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Immer weiter wächst die Stadt und greift gierig nach Bauernland. Sebastian Weingartner, der Jochbauer zu Salm und Bürgermeister seiner kleinen Gemeinde, verfolgt diese Entwicklung mit einigem Unbehagen, denn die städtischen Einflüsse machen sich auch in seinem Dorf bemerkbar. Mit aller Leidenschaftlichkeit und in der Überzeugung, für den Ort und dessen Menschen das Beste zu tun, setzt er sich gegen das stetig und unaufhaltsam einsickernde Neue zur Wehr. Aber er kämpft allein, er kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Ja, nicht einmal seine eigenen Kinder haben für sein Handeln Verständnis: Die Familie wird auseinander gerissen und erst nach langer Irrfahrt müssen sie erkennen, wie Recht der Vater hatte.
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LESEPROBE ZU
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2007
© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelbild: Studio v. Sarosdy, Düsseldorf
Bearbeitung und Lektorat: Dr. Elisabeth Hirschberger, Regensburg
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-475-54787-4 (epub)
Hans Ernst
Gold in der Ackerfurche
Immer weiter wächst die Stadt und greift gierig nach Bauernland. Sebastian Weingartner, der Jochbauer zu Salm und Bürgermeister seiner kleinen Gemeinde, verfolgt diese Entwicklung mit einigem Unbehagen, denn die städtischen Einflüsse machen sich auch in seinem Dorf bemerkbar. Mit aller Leidenschaftlichkeit und in der Überzeugung, für den Ort und dessen Menschen das Beste zu tun, setzt er sich gegen das stetig und unaufhaltsam einsickernde Neue zur Wehr. Aber er kämpft allein, er kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Ja, nicht einmal seine eigenen Kinder haben für sein Handeln Verständnis: Die Familie wird auseinander gerissen und erst nach langer Irrfahrt müssen sie erkennen, wie Recht der Vater hatte.
»Im Wind eines späten Herbstes gesät, wiegen die Halme sich von früh bis spät, schweigend und ernteschwer, und bald ziehen übern Hügel die Mäher daher …«
Diese Gedichtzeilen fielen dem Jocherbauern von Salm jedes Mal ein, wenn er an einem schönen Juliabend am Rand seiner Felder entlangging und von Zeit zu Zeit nach einer Ähre griff, um dann eins von den noch weichen Körnern in den Mund zu stecken. Höchstens noch acht Tage, dachte er, dann werden die Sensen rauschen.
Sanft bewegten sich im Abendwind das silberschimmernde Korn und der goldbraune Buchweizen. Auch die Wintergerste war schon ganz hellgelb, nur der Hafer war noch grün und weit von der Reife entfernt.
Wie doch die Monate schnell dahingegangen waren. Der Jocher meinte, es sei erst gestern gewesen, dass er die Körner gesät hatte. »Gold in die Ackerfurche werfen«, nannte er das. Zwar hörte sich das hochmütig an, aber es hatte doch einen tieferen Sinn, denn in Zeiten der Not ist der Bauer nicht mehr der«G’scherte«, sondern der Herr Ökonom, dessen Gold aus der Ackerfurche unentbehrlicher ist als echtes Gold.
Das hatte nicht nur für die immer näher rückende Stadt gegolten, sondern für das Dorf Salm selber auch, das außer einem halben Dutzend größeren Bauern nur Rentner und Tagelöhner bewohnten. Seine Einwohner waren in den letzten fünfzig Jahren immer weniger geworden. Die Alten waren sesshaft, die Jüngeren aber waren abgewandert, in die Stadt in der Nähe und in die ganze Welt.
Kamen sie nach Jahren einmal zu Besuch nach Salm oder in Urlaub, dann hatte sich ihr Charakter schon so weit verwandelt, dass sie entweder über das Gold in der Ackerfurche lächelten oder spöttisch auf das »arme Leben« blickten, das ihrer Ansicht nach die Zurückgebliebenen führten. Sie konnten nicht genug Sprüche machen, sie prahlten mit dem wunderbaren Leben in der Stadt, dann aber kam es doch vor, dass dieser oder jener in der Dämmerung ins Moor hinausschlich zu den weißen Birken und den grünen Tümpeln, mit Tränen in den Augen, weil dort die ganze Seligkeit der Kindheit begraben lag. Oder sie wanderten durch den Bergwald hinauf bis zum Kar, wo Jonas die Schafe des Jocherbauern weidete, nur um ihn wieder zu sehen, weil er mit seinen Sagen und Märchen die Tage ihrer Kindheit verzaubert hatte.
Ach ja, es war ein armes Dorf gewesen und geblieben, ein schönes, aber ein armes Dorf, das keine tausendjährige Chronik besaß, von dem nur eine dunkle Sage berichtete, dass vor vielen Jahren hier die Pest geherrscht habe, die alle Menschen dahinraffte bis auf den Jäger Salamander. Der sei mit einem Rest von Rindern in die Berge hinaufgeflüchtet, sei nach Jahren wieder heruntergekommen und habe eine neue Sippe gegründet. Von dem Namen Salamander, so hieß es, leite sich der Name Salm her.
Als der Jocherbauer Sebastian Weingartner an diesem Abend auf seiner Wanderung zum Bergwald gekommen war, setzte er sich dort zwischen die Wurzeln einer mächtigen Fichte, zog die Knie zur Brust und verschränkte die Hände darüber. Er hatte den größten Hof in Salm, alles in allem fast vierhundert Tagwerk, sodass er auch eine eigene Jagd besaß. Darüber hinaus war er auch Bürgermeister der Gemeinde Salm, die sich nicht auf das Dorf allein beschränkte, zu deren Gemeindegebiet auch die Weiler Kasterding und Offling sowie einige Einöden gehörten.
Auf diesem Platz saß der Jocher oft und ließ alles an sich vorübergleiten, was sein Leben bewegt hatte. Er dachte daran, wie es ihn jedes Mal schmerzte, wenn eins der flügge gewordenen Dorfkinder auszog in die Stadt oder in die Ferne, um dort unterzugehen oder sein Glück zu machen. Sie machten meistens ihr Glück, denn die Salmer waren ein zäher, eigenwilliger Schlag. Eine Rasse für sich, sagte man in der weiteren Umgebung. Sture Schädel, die sich um ihren Bürgermeister scharten, wenn sie irgendeine Bedrohung witterten. Er kannte sie alle, der Jocher, sie und ihre Schicksale und die Schicksale ihrer Eltern, seit man vor etwa sechzig Jahren begonnen hatte, eine Art Dorfbuch anzulegen, das von seinem Vertreter, dem Pfarrer Peter Strohmaier, gewissenhaft weitergeführt wurde. Darin stand alles von den Lindners und den Höschs, den Sommereggers und Mangolds, den Anthubers und Webers. Und der Jocher dachte in dieser Stunde auch an seine Verantwortung für das Dorf. Aber er konnte eben doch nur wenig bewirken, denn in Salm war kein Entwickeln möglich, kein Vorwärtskommen. Die Stadt aber hatte ihre Arme weit geöffnet, wollte alles und jeden an sich ziehen, und der Jocher hatte vor zwanzig Jahren nicht einmal seine eigene Schwester Magdalena halten können, die in der Stadt den angesehenen Kaufmann Hoflander geheiratet hatte. Nur eins hatte er noch fest in der Hand, seine eigenen drei Kinder. Das waren die achtzehnjährige Christine, der fünfzehnjährige Bernhart und der dreizehnjährige Simon.
Immer tiefer sank der Abend. Ruhig und gelassen schaute der Jocher herum. Unter ihm lag das Dorf mit seinen Höfen und kleineren Häusern, mit dem großen Sägewerk Mareiter und der schönen alten Barockkirche, an deren grauem Zwiebelturm der Efeu hinaufwucherte, fast bis zum Zifferblatt der Uhr. Der Jocherhof lag am Ende des Dorfes auf einer sanften Anhöhe, ein Glockentürmchen über dem First.
Wenn man über das Dorf hinausblickte, weitete sich das Moor mit den dunklen, schiefen Torfstadeln, einer Menge gestochener Torfstücke und weißen Birken dazwischen. Irgendwo hinter einem der Stadel stieg eine leichte Rauchwolke auf. Der Jocher verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln und ließ sich von den Erinnerungen an die eigene Jugend gefangen nehmen. Auch sie waren einmal in der Weite des Moores an einem kleinen Feuer gesessen, hatten darüber Forellen gebraten oder im Herbst die neuen Kartoffeln, hatte ihre Träume gehabt und die Welt durch eine rosarote Brille gesehen. Die Träume waren erloschen, von der jugendlichen Schwärmerei hatte sich nur wenig erhalten. Die Zeit war fortschrittlicher geworden, mancher Zauber war zerbrochen. Die Technik verdrängte alles. Lärmend und die Umwelt verschmutzend machte sie sich alle und alles untertan und ließ die Menschen vergessen, dass sie nur in und mit Ruhe zu sich selbst kommen können.
Zum Schluss schaute der Jocher noch hinter sich, wo in wilder Schönheit das Abendrot die Gipfel der Berge umflammte, den Tropfstein, den Gamskruck und die Scheiberer Wand. Und darunter, auf weithinziehendem Almgelände, nur mehr undeutlich sichtbar, die Schafherde mit dem Schäfer Jonas.
Zweihundert Schafe besaß der Jocher noch. Einmal waren es achthundert, und so alt könnte auch Jonas sein. Jedenfalls war Jonas schon da und hatte weißes Haar gehabt, als der Jocher noch ein Bub war und manchmal an Winterabenden in den Schafstall hinübergeschlichen ist, um an der langen Pfeife des Schäfers ein paar Züge zu machen, die ihm schlecht bekamen.
Immer tiefer sank die Dämmerung. In den Wipfeln der Fichten sang sich ein Vogel in den Schlaf. Der Jocher stand auf, horchte auf das Schluchzen, es musste wohl eine Amsel sein. Dann machte er sich auf den Heimweg. Er kehrte beim Adlerwirt noch ein, weil es donnerstags immer frische Leber- und Blutwürste gab, die er für sein Leben gern mochte. Am Stammtisch traf er den Oberpostrat Bachedel, den Lebensmittelhändler Reithuber und den Schmiedemeister Henninger. Als er gegessen hatte und nach angeregter Unterhaltung nach zwei Stunden die Wirtschaft wieder verließ, war es schon fast zehn Uhr.
Ihn umfing eine sternklare Nacht. Glühend standen die goldenen Punkte in einem schwarzsamtenen Himmel. Ein sachter Wind sang von den Moorwiesen her, und hinter einer Wand von Dunkelheit war es wieder hell unter dem nächtlichen Himmel, sodass man die Stadt erahnen konnte. Die Nacht verschlang zwar die hohen Giebel, Türme und Schlote, die man bei Tag sehen konnte, aber der Schein von hohen Bogenlampen und das Licht aus Tausenden von Fenstern machte den Himmel darüber so hell, dass der Glanz der Sterne fast zu erlöschen schien.
Mit weit ausholenden Schritten ging der Jocher auf der nächtlichen stillen Dorfstraße an der Kirche vorbei. Im Pfarrhaus waren auf der Straßenseite alle Fenster hell erleuchtet. Dort übte im Pfarrsaal unter der Leitung von Lehrer Bräunlein der Kirchenchor eine neue Messe ein. Der Jocher meinte, die schöne Altstimme seiner Tochter Christine herauszuhören. Sie probten gerade das Kyrie eleison, das besonders dem Tenor Mühe zu machen schien, denn er kippte an den hohen Stellen ein paar Mal um. Dann klopfte der Lehrer mit dem Taktstock und sie begannen von vorne.
Weiter vorne, beim Weber, weinte im ersten Stock ein Kind. Im Sägewerk Mareiter brannte grell eine Hoflampe. Mürrisch machte der Hund vom Pollinger ein paar Beller und zog sich mit rasselnder Kette ins Hüttl zurück, als er merkte, dass die Schritte vorübergingen, um dann auf den Wiesenweg einzubiegen, der zum Jocherhof hinaufführte.
Beim Jocher brannte ebenfalls eine Lampe über der Stalltür und warf ihren Schein über den sauber geschichteten Misthaufen bis hin zum Pflanzgarten und noch ein wenig zum Weg hinaus.
Das Wohnhaus war zweistöckig, mit zwei Balkonen, von denen sich der untere um das ganze Haus bis zur Feuermauer hinzog, die Wohnhaus und Stall trennte. Der Stall war etwas niedriger und lang gezogen, mit einer leicht ansteigenden Tennbrücke im Hintergrund. Auf der anderen Seite des breiten Hofraumes war das Austragshäusl, mit einer Milchkammer zu ebener Erde, daneben ein lang gezogener Schuppen für Wagen und Maschinen, und etwa dreißig Meter dahinter, auf einem sanften Hügel, der niedere, derzeit leer stehende Schafstall.
Die Hoflampe konnte man an der Haustür ausdrehen. Der Jocher, an Sparsamkeit gewöhnt, tat es, blickte noch einmal zu den Sternen hinauf und öffnete die Haustür.
Die Bäuerin saß neben dem Ofen auf dem ledernen Kanapee und las den Roman in der Kirchenzeitung. Hannes, der Knecht, ein groß gewachsener, fescher Bursche, saß am großen Eichentisch und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, und Lena, die Magd, hielt den scheckigen Angorakater auf dem Schoß und streichelte sein flaumweiches Fell.
Der Jocher streifte seine Jacke ab und hängte sie an den Haken neben der Tür. Dann setzte er sich zu seiner Bäuerin auf das Kanapee und begann seine Schuhe aufzuschnüren.
»Hast schon gegessen?«, fragte die Bäuerin, die gerade das »Fortsetzung folgt« gelesen hatte.
»Ja, Leber- und Blutwürst beim Adlerwirt.«
»Ich hab mir gedacht, du kämst früher heim und hab dir von dem Hammelbraten was aufgehoben. Magst wirklich nichts mehr?«
»Wo tät ich’s denn hin! Meinst, ich mag auch so einen Bauch kriegen wie der Pollinger?«
»Da hättest du noch weit hin«, meinte die Jocherin, denn beim Jocher zeigte sich überhaupt noch nichts von einem Fettansatz. Er war nicht sonderlich groß, eher breit und stämmig. Sein Gesicht hatte eine gesunde Farbe, die Nase war scharf und schmal, die Augen hell und wach.
Am Tisch hob der Hannes den Kopf.
»Eine Stadt, bei der drei Flüsse zusammenfließen?«, fragte er.
Der Jocher blinzelte ungläubig.
»Jetzt glaub ich’s aber, Hannes! Das solltest du doch wissen! Es kann doch bloß Passau sein.«
»Richtig, Passau! Ich hab mir’s ja gleich gedacht, dass es Passau sein muss.«
Die Lena schob den Kater vom Schoß, strich ein paar flaumige Wollhaare von ihrer Schürze und stand auf. An der Tür wünschte sie »Gute Nacht« und verschwand. Der Hannes blinzelte ihr nach. Dann faltete er die Zeitung zusammen und stand auch auf. Dem Jocher fiel gerade noch ein, was er für morgen anordnen wollte.
»Mit dem Korn hat es noch acht Tage Zeit. Wir mähen morgen auf der oberen Wiese Grummet.«
»Ist recht, Bauer.«
Der Hannes stand bei der Tür, hatte die Klinke schon in der Hand und wollte hinaus, als die Bäuerin noch sagte:
»Meinst, dass es dir schadet, wenn du am Sonntag in die Kirche gehst?«
Der Hannes lächelte etwas mitleidig, verabschiedete sich aber doch höflich und ging.
Eine Weile war Stille. Nur die Uhr neben dem breiten Büffet mit den Butzenscheiben tickte.
Ölen, dachte der Jocher. Gleich morgen werde ich sie ölen, nahm er sich vor, um es dann ganz bestimmt zu vergessen, wie immer, wenn es sich um Kleinigkeiten handelte.
»Das hättest ihm nicht sagen sollen, dem Hannes«, meinte er dann.
»Warum denn nicht? Meinst, dass dem eine Perle aus der Krone fällt, wenn er am Sonntag in die Kirche geht?«
»Das nicht, aber man soll einen Menschen dazu nicht zwingen, wenn er nicht selber davon überzeugt ist.«
Die Jocherin war von Natur und Erziehung von einer strengen, buchstabengetreuen Frömmigkeit. Ihr sprichwörtlicher Fleiß und ihre Sauberkeit waren so akribisch wie ihr Glaube, den nichts erschüttern konnte. Sie stammte aus einem Berghof auf der anderen Seite des Gebirges und hing an ihrem Mann mit großer Liebe, die sie jedoch niemals zu zeigen wagte, die sie vielmehr hinter einer vertrauenden Unterordnung verbarg. Sie war eine schöne Frau. Auch in diesen Abendstunden waren die immer noch schwarzen Haare füllig hochgesteckt. In ihren Ohrläppchen glitzerten zwei kostbare Ohrringe.
Nun hatte sie ihren Mann schon eine Weile mit schief gehaltenem Kopf betrachtet und wollte ihn gerade fragen, ob ihn heute etwas Besonderes bedrückt habe, weil er am Abend vor dem Essen weggegangen sei, als die Haustür ging und die Christl heimkam.
Der Jocher schaute auf die Uhr und meinte:
»Früh bist gerade nicht dran, es geht schon auf halb elf!«
»Wir lernen gerade eine neue Messe«, antwortete Christine, die ihrer Mutter sehr ähnlich sah, nur statt der schwarzen Haare die hellblonden Haare des Vaters hatte.
»Als ich am Pfarrhaus vorbeigegangen bin, hab ich’s schon gehört, wie ihr rumgemurkst habt. Wer singt denn den Tenor?«
»Der Grandl Michael. Es ist aber auch eine schwere Messe«, erzählt die Christl weiter, um dann zu fragen: »Haben wir nichts mehr zu essen?«
»In der Küche ist noch Hammelbraten«, sagte die Jocherin. »Aber gut warm machen, Hammelfleisch muss man heiß essen.«
Als dann die Christl draußen war, bekam die Jocherin wieder diesen nachdenklichen Blick und dann brachte sie ihre Frage an:
»Hast du dich heut über was geärgert, Sebastian?«
»Wie kommst denn darauf?«
»Weil du immer vor dem Essen wegläufst, wenn dich was ärgert.«
»Ich hab mich nicht geärgert, mich beschäftigt bloß, dass es immer schlechter wird. In Loderham sind wieder zwei Bauern Pleite gegangen.«
»Die werden halt schlecht gewirtschaftet haben.«
»Das allein ist es nicht. Es kriselt überall. Der Mareiter hat auch wieder drei Leute ausgestellt.«
»Ach, das ist sicher bloß vorübergehend, Sebastian.«
»Ich wollte, du hättest Recht.«
»Ich habe bestimmt Recht. Und – da du selber sonst keinen Ärger hast, kann ich dir ja meine Sorgen sagen.«
»Warum, hast du Sorgen? Was fehlt denn? Bist krank?«
»Gott sei Dank, nein. Aber der Hannes und die Lena machen mir Sorgen.«
»Was ist mit den beiden?«
»Mir kommt es grad so vor, als wenn die beiden sich ineinander verliebt hätten.«
Nachdenklich betrachtete der Jocher die Knöchel seiner Faust. Dann hob er den Kopf.
»Das bildest du dir doch bloß ein! Die zwei sind jetzt schon über drei Jahre bei uns auf dem Hof und – weißt es ja selber, wie oft die schon miteinander gestritten haben.«
»Ja, das ist es doch. Jetzt streiten sie nie mehr, sie schauen sich bloß mehr verliebt an.«
»Du tätst mich freuen! Jetzt vor der Ernte! Da kann ich doch keinen davonjagen, bloß weil du dir einbildest, sie schauen sich verliebt an.«
»Es ist keine Einbildung, Sebastian. Im Haus sehen meine Augen mehr als die deinen. Freilich können wir jetzt deswegen keinen von den beiden wegschicken, aber die Lena muss ab morgen bei der Christl in der Kammer schlafen.«
»Meinetwegen«, gab er nach. »Aber das erkläre ihr nur du, mich lass dabei aus dem Spiel. Dass ich’s nicht vergesse. Wann sind denn die Buben heut heimgekommen? Ich hab Rauch gesehn hinter einer der Torfhütten.«
»Die sind ziemlich spät heimgekommen. Die ganze Bagasch war wieder dabei. Die Buben vom Lechner, die Lindners und natürlich auch die rote Hex vom Hösch.«
Der Jocher schmunzelte vor sich hin und meinte dann:
»Die vom Hösch magst halt gar nicht, gell? Und ich weiß nicht, mir gefällt sie, weil sie sagt, was sie denkt, und so lustige Augen hat.«
»Aber ihr Vater ist ein Roter!«
Der Jocher zog verwundert die Brauen in die Höhe. Die Sache belustigte ihn eher, als dass sie ihn geärgert hätte.
»Ja und?«, fragte er dann. »Was macht das schon aus? Kann das junge Ding etwas für die politische Einstellung ihres Vaters? Der Hösch ist ein guter Arbeiter, sonst hätte der Mareiter ihn jetzt bestimmt auch ausgestellt. Nein, das Dirndl kann so wenig dafür, dass ihr Vater eine andere politische Einstellung hat, wie unsere Buben dafür, dass ich Bürgermeister bin. Und wer weiß, vielleicht kommt einmal eine Zeit, da wird der Hösch Bürgermeister sein.«
»Das möge der liebe Gott verhüten.«
»Warum denn? Die Zeiten ändern sich, die Menschen auch. Man kann heute nicht sagen, was in zehn Jahren sein wird. Die Stadt hat sich ausgebreitet, Ideen breiten sich auch aus. Und dem Hösch seine Idee scheint mir noch lange nicht die schlechteste zu sein. Wenn nur nicht eine andere Gefahr droht. Aber reden wir nicht mehr davon. Politik war immer schon deine schwache Seite. Lass die Buben doch spielen mit wem sie wollen, lass sie doch rumtoben und träumen. Eines schönen Tages müssen auch sie die Härten des Lebens spüren. Gehen wir schlafen.«
Um fünf Uhr klopfte die Jocherin recht nachdrücklich an die Tür der Bubenkammer, bis der schwarzhaarige Bernhart, genannt Hartl, mit noch schlaftrunkener Stimme zu erkennen gab, dass er es gehört hatte. Seine erste Arbeit war, zum Anger hinunterzufahren, wo der Hannes das Kühgras bereits gemäht hatte und auf ihn wartete. Der Simon durfte noch eine halbe Stunde länger schlafen und musste dann auch noch sehr energisch herausgetrieben werden aus dem Land seiner verwegenen Träume.
Simon war Ministrant, und durch das Trinkgeld von Taufen und Hochzeiten kam er auf ein ganz nettes Taschengeld. Vor drei Jahren hatte er sogar seinem Bruder Hartl Geld geliehen, ohne dass er es bisher zurückbekommen hatte. Dafür sollte der Hartl aber zehn Prozent Zinsen zahlen. Der Hösch Franzi hatte er auch Geld geliehen, ohne Zins.
Ja, so war dieser Simon. Gerade dreizehn geworden, war er schon sehr auf seinen Vorteil bedacht und seinem Bruder Hartl in manchem überlegen. Manchmal lächelte er über die Naivität der anderen Kinder in Fragen der menschlichen Fortpflanzung. Simon wusste es anders, aber er prahlte niemals mit seinem Wissen.
Er witterte auch sofort die tieferen Zusammenhänge, als er erfuhr, dass Lena nun auf einmal in der Kammer seiner Schwester Christine schlafen sollte. Zumindest bemühte er sich zu begreifen, warum die Lena ein paar Tage mit verschlossenem Gesicht herumging. Man hatte ihr etwas zerstört, das sie als ihr tiefstes Geheimnis betrachtet hatte, und sie war zutiefst betroffen, als ausgerechnet der Simon vertraulich sagte:
»Musst dir nichts denken, Lena. Für die Liebe kann kein Mensch was.«
Es war Abend, und Lena richtete gerade hinter den Kühen die Streu. Sie stützte sich auf den Stiel der Mistgabel und sah den Simon erschrocken an.
»Was weißt denn du schon, du Lauser?«
»Sag das nicht, Lena. Ich hab es schon lange gespannt, dass der Hannes hinter dir herschleicht.«
»So was dürftest du noch gar nicht merken.«
»Das ist es ja! Weil ihr erwachsen seid, meint ihr immer, wir müssten dumm bleiben bis zur gesetzlichen Mündigkeit.«
Dem Hannes machte die Umquartierung weniger aus. Solange der Sommer so schön glühte, konnte man sich auch im Freien treffen. Er fand es nur heimtückisch, dass man alles so stillschweigend gemacht hatte. Am Sonntagmorgen, als der Jocher ihm im Bürgermeisterstübchen den Lohn ausbezahlte, sagte er:
»Musst verstehen, Hannes, dass das nicht geht.«
»Was geht nicht?«, stellte der Hannes sich unwissend.
»Das Verhältnis im Haus zwischen dir und der Lena.«
Schmunzelnd schob der Hannes seinen Lohn ein. Dann sah er den Jocher an.
»Ich will dir einmal was sagen, Bauer. Wir leisten gute Arbeit, der Rest ist unsere Privatsache.«
»Das ist gar nicht einmal so falsch, was du da sagst«, gab ihm der Jocher Recht. »Und ich hab mir schon überlegt, Hannes – wenn es euch wirklich ernst ist, ich hätte nichts dagegen, wenn ihr heiraten wollt. Die zwei Zimmer im Zuhäusl drüben –«
Lachend unterbrach ihn der Hannes.
»Wer wird denn gleich ans Heiraten denken!«
»Ach so? Also doch bloß ein Verhältnis, weil es bequem ist, so im Haus?«
»Bequem war es«, lächelte der Hannes und fügte hinzu: »Du bist immer ein guter Bauer gewesen, und darum will ich dich auch unter der Ernte nicht im Stich lassen. Aber wenn alles drinnen ist, dann geh ich. Ich glaube, das ist die beste Lösung.«
Der Jocher überlegte eine Weile, bis er antwortete:
»Wie du meinst. Ich kann niemanden halten. Es ist zwar nicht Brauch, dass jemand unterm Jahr kündigt, aber da … Hast denn schon einen andern Platz?«
»Ja, ich weiß mir schon was. In der Stadt.«
»In die Stadt willst? Wenn dich das nur nicht einmal reut, Hannes.«
»Das wäre dann auch meine Sache«, sagte der Hannes selbstbewusst, nahm seinen Stumpen in den Mund und strich sich über sein Bärtchen.
»Natürlich ist es jedem seine Sache, wie er sich bettet und wie er sein Leben gestaltet«, erwiderte der Jocher. »Ob er nun aus der Wärme in die Kälte geht, aus der Geborgenheit in die Unsicherheit, das bleibt jedem selber überlassen, ebenso die Reue, die danach kommt. Aber im Ernst, Hannes, soll ich das, was du vorhin gesagt hast, als Kündigung auffassen, oder –«
»Als Kündigung, wenn du es so nennen willst. Ich könnte zwar auch auf der Stelle gehen, aber ich hab’s dir ja schon gesagt, du warst immer ein guter Bauer, und ich mag mir nicht nachsagen lassen, dass ich unter der Ernte weggelaufen wäre.«
»Ist schon Recht«, sagte der Jocher und bereute bereits, das großzügige Angebot gemacht zu haben mit den beiden Zimmern im Nebenhäusl.
Und doch war er irgendwie unsicher geworden, als er jetzt langsam, den Hut in der Hand schwenkend, durch das Dorf ging. Die Glocken läuteten zum Hochamt, und von überall her sah man die Menschen auf die Kirche zuwandern. Der Simon stand vor der Sakristeitür im Freien und schwenkte das große Weihrauchgefäß. Sein heller Schopf leuchtete in der Morgensonne, der blaue Weihrauch stieg wirbelnd aus dem leise klirrenden Fassl und wurde vom Wind über den Friedhof getragen, bis in den Obstgarten des Mesners hinein, wo die Jakobiäpfel reif waren.
Der Jocher stand vor dem Familiengrab und schaute über die Friedhofsmauer zu den Bergen hinauf. Gleißend lag die Sonne über den weiten Almfeldern darunter, und er sah den Jonas langsam mit der Schafherde über das Kar wandern.
Die Orgel brauste jetzt unter den Händen des Lehrers Bräunlein, es war also Zeit, die Kirche zu betreten, wo er auf seinem angestammten Platz niederkniete.
Um fünf Uhr in der Früh lief beim Hösch der Wecker ab, den aber nur seine Frau hörte, die auch gleich auf das Nachtkastl hinüberlangte, um ihn abzustellen. Vater Hösch durfte noch ein bissel weiterschlafen.
Mit ganz großem Schwung sprang die Höschin auch nicht mehr aus den Federn. Mit fünfzig Jahren ging das schon ein bisschen langsamer. Sie saß eine Weile auf dem Bettrand und sah in den halbblinden Spiegel des Kleiderschrankes, betrachtete ihr schmales, noch halb verschlafenes Gesicht mit den dünnen Haarsträhnen, die einmal blond waren, betrachtete ihre abgearbeiteten Hände und ihre Füße mit den blauen Aderstraßen. Dann gähnte sie und stöhnte:
»Ach, nichts mehr ist es mit mir!«
Das Kreuz tat ihr noch weh von der Arbeit auf dem Feld, die Hände zitterten ein wenig, die Füße schmerzten. Sie blickte zur Seite und sah die schwarzen Haare ihres Mannes in dem geblümten Kissen. Er lag auf der linken Seite, schnaufte, dass sein Schnurrbart zitterte, und hatte die Hände zu Fäusten geballt auf dem Deckbett liegen.
»Packen wir’s halt wieder«, seufzte die Höschin wie jeden Morgen, schlüpfte in den alten Lodenmantel ihres Mannes und in die Pantoffeln und schloss die Haustür auf.
Glasklar hing der Morgenhimmel über den Bergen. Die Vögel jubilierten, auf der Straße ratterte ein Anhänger, mit frischem Gras beladen, beim Angerer trieb eine Magd die Kühe auf die Weide, und im Schulgarten stand der Lehrer Bräunlein bei seinen Rosen und betrachtete sie so aufmerksam, als zähle er, ob man ihm nachts nicht ein paar gestohlen hätte.
Ins Schulhaus musste die Hösch-Mutter danach hinüber, um die Wohnung sauber zu machen, weil die Lehrersfrau zur Erholung fort war. Sie hatte es an der Leber. Die Höschin hätte auch notwendig Erholung gebraucht. Sie spürte zwar nichts an der Leber, aber sonst war sie halt oft recht erschöpft; überarbeitet halt, ein bisschen blutarm, manchmal ein Nervenbündel. Aber wenn man mittellos war, schickte einen niemand zur Erholung fort.
Am Jocherhof auf dem Hügel spiegelte sich die Morgensonne in allen Fenstern. Feiner blauer Rauch stieg aus der Esse. Irgendwo hinter dem Hügel ratterte eine Mähmaschine, und für einen kurzen Augenblick sah man die Jocherin groß und schlank unter der Haustür stehen.
Ach ja, wer es so gut haben könnte, wie die da droben! Das dachte die Höschin nur, sie sprach es nicht aus, denn bei aller Bedürftigkeit – Neid kannte sie nicht. Sie wusste, dass jeder Mensch sein Bündel zu tragen hatte. Der eine ein leichteres, der andere ein schwereres. Wie es ihm halt vom Schicksal aufgebürdet war.
Der Anhänger verlor einen Büschel Gras. Das holte sich jetzt die Höschmutter von der Straße herein und trug es in den Hasenstall. Dann ließ sie die wenigen Hühner aus, und streute ihnen Futter vor. Auf dem Kirchturm begann eine Glocke zur Frühmesse zu läuten. Es war so feierlich um diese Morgenstunde. Die Sonnenblumen am Gartenzaun hoben die Köpfe unter den immer wärmer werdenden Strahlen der Sonne. Das kleine Häusl war ganz aus Holz. Sie hatten es sich selber gebaut, aus Balken und Brettern, die das Sägewerk Mareiter, in dem der Hösch schon zwölf Jahre arbeitete, billig geliefert hatte. Es hatte zu ebener Erde nur eine große Wohnküche, ein Schlafzimmer und einen Abstellraum und oben zwei Mansarden, in denen die Kinder schliefen.
Jetzt weckte die Höschin ihren Mann, längst nicht mehr so wie früher, mit einem leichten Hinstreicheln über seine Stirn, weil man in zwanzigjähriger Ehe und mit all den finanziellen Sorgen so manches vergessen hatte. Sie öffnete nur die Tür handbreit und rief:
»Dreiviertel ist es gleich.«
Der Hösch sprang sofort mit beiden Beinen aus dem Bett und schlüpfte in den Bademantel, der an einem der Bettpfosten hing. Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, begann die übliche Unterhaltung, die sich im Wesentlichen immer um die gleichen, alltäglichen Dinge drehte.
»Musst heut zum Waschen gehen, Kathie?«, fragte er.
»Nein, erst morgen, zum Adlerwirt. Heut gehen wir noch mal aufs Feld.«
»Regnen dürfte es auch bald, sonst wachsen keine Schwammerl.«
Die Höschin seihte den Tee ab und nahm den Brotlaib aus der Tischschublade.
»Gestern habe ich Strom und Kohlen für den Winter bezahlt. Fürs Leben bleibt nicht mehr viel übrig.«
»Ein bissel mehr sparen mit dem Strom, sag ich immer! Aber es hört ja niemand bei uns, wenn ich was sag!«
»Das darfst du nicht sagen, Vater.«
»Weil es wahr ist! Am Samstag hab ich den Flori wieder erwischt, wie er die halbe Nacht bei brennendem Licht geschlafen hat, und der Alte kann dann die Rechnung bezahlen. Das nächste Mal soll der Flori zahlen.«
»Geh, wovon denn? Von den paar Mark, die er als Maurerlehrling verdient? Die Hälfte von seinem Lohn gibt er sowieso daheim ab.«
»Das gehört sich auch so. Schließlich kriegt er auch das Häusl einmal. Ist schon Zucker im Tee?«
»Drei Stück.«
So diskutierten sie jeden Morgen, ohne dass man es hätte Streit nennen können. Streit hatte diese Ehe nie gekannt, es war nur ein Abladen der gegenseitigen Sorgen. Und der Kanarienvogel hörte zu, hüpfte in seinem Käfig herum und zwitscherte. Im Herrgottswinkel leuchteten ein paar Almröslein, echte, die papiernen kamen erst im Winter wieder zur Geltung. Auf dem Küchenschrank lagen neben dem Schlüsselbund ein paar Rabattmarken, und über dem alten Kanapee hing das Bild eines streng blickenden Mannes namens Bebel. Niemand im Häusl wusste eigentlich, warum dieses Bild da hing. Nur der Hösch wusste es, streifte es ab und zu mit einem dankbaren Blick und betrachtete den Spitzbärtigen wie einen guten Freund, zu dem er manchmal auch sprach:
»Du solltest halt noch leben, Gustl, dann ging es uns Arbeitern heute schon besser.«
Und dann war ihm, als zwinkere August Bebel ihm zu, als ob er sagen wolle: »Nur den Glauben an die gerechte Sache nicht verlieren!«
»Habt ihr die Pacht schon bezahlt in dem Monat?«, fiel dem Hösch gerade noch ein, als er in seinen Janker schlüpfte. Dann schaute er auf die Uhr.
»Pfüat dich«, sagte er dann und machte sich auf den Weg zum Sägewerk Mareiter.
Kaum war er fort, nahm Mutter Kathie den Besenstiel und stieß damit dreimal gegen die Holzdecke. Kurz darauf kam ein schmal aufgeschossenes Bürscherl, der fünfzehnjährige Florian, die Stiege herunter, grüßte noch schlaftrunken: »Morgen, Mutter« und stellte fest:
»Jetzt hat die Franzi meinen Knopf noch nicht angenäht.«
»Wann hätte sie es denn tun sollen? Wir waren gestern den ganzen Tag auf dem Feld.«
»Ja, und das soll auch noch was sein«, brummte Florian.
»Jetzt sei bloß still! Ich wüsste mir auch was Schöneres für meine Mädl, als den ganzen Tag in der glühenden Sonne auf dem Acker zu arbeiten.«
»Lohnt es sich wenigstens?«, fragte der Bub und griff nach einem der Brote, die die Mutter geschmiert hatte.
»Immerhin haben wir voriges Jahr nicht wenig Mehl vom Müller gekriegt. Und für die Hühner schaut auch noch Futter raus.«
Nun sagte der Flori nichts mehr. Er war überhaupt ein ruhiger Bursche, dem es weh tat, dass seine Mutter so hart arbeiten musste.
Inzwischen war es auch Zeit geworden, die Franzi zu wecken. Die elfjährige Amelie und die achtjährige Anna durften noch weiterschlafen, bis Franzi beim Angerer die Milch und beim Adlerwirt die zurückgelegte Rindslunge geholt hatte. Die Mutter war jetzt ins Schulhaus hinübergegangen, um dort aufzuräumen. Franzi setzte inzwischen die Lunge auf den Herd, ließ sie eine halbe Stunde lang kochen und schnitt sie dann klein, gab Essig und Gewürz dazu und stellte den Topf in den Abstellraum. Dieses Festessen gab es erst am Samstag, mit Knödln dazu. Fleisch gab es in diesem Haus nur an den Sonn- und Feiertagen. Wenn zwei Feiertage hintereinander waren, wie Weihnachten oder Ostern, wurde ein Hase geschlachtet. Ja, es ging schon ein bisschen ärmlich zu, und doch waren alle guter Dinge, besonders die Franzi, an der ein Bub verloren gegangen war. Das sagte wenigstens der Vater, und er sagte es gutmütig und auch voller Anerkennung, weil er wusste, dass man über die Franzi im Dorf anders dachte. Sie war schon ein bisschen anders als andere Mädchen in ihrem Alter. Sie hatte etwas Wildes an sich, raufte mit den Buben und pfiff mit den Fingern. Ihre Lehrerin, das Fräulein Horn, sagte manchmal:
»Wenn alle so wären wie du, würde ich mich aufhängen.« Oder: »Ich bin bloß neugierig, wo du einmal landest! Was Gescheites wird aus dir nie.«
»Wie wissen Sie denn das?«, hatte das Kind darauf gefragt und die Lehrerin hatte dann gemeint, das habe sie ganz einfach so im Gefühl.
Um den Hals trug die Franzi ein dünnes Kettchen, an dem ein Medaillon hing. Natürlich nicht aus Gold, es glänzte nur so, und es war innen hohl für ein kleines Bild. Und ein solches hatte die Franzi auch drin. Ein schönes Männergesicht mit schwärmerischen Augen. Sie hatte es aus einer Illustrierten ausgeschnitten.
Als die Lehrerin das Bild zufällig einmal sah, schnaufte sie heftig, besann sich aber, dass dies eigentlich nicht strafbar war nach der Schulordnung und sagte nur:
»Ja, ja, du fängst schon früh an! Ich hab’s ja immer gewusst, dass aus dir einmal nichts Ordentliches werden kann.«
Der Jocher Simon aber, als er es sah, fragte brauenrunzelnd:
»Was willst denn mit dem? Kennst ihn überhaupt?«
»Nein, ich kenne ihn nicht. Aber wenn ich von dir ein Bildl hätte, dann –«
»Kriegst eins, wenn ich mich demnächst einmal fotografieren lasse«, versprach der Simon. Mit diesem Jocherbuben verstand sich die Franzi ausgezeichnet. Und er verstand sie. Sie waren irgendwie wesensverwandt und unzertrennlich, zum Leidwesen der Jocherin, die in dem Mädel auch nur Verdorbenheit vermutete und es abfällig »die rote Hex« nannte.
Die Franzi war aber gar nicht rothaarig, ziegelrot etwa, oder fuchsrot, ihr Haar hatte die Farbe reifer Kastanien. Ihr Gesicht war schmal und braun gebrannt, darin leuchteten ein paar lustige braune Augen mit langen Wimpern und unter dem schön geformten Näschen lachte ein schön geschwungener Mund.
Als an diesem Vormittag im Haus alles getan war, zog die Franzi das Leiterwägelchen aus dem Schuppen, legte einen leeren Sack hinein, schulterte einen Rechen und zog mit ihren Schwestern zum Bergacker hinauf.
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