit sieben Jahren einen Gnadenhof für kranke und altersschwache Tiere. Ihr Beruf als Tierärztin kommt ihr da sehr gelegen. Zusammen mit ihrer Tante Dörthe lebt und kümmert sie sich dort um Schweine, Esel, Pferde, Hühner, Hunde und allerlei anderem Getier.

»Bei mir muss er keine Erfolge vorweisen. Er darf einfach glücklich sein.« Sarah schließt ihre vorläufige Untersuchung ab, steht auf und klopft sich den Staub von der Hose.

»Mit glücklichen Viechern ist kein Geld zu machen«, lässt Hohenfels sie noch wissen und verabschiedet sich von Sarah. Scheinbar war für ihn die Sache hiermit erledigt. Wie das Pferd auf den Gnadenhof kommt, schien ihn nicht zu interessieren.

Mit dem Einsatzleiter bespricht sie die Einzelheiten und verabschiedet sich ebenfalls. Man wollte auf einen benachbarten Landwirt warten, der 'Be nice to me' mit seinem offenem Anhänger in sein neues zu Hause bringen wird. Für den Transport in Sarahs Pferdeanhänger war das Tier zu stark verletzt.

Zurück auf Greiffenberg will sie eigentlich ihre zuvor unterbrochene Stallarbeit wieder aufnehmen, als Dörthe aus dem gelben Haupthaus tritt. »Da bist du ja wieder«, ruft sie erleichtert. »Ich dachte schon, du hast es vergessen.«*

»Was vergessen?« Schwungvoll schließt sie die Autotür ihres dunkelgrünen Jeeps.

Dörthe hat das untere Ende der Freitreppe erreicht und kommt vor ihr zum Stehen. »Na, die Steuerprüfung.«

Die hatte Sarah tatsächlich vergessen. Oder eher verdrängt. Zwei Jahre zuvor war schon einmal jemand vom Finanzamt da gewesen. Als hätte er einen Stock in seinem Allerwertesten wühlte sich der alte Mann durch ihre Unterlagen. Hatte hierzu und dazu eine Frage, verlangte das und jenes zu sehen. Sarah gibt gern zu, dass Büroarbeit nicht gerade zu ihren beliebtesten Tätigkeiten auf dem Hof zählt.

»Schitt, die habe ich tatsächlich vergessen.« Genervt fahrt sie sich mit der Hand durch das lange, blonde Haar.

»Ich aber nicht«, verkündet Dörthe mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Habe sogar einen Erdbeerkuchen gebacken.«

»Dörthe, der Kerl kommt wegen unserer Unterlagen. Der will sich hier nicht häuslich niederlassen. Und ich will das schon gar nicht«, fügt sie brummelig hinzu. Langsam gehen beide Frauen in Richtung Stallgebäude.

»Wann kommt der noch mal?«

Dörthe antwortet, »Heute. Gegen 14 Uhr.«

»Prima. Dann zeig du ihm alles! Okay?«

»Ist gut«, flötet ihre Tante. »Ich gehe jetzt noch ein paar Blumen schneiden.«

Eine Antwort erspart Sarah sich und verschwindet im Stallgebäude.

Während sie ihre unterbrochene Arbeit wieder aufnimmt, hört sie es draußen donnern. Ein Sommergewitter. Wie im Radio heute Morgen angekündigt, entlädt sich der Himmel über der Uckermark. Dringend benötigt wird er, der Regen. Die Landwirte und auch Sarah ächzen unter der anhaltenden Hitze und der damit einhergehenden Trockenheit.

Sarahs Futtermais sieht mittlerweile alles andere als gut aus und auch das Heu droht auf den Feldern zu verbrennen, wenn es nicht langsam mal eingeholt wird. Doch allein zu zweit schaffen sie die viele Arbeit nicht. Nach einer weiteren Hilfskraft, wie Tina, im letzten Sommer, sucht Sarah bisher vergebens. Die junge Frau hatte damals ihr freiwilliges ökologisches Jahr auf dem Gnadenhof absolviert. Doch in diesem ließ Hilfe auf sich warten. Was eventuell auch an Sarah liegt, die, wenn sie mehr Büroarbeit machen würde, sicherlich den einen oder anderen jungen Menschen finden könnte. Doch Werbung für ihren Gnadenhof zu machen, um Spendengelder zu bekommen, bedeutet Büroarbeit und diese wiederum, bedeutet unliebsame Arbeit, die Sarah ein Graus ist. Ein Teufelskreis.

Der Regen fallt schwer auf das Dach und verursacht ein stetiges, leises Klopfgeräusch. In langen Bahnen läuft das Wasser außen an den schmutzigen Fensterscheiben herunter.

Box um Box, mistet sie aus und fahrt Fuhre um Fuhre den Mist hinaus auf den Haufen. Den Hühner scheint der Regen nichts auszumachen.

Fröhlich gackernd flitzen sie kreuz und quer über den Hof.

Schnaubend wischt Sarah sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Warm war es noch immer. Kurzerhand zieht sie ihr T-Shirt unter der blauen Latzhose aus und wirft es über einen Zaun.

Irgendwann wird das Grollen leiser und der Regen versiegt. Bis auf einige größere Pfützen, die gut verteilt über den Innenhof verstreut sind, erinnert bald nichts mehr an den heftigen Regenguss. Die Sonne strahlt, als wäre nichts gewesen von einem beinahe wolkenlos blauen Himmel.

Von irgendwo ist Motorengeräusch zu hören. Da sich normalerweise selten Autos hierher verirren, kann es sich bei diesem Fahrzeug nur um das des Steuerprüfers handeln. Und da Dörthe sich diesem Problem annehmen wollte, macht Sarah keine Anstalten ihre Arbeit erneut zu unterbrechen. Routiniert säubert sie die letzte Pferdebox und geht anschließend durch die Verbindungstür hinüber in ihre Praxis, um dort alles für die Ankunft des verletzten Wallachs vorzubereiten

»Fuck«, flucht er ganz entgegen seines sonstigen Gebaren und schlägt mit der flachen Hand auf das Autodach. Nach einem Wegweiser suchend, sieht er sich um und entdeckt - Nichts. Nicht mal eine Menschenseele ist unterwegs.

»Verdammtes, verlassenes, einsames Nest. Wie hasse ich das Land«, flucht er lautstark vor sich hin. Noch einmal nimmt er sein Smartphone zu Hilfe. »Wo steckt dieser verdammte Hof?«

Sein Navigationsgerät im Audi hatte schon längst aufgegeben. Ihn sogar über einen für Fahrzeuge gesperrten Waldweg mitten in ein Naturschutzgebiet navigiert. Noch immer verärgert über den Anschiss des Forstbeamten, der ihm natürlich ausgerechnet in diesem Moment über den Weg laufen musste, sucht Thomas nun mithilfe von Google Maps nach dem richtigen Weg.

»Er ist doch ganz in der Nähe«, murmelt er und sieht sich erneut um. Da hinter dem Waldstück müsste es sein. Wieder setzt er sich hinter das Steuer, wendet und gibt Gas und rast förmlich die Straße, aus der er gekommen ist zurück. An der Stelle, wo die monotone Stimme des Navigationsgerätes meldet, er müsse rechts einbiegen, fahrt er langsamer. Tatsächlich entdeckt er so, die Einfahrt zum Gutshaus. Diese liegt versteckt zwischen tief über die Straße hängenden Zweige dicht belaubter Alleebäume. Vorhin war er geradewegs daran vorbeigerast, doch nun setzt er den Blinker und biegt in die enge Kopfsteinpflasterstraße ein. An Linden und Kastanienbäumen vorbei rumpelt der tiefergelegte Sportwagen förmlich zu der kleinen Anhöhe hinauf, auf der ein riesiges Gelb getünchtes Gutshaus thront. Thomas umrundet halb den wie ein Nadelöhr angelegten Vorplatz. Auch hier liegt ausschließlich Kopfsteinpflaster unter den uralt anmutenden riesigen Bäumen. Als er aussteigt und die Autotür schließt, kommt niemand zu seiner Begrüßung. Nach einer Klingel suchend steigt er, die Aktentasche unter dem Arm, die Freitreppe hinauf. Oben angekommen, schiebt er sich die Brille auf die Nase. »Das Land und dazu noch die Hitze. Ich bin echt am Arsch«, denkt er und pustet aus. So wie Thomas das Wort Land ausspricht, merkt man, dass er dem idyllischen Landleben nichts abgewinnen kann. »Hallo?«, ruft er laut und lauscht anschließend. Im Haus rührt sich nichts. Sollte er einfach eintreten? Lieber nicht.

Sicherlich sind die Bewohner irgendwo draußen unterwegs.

Also steigt er die Treppe wieder hinunter und geht links um das Gebäude herum. Nicht, ohne es dabei einer optischen Prüfung zu unterziehen.

Solide Bauweise, gut in Schuss gehalten. Nirgends bröckelt Putz ab und ist ein Fenster beschädigt. Das Haus scheint aus einem Hauptteil und zwei Flügeln zu bestehen und somit ein kantiges ein U beschreiben. Es geht direkt in einen parkähnlichen Garten über. Auch hier finden sich alte Bäume und Blumenrabatten. Alles ist gepflegt. Der Rasen gestutzt.

In der Nähe kann er ein weiteres Gebäude ausmachen. Dem Geruch nach, ein Stall. Dieses ist jedoch von einem Zaun umschlossen. Thomas öffnet ein Gatter und will hindurchgehen, als ein lautes Quieken ihn innehalten lässt. Mit der Hand auf der obersten Zaunlatte starrt er in Richtung Stall. Aus diesem stürmt in vollem Galopp gerade ein ausgewachsenes Schwein heraus. Es schlägt förmlich einen Haken, beschreibt eine Kurve und hält direkt auf ihn zu. Sicherlich wittert es die Freiheit. Vielleicht sollte es ja gerade unter das Messer? Wie erstarrt bleibt Thomas stehen und stolpert zurück, als das riesige Tier ihn touchiert. Quiekend läuft der Eber seiner Freiheit entgegen in den Park.

»Karlchen«, ruft eine weibliche Stimme.

»Scheiße«, flucht Thomas gleichzeitig und besieht sich das Malheur. Mit seinen handgefertigten italienischen Lederschuhen ist er mitten in eine tiefe Pfütze getreten. »Auch das noch«, denkt er sauer und schüttelt den betroffenen Fuß.

»Karlchen«, schreit die Frau erneut, kommt ebenfalls aus dem Stall gelaufen und bleibt ruckartig stehen, als sie ihn, Thomas, statt des Ebers sieht. Einige ihrer blonden Strähnen haben sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und kleben ihr an der schweißnassen Stirn. Dass ihre Augen blau sind, kann er erkennen, als sie näher kommt. Überrascht registriert er erst jetzt, dass die Frau beinahe barbusig vor ihm steht. Allenfalls ein feuerroter BH kleidet ihren schlanken Oberkörper. Ihr Atem geht stoßweise, der Brustkorb hebt und senkt sich heftig. Sprinten scheint nicht zu ihren Stärken zu zählen. »Wer sind Sie?«, presst sie hervor. Ihr Blick wandert von seinem Gesicht, über den Körper hinunter zu seinen Schuhen. Irrte er sich, oder umspielt tatsächlich ein spöttisches Lächeln ihre vollen Lippen. Jetzt, wo sie so nahe vor ihm steht, bemerkt er, dass von ihr ein intensiver Geruch ausgeht. Frische Luft, Kacke, Apfelblüte und noch irgendetwas anderes, was er jedoch nicht fassen kann, steigt ihm in die Nase. Für einen Moment empfindet er Zärtlichkeit für diese Frau, will sie an sich drücken, seine Nase in die Beuge an ihrem Hals vergraben, doch als sie spöttisch fragt, »Oh, haben Sie ihre guten Schuhe ruiniert. Das tut mir aber leid! « ist der Moment auch schon wieder verflogen. Missmutig brummt er, »Mein Name ist Odenberg. Ich komme vom Finanzamt Angermünde. Und meine Schuhe dürften Ihr kleinstes Problem sein.«

Wer ihm zickig kommt, dem entgegnet er es ebenso.

»Hm, dachte ich mir schon. Sonst verläuft sich kein so feiner Pinkel hierher zu uns«, entgegnet sie abweisend. In diesem Moment scheint ihr aufzugehen, dass sie halb nackt ist. Ihre Augen weiten sich und sie bedeckt hastig ihre gut proportionierte Oberweite mit dem Latz ihrer Hose. »Ahm.«

Giftig entgegnet er, »Keine Sorge. Ich gucke Ihnen schon nichts weg. Da hab' ich schon ganz andere Kaliber gesehen.«

Wütend funkelt sie ihn an. »Wie schön für Sie.« Damit dreht sie sich um und geht in Richtung Stall zurück. Das Schwein scheint vergessen zu sein.

Grinsend folgt Thomas der Furie. »Dürfte ich auch Ihren Namen erfahren?«

»Sarah Mitchell.«

»Dann will ich zu Ihnen«, eröffnet er ihr das Offensichtliche.

Offenkundig hatte sie ihn ja bereits erwartet. Oder doch nicht, wenn man ihren Aufzug bedenkt? »Mitchell. Das klingt britisch. Sind Sie Britin?«, versucht er Konversation zu machen.

»Hm.« Fräulein Mitchell sieht sich suchend um und durchquert dabei das gesamte Stallgebäude. Thomas folgt ihr an sauberen Stallabteilungen vorbei, durch eine Zweiflüglige Stalltür und steht plötzlich in einer Arztpraxis. Zumindest hat es den Anschein. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Behandlungstisch. Allerdings aus Metall. »Also entweder ist das hier eine Pathologie oder Tierarztpraxis«, denkt er schmunzelnd.

»Was grinsen Sie denn so?«, fährt sie ihn an. Sie hatte ihn also auch beobachtet. »Was ist so lustig?« Mit vor der Brust verschränkten Armen bleibt sie direkt vor ihm stehen. Dass sie dabei ihre Brüste zusammendrückt und somit ein äußert ansehnliches Dekolleté präsentiert, das es ihm schwer macht woanders als genau dort hinzusehen, scheint sie nicht zu stören.

»Ahm ... natürlich habe ich das«, murmelt er abwesend und zwingt sich in ihr Gesicht zu sehen. »Ich ... ich bin nur ... überrascht.«

»Ach so?«

»Ja, ich hatte einen Gnadenhof erwartet.«

»Den gibt es hier ja auch.«

»Ach ... ach so?« Verwirrt sieht er sich um.

»Nicht hier drin«, erklärt sie dunkel. »Gutshaus Greiffenberg ist der Gnadenhof. Doch ich bin außerdem Tierärztin.«

»W-was?«, stammelt er. »Moment.« Er öffnet seine Tasche und zieht eine Akte hervor. Eilig überfliegt er den Text. »Davon steht hier aber nichts.«

»Kann es ja auch nicht. Ich praktiziere nicht.«

»Nicht?« Er sieht sich erneut in der für seinen laienhaften Blick gut ausgestatteten Praxis um. Alles ist sauber und wie es scheint jederzeit einsatzbereit. »Aber ...«, beginnt er, doch sie unterbricht ihn resolut,

»Hören Sie! Ich habe zu tun. Gehen Sie ins Haupthaus, dort finden Sie meine Tante. Sie wird Ihnen alles zeigen.«

»A-aber. Ich bin doch ihretwegen hier.«

»Falsch«, entgegnet sie und hüllt sich in einen weißen Kittel, den sie sich von einem Kleiderhaken greift. »Sie sind wegen meiner Unterlagen hier.

Wollen herumschnüffeln. Mir einen Fehltritt nachweisen. Wollen mir Geld abpressen.«

Entrüstet holt er Luft. Wieder einmal jemand, der einen vollkommen falschen Blick auf das Finanzamt hat. »Moment mal. Ich bin mitnichten ...«

Sarah Mitchell streckt ihm ihre ausgestreckte Hand entgegen. »Ich habe wirklich keine Zeit. Dank Ihnen darf ich nämlich jetzt einen ausgewachsenen Eber mitten in der Natur einfangen. Danke schön.«

»Ich ... ich konnte doch nicht...«

Doch sie lässt ihn einfach stehen und verlässt, nun durch eine andere Tür, die Arztpraxis.

Eilig folgt Thomas ihr hinaus in den Sonnenschein. »Warum ist das Tier denn fortgelaufen?«, will er dennoch wissen.

»Kastration«, faucht sie, sprintet los und verschwindet um die Hausecke.

»Also habe ich ihn doch gerettet«, denkt er und schlendert verwirrt zum Haupthaus hinüber.

2.

Neue Bekanntschaften

Karlchens Freiheitsdrang war zum Glück im Garten aufgehalten worden. Sarah fand ihn am Gatter der weiblichen Schweine. Andächtig starrte er zu seinen zArtgenossen ins Gehege. »Du darfst ja auch bald wieder im Matsch planschen«, beruhigt sie ihn und klopft auf seinen Hinterschinken. »Aber zuerst müssen wir dafür sorgen, dass du keine Ferkelchen machen kannst.« Denn mit einem hatte Hohenfels recht, der Platz im Gnadenhof war begrenzt. Weitere Schweine, Pferde oder Rinder konnte er kaum fassen. Zudem sich noch Hunde, Katzen und an die 20 Hühner samt Hähne auf dem Hof tummeln. Als Dörthe vor einiger Zeit beinahe ein verlassenes Waschbärjunges an der Bundesstraße überfahren hatte, zog auch dieser hier ein. Aus welchen Gründen auch immer, von seinen Eltern verlassen, tat er den beiden Frauen so leid, dass er kurzerhand Kasimir getauft und mitgenommen wurde.

Es kostet Sarah einige Mühe den Eber zurück zum Stall zu bugsieren, doch letzten Endes schafft sie es. Besänftigt schmatzt das Tier nun seine Extraportion Leckerchen, dass ihm sein Frauchen in den Napf warf.

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, murmelt sie und klopft dem Tier auf den Rücken. »Für heute hast du Schonfrist. Morgen aber kommst du unters Messer. Ob es dir passt oder nicht.« Mit einem Mal ist Motorenlärm zu vernehmen. Sarah sieht auf ihre Armbanduhr und denkt fröhlich, »Der war aber schnell. Tja, Mister Superwichtig, bei mir gibts eben nix zu holen. Gute Heimfahrt wünsche ich.« Grinsend verabschiedet sie sich von Karlchen und verlässt den Schweinestall.

Endlich war die Luft wieder rein, um gefahrlos im Haus einen Kaffee zu trinken. Doch kaum war sie in den Sonnenschein getreten, sieht sie den Traktor des Nachbarn über den Sandweg auf ihren Hof zu rumpeln.

Michael hatten sie also verpflichtet, ihr neues Pferd zu ihr zu bringen.

Direkt dahinter führ der Jeep ihres Kollegen. Frank Grabowski, seines Zeichens Landveterinär. Von ihr auch gern ihr persönlicher Dorn im Auge genannt. Denn, seinetwegen war sie als frisch hinzugezogene, ausländische, junge Frau unter den hiesigen Tierbesitzern nie als Tierärztin akzeptiert worden. Grabowski selbst wusste nichts von ihren Plänen und deren Nichterfüllung. Denn für ihn lief alles wie bisher.

Kalbt eine Kuh - ruft man Grabowski. Wird ein Hund von einem Auto angefahren - Grabowski kommt. Gilt es, eine Trächtigkeit festzustellen - wer ist zur Stelle? Ja, klar, Frank Grabowski. War ja klar, dass man ihn dazu gerufen hatte. Schließlich war er nunmehr der einzige praktizierende Tierarzt der Gegend.

Sarahs blauäugige Vorstellung, es müsse sich erst herumsprechen, dass eine weitere Tierärztin im Landkreis praktiziert, lies sie eine ganze Weile durchhalten, doch die Praxis blieb leer und mittlerweile war der Wegweiser vorn an der Straße zugewachsen und ihre Praxis verwaist.

Wie im Dornröschenschlaf befindet sie sich auf dem Gelände und manchmal fühlt Sarah sich auch mehr als Tierpflegerin als Ärztin. Doch dafür hatte sie nicht fünfeinhalb Jahre die Uni besucht. Doch es ist, wie es ist und, und an Tagen wie diesen wusste sie, wozu es gut war. Heute kann sie endlich mal wieder zeigen, dass sie eine sehr gute Tierärztin ist.

Der Traktor erreicht sie.

»Hallo Sarah«, grüßt Michael vom Sitz aus. »Wo magst du das Pferd hin haben?«

»Hi Michael. Danke, dass du dich erbarmt hast!«, begrüßt sie ihren Nachbarn.

Der junge Landwirt tippt sich an die Hutkrempe. Ein verschmitzt Grinsen stiehlt sich, wie bei jedem ihrer Zusammentreffen, auf sein Gesicht.

»Kannst du ihn direkt zum Stalleingang fahren?«

Michael nickt und schlägt das Lenkrad ein.

Der Tierarzt parkt seinen Wagen vor der geschlossenen Praxis und steigt aus. »Guten Tag, Frau Mitchell.«

Sarah geht auf ihn zu und gibt ihm die Hand. »Hallo, Herr Grabowski.«

»Da haben Sie sich einen beträchtlichen Brocken aufgeladen. Der Wallach ist ziemlich mitgenommen.«

»Nichts, was ich nicht wieder hinbekommen werde«, entgegnet Sie selbstbewusst.

Der ältere Mann lächelt freundlich. »Da bin ich mir sicher. Falls Sie aber doch bei der OP Hilfe benötigen, sagen Sie es nur!«

Dieses Angebot nimmt sie nur allzu gern an. Zwar geht ihr Dörthe dann und wann bei der ärztlichen Versorgung zur Hand, doch eine ausgebildete Tierarzthelferin war sie, als Schneiderin, nicht gerade. Ihre Stärken liegen ganz klar im häuslichen und definitiv im musischen Bereich.

Gemeinsam folgten sie dem Traktor.

Es war ein gutes Stück Arbeit, das Tier zunächst einmal von dem Anhänger zu bekommen und ihn anschließend in seine neue Box zu führen. Das Rohrstück hatte Frank bereits entfernt und die Wunde verbunden. Scheinbar hatte zudem das linke Vorderbein des Wallachs etwas abbekommen. Mit Sarahs mobilem Röntgengerät stellten sie eine leichte Fraktur fest. Diese muss gerichtet und fixiert werden.

Zu zweit war die Operation ganz gut zu schaffen. Dauerte aber lange und war recht kräftezehrend, sodass Sarah fix und fertig war, als sie Frank Grabowski verabschiedet. Der Einfachheit halber schlurft sie direkt durch den Garteneingang ins Haus. Dörthe zuliebe, die regelmäßig im Dreieck springt, wenn sie mit verschmutzter Kleidung ihr frisch geputztes Wohnzimmer verunreinigt, schlüpft sie aus ihren Gummistiefeln und lässt sie draußen stehen. Auf Strümpfen huscht sie durch das riesige Zimmer, den Flur entlang bis in die gemütliche Wohnküche.

»Da bist du ja, Kind«, grüßt Dörthe, dreht, die Pfanne in der Hand haltend sich zu ihr um und reißt entsetzt die Augen auf. »Wie siehst du denn aus?«

Irritiert sieht Sarah an sich herunter. »Ich hab' die Stiefel doch ... Ach das. Das ist Blut«, entgegnet sie achselzuckend.

»Das sehe ich«, pikiert kräuselt Dörthe die Lippen.

»Ich bin fix und fertig, Dörthe. Das war eine Arbeit, sage ich dir.«

Entkräftet lässt sich die Jüngere auf einen Stuhl fallen.

»Kind, könntest du bitte ... «

Doch ohne auf den Einwurf ihrer Nenntante einzugehen, plaudert Sarah weiter, »Der Wallach weißt du. Von heute Morgen. Der war doch schwerer verletzt als zunächst angenommen. Eine Oberschenkelfraktur der rechten Hinterhand. Grabowski und ich haben ihn gerade operiert.«

»Sarah, ich möchte ...«, versucht Dörthe erneut ein Gespräch zu beginnen. Doch Sarah lässt einer ihrer weniger guten Eigenschaften freien Lauf und plappert munter weiter.

»Aber er wird schon wieder. Keine Sorge. Ich habe uns nicht noch einen Pflegefall ins Haus geholt.« Lachend wirft sie ihr langes Haar zurück.

»Apropos Pflegefall. Wie lief's denn mit dem Lackaffen?«, endet sie und sieht Dörthe abwartend entgegen.

»Was?«

»Na der Steuerfutzi? War er zufrieden oder hatte er viel herumzumeckern?«

»Sarah ...« Dörthe's Blick huscht hin und her.

Doch ihre Nichte war noch nicht fertig. »Wie der rumgelaufen ist. Dieser Anzug. Die auffällige blaue Karre. Was denkt er, wer er ist, ein Rennfahrer? Sein affiges Getue.« Lachend schlägt sie sich die Hand vor den Mund. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er mit seinen tollen Designerschuhen in den Matsch getrampelt ist.«

»Kind, bitte!«

»Was denn? Sicher wurde der schon mit einem Stock im Arsch geboren.«

»Sarah!« Dörthe hasste es, wenn Sarah sich vulgär ausdrückte.

Ergeben hebt diese beide Hände. »Ich weiß, ich weiß, du magst es nicht, wenn ich fluche. Aber du musst zugeben, dass er furchtbar war. Obwohl ... « Sie verstummt, ihr Blick schweift in die Ferne. »... irgendwie sah er gar nicht aus wie der typische Steuerprüfer.«

»Ach nein?«, war da plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr zu vernehmen. Erschrocken springt Sarah auf. »Was ... was tun Sie denn noch hier?« Ihr Kopf ruckt zu Dörthe herum. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass der noch da ist?«

Dörthe verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich an den Herd.

»Kind, ich habe die ganze Zeit versucht dir zu sagen, dass Herr Odenberg hinter dir steht.«

»W-was?« Entsetzt weiten sich Sarahs Augen.

»Aber du lässt, wenn du dich erst einmal in Fahrt geredet hast, niemanden zu Wort kommen. Ich habe dir gesagt, das wird dir irgendwann ... « Ergeben hebt Dörthe die Schultern.

»Ja, ja, ich weiß schon«, unterbricht sie ihre Tante murmelnd.

Zerknirscht, wendet sie sich wieder dem Gast zu. »Ähm ... «

Entsetzt gleitet sein Blick an ihrem Körper herab. »Haben Sie den Eber umgebracht? Eine ziemlich drastische Reaktion, nur weil das Tier entlaufen war«, meint er dunkel und sieht ihr ins Gesicht.

Verwirrt entgegnet sie, »Was?«

»Das Blut.« Mit einer Hand deutet er auf ihre Körpermitte.

»Ach, das?« Erleichtert folgt ihr Blick dem seinen. »Das ist nicht von Karlchen. Der hat, dank Ihnen, bis morgen Gnadenfrist.«

»Dann haben Sie also ein anderes Tier umgebracht?« Thomas Odenberg lehnt sich lässig an den Türrahmen. Was fällt dem Kerl ein? Wie redet der denn mit ihr?

»Nein«, entgegnet sie spitz. Alles an diesem Mann brachte sie auf die Palme. »Im Gegenteil.« Kämpferisch schiebt sie das Kinn vor und funkelt ihn wütend an. »Ich habe eines gerettet.«

»So so.« Dieses selbst gefällige Grinsen.

Nun war es aber genug. »Was machen Sie eigentlich noch hier?«, wiederholt sie ihre Frage.

Statt ihm, antwortet Dörthe, »Ich habe Herrn Odenberg zum Abendessen eingeladen.«

»Du hast was?«, keucht Sarah und starrt sie an.

»Na ja, ich dachte ... «

»Herr Odenberg ...« Sarah betont den Namen absichtlich deutlich. »...

wollte doch nur meine Buchhaltung durchsehen und dann gleich wieder verschwinden. Also?« Sie dreht sich wieder zu ihm um. »Wie weit sind Sie?«

»Wie weit ich bin, will sie wissen«, echot er verächtlich lachend. Er macht ein abfälliges Geräusch. »Ihre sogenannte Buchhaltung, ist das mieseste, was mir je untergekommen ist. Praktisch ist sie gar keine. Sie ist weniger als Nichts. Es wird Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern, sich da durchzukämpfen.«

Perplex klappt ihr Mund auf. So hatte noch nie jemand gewagt, mit ihr zu sprechen. Diese Dreistigkeit.

»Wissen Sie überhaupt, was eine Lohnsteuerbescheinigung ist? Kennen Sie ihre Pflichten? Ich habe so viele Fragen ...«, stichelt er. Wort für Wort war er näher an Sie herangetreten. Wobei Sarah unwillkürlich zurückweicht.

Dörthe sieht dies als ihr Stichwort an. »Genau deswegen dachte ich, dass es gut wäre, wenn Herr Odenberg noch etwas länger bleibt.«

»Länger?«, echot Sarah verständnislos.

»Ich kann mir auch Schöneres vorstellen«, brummt Thomas und sieht dunkel auf sie herunter.

Damit betritt er eindeutig ihre Komfortzone. »Ja, sicher«, zischt Sarah und macht einen weiteren Schritt rückwärts. »Einkaufen, zur Kosmetik gehen, mit dem Sportwagen herumprotzen, Frauen beeindrucken ...«

»Ach, Sie sind der Meinung, dass ich Frauen mit meiner Erscheinung beeindrucke?« Irrte sie sich, oder zeigt sich da ein winziges Lächeln auf seinen Lippen?

»Ich, ähm ... äh ...«

»So sprachlos habe ich dich ja noch nie gesehen«, lacht Dörthe und wendet sich wieder ihren Töpfen und Pfannen zu.

»Wären Sie dann jetzt bereit... «

»Bereit wofür?«, fahrt Sarah ihn an.

Misstrauisch runzelte sie die Stirn. »Um meine Fragen zu beantworten?«, antwortet er böse lächelnd.

»Ach so. Ähm ... ja, gleich. Ich würde nur gern vorher ...« Ihre Hand deutet auf ihre Mitte.

»Natürlich. Ich warte in der Bibliothek.«

»Gut.« Damit lässt sie beide einfach stehen und entflieht der Küche. In der Bibliothek also. Dort hat er sich breitgemacht.

Wenig später betritt Sarah frisch geduscht und noch mit feuchtem Haar die hauseigene Bibliothek. Thomas Odenberg sitzt, Unterlagen studierend, an einem der Tische. Weitere Briefe, Akten, Kassenbons und Rechnungen liegen in rauen Mengen auf der Tischplatte.

Sie bläst die Backen auf, als sie das Chaos überblickt.

»Ja, so habe ich auch reagiert«, bestätigt er und bedeutet ihr mit der Hand sich zu ihm zu setzen.

»Ich bin ... Sie haben ja recht, Buchhaltung, gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen«, gibt sie zerknirscht zu uns setzt sich ihm gegenüber.

»Das sehe ich. Hm.« Sein Blick wandert über den Papierberg. »Was ich nicht verstehe ... «, beginnt er leise und sieht ihr direkt in die Augen. »...

Wie können Sie überleben? Wie halten Sie das Ganze hier ...« Seine Hand beschreibt eine ausholende Geste. »... am Laufen? Das Haus ist tipptopp in Schuss. Das Dach ist recht neu eingedeckt, hat mir Ihre Tante verraten. Ebenso, wie sie mir sagte, dass sie keine regelmäßigen Einkünfte haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Mitchell, ich bin nur neugierig. All diese Tiere. Futterkosten. Und so. Wovon bezahlen Sie das alles?«

»Wir kommen klar«, blafft sie ihn an.

»Das sehe ich. Aber die Frage ist doch, wie. Wovon bezahlen Sie ihre Fixkosten?«

Sie schweigt.

»Gut. Wie Sie wollen.« Er zieht eine Akte zurate. »Hier steht, sie hätten hier einmal eine Tierarztpraxis betrieben, den Betrieb jedoch rasch wieder aufgegeben.«

Abwartend sieht er sie an.

»Was denn? Das stimmt. Es lief nicht und da habe ich wieder aufgehört.

Von relativ rasch kann jedoch keine Rede sein. Beinahe zwei Jahre habe ich durchgehalten.«

»Aber die Praxis ist voll eingerichtet. Sie ist sauber und ich hatte den Eindruck, sie könne jederzeit... benutzt werden.«

»Kann sie auch.«

»Verstehe. Und warum arbeiten Sie dann nicht als Tierärztin?«

Ein Achselzucken kommt zur Antwort.

»Frau Mitchell, bitte, ich möchte es doch nur verstehen ...«

Sarah herrscht ihn über den Tisch hinweg an, »Sie mich verstehen? Von wegen. Sie wollen nur herumschnüffeln und schauen, wo Sie mir Geld abluchsen können.«

»Frau Mitchell, ich bitte Sie.«

»Sie können bitten, solange Sie wollen. Von mir dürfen Sie keine Kooperationsbereitschaft erwarten. Sie haben doch alles. Machen Sie ihre Arbeit, Herr Odenberg!«

»Sie haben ein völlig verschobenes Bild meiner Tätigkeiten.«

Sie zuckt die Schultern.

Trotzig verschränkt er seinerseits die Arme vor der Brust und sieht sie herausfordernd an. Schweigen macht sich breit. Schließlich gibt Sarah nach und gestattet ihm einen kleinen Einblick.

»Sie haben recht, ich habe keine regelmäßigen Einkünfte. Nur gelegentlich einmal, wenn doch mal jemand mit seinem kranken Tier herkommt.«

»Also ist die Tierarztpraxis doch der Öffentlichkeit zugänglich?«

»Natürlich ist sie das. Nur will keiner zu mir kommen.«

Eben sagten Sie noch, dass eben das mitunter doch passiert.«

»Sagen Sie mal, hören Sie überhaupt zu?«, blafft sie. »Gelegentlich mal.« Den letzten Satz betont sie bewusst für den offensichtlich geistig eingeschränkten Mann. »Nur, wenn Frank Grabowski, ein anderer Tierarzt, im Urlaub ist oder so. Meist werde ich mit Naturalien bezahlt.«

Sein Blick wandelt sich von Entsetzen, zu Angewidert sein, bis zu Neugier.

»Nicht das, was Sie denken«, weist sie ihn in die Schranken. »Eier, Schinken, Tankfüllung. Haushaltshilfe. Das meinte ich.«

»Haben Sie die Haushaltshilfe angemeldet?«

»Was?«, kreischt Sarah. »Ich habe doch gerade gesagt, dass mir solch eine Tätigkeit oft als Gefälligkeit angeboten wird.«

»Immer eine Sache der Auslegung. Wenn Sie hier jemanden schwarz beschäftigen, muss ich das melden.«

»Oh Gott, Ihnen ist wirklich nicht mehr zu helfen«, stöhnt sie und fahrt sich mit den Händen durch das Haar.

»Ich mach' nur Spaß.« erklärt er lächelnd und sieht sie an. Für den Bruchteil eines Augenblicks sieht sie ihn in einem anderen Licht.

»Seltsamer Humor. Das kann ich nach so einem Tag nicht gebrauchen«, seufzt sie und streicht sich das Haar mit beiden Händen zurück.

Er steht auf, schlendert um den Tisch herum und sieht aus dem Fenster.

»Sie haben sich hier viel aufgeladen. All die Arbeit und sie sind nur zu zweit.«

»Allein«, stellt Sarah richtig.

»Wie meinen?«

»Ich mache sie allein. Dörthe bestellt das Haus. Sie kauft ein, kocht und ... und so.«

»Verstehe.«

»Das ist ja was ganz Neues«, denkt sie für sich.

»Umso erstaunlicher, dass Sie das alles schaffen.«

»Ich bin eine Kämpfernatur«, murmelt sie.

»Sicher.«

Schweigen macht sich breit.

»Können Sie es mir nun erklären?«, bricht er dieses nach etwa eine Minute.

»Was? Dem Weg nach Hause? Immer die Einfahrt runter, dann links und ab der Bundesstraße ist Berlin ausgeschildert.«

Thomas tut so als würde er lachen. »Sehr witzig. Nein, ich meinte meine Fragen. Wie können Sie allein, ohne Einkünfte, das alles stemmen? Sind Sie reich oder so was?«

»Klar, meine Mutter ist die heimliche Schwester von King Charles.«

»Ach, ist das so? Interessant«, entgegnet er sarkastisch.

»Ja, meine Apanage beläuft sich auf 10.000 Pfund Sterling im Monat.

Aber das darf niemand wissen«, entgegnet sie trocken und besiegt sich ihre Fingernägel.

Energisch zieht er den Stuhl neben ihr unter dem Tisch hervor und setzt sich. »Können wir jetzt endlich mal ernsthaft miteinander reden?« Nun war es an ihm, sich genervt mit der Hand die Frisur zu ruinieren.

Belustigt registriert sie, wie es ihm jetzt sexy in die Stirn fallt. An diesem Fensterplatz fallt das Sonnenlicht direkt auf ihn, umfangt ihn wie einen Heiligenschein und lässt sein braunes Haar in schier unendlichen Facetten glänzen. Fasziniert starrt sie ihn an. Erst jetzt bemerkt sie seine jadegrünen Augen, die vollen Lippen, den Bartschatten. Alles an diesem Mann war sexy. Zumindest sagte ihr Herz das und geriet sofort ins Stolpern. »Hey Körper, könntest du dich bitte weniger wie eine untervögelte Jungfrau aufführen!«, mahnt sie sich in Gedanken.

»Hallo?«, holt seine tiefe Stimme sie aus ihren Grübeleien.

Oh Gott! Hoffentlich hatte sie nicht gesabbert. Wie peinlich, so beim starren ertappt zu werden. Hoffentlich würde ihn das nicht auf falsche Gedanken kommen lassen. Um keinen Preis möchte sie, dass er länger als nötig in ihrem Haus bleibt. Und genau deswegen wird sie Zugeständnisse machen müssen. Nur so wird sie seine berufliche Neugier stillen und ihn schnell loswerden können. Diesen nervigen, selbstgefälligen, arroganten sexy Großstädter.

Genervt fahrt sie ihn an, »Also gut. Ja, ich beziehe keine regelmäßigen Einkünfte. Zumindest keine Löhne oder Ähnliches.«

Thomas horcht auf. Förmlich kann sie seine gespitzten Ohren sehen.

»Ich habe geerbt. Dieses Anwesen zum Beispiel. Und ich bekomme Geld. Unter anderem von meinen Eltern.«

»Okay. Und das genügt, um Ihre Fixkosten zu bestreiten?«

»Offensichtlich.«

»Gut. Und um wie viel Geld sprechen wir?«

»Mensch, ich frage Sie doch auch nicht, wie Sie solch ein Auto finanzieren können.« Ihre Hand deutet in Richtung Fenster unter dem, auf dem Vorplatz, noch immer der blaue Audi dieser Nervensäge steht.

So langsam verlässt sie die Kraft für diese Art Gespräch. Nicht heute.

Nicht mit ihm.

»Das tut hier nichts zur Sache«, entgegnet er ruhig. »Aber wenn Sie es unbedingt wissen möchten. Ich würde Ihnen antworten, durch Fleiß.«

Was bildet der sich ein? Wütend springt sie auf. »Wollen Sie sagen, ich sei nicht fleißig weswegen ich mir auch nur solch einen klapprigen Jeep leisten kann?«

»Was?«, keucht er und springt seinerseits ebenfalls auf.

»Was wissen Sie denn schon von mir?«, ruft sie wütend.

»Ja, das ist es doch gerade. Nichts.«

»Ja, genau.«

»Dann also bitte. Verdammt noch mal. Ich hab' auch keinen Bock hier zu sein«, schreit er.

»Dann geh doch! «

»Würde ich auch am liebsten.«

»Da ist die Tür.« Ihre Hand deutet auf genanntes.

Ein sarkastisches Lachen kommt zur Antwort. »Ich bin nicht dafür bekannt leichtfertig aufzugeben. Sie haben mich an der Backe, bis ich mich da durch gearbeitet habe.« Seine große Hand deutet auf den Papier er auf dem Tisch.

»Dann will ich Sie nicht aufhalten. Umso schneller bin ich Sie los. Guten Tag!«

Als sie sich an ihm vorbeischieben will, hält er sie am Oberarm fest.

»Sarah, bitte«, flüstert er mit einem Mal vollkommen ruhig.

Ihrer beiden Blicke liegen auf seiner Hand. Rasch windet sie sich aus seinem Griff und läuft zur Tür. »Sorry, aber ich hab' keinen Bock mehr.«

»Sarah.« hört sie ihn noch rufen, ehe sie die Tür hinter sich zuschlägt.

Was war nur mit dieser Frau los? Eine solche Furie war ihm noch nie untergekommen. Auch solch eine Schlamperei hatte er in seiner bisherigen Laufbahn noch nie gesehen. Wie sie es schaffte, da den Durchblick zu behalten, war ihm schleierhaft. Kopfschüttelnd widmet er sich erneut den Unterlagen. Doch nach wenigen Minuten gibt er auf.

»Das ist unmöglich«, schimpft er leise vor sich hin. Ohne ihre Mitarbeit würde er Wochen benötigen. Erst recht, wenn ihre Einkünfte von privaten Geldgebern kommen. Diese Frau trägt ein Geheimnis mit sich herum und er würde nicht eher Ruhe geben, ehe er es gelüftet hat.

Vorhin hatte er von dieser Tante einen echt guten Kaffee bekommen.

Genau so einen brauchte er jetzt noch einmal. Vielleicht hatte sie sogar noch ein weiteres Stück Kuchen übrig? Denn, auch wenn man es ihm nicht ansieht, für Süßigkeiten schlägt sein Herz.

Langsam schlendert Thomas die obere Galerie entlang. Ein riesiges dunkles Gemälde im Goldrahmen bedeckt beinahe die gesamte Fläche der Wand. Um zu erfassen, was er dort betrachtet, fehlt ihm der künstlerische Blick. Doch der dunkle Parkettboden, die hellen Sandsteinsäulen, die uralten hölzernen Flügeltüren dagegen sprechen ihn sehr wohl an. Das ganze Gutshaus strahlt eine urige Gemütlichkeit aus.

Klar, hier und dort blättert mal die blaue Farbe von den Türen oder eine Säule hat einen kleinen Schmiss, doch alles hat seinen Charme. Kaum hatte er vorhin das Haus zum ersten Mal betreten, umfing ihn sogleich ein heimeliges Zuhause Gefühl. Diese Dörthe, als Hausherrin, macht das Bild rund. Eine gemütliche, freundliche, ältere Dame. Doch ihre Nichte...

Ein seltsames Geräusch dringt an sein Ohr. Sind das Pfoten auf Steinboden? Neugierig beugt er sich leicht über das hölzerne Geländer und späht in die Tiefe. Am Fuß der Treppe humpelt ein mittelgroßer Hund über den Fliesenboden und sieht zu ihm auf. Kaum treffen sich ihre Blicke, beginnt sein Schwanz wie verrückt hin und her zu wedeln.

»Na, wer bist du denn?«, murmelt er freundlich und beginnt den Abstieg.

Aus den Augenwinkeln sieht er erneut die zahlreichen gerahmten Kinderzeichnungen an der Wand. Kinder hat er hier keine entdecken können. Auch keine Anzeichen, die auf einen gelegentlichen Aufenthalt solcher hinweisen.

Unten umrundet das Tier seine Beine wieder und wieder. Sein freudiges Bellen hallt in dem gemütlichen Eingangsbereich mit der hohen Decke wieder. Doch niemand kommt, um nachzusehen, weshalb das Tier sich so aufführt. »Ja, ich freue mich auch dich kennenzulernen«, flüstert Thomas und geht in die Hocke, um ihn zu streicheln. Ganz entgegen seiner sonstigen Abneigung gegen Tiere aller Art regt dieses in ihm etwas an. Vielleicht ist das dem Umstand geschuldet, dass er auf drei, statt vier Beinen durchs Leben humpelt. »Was ist denn mit dir geschehen?«

»Wuff«, antwortet der kleine Kerl.

»Hast es wohl nicht leicht, was?«

Wieder antwortet der Hund.

»Hier hast du es gut, oder? Zu euch Tieren ist sie sicherlich netter.«

Der Hund legt den Kopf schief und sieht ihn an. Wuff. Das klang ganz so, als würde er fragen, »Wovon redest du? Sarah ist doch die liebste Frau auf Erden.«

»Ja, zu euch Tieren vielleicht. Mich scheint sie nicht zu mögen.«

Der Rüde leckt ihm die Hand.

Grinsend wischt er den Speichel an seiner Hose ab. »Du meinst, das wird schon? Da bin ich nicht sicher.«

Langsam kommt er auf die Füße. Der Hund humpelt voran. Mit einem Lächeln auf den Lippen folgt Thomas ihm. In der Küche können sie beide etwas erschnorren.

Nachdem Dörthe dem Tier ein getrocknetes Schweineohr und Thomas einen Kaffee eingeschenkt hat, setzt sie sich zu ihm an den Tisch.

»Komisch, so habe ich Rudi noch nie gesehen.«

»Wie?« Er nimmt einen Schluck.

»Na ja, der lässt nicht einmal Sarah so nah an sich ran.«

»Nicht?«

Die ältere Dame schüttelt den Kopf. »Seit über drei Jahren ist er jetzt schon bei uns und noch nie haben wir ihn so ... fröhlich gesehen.«

»Ach, das ist doch quatsch. Er scheint doch ein lustiges Kerlchen zu sein.«

»Vielleicht war er das mal? Früher. Vor seinem Unfall.«

»Unfall? Sie meinen, bei dem er sein Bein ... «

»Stimmt. Er wurde wohl ausgesetzt. Auf einer Autobahnraststätte.«

Wut flammt in ihm auf. Warum tun Menschen so etwas? Er selbst war nie der große Tierfreund, doch so etwas tut man keinem anderen Lebewesen an. »Wie furchtbar!«

»Es kommt noch dicker.«

»Wie?«

»Er konnte sich aus dem Halsband befreien, lief auf die Fahrbahn und ...«

»Oh Gott! Sagen Sie nicht, er wurde ... «

»Doch. Überfahren. Er war so schwer verletzt, dass das eine hintere Bein nicht mehr gerettet werden konnte.«

»Sarah hat ihn gefunden?«

Dörthe Lehmann nickt. »So ist es. Die Leute, vor deren Auto der Hund gerannt war, sind mit ihr bekannt und haben sie angerufen.«

»Verstehe.«

»Sie hat alles gegeben, doch das Bein konnte niemand mehr retten.«

»Wie traurig für ihn.«

»Das dachte ich bisher auch. Rudi hat es uns spüren lassen.«

»Was meinen Sie?«

»Die Wut um den Verlust seines Beines.«

»Aber Sarah hat doch alles getan ...«

»Jetzt haben Sie sie schon zweimal beim Vornamen genannt.«

»Was? Wen?«

Statt einer Antwort lächelt die ältere geheimnisvoll.

Verwirrt fahrt er fort, »Er ist zu mir gekommen.«

»Offensichtlich. Sonst verkriecht er sich irgendwo draußen. Kommt nur zum Fressen mal mit den anderen Hunden zusammen.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Gerade wirkt er eher als sei der freundlich und verspielt. Der kleine Kerl.«

»Tja, Herr Odenberg, Sie scheinen ein gutes Händchen für Hunde zu haben.«

Lachend winkt er ab. »Sicher nicht. Ich kann nicht gut mit Tieren. Das konnte ich noch nie.«

»Sie hatten wohl nie einen eigenen Hund?«

Er schüttelt den Kopf.

»Auch keine Katze, Kaninchen oder Wellensittich?«

Erneutes Kopfschütteln. »Meine Eltern hatten eine Landwirtschaft. Oder haben sie noch immer.«

»Ist nicht wahr?«, staunt sein Gegenüber.

»Doch. Leider.« Betreten sieht er auf seine gefalteten Hände auf der Tischplatte. »Ich konnte damit nie etwas anfangen. Bin so bald es ging von da weg.«

»Wirklich? Erzählen Sie!« Erwartungsvoll stützt sie das Kinn in die Hände und sieht ihn an.

Und Thomas erzählt von seiner Kindheit auf dem Gut seiner Eltern im tiefsten Erzgebirge. Seine Abneigung gegen alles Bäuerliche, Dörfliche und seine Flucht, kaum 18 geworden in die Stadt. Seines Jura Studiums und der Arbeit. Wie sehr sie ihn erfüllte und sich auch finanziell auszahlt. Auf ihre Frage, ob ihn das alles glücklich machte, antwortete er wie aus der Pistole geschossen ja.

»Wirklich? Ich habe noch nie jemanden getroffen, den ein solch oberflächliches Leben glücklich macht«, murmelt sie gedankenverloren.

»Oberflächlich?«, staunt er.

»Nun ja, Sie sind allein. Haben nicht einmal ein Haustier. Niemand ist am Abend zu Hause, wenn Sie heimkommen. Niemand da, der auf Sie wartet. Mit dem Sie reden können.«

»Wer sagt, dass da niemand sei?«, echauffiert er sich halbherzig.

»Sie haben niemanden erwähnt. Nur, wofür Sie ihr Geld ausgeben. Ich habe den Eindruck, dass Ihr Auto an erster Stelle steht.« Ihr durchdringender Blick geht ihm durch Mark und Bein.

»Ist das nicht traurig?« Damit erhebt sie und wendet sich ab. Getroffen, bleibt er zurück.

War das wirklich so traurig? Bisher ging es ihm gut damit. Natürlich ergriff ihn mitunter eine gewisse Melancholie, wenn Kollegen von ihren Familien erzählten. Wenn sie berichteten, wie ihre Kinder die ersten Worte gesprochen, wenn sie den ersten Schultag hatten. Auch bei Gesprächen über Partnerinnen konnte er kaum mitreden. Frauen, die bisher sein Leben gekreuzt haben, hatten jedes Mal andere Vorstellungen von einer Beziehung. Sie wünschten sich, eine Familie zu gründen.

Erwarteten einen Antrag. Von einem Mann in seinem Alter setzt man einfach voraus, ebensolche Wünsche zu haben.