Glückssterne leuchten in vielen Welten - Savannah Lichtenwald - E-Book

Glückssterne leuchten in vielen Welten E-Book

Savannah Lichtenwald

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Beschreibung

Sterne leuchten nicht nur am Nachthimmel. Auch in der Kaffeeküche der Firma, zwischen alten Rostlauben oder hinter der Sperrholztür nebenan kann man seinen persönlichen Glücksstern finden. In drei Lebenswelten wird von Männern erzählt, die dort so viel mehr bekommen als sie erwartet hatten.

Alle Kurzgeschichten wurden bereits in anderen Gay Romance Anthologien oder auf Online-Plattformen veröffentlicht und sind hier nun thematisch zusammengefasst.

Harris Surprises
Die Eroberung des Spötters
Moppelchens Wichtelgeschenk
Mann, Maus oder Vollidiot

Schrottplatz-Blues
Silent tears
Silent desire

Unter einem Dach – WG-Romanzen
Das hässliche Fröschlein
Eine Dosis Frühlingsluft
Walgesänge

Themen: Bürotratsch, Schrottautos, nervige Mitbewohner und Happy Ends
Begriffserklärung: Gay Romance = queere in diesem Fall schwule  Liebesgeschichten

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Savannah Lichtenwald

Glückssterne leuchten in vielen Welten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Widmung

Für Diana

Die sich drei Geschichten aus drei völlig verschiedenen Welten in einem Band gewünscht hat. Wie du siehst, haben die Männer ein paar Freunde mitgebracht.

 

Für K.

Deinen Wunsch, die Harris-Jungs unter einem Dach zu vereinen, habe ich hiermit erfüllt. Deinen Wunsch nach Privatsphäre auch. Weitere Wünsche nehme ich vorerst nicht entgegen.

Die Eroberung des Spötters (Harris Surprises)

Sven Klingenberg arbeitet als Produktmanager bei Harris Electronics und ist endlos genervt. Seit sechs Monaten läuft Aaron Winter, einer der Entwickler, ihm ständig hinterher und quasselt ihm das Ohr ab. Dann kommt der Tag, an dem das Maß voll ist und Sven etwas tut, das alles verändert – vor allem ihn selbst.

 

 

Montagmorgen und die Türen öffnen sich nicht. Die Woche fängt ja gut an. Mein Adrenalinpegel steigt und ich bete, dass ich gleich das ersehnte leise „Pling“ höre. Aber es tut sich nichts. Mit mir warten acht andere Kolleginnen und Kollegen im Erdgeschoss der Firma Harris Electronics auf den Aufzug. Die sehen zum Teil wacher aus als ich, was kein Wunder ist. Zum einen bin ich ein Morgenmuffel und zum anderen war mein Wochenende etwas stressig. Von einem Club zum nächsten ziehen, schlaucht ganz schön, etwas Restalkohol habe ich auch noch im Blut.

Da machen einige andere hier einen wesentlich fitteren Eindruck. Zumindest im Gesicht, der Rest steckt, genau wie ich, in Anzug und Krawatte. Ohne Sakko und Kulturstrick um den Hals geht in diesem Haus nichts, selbst die Entwickler im obersten Stockwerk tragen feinen Zwirn. Ganz sicher sind die übrigen Wartenden jedoch nicht so ungeduldig wie ich, endlich ihren überfüllten Schreibtisch zu erreichen.

Langsam werde ich nervös, meine Zeit läuft ab, ich weiß, dass es nur noch Sekunden dauern kann. Meine Stirnfalten senken sich, die rechte Hand hält die Aktenmappe fester, ich trete von einem Fuß auf den anderen. Links und rechts von mir höre ich die Guten-Morgen-Grüße, wenn wieder jemand dazukommt, um auf den Aufzug zu warten. Die Treppe könnte ich auch nehmen, aber ich bin lauffaul und hoffe jeden Morgen auf mein Glück. Manchmal verlässt es mich, dann muss ich leiden. Oh ja, ich leide, und heute morgen werde ich wieder leiden, wenn dieser elende Lift nicht gleich erscheint.

Zu spät, da kommt er schon. Nein, nicht der Aufzug. ER kommt, mein Untergang, meine Nemesis, meine ganz persönliche Apokalypse. ER, das ist Aaron Winter. Strahlend läuft er auf mich zu und legt los, wie er das immer tut, wenn er mich irgendwo erwischt.

 

„Guten Morgen, Sven“, flötet er fröhlich und labert mich voll, als hätten wir uns zwanzig Jahre nicht gesehen. Siehe da, jetzt kommt der Aufzug, der Verräter, die Türen öffnen sich. Aber jetzt ist es zu spät, Aaron hat mich schon am Wickel. Innerhalb vier Minuten weiß ich, was er am Wochenende so alles gemacht hat und wie es ihm heute morgen geht.

Vor einem halben Jahr hat er hier als Elektroingenieur angefangen und ich weiß alles von ihm. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, also ein Jahr jünger als ich, hat fünf Geschwister und im Kleiderschrank sechs Anzüge. Er liebt Bücher und Computer-Rollenspiele, geht kaum aus, trinkt zuviel Kaffee, dafür raucht er nicht. Schule und Studium hat er jeweils mit Bestnoten abgeschlossen, legt aber keinen Wert auf Karriere. Ihn interessiert nur die geistige Herausforderung bei der Entwicklung neuer Produkte. Sein Schreibtisch steht am Fenster, seine Kollegen in der Entwicklungsabteilung sind nett und der Kaffeeautomat da oben im zwanzigsten Stock funktioniert manchmal nicht.

Die Aufzählung ließe sich beliebig fortführen, denn er lässt es mich wissen, wenn es etwas Neues gibt. Jeden Tag, seit sechs Monaten. Meine freundlichen Hinweise, er möge mich in Ruhe lassen, ignoriert er. Dass ich keine Zeit habe und nicht mit ihm reden will, nimmt er nicht zur Kenntnis. Elegant geht er darüber hinweg und quasselt weiter, bis mir das Blut aus dem Ohr läuft.

Endlich, vierundzwanzig Stockwerke später hat das Wunderwerk der Technik Mitleid und spuckt mich und drei Kollegen aus meiner Abteilung in den Flur hinaus.

„Tschüss, Sven, ich freue mich schon aufs Mittagessen, wir sehen uns bestimmt“, ruft Aaron mir gutgelaunt hinterher.

 

Oh ja, ich freue mich auch schon. Und wie ich mich freue, ihm zuzuhören, während ich versuche, den ungenießbaren Fraß der Kantine herunterzuwürgen. Müde schlappe ich zu meinem Büro, lasse mich auf den Schreibtischstuhl fallen und seufze schwer.

„Naaaa? Hat er dich wieder erwischt?“, fragt mein Gegenüber schadenfroh. Das „Naaaa“ zieht er genauso hämisch nach oben wie seine Mundwinkel.

„Halt bloß die Klappe, sonst kannst du dein Wonder-Projekt alleine machen“, grunze ich zurück.

„Ach, was sind wir wieder höflich heute morgen“, erwidert Matthias, mein Kollege, ironisch. „Wenn du nicht so ein schlechtgelaunter Spötter wärst, ginge es uns allen besser. Vielleicht ist dieser Aaron gar nicht so übel. Unterhalte dich doch mal mit ihm, statt ihn nur anzuknurren.“

„Von dem weiß ich mehr, als ich je wissen wollte“, motze ich. Den angepissten Tonfall kann ich nicht unterdrücken. Matthias zuckt resigniert mit den Schultern und dreht den Kopf wieder in Richtung Bildschirm.

 

Hatte ich schon erwähnt, dass meine sozialen Kompetenzen auf einem unteren Level rangieren? Ein Sonnenscheinchen war ich noch nie, was zum einen an meinen gefühlsreduzierten Eltern liegt und zum anderen daran, dass ich schwul bin. Da halten sich freundliche Begegnungen in Grenzen. Meine Kontakte zu anderen beschränkten sich meistens auf die Hände, die meinen Kopf in die Kloschüssel drückten oder auf Beleidigungen, die mir hinterhergerufen wurden. Mein Arsenal an Schimpfworten hat sich dadurch beträchtlich erweitert und hält mir die Nervensägen vom Hals.

Die Schläger trauen sich auch nicht mehr an mich ran. Pubertät und eisernes Training im Fitnessstudio haben aus mir einen ein Meter fünfundachtzig großen Mann mit kräftigen Armen gemacht. Das Ganze garniert mit dunkelbraunen Haaren und blauen Augen kann ich mich überall sehen lassen, vor allem in meinen Kreisen bin ich begehrt.

Im Großen und Ganzen wäre mein Leben also zufriedenstellend, wenn, ja, wenn mir nicht ständig Aaron hinterherlaufen würde wie ein Hündchen. Wo auch immer er mich abfangen kann, quatscht er mir die Ohren ab. Sülzt mich voll, als wären wir die besten Kumpels. Dass ich nur einzelne Worte zurückbrumme, scheint ihn nicht zu stören. Mein abweisender Gesichtsausdruck auch nicht. Der Mann kennt keine Grenzen. Vielleicht sollte ich ihm mitteilen, dass ich schwul bin, manche Männer schreckt das ab.

Lustlos schiebe ich Dateien hin und her, mein inneres Angestellten-Produktmanager-Programm ist noch nicht ganz hochgefahren. Ob Aaron verheiratet ist? Möglich wäre es, hässlich sieht der Mann nicht aus. Blond ist er, schlank und einen Kopf kleiner als ich. Brille, Beruf und Hobbys geben ihm allerdings etwas Nerd-mäßiges. Günstigerweise sollte seine Frau oder Freundin taub sein, damit sie die Flut an Worten erträgt, die er von sich gibt.

Warum denke ich überhaupt darüber nach? Das Plappermaul ist mir völlig egal, und wenn ich meinen heutigen Zeitplan bedenke, sollte ich mich ranhalten.

 

Stunden später ist endlich Mittagspause, nach ungezählten Telefonaten und einer Videokonferenz mit unterschwelligem Aggressionspotential brauchen meine Hirnzellen etwas Erholung.

Was steht auf dem Plan? Aha, undefinierbares Gemüse mit Kartoffelersatz und Schnitzel von irgendeinem exotischen Tier, Schwein ist es sicher nicht, so wie es aussieht. Die Sitzplatzsuche ist spannend wie immer, die meisten Tische sind voll besetzt. In der Umgebung gibt es nicht viele Möglichkeiten, etwas zum Essen zu bekommen, sodass die meisten doch immer wieder hierherfinden.

Setze ich mich jetzt zur Vegetarier-Salat-Fraktion oder zur Abteilungsleiter-Ich-kann-nur-über-Arbeit-reden-Gruppe? Was für ein Glück, zwei freie Plätze am Vierertisch bei den Jungs aus dem Service. Die sind entspannt und immer für einen flapsigen Spruch zu haben. Zwei Minuten später beklage ich still mein Unglück. Aaron setzt sich auf den zweiten Stuhl und legt los.

„Hi Sven, das ist ja toll, dass hier noch ein Platz frei ist. Ganz schön voll ist es heute wieder. Stell dir vor, unser Halbleiter-Problem konnte gelöst werden. Der Einkauf hat einen Hersteller gefunden, der ...“ Aaron quasselt los, als hätte jemand seinen roten Sprachknopf gedrückt. Keine Gnade, kein Erbarmen. Zehn informationsgefüllte Minuten später düdelt sein Handy. „More than words“ von Extreme, wie zum Teufel kommt man auf so einen Klingelton?

Leise spricht Aaron mit irgendeinem Kollegen, entschuldigt sich und eilt hastig zur Tür, nachdem er sein Tablett zurückgestellt hat. Der Gott der Idioten und Armleuchter hat mich erlöst. Ich spreche ein kurzes Dankgebet und kann endlich in Ruhe fertig essen und an die Arbeit zurück.

 

Der Tag hat es in sich, ein Projekt verzögert sich, zwei aufgebrachte Kunden lassen sich telefonisch nicht abwimmeln und in meinem Papierstapel gibt es auch noch ein paar Tretminen. Meine Nerven sind etwas angegriffen, heute darf nichts mehr schiefgehen, sonst explodiere ich. Am späten Nachmittag will ich mir einen Kaffee holen und treffe in unserer Kaffeeküche ausgerechnet Aaron.

„Hi Sven, was für ein Zufall, dass ich dich hier sehe. Unser Automat ist wieder kaputt, da dachte ich mir, ich klaue mir eine Tasse bei euch“, spricht er mich an. „Übrigens ...“

Und weiter geht’s, ich kann es nicht mehr hören und sehe rot. Irgendwie muss ich ihn zum Schweigen bringen. Etwas grob ziehe ich ihn an den Aufschlägen seines Jacketts zu mir und drücke ihm den Mund auf die Lippen. Ein großer Küsser bin ich nicht, aber Aaron macht irgendwas mit mir, dass ich mich nicht von ihm trennen kann. Sein Mund ist sanft, warm und weich.

Nach einer Sekunde erwidert er den Kuss, ich spüre seine Zunge. Meine eigene habe ich nicht unter Kontrolle. Sie verrät mich und schlingt sich um seine. Zierliche Hände legen sich auf meine Oberarme, seine Stimme quasselt nicht, sie seufzt. Mein Erregungsbarometer steigt schlagartig an, im Kopf und in der Hose. Scheiße, so war das nicht geplant. Eigentlich hatte ich überhaupt nichts geplant. Ich wollte nur, dass er endlich den Mund hält. Diesen göttlichen, zarten Mund, den ich jetzt überstürzt verlasse.

„Jetzt habe ich vielleicht endlich Ruhe vor dir“, schnauze ich ihn an und rette mich in meinen Sarkasmus. Meine Hände lösen sich von Aarons Sakko und mein Verstand kommt wieder in Gang.

Aaron öffnet die Augen, wirkt etwas benommen, ein hinreißender Schlafzimmerblick trifft mich. Dann wacht er auf, sieht mich erschüttert an, noch nie habe ich ihn so ernst gesehen. Seine Augen schimmern feucht. Grün sind sie, wunderschön grün, wie eine Frühlingswiese, ist mir bisher nicht aufgefallen.

„Das war nur … du hast mich nur … weil … ich …“, stottert er aufgelöst.

Ich drehe mich wortlos um, lasse ihn dort stehen und laufe zügig zu meinem Büro zurück. Mein Herz donnert in meinem Brustraum, meine Hose ist kurz vorm Platzen und mein Hirn zeigt mir ununterbrochen Aarons verstörten Gesichtsausdruck. Wie ein verwundetes Tier hat er ausgesehen. Ich fühle mich unwohl, als hätte ich aus Versehen ein Katzenjunges getreten. Tief durchatmend widme ich mich meinen Aufgaben. Schließlich werde ich hier nicht für Gefühlsausbrüche bezahlt.

 

Die Verdrängungstaktik funktioniert hervorragend, bis ich abends im Bett liege und mich mit dem Versuch abmühe, einzuschlafen. Genervt drehe ich mich hin und her, kann auf keiner Seite mehr liegen. Mein Körper hat mir den Krieg erklärt: er hat den Blutdruck erhöht, die Temperatur hochgetrieben und mir einen harten Ständer verpasst. Mein Kopf spielt das Spiel mit und malträtiert mich mit Bildern von Aarons grünen Augen, seinen blonden Haaren, den schlanken Händen.

Meine Ohren sind in einer Wiederholungsschleife und spulen immer wieder seine letzten Worte ab, abwechselnd mit dem kleinen Seufzer, den Aaron von sich gegeben hat. Mein Mund fühlt noch seine Zunge, die Sanftheit, die unterdrückte Leidenschaft. Als wäre das nicht genug, beschert mein Gehirn mir obendrauf noch ein massives schlechtes Gewissen. Ich wusste gar nicht, dass ich zu so etwas fähig bin.

Irgendwann schlafe ich doch ein und wache morgens verschwitzt wieder auf. Völlig verknautscht quäle ich mich aus dem Bett und ringe mich auf dem Weg zur Arbeit zu einem Entschluss durch. Ich werde etwas tun müssen, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan habe – mich entschuldigen.

 

Vor dem Aufzug sehe ich ihn nicht, auch beim Mittagessen taucht er nicht auf. Frustriert stehe ich mit meinem Tablett in der Schlange vor der Essenstheke, Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr.

„Aaron hat sich krankgemeldet.“

„Hat er gesagt, warum?“

„Blöde Frage, du weißt doch, dass er nie was sagt.“

„Hast recht, ich ziehe die Frage zurück.“

Gelächter folgt und ich bin mehr als verwirrt. Gibt es hier noch einen Aaron? So verbreitet ist dieser Name nicht, dass man ihn an jeder Ecke hören würde.

Die nächsten Stunden versuche ich, irgendwas halbwegs Produktives zustande zu bringen und versage. Nichts klappt auf Anhieb, ständig muss ich an Aaron denken. Ich ertappe mich dabei, dass ich geschlagene zehn Minuten auf meinen Bildschirm starre, ohne etwas wahrzunehmen.

Langsam begreife ich, dass die Quasselstrippe mein Herz erreicht hat. Dessen Existenz war mir bisher nicht bewusst, aber ich muss eines haben. Es schlägt mit erhöhter Frequenz und flüstert kitschiges Zeug vor sich hin. Mein Gewissen drückt mir gegen den Schädel, mein Ständer gegen den Hosenstoff.

 

Nachmittags halte ich es nicht mehr aus. Ich muss rausfinden, ob es Aaron gutgeht und begebe mich im Laufschritt zum Lift, dann den Flur entlang und hinein in die Entwicklungsabteilung. Hier bin ich noch nie gewesen, mit den zwölf Herren und den zwei Damen habe ich wenig gemeinsam. Sie leben in einem Elfenbeinturm, sprechen in unverständlicher Techniksprache und erfinden gerne Produkte, die auf dem Markt keiner braucht.

Ich greife mir den ersten, der mir entgegenkommt, Schubert heißt er, soweit ich mich entsinnen kann.

„Hallo, ich muss mit Aaron Winter sprechen. Ist er da?“

„Nein, der ist heute krank. Um was geht es denn?“, antwortet Schubert und sieht mich neugierig an.

„Es ist eher privat. Wir haben uns unterhalten und da will ich ihn noch etwas fragen“, gebe ich unwillig Auskunft.

„Unterhalten?“, sagt Schubert und grinst. „Sie haben sich mit Aaron unterhalten? Sind Sie sicher, dass das nicht jemand anders war? Aaron unterhält sich mit niemandem.“

„Unsinn, er redet wie ein Wasserfall und ich muss ihn wirklich dringend sprechen“, entgegne ich gereizt.

Schubert lacht und sagt dann amüsiert: „Dann müssen Sie ihn ganz schön aus der Fassung gebracht haben. Aaron spricht kaum ein Wort. Es sei denn, er ist nervös und aufgeregt. Wenn er ein Konzept vorstellen muss oder sowas. Sonst kriegt er keinen Ton heraus. Glauben Sie mir, wir alle haben schon versucht, mit ihm ein Gespräch zu führen. Das ist aussichtslos. Wenn er nicht so exzellente Ideen hätte, würde keiner merken, dass er hier angestellt ist.“

Mein Hirn bemüht sich verzweifelt, die Information zu verarbeiten und scheitert. Das kann nicht sein, das ist einfach unmöglich, das ist bestimmt jemand anders. Mein Aaron plappert ohne Unterbrechung, von morgens bis abends – mein Aaron? Seit wann ist er mein Aaron? Seit du ihn sprachlos geknutscht hast, kichert der kleine Teufel auf meiner rechten Schulter gehässig. Seit du erkennen musstest, dass du dich in ihn verliebt und ihn verletzt hast, säuselt der kleine Engel auf der linken. Den kenne ich noch nicht. Den kleinen Teufel schon, mit dem unterhalte ich mich regelmäßig.

Etwas konfus verabschiede ich mich von Schubert und strebe zur Personalabteilung. Ich brauche Aarons Adresse, das ist unumgänglich und wenn ich dafür einen Mord begehen muss. In der heutigen Welt funktioniert nichts ohne Beziehungen; meine sind insgesamt zwar verbesserungswürdig, aber die Damen in der Personalabteilung lieben mich. Ich packe meinen ganzen Charme aus und verlasse das Haus mit einem kleinen, äußerst wichtigen Zettel in der Tasche.

 

Mein Navi bringt mich zuverlässig bis zu Aarons Haustür. Leider bringt es mich nicht in seine Wohnung. Es dauert gefühlte drei Stunden, bis er endlich die Tür öffnet. Mein Körper wird schon wieder abtrünnig, er will losstürmen, Aaron an sich reißen und besinnungslos küssen, während mein Verstand auf Notbetrieb umschaltet.

Ich kann mich nicht erinnern, warum Aaron mich jemals genervt hat. Seine blonden Haare fallen ihm struppig auf die Stirn, die grünen Augen fesseln meinen Blick, die schlanke Figur in Jeans und T-Shirt lässt meine Hände zucken. Weiter unten zuckt noch jemand und wird bedeutend größer. Ohne Brille ist Aaron für mich der schönste Mann der Welt, mit Brille natürlich auch. Aber bevor ich ihn überfallen darf, muss ich das Unaussprechliche tun und beten, dass er mich ein bisschen mag.

„Hallo Aaron, ich … äh … ich wollte mich, ähm, entschuldigen.“ Gottseidank, es ist raus.

Der kleine Engel lächelt zufrieden, der kleine Teufel schmollt beleidigt.

Aaron kaut auf seiner Unterlippe, nickt und will die Tür wieder schließen. Das kommt ja gar nicht infrage. Schnell halte ich die Tür fest und drücke sie wieder auf.

„Willst du denn nichts dazu sagen?“ Bitte sag endlich was. Du hast sechs Monate auf mich eingeredet und mich zum Wahnsinn getrieben. Nun stehe ich hier und bettele um ein einziges Wort.

Aaron schüttelt den Kopf, seine Hand hält sich am Türrahmen fest, seine Augen richten sich auf den Teppich.

„Bitte sprich mit mir. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen. Ich mag dich und du hast mich völlig durcheinandergebracht. Können wir nicht nochmal von vorn anfangen? Bitte, Aaron.“ So viele bedauernde Worte habe ich in meinem ganzen Leben nicht von mir gegeben. Aber ich würde diese Ansprache dreimal vor der UNO-Vollversammlung halten, wenn er mich dafür nur ein Mal so küssen würde wie gestern.

„Ich rede zu viel. Du hast mich nur geküsst, damit ich aufhöre“, sagt er schließlich leise. Seine Stimme klingt gehaucht, schüchtern, klein. Ich habe ihn klein gemacht, habe ihm wehgetan. Mein Herz blutet.

„Zuerst ja, das gebe ich zu. Aber du hast dabei irgendwas Wichtiges mit mir angestellt, ich weiß nicht, was, ich kriege dich nicht aus meinem Kopf. Ich will dich kennenlernen, ich meine, wirklich kennenlernen und … ich würde dich gerne nochmal küssen“, erwidere ich und bin kurz vorm Winseln.