GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit - Scott Westerfeld - E-Book

GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit E-Book

Scott Westerfeld

4,7
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das furiose Finale!

Nach ihren Abenteuern im Osmanischen Reich sind Alek und Deryn wieder auf der Leviathan, die jetzt die Neue Welt ansteuert: New York, Kalifornien und Mexiko lauten die Ziele. Und noch jemand ist mit an Bord: Tesla, ein russischer Erfinder, der eine Maschine namens Goliath entwickelt hat, die angeblich die Macht besitzt, die halbe Welt zu zerstören. Aleks Bemühungen, den Krieg zu beenden, scheinen mehr denn je zum Scheitern verurteilt. Inmitten tödlicher Intrigen und verwirrender Geheimnisse müssen er und die als Junge verkleidete Deryn sich schließlich dem Letzten stellen: der Stunde der Wahrheit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 499

Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
11
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Scott Westerfeld

GOLIATH

Die Stunde der Wahrheit

Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas HelwegIllustrationen von Keith Thompson

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform1. Auflage 2012

© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2011 by Scott Westerfeld

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »GOLIATH« bei Simon & Schuster Children’s Publishing, New York

Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Helweg

Umschlaggestaltung und -illustration: Max Meinzold

Innenillustrationen: Keith Thompson

MI · Herstellung: UK

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-06833-2V003

Für alle, die Romanzen lieben,die lange geheim bleibenund am Ende doch enthüllt werden.

1. KAPITEL

»Sibirien«, sagte Alek. Das Wort kam kalt und hart über seine Lippen, so bedrohlich wie die Landschaft, die unter ihnen dahinzog.

»Sibirien werden wir frühestens morgen erreichen.« Dylan saß am Tisch und kämpfte noch immer mit seinem Frühstück. »Und es wird fast eine Woche dauern, es zu überfliegen. Russland ist brüllend groß.«

»Und kalt«, ergänzte Newkirk. Er stand neben Alek am Fenster der Kadettenmesse und hielt mit beiden Händen eine Tasse Tee umfasst.

»Kalt«, wiederholte Bovril. Das Wesen packte Aleks Schulter ein wenig fester, und ein Schauer lief durch seinen Körper.

Anfang Oktober lag unten auf dem Boden noch kein Schnee. Aber der Himmel war eisig und wolkenlos blau. An den Rändern des Fensters hatte sich Raureif gebildet, ein Überrest der frostigen Nacht.

Noch eine Woche, die wir über diese Ödnis fliegen, dachte Alek. Fort von Europa und dem Krieg, fort von seinem eigenen Schicksal. Die Leviathan war nach Osten unterwegs, vermutlich in Richtung des Kaiserreiches Japan, aber niemand wollte ihm dieses Ziel bestätigen. Obwohl er den Briten in Istanbul geholfen hatte, betrachteten die Offiziere des Luftschiffs ihn weiterhin halb als Gefangenen. Er war der Mechanisten-Prinz, sie die Darwinisten, und der Große Krieg zwischen ihren Technologien breitete sich jeden Tag weiter auf dem Erdball aus.

»Es wird noch viel kälter, wenn wir nach Norden abdrehen«, meinte Dylan mit vollem Mund. »Du solltest die Kartoffeln essen. Die halten warm.«

Alek wandte sich um. »Aber wir sind schon nördlich von Tokio. Warum weichen wir von unserem Kurs ab?«

»Wir sind hundertprozentig auf Kurs«, erwiderte Dylan. »Mr. Rigby hat uns letzte Woche eine Großkreisroute planen lassen, und die hat uns rauf bis nach Omsk geführt.«

»Eine Großkreisroute?«

»Ein Trick von Navigatoren«, erklärte Newkirk. Er hauchte auf das Glas vor sich und malte mit der Fingerspitze einen auf dem Kopf stehenden lächelnden Mund. »Die Erde ist rund, Papier ist allerdings flach, ja? Ein gerader Kurs sieht daher wie eine Kurve aus, wenn man ihn auf einer Karte einzeichnet. So landet man immer weiter im Norden, als man denkt.«

»Außer auf der anderen Seite des Äquators«, ergänzte Dylan. »Da ist es genau anders herum.«

Bovril lachte glucksend, als wären Großkreisrouten etwas Lustiges. Aber Alek hatte nichts davon verstanden – nicht, dass man es von ihm erwartet hätte.

Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Vor zwei Wochen hatte er bei einer Revolution gegen den osmanischen Sultan, den Herrscher eines uralten Reiches, mitgewirkt. Den Rebellen waren Aleks Rat, seine Fähigkeiten als Pilot und sein Gold willkommen gewesen. Und zusammen hatten sie gesiegt.

Aber hier auf der Leviathan war er Ballast – Wasserstoffverschwendung, wie die Mannschaft alles nutzlose Gewicht nannte. Er hätte seine Tage mit Dylan und Newkirk verbringen können, aber er war kein Kadett. Er konnte nicht mit einem Sextanten umgehen, keine anständigen Knoten machen oder die Schiffhöhe schätzen.

Und am schlimmsten war, dass man ihn auch in den Triebwerkskapseln nicht mehr brauchte. In dem Monat, in dem er die Revolution in Istanbul plante, hatten die Maschinisten der Darwinisten alles über die Mechanisten-Mechanik gelernt. Hoffman und Klopp wurden ebenfalls nicht mehr zu Hilfe gerufen, daher musste er nicht einmal mehr als Dolmetscher einspringen.

Seit er an Bord gekommen war, hatte Alek davon geträumt, irgendwie auf der Leviathan zu dienen. Aber alles, was er anzubieten hatte, einen Läufer lenken, Fechten, sechs Fremdsprachen und die Eigenschaft, Großneffe eines Kaisers zu sein, schien auf einem Luftschiff von wenig Wert zu sein. Ohne Zweifel war er als junger Prinz, der famos die Seiten gewechselt hatte, wertvoller denn als Flieger.

Es war fast, als wäre allen daran gelegen, ihn als Wasserstoffverschwendung abzustempeln.

Da fiel Alek ein Sprichwort ein, das sein Vater häufig benutzt hatte: Der einzige Weg, etwas gegen seine Unwissenheit zu tun, besteht darin, sie zuzugeben.

Er holte tief Luft. »Ich weiß wohl, die Erde ist rund, Mr. Newkirk. Aber diese Sache mit der ›Großkreisroute‹ verstehe ich nicht.«

»Das ist toteneinfach, wenn man einen Globus vor der Nase hat«, sagte Dylan und schob den Teller von sich. »Im Navigationsraum gibt es einen. Wir schleichen uns hinein, wenn die Offiziere nicht da sind.«

»Einverstanden.« Alek wandte sich wieder dem Fenster zu und faltete die Hände hinter dem Rücken.

»Deswegen muss man sich nicht schämen, Prinz Aleksandar«, sagte Newkirk. »Ich brauche immer noch ewig, um einen anständigen Kurs zu berechnen. Nicht so wie Mr. Sharp, der schon alles über Sextanten wusste, ehe er überhaupt zum Service gekommen ist.«

»Nicht jeder kann das Glück haben, einen Flieger als Vater zu haben«, meinte Alek.

»Vater?« Newkirk wandte sich mit gerunzelter Stirn vom Fenster um. »War das nicht Ihr Onkel, Mr. Sharp?«

Bovril gab einen leisen Laut von sich und grub die winzigen Krallen in Aleks Schulter. Dylan sagte nichts. Er sprach selten über seinen Vater, der vor den Augen des Jungen verbrannt war. Der Unfall quälte Dylan immer noch sehr, und Feuer war das Einzige, das ihm Angst machte.

Alek schalt sich einen Dummkopf und fragte sich, warum er den Mann erwähnt hatte. War er vielleicht sauer auf Dylan, weil der immer so gut in allem war?

Er wollte sich gerade entschuldigen, als sich Bovril abermals rührte und sich vorbeugte, um aus dem Fenster zu schauen.

»Tierchen«, sagte der Perspikuitive Loris.

Ein schwarzer Fleck flog in Sicht und kreiste durch den leeren blauen Himmel. Es war ein riesiger Vogel, viel größer als die Falken, die vor einigen Tagen das Luftschiff in den Bergen umschwärmt hatten. Es hatte Größe und Krallen eines Raubvogels, doch eine solche Silhouette hatte Alek noch nie gesehen.

Und er kam geradewegs auf das Schiff zu.

»Fällt Ihnen etwas an dem Vogel auf, Mr. Newkirk?«

Newkirk drehte sich wieder zum Fenster um und nahm den Feldstecher an die Augen, den er von der Morgenwache noch umhängen hatte.

»Aye«, sagte er kurz darauf. »Ich glaube, es ist ein Zarenadler!«

Hinter ihnen hörte man, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Dylan erschien am Fenster und schirmte die Augen mit beiden Händen ab.

»Pusteln und Karbunkel, Sie haben recht – zwei Köpfe! Aber Zarenadler überbringen Botschaften nur für den Zaren persönlich …«

Alek sah Dylan an und fragte sich, ob er richtig gehört hatte. Zwei Köpfe?

Der Adler schwebte heran und sauste am Fenster vorbei, dass man seine schwarzen Federn nur verschwommen erkennen konnte. In der Morgensonne glitzerte der Harnisch golden. Bovril brach in irres Gelächter aus, als der Vogel vorbeirauschte.

»Er will zur Brücke, richtig?«, erkundigte sich Alek.

»Aye.« Newkirk senkte den Feldstecher. »Wichtige Nachrichten gehen immer gleich an den Kapitän.«

Ein kleiner Schimmer Hoffnung hellte Aleks düstere Stimmung auf. Die Russen waren Verbündete der Briten, befreundete Darwinisten, zu deren Tierschöpfungen Mammutine und riesige Kampfbären zählten. Wenn der Zar nun Hilfe gegen die Mechanisten-Armee brauchte und es sich um eine Aufforderung handelte, das Schiff zu wenden? Selbst an der eisigen russischen Front zu kämpfen wäre besser, als seine Zeit in dieser Wildnis zu vergeuden.

»Ich muss wissen, was das für eine Nachricht ist.«

Newkirk schnaubte. »Dann müsste man zum Kapitän gehen und ihn fragen.«

»Aye«, sagte Dylan. »Und wo du schon einmal da bist, kannst du ihn fragen, ob er mir nicht eine wärmere Kabine gibt?«

»Ein Versuch kann nicht schaden«, meinte Alek. »Bislang hat er mich noch nicht ins Schiffsgefängnis gesperrt.«

Als Alek vor zwei Wochen auf die Leviathan zurückgekehrt war, hatte er halb erwartet, in Ketten gelegt zu werden, weil er von dem Schiff geflohen war. Aber die Schiffsoffiziere hatten ihn stattdessen sehr respektvoll behandelt.

Inzwischen wussten alle, dass er der Sohn des verstorbenen Erzherzogs Ferdinand war und nicht irgendein österreichischer Adliger, der einfach nur dem Krieg entfliehen wollte. Vielleicht war das gar nicht einmal so schlecht.

»Was wäre ein guter Vorwand für einen Besuch auf der Brücke?«, fragte er.

»Da braucht man keine Vorwände«, sagte Newkirk. »Der Vogel ist den ganzen Weg von St. Petersburg hergeflogen. Die werden uns rufen, damit wir ihn füttern und ihn an einen Ort zum Ausruhen bringen.«

»Und den Vogelschlag hast du doch noch nie gesehen, Euer Prinzlichkeit«, fügte Dylan hinzu. »Da könntest du gleich mitkommen.«

»Danke, Mr. Sharp«, sagte Alek und lächelte. »Das wäre mir überaus angenehm.«

Dylan kehrte an den Tisch zu seinen kostbaren Kartoffeln zurück und war womöglich dankbar, weil sich das Gespräch nicht mehr um seinen Vater drehte. Alek beschloss, sich heute noch bei ihm zu entschuldigen.

Zehn Minuten später steckte eine Boteneidechse den Kopf aus einer der Röhren an der Decke der Kadettenmesse. Mit der Stimme des Steuermanns sagte sie: »Mr. Sharp, bitte melden Sie sich auf der Brücke. Mr. Newkirk, melden Sie sich bitte auf dem Frachtdeck.«

Die drei rannten auf die Tür zu.

»Frachtdeck?«, fragte Newkirk. »Was zum Teufel soll das?«

»Vielleicht sollen Sie eine Bestandsaufnahme der Vorräte machen«, sagte Dylan. »Diese Fahrt könnte länger dauern als geplant.«

Alek runzelte die Stirn. Bedeutete »länger«, dass sie wieder nach Europa umkehrten, oder würden sie noch weiter in die Ferne fliegen?

Während die drei zur Brücke unterwegs waren, spürte er, wie sich das Schiff um sie herum bewegte. Obwohl man keinen Alarm geschlagen hatte, war die Mannschaft in Aufruhr. Als sich Newkirk an der Haupttreppe von ihnen trennte, stürmte ein Trupp Takler in Fliegermontur an ihnen vorbei, ebenfalls nach unten.

»Wohin zum Teufel wollen die?«, fragte Alek. Takler arbeiteten für gewöhnlich oben an den Seilen, mit denen die riesige Wasserstoffmembran des Schiffes zusammengehalten wurde.

»Eine totengute Frage«, meinte Dylan. »Die Nachricht des Zaren hat uns wohl auf den Kopf gestellt.«

Vor der Tür zur Brücke stand eine Wache, und ein Dutzend Boteneidechsen hingen an der Decke und warteten darauf, mit Befehlen losgeschickt zu werden. Das gewohnte Gewimmel von Mann und Tier und Maschinen wirkte nervöser als sonst. Bovril rutschte auf Aleks Schulter hin und her, und Alek spürte durch die Fußsohlen, wie sich das Dröhnen der Triebwerke veränderte – das Schiff lief jetzt mit voller Kraft voraus.

Oben am Steuerrad hatten sich die Offiziere um den Kapitän versammelt, der eine verzierte Schriftrolle in der Hand hielt. Dr. Barlow befand sich ebenfalls zwischen ihnen, ihren Loris auf der Schulter, und ihr zahmer Beutelwolf Tazza saß neben ihr.

Von rechts hörte Alek ein Kreischen, und als er sich umwandte, stand er einem erstaunlichen Geschöpf gegenüber …

Der Zarenadler war zu groß und passte nicht in den Botenkäfig auf der Brücke, stattdessen hockte er auf der Signaltafel. Er wechselte von einem Fuß auf den anderen und flatterte mit den glänzend schwarzen Flügeln.

Was Dylan gesagt hatte, stimmte. Das Geschöpf hatte zwei Köpfe und natürlich auch zwei Hälse, die verschlungen waren wie zwei gefiederte schwarze Schlangen. Während Alek das Tierchen erschrocken anstarrte, schnappte der eine Kopf nach dem anderen, und eine hellrote Zunge schob sich aus dem Schnabel.

»Bei den Wunden des Allmächtigen«, entfuhr es ihm.

»Haben wir dir doch gesagt«, meinte Dylan. »Ein Zarenadler.«

»Das ist ein Untier, wolltest du sagen.« Manchmal schienen die Schöpfungen der Darwinisten nicht nützlich zu sein, sondern einfach nur abscheulich.

Dylan zuckte mit den Schultern. »Ein zweiköpfiger Vogel, wie eben auf dem Wappen des Zaren.«

»Ja, sicherlich«, stöhnte Alek. »Aber auf dem Wappen ist es nur symbolisch gemeint.«

»Aye, dieses Tierchen ist symbolisch. Es kann aber auch atmen.«

»Prinz Aleksandar, guten Morgen.« Dr. Barlow hatte sich aus der Gruppe der Offiziere gelöst und war mit der Schriftrolle zu ihnen gekommen. »Wie ich sehe, haben Sie unseren Besucher schon kennengelernt. Ein hübsches Exemplar russischer Tierschöpfung, nicht wahr?«

»Guten Morgen, Madam.« Alek machte einen Diener. »Ich bin nicht sicher, wovon dieses Wesen ein gutes Beispiel ist, ich finde es allerdings ein wenig …« Er schluckte und schaute zu, wie sich Dylan dicke Falknerhandschuhe anzog.

»Sehr beim Wort genommen?« Dr. Barlow lachte leise. »Ich denke, Zar Nicholas mag seine Schoßtiere.«

»Ein zweiköpfiger Bote.«

»Schoßtiere, pf!«, wiederholte ihr Loris, der einen neuen Platz auf den Käfigen für die Botenschwalben gefunden hatte, und Bovril kicherte. Die beiden Tierchen schnatterten einander Unsinn zu, wie sie es stets taten, wann immer sie sich begegneten.

Alek wandte den Blick vom Adler ab. »Eigentlich wäre ich mehr am Inhalt der Nachricht interessiert.«

»Äh …« Sie entrollte den Brief. »Ich fürchte, die ist im Augenblick militärisches Geheimnis.«

Alek sah sie böse an. Seine Verbündeten in Istanbul hatten nie Geheimnisse vor ihm gehabt.

Wenn er nur irgendwie hätte dort bleiben können. Glaubte man den Zeitungen, hatten die Rebellen die Herrschaft über die Hauptstadt übernommen, und ihr Einfluss breitete sich im gesamten osmanischen Reich aus. Dort hätte man ihn respektiert und als nützlich betrachtet, nicht als Wasserstoffverschwendung. Den Rebellen beim Sturz des Sultans zu helfen, war sogar das Nützlichste gewesen, das er in seinem Leben getan hatte. Die Deutschen hatte er dadurch um einen Mechanisten-Verbündeten gebracht und zudem bewiesen, dass er, Prinz Aleksandar von Hohenburg, in diesem Krieg etwas bewegen konnte.

Warum hatte er nur auf Dylan gehört und war auf diese Monstrosität von einem Luftschiff zurückgekehrt?

»Alles in Ordnung, Prinz?«, fragte Dr. Barlow.

»Ich wünschte nur, ich hätte eine Ahnung, was die Darwinisten vorhaben«, sagte Alek, und plötzlich zitterte seine Stimme vor Zorn. »Wenn Sie mich und meine Männer in Ketten nach London gebracht hätten, würde es wenigstens einen Sinn ergeben. Aber wozu werden wir um die halbe Welt geschleppt?«

Dr. Barlow versuchte ihn zu trösten. »Wir gehen alle den Weg, den der Krieg uns weist, Prinz Aleksandar. Bislang hat Ihnen dieses Schiff doch nicht so großes Unglück gebracht, oder?«

Alek verzog das Gesicht, konnte es jedoch nicht bestreiten. Die Leviathan hatte ihn schließlich davor bewahrt, den Krieg in einer eiskalten Burg in den Alpen auszusitzen. Und er war nach Istanbul gelangt, wo er seinen ersten Schlag gegen die Deutschen hatte führen können.

Er riss sich zusammen. »Vielleicht nicht, Dr. Barlow. Aber ich würde es vorziehen, meinen eigenen Kurs zu wählen.«

»Der Zeitpunkt wird früher eintreten, als Sie denken.«

Alek zog eine Augenbraue hoch und fragte sich, was sie meinte.

»Komm schon, meine Prinzlichkeit«, sagte Dylan. Der Adler trug jetzt Hauben und hockte ruhig auf ihrem Arm. »Mit den Eierköpfen zu streiten ist sinnlos. Und wir müssen den Vogel füttern.«

2. KAPITEL

Der Adler war ausgesprochen friedlich, nachdem Deryn ihm zwei Hauben über die streitenden Köpfe gezogen hatte.

Er saß schwer auf ihrem behandschuhten Arm, gute zehn Pfund aus Muskeln und Sehnen. Während sie mit Alek zum Heck ging, war sie schon bald dafür dankbar, dass Vögel hohle Knochen hatten.

Der Schlag war von der Hauptgondel abgetrennt und befand sich auf halbem Weg zur Bauchflosse. Der Laufgang dorthin wurde von der Hitze im gastrischen Kanal erwärmt, doch der eiskalte Wind drückte an beiden Seiten gegen die Haut des Luftschiffs, die sich dadurch riffelte. Wenn man die Tatsache bedachte, dass sie sich in einem tausend Fuß langen Luftschiff befanden, welches aus den Lebensfäden eines Wals und hundert anderer Spezies erschaffen worden war, stank es eigentlich so gut wie gar nicht. Der Geruch erinnerte höchstens an die Mischung aus Tierschweiß und Schiet, wie man sie in jedem Stall im Sommer erleben konnte.

Alek ging neben ihr und ließ den kaiserlichen Adler nicht aus den Augen.

»Glaubst du, er hat zwei Gehirne?«

»Natürlich«, meinte Deryn. »Wozu ist ein Kopf ohne Gehirn gut?«

Bovril gluckste darüber, so als hätte er begriffen, dass Deryn beinahe einen Witz über Mechanisten gemacht hätte. Alek war allerdings den ganzen Morgen über ziemlich empfindlich gewesen, deshalb verzichtete sie auf den Witz.

»Wenn sie sich nun darüber streiten, in welche Richtung wir fliegen sollen?«

Deryn lachte. »Dann werden sie die Sache mit einem Kampf entscheiden, denke ich, so wie andere auch. Aber ich glaube, sie werden nicht besonders viel streiten. Das Oberstübchen eines Vogels besteht vor allem aus Sehnerven – diese Tiere können besser sehen als denken.«

»Wenigstens weiß er nicht, wie schrecklich er aussieht.«

Unter einer der Hauben kreischte es, und Bovril ahmte den Laut nach.

Deryn runzelte die Stirn. »Wenn zweiköpfige Tierchen so schrecklich sind, wieso hattest du dann einen auf deinen Sturmläufer gemalt?«

»Das war das Wappen der Habsburger. Das Symbol meiner Familie.«

»Und was soll es symbolisieren? Zimperlichkeit?«

Alek verdrehte die Augen und setzte zu einer ausführlichen Erklärung an.

»Der zweiköpfige Adler wurde zuerst von den Byzantinern benutzt, um zu versinnbildlichen, dass ihr Reich sowohl den Osten als auch den Westen umfasst. Aber wenn ein modernes Königshaus dieses Symbol verwendet, verkörpert der eine Kopf irdische Macht und der andere göttliches Recht.«

»Göttliches Recht?«

»Das Prinzip, demzufolge die Macht eines Königs von Gott gegeben ist.«

Deryn schnaubte. »Darf ich raten, wer auf diese Idee gekommen ist? Vielleicht zufällig ein König?«

»Es ist ein bisschen altmodisch, könnte ich mir vorstellen«, sagte Alek, doch Deryn fragte sich, ob er es trotzdem glaubte. Er hatte allen möglichen Killefit im Oberstübchen, und er redete dauernd davon, die Vorsehung bestimme sein Leben, seit er von zu Hause aufgebrochen war. Und dass es sein Schicksal sei, diesen Krieg zu beenden.

Soweit sie sagen konnte, war dieser Krieg viel zu groß, um von einer einzigen Person beendet zu werden, ob es nun ein Prinz oder ein Bürgerlicher wäre, und das Schicksal kümmerte sich einen Micker darum, wofür irgendwer bestimmt wäre. Deryns Schicksal war es schließlich, ein Mädchen zu sein, Röcke zu tragen und sich mit quengelnden Bälgern abzumühen. Aber sie hatte ihr Schicksal mit Hilfe ihrer Nähkünste recht gut ausgetrickst.

Natürlich gab es andere Schicksale, denen sie nicht entwischt war, zum Beispiel dem, sich in einen blöden Prinzen zu verlieben, und zwar so erbarmungslos, dass ihr Kopf jetzt voller unsoldatischem Unfug steckte: nämlich, sein bester Freund zu sein und sein Verbündeter, während an ihrem Herzen eine stete hoffnungslose Sehnsucht nagte.

Glücklicherweise war Alek zu sehr mit seinen eigenen Problemen und mit den Problemen der ganzen brüllenden Welt beschäftigt, um es zu bemerken. Natürlich war es ein bisschen leichter, ihre Gefühle zu verbergen, weil er ja nicht wusste, dass sie ein Mädchen war. Niemand an Bord außer Graf Volger hatte davon eine Ahnung, und mochte dieser österreichische Adelige auch ein Oberpenner sein, so hatte er immerhin Spaß daran, Geheimnisse zu bewahren.

Sie erreichten die Luke zum Schlag, und Deryn langte nach dem Druckverschluss. Doch mit einer Hand war der Mechanismus im Dunkeln nicht leicht zu öffnen.

»Wie wäre es mit ein wenig Licht, Euer göttliche Prinzlichkeit?«

»Aber mit Vergnügen, Mr. Sharp«, sagte Alek und zog seine Kommandopfeife heraus. Er sah sie wissend an und pfiff die entsprechenden Töne.

Die Glühwürmchen hinter der Luftschiffhaut begannen zu flackern, und ein sanftes grünes Licht erfüllte den Gang. Schließlich fiel Bovril ins Pfeifen mit ein, wobei seine Stimme so hell klang wie Silberglöckchen. Das Licht wurde greller.

»Gut gemacht, Tierchen«, sagte Deryn. »Aus dir machen wir auch noch einen Kadetten.«

Alek seufzte. »Was man von mir wohl nicht sagen kann.«

Deryn beachtete sein Jammern nicht und öffnete die Tür zum Schlag. Als das Kreischen und Schreien von innen lauter wurde, packte der Zarenadler ihren Arm fester, und die scharfen Krallen drückten sich sogar durch das Leder der Falknerhandschuhe.

Sie führte Alek einen erhöhten Laufsteg entlang und suchte nach einem leeren Platz. Es waren insgesamt neun Käfige, drei unter ihr und drei zu den Seiten, jeder davon doppelt so hoch wie ein Mann. Die kleineren Raubvögel und Boten flatterten wild durcheinander, während die Kampffalken würdevoll auf ihren Plätzen saßen und die weniger wichtigen Vögel um sie herum überhaupt nicht beachteten.

»Bei den Wunden des Allmächtigen!«, sagte Alek hinter ihr. »Das ist ja das reinste Tollhaus.«

»Tollhaus«, wiederholte Bovril und sprang von Aleks Schulter auf das Geländer.

»Geheimnisse im Vogelschlag.«

Deryn schüttelte den Kopf. Alek und seine Männer fanden oft, dass im Luftschiff zu großes Durcheinander herrschte. Das Leben war wild und wirr, verglichen mit den schnurrenden Uhrwerken der Mechanistenapparate. Das Ökosystem der Leviathan mit seinen hundert verzahnten Spezies war weitaus komplexer als eine leblose Maschine und deswegen eben auch eine Winzigkeit weniger ordentlich. Aber dadurch blieb die Welt ja interessant, fand Deryn; die Wirklichkeit hatte keine Zahnräder, und man wusste nie, welche Überraschungen das Chaos bereithielt.

Ganz gewiss hatte sie niemals erwartet, eines Tages dabei zu helfen, eine Mechanistenrevolution durchzuführen, von einem Mädchen geküsst zu werden oder sich in einen Prinzen zu verlieben. Und doch war das alles im letzten Monat geschehen, und dabei hatte der Krieg gerade erst angefangen.

Deryn entdeckte den Käfig, den die Vogelhüter frei gemacht hatten, und zog den Ladeschacht vor den Platz darüber. Es wäre nicht gut, den Zarenadler mit anderen Vögeln zusammenzustecken, nicht solange er Hunger hatte.

Mit einer flinken Bewegung zog sie die Hauben ab und schob das Tierchen in den Schacht. Er flatterte hinunter in den Käfig und drehte sich für einen Moment wie ein vom Wind getriebenes Blatt in der Luft, ehe er auf der größten Stange landete.

Von dort aus beäugte der Zarenadler seine Mitgeschöpfe durch die Stangen und bewegte sich dabei unbehaglich von einer Kralle auf die andere. Deryn fragte sich, was für einen Käfig der Vogel wohl im Zarenpalast bewohnte. Vermutlich einen mit glänzenden Stäben, wo ihm fette Mäuse auf silbernen Tellern serviert wurden, in dem es nicht so schrecklich nach dem Schiet anderer Vögel stank.

»Dylan«, sagte Alek, »wo wir mal einen Moment für uns sind …«

Sie wandte sich zu ihm um. Er stand dicht bei ihr, seine grünen Augen glitzerten in der Dunkelheit. Es war immer am schwierigsten, seinen Blick zu halten, wenn er so totenernst war wie jetzt, aber es gelang ihr.

»Tut mir leid, weil ich eben die Sache mit deinem Vater angesprochen habe«, sagte er. »Ich weiß, es setzt dir immer noch zu.«

Deryn seufzte und fragte sich, ob sie nicht einfach sagen sollte, er brauche sich keine Gedanken zu machen. Aber es war schon ein wenig verzwickt, nachdem Newkirk dann von ihrem Onkel gesprochen hatte. Es wäre sicherer, Alek die Wahrheit zu sagen, zumindest den Teil, den sie wagen durfte.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte sie, »aber eins solltest du wohl wissen. In der Nacht, in der ich dir vom Unfall meines Vaters erzählt habe, habe ich dir nicht alles erklärt.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, Artemis Sharp war zwar mein Vater, so wie ich es gesagt habe.« Deryn holte tief Luft. »Aber beim Air Service denken alle, es wäre mein Onkel gewesen.«

Sie konnte Alek am Gesicht ablesen, dass dies für ihn keinerlei Sinn ergab, und ohne große Mühe kamen ihr die Lügen über die Lippen.

»Als ich eingetreten bin, war mein älterer Bruder schon beim Service. Daher konnten wir nicht sagen, dass wir Brüder sind.«

Das war natürlich hohles Geschwafel. Der eigentliche Grund war, dass Jaspert all seinen Kameraden erzählt hatte, außer einer jüngeren Schwester habe er keine weiteren Geschwister. Ein Bruder, der aus dem Nichts auftauchte, hätte dann vielleicht doch einen Micker verwirrt.

»Wir tun so, als wären wir Cousins. Verstehst du?«

Alek runzelte die Stirn. »Brüder dienen bei euch nicht zusammen im Militär?«

»Nicht, wenn der Vater tot ist. Verstehst du, wir sind die einzigen Kinder. Und wenn wir beide …« Sie zuckte mit den Schultern und hoffte, er würde ihr die Geschichte abnehmen.

»Ach, damit der Familienname weiter besteht. Sehr vernünftig. Aus dem Grund wollte deine Mutter nicht, dass du zum Militär gehst?«

Deryn nickte verdrießlich und fragte sich, warum es immer so brüllend kompliziert werden musste, wenn sie sich ein einziges Mal zu einer Lüge hinreißen ließ. »Ich wollte dich nicht in meine Täuscherei hineinziehen. Doch in jener Nacht habe ich gedacht, du würdest das Schiff sowieso verlassen. Daher habe ich dir die Wahrheit gesagt und nicht das, was ich sonst allen erzähle.«

»Die Wahrheit«, wiederholte Bovril. »Mr. Sharp.«

Alek hob die Hand und legte sie auf die Tasche seiner Jacke. Dort bewahrte er, wie Deryn wusste, den Brief vom Papst auf, mit dessen Hilfe er vielleicht eines Tages Kaiser werden würde. »Keine Sorge, Dylan. Ich werde all deine Geheimnisse für mich bewahren, so wie du meine.«

Deryn stöhnte. Sie hasste es, wenn Alek solche Dinge sagte. Denn schließlich konnte er nicht alle ihre Geheimnisse bewahren, oder? Das allergrößte kannte er nicht einmal.

Plötzlich wollte sie nicht mehr lügen. Nicht mehr so viel, jedenfalls.

»Warte«, sagte sie. »Ich habe dir gerade einen Haufen Killefit erzählt. Brüder können zusammen dienen. Es geht um etwas anderes.«

»Killefit«, wiederholte Bovril. Alek stand einfach mit sorgenvollem Gesicht da.

»Aber ich kann dir den wahren Grund nicht sagen«, fügte Deryn hinzu.

»Warum nicht?«

»Weil …« Weil sie eine Bürgerliche war und er ein Prinz. Weil er eine Meile weit laufen würde, wenn er es erfuhr. »Du würdest nicht mehr so viel von mir halten.«

Er starrte Deryn einen Augenblick lang an und legte ihr dann eine Hand auf die Schulter. »Du bist der beste Soldat, den ich je kennengelernt habe, Dylan. Der Junge, der ich immer sein wollte, wenn ich nicht als nutzloser Prinz geboren worden wäre. Ich könnte niemals etwas Schlechtes von dir denken.«

Sie stöhnte, drehte sich um und wünschte, es würde Alarm gegeben, Zeppeline würden angreifen oder ein Gewitter würde über sie hereinbrechen. Damit sie von diesem Gespräch erlöst wäre.

»Pass mal auf«, sagte Alek und zog die Hand zurück. »Selbst wenn es in deiner Familie ein dunkles Geheimnis gibt, wer bin ich, darüber den Stab zu brechen? Mein Großonkel hat sich mit den Männern verschworen, die meine Eltern umgebracht haben, Herr Gott noch mal!«

Deryn wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Alek hatte natürlich alles falsch verstanden. Es ging nicht um ein verstaubtes Familiengeheimnis, es ging allein um sie. Er würde es sicherlich immer falsch verstehen, bis sie ihm die Wahrheit gesagt hätte.

Und das würde sie niemals tun.

»Bitte, Alek. Ich kann nicht. Und … ich habe eine Fechtstunde.«

Alek lächelte, ganz wie der perfekte geduldige Freund. »Du kannst es mir erzählen, wann immer du möchtest, Dylan. Bis dahin werde ich nicht wieder fragen.«

Schweigend nickte sie und ging auf dem Rückweg die ganze Zeit vor ihm.

»Ziemlich spät für mein Frühstück, nicht?«

»Tut mir leid, Euer Grafschaft«, sagte Deryn und knallte das Tablett auf Graf Volgers Schreibtisch. Kaffee spritzte aus der Kanne auf den Toast. »Aber hier ist es ja.«

Der Wildgraf zog eine Augenbraue hoch.

»Und die Zeitung natürlich auch«, sagte sie und zog sie unter dem Arm hervor. »Dr. Barlow hat sie extra für Sie aufgehoben. Ich weiß gar nicht, warum sie sich die Mühe macht.«

Volger schnappte sich die Zeitung, nahm das kaffeegetränkte Stück Toast und schüttelte es. »Sie scheinen heute Morgen ja ziemlich angeregter Stimmung zu sein, Mr. Sharp.«

»Aye, na ja, ich habe schon einiges erledigt.« Deryn runzelte den Mann an. Natürlich war sie verärgert, weil sie Alek angelogen hatte, doch am liebsten hätte sie Graf Volger die Schuld dafür gegeben. »Ich habe wohl keine Zeit für die Fechtstunde.«

»Schade. Sie machen sehr gute Fortschritte«, erwiderte er. »Für ein Mädchen.«

Deryn sah den Mann böse an. Vor den Kabinen der Mechanisten wurden keine Wachen mehr postiert, aber trotzdem hätte jemand im Korridor zufällig mithören können. Sie ging zur Tür, schloss sie und wandte sich wieder dem Wildgrafen zu.

Er war die einzige Person auf dem Luftschiff, die wusste, was sie war, und für gewöhnlich sprach er nicht darüber.

»Was wollen Sie?«, fragte sie leise.

Er sah sie nicht an, sondern beschäftigte sich mit seinem Frühstück, als würden sie nur freundschaftlich plaudern. »Mir ist aufgefallen, dass die Mannschaft gewisse Vorbereitungen trifft.«

»Aye, wir haben heute Morgen eine Nachricht bekommen. Vom Zaren.«

Volger sah auf. »Vom Zaren? Ändern wir den Kurs?«

»Das ist ein Militärgeheimnis, fürchte ich. Außer den Offizieren weiß darüber niemand Bescheid.« Deryn runzelte die Stirn. »Und Miss Eierkopf, schätze ich. Alek hat sie gefragt, doch sie wollte nichts verraten.«

Der Wildgraf verteilte Butter auf seinem halb eingeweichten Toast und dachte nach.

Während des Monats, in dem sich Deryn in Istanbul versteckt hatte, hatten der Wildgraf und Dr. Barlow eine Art Bündnis geschlossen. Dr. Barlow versorgte Volger mit Nachrichten über den Krieg, und Volger verriet ihr seine Meinung über die Politik und die Strategie der Mechanisten. Aber Deryn bezweifelte, ob Miss Eierkopf ihm diese Frage beantworten würde. Zeitungen und Gerüchte waren eine Sache, geheime Befehle eine ganz andere.

»Vielleicht könnten Sie es für mich herausfinden.«

»Nein, könnte ich nicht«, erwiderte Deryn. »Militärgeheimnis.«

Volger schenkte sich Kaffee ein. »Aber manchmal ist es so schwierig, Geheimnisse zu bewahren. Meinen Sie nicht?«

Deryn spürte, wie in ihr eine kalte Benommenheit aufstieg, was jedes Mal geschah, wenn Graf Volger sie bedrohte. Es war einfach undenkbar, dass jemand erfuhr, was sie war. Sie könnte nicht mehr bei den Fliegern bleiben, und Alek würde kein Wort mehr mit ihr reden.

Aber heute Morgen war sie nicht in der Stimmung, sich erpressen zu lassen.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Graf. Nur die ranghöheren Offiziere wissen darüber Bescheid.«

»Ach, sicherlich kann ein so erfinderisches und gerissenes Mädchen es herausfinden. Wenn ein Geheimnis aufgedeckt wird, bleibt das andere gewahrt?«

Jetzt brannte die Angst kalt in Deryns Bauch, und beinahe hätte sie nachgegeben. Aber dann fiel ihr etwas ein, das Alek gesagt hatte.

»Sie dürfen Alek nichts über mich verraten.«

»Und warum nicht?«, fragte Volger und schenkte sich Kaffee nach.

»Er und ich waren gerade im Vogelschlag, und ich hätte es ihm beinahe selbst gesagt. Manchmal passiert das.«

»Gewiss. Aber sie haben es nicht verraten, oder?« Volger schnalzte mit der Zunge. »Weil Sie wissen, wie er reagieren würde. Auch wenn Sie beide sich noch so gern haben, Sie sind eine Bürgerliche.«

»Aye, das weiß ich. Trotzdem bin ich auch ein Soldat, und zwar ein brüllend guter.« Sie trat einen Schritt vor und riss sich zusammen, damit ihre Stimme nicht zitterte. »Ich bin der Soldat, der vielleicht aus Alek geworden wäre, wenn er nicht von einer Horde Schlaustiefel aufgezogen worden wäre. Ich habe das Leben, das er nicht leben konnte, weil er der Sohn eines Erzherzogs ist.«

Volger runzelte die Stirn und verstand noch nicht ganz, doch in Deryns Kopf wurde das Bild klarer.

»Ich bin der Junge, der Alek sein möchte, lieber als alles andere. Und Sie wollen ihm verraten, dass ich in Wirklichkeit ein Mädchen bin? Nachdem er seine Eltern und sein Zuhause verloren hat, wie wird er wohl auf diese Neuigkeit reagieren, Euer Grafschaft?«

Der Mann starrte sie noch einen Moment lang an, dann rührte er seinen Kaffee um. »Es würde ihn vermutlich … verstören.«

»Aye, würde es wohl. Guten Appetit, Graf.«

Deryn erwischte sich dabei, wie sie unwillkürlich grinste, als sie die Kabine verließ.

3. KAPITEL

Als sich der große Kiefer der Frachtklappe öffnete, pfiff ein eiskalter Wind durch den Laderaum, und die Lederriemen von Deryns Fliegeranzug knatterten und flatterten. Sie setzte ihre Schutzbrille auf, lehnte sich hinaus und schaute hinunter zum Boden, der unter ihnen vorbeirauschte.

Unten sah man verschneite Flecken und Kiefern. Die Leviathan war morgens über die sibirische Stadt Omsk geflogen und hatte nicht angehalten, um die Vorräte aufzufüllen, sondern sie war weiter nach Norden auf ein geheimes Ziel zugeflogen. Allerdings hatte Deryn kaum Zeit gefunden, darüber nachzudenken, wo es hingehen sollte; in den dreißig Stunden seit Ankunft des Zarenadlers hatten sie fleißig für diese Frachtaufnahme geübt.

»Wo ist der Bär?«, fragte Newkirk. Er beugte sich neben ihr hinaus und baumelte an seiner Sicherheitsleine in der dünnen Luft.

»Vor uns, er schont seine Kräfte.« Deryn zog ihre Handschuhe straff und prüfte, ob das schwere Drahtseil auf der Winde ihr Gewicht hielt. Es war so dick wie ihr Handgelenk und dafür ausgelegt, Paletten mit zwei Tonnen Last zu heben. Die Takler hatten den ganzen Tag an dem Apparat herumgebastelt, doch dies war der erste Test in der Praxis. Dieses besondere Manöver war nicht einmal im Handbuch der Aeronautik beschrieben.

»Ich mag Bären nicht«, murmelte Newkirk. »Manche dieser Tierchen sind einfach brüllend riesig.«

Deryn deutete auf den Haken am Ende des dicken Taus, der so groß wie der Kronleuchter in einem Ballsaal war. »Dann sollten Sie lieber aufpassen, das Tierchen nicht ausgerechnet im Nasenloch aufzuspießen. Es hätte vielleicht etwas dagegen.«

Hinter seiner Brille riss Newkirk die Augen auf.

Deryn boxte ihn an die Schulter und beneidete ihn, weil er am wichtigen Ende des Seils arbeiten durfte. Es war nicht fair, dass er seine Kenntnisse als Flieger erweitert hatte, während sie zusammen mit Alek die Revolution in Istanbul vorangebracht hatte.

»Danke, dass Sie mich noch nervöser machen, Mr. Sharp!«

»Ich dachte, Sie hätten das schon einmal durchgeführt?«

»Wir haben in Griechenland einige Frachtübernahmen gemacht. Aber dabei ging es um Postsäcke, nicht um schwere Lasten. Und von Pferdekutschen, nicht vom Rücken eines brüllend großen Bären!«

»Klingt schon ganz anders«, sagte Deryn.

»Im Prinzip das Gleiche, Jungs, und es funktioniert ganz genauso«, sagte Mr. Rigby hinter ihnen. Er betrachtete unablässig seine Taschenuhr, doch seinen Ohren entging nichts, selbst im heulenden sibirischen Wind nicht. »Ihre Flügel, Mr. Sharp.«

»Aye, Sir. Wie ein guter Schutzengel.« Deryn hievte sich die Gleitflügel auf die Schultern. Sie würde Newkirk tragen und mithilfe der Flügel über den Kampfbären bringen.

Mr. Rigby gab den Männern an der Winde ein Zeichen. »Viel Glück, Jungs.«

»Danke, Sir!«, antworteten die beiden Kadetten wie aus einem Munde.

Die Winde lief an, und der Haken glitt auf die offene Frachtluke zu. Newkirk packte ihn und hängte sich an einem dünneren Seil ein, das ihrer beider Gewicht beim Fliegen halten würde.

Deryn breitete ihre Gleitflügel aus. Während sie auf die Ladeluke zutrat, wurde der Wind stärker und kälter. Selbst durch die bernsteingelbe Brille musste sie wegen der starken Sonne blinzeln. Sie packte den Harnisch, der sie mit Newkirk verband.

»Fertig?«, rief sie.

Er nickte, und gemeinsam sprangen sie in die tosende Leere …

Der eiskalte Luftstrom riss Deryn in Richtung Heck, und die Welt drehte sich einmal wild um sie, wobei Himmel und Erde kurz die Plätze tauschten. Dann fassten ihre Gleitflügel in die Luft, da der baumelnde Newkirk zur Stabilisierung beitrug, wie ein Drachen, der von seiner Schnur festgehalten wird.

Die Leviathan begann mit dem Sinkflug. Unter ihnen wuchs der Schatten an und kroch wie eine große schwarze Woge über den Boden. Newkirk hielt den Haken fest und hatte wegen des Luftstroms die Arme um das Tau geschlungen.

Deryn spannte die Gleitflügel an. Solche Flügel hatte sie schon Dutzende Male bei Abstiegen mit dem Huxley benutzt, doch Ballonfliegen war kein Vergleich damit, von einem Luftschiff bei Höchstgeschwindigkeit geschleppt zu werden. Die Flügel zogen sie nach Steuerbord. Newkirk kam mit ihr und pendelte über der verschwommenen Landschaft unter ihnen. Als Deryn wieder in die Mitte steuerte, schwang sie mit Newkirk unter dem Schiff wie ein riesiges Pendel, das zur Ruhe kommt.

Die zarten Flügel reichten kaum aus, um das Gewicht zweier Kadetten zu steuern. Die Steuerleute der Leviathan mussten sie genau über dem Ziel in Position bringen und durften Deryn allenfalls die Feinarbeit überlassen.

Das Luftschiff sank weiter, bis sie und Newkirk nur noch gute zwanzig Meter über dem Boden hingen. Ihr Begleiter schrie auf, als seine Stiefel am Wipfel einer hohen Kiefer entlangschrammten und eine Wolke von eisglänzenden Nadeln aufstieben ließen.

Deryn sah nach vorn … und entdeckte den Kampfbären.

Sie und Alek hatten an diesem Morgen schon einige gesehen, deren dunkle Gestalten sich entlang der Transsibirischen Schneisenbahn bewegten. Noch aus einer Höhe von tausend Fuß sahen sie beeindruckend aus, aber von hier unten war das Tier ein wahres Monstrum. An den Schultern erreichte es eine Höhe wie ein Haus, und der heiße Atem kringelte sich in die Luft wie Rauch aus einem Schornstein.

Eine große Ladefläche war auf den Rücken geschnallt. Dort stand eine Palette, an der eine flache Schlaufe auf Newkirks Haken wartete. Vier Mann Besatzung in russischen Uniformen kletterten auf dem Bären herum, überprüften die Riemen und das Netz der geheimen Fracht.

Der Lenker riss die lange Peitsche hoch und ließ sie wieder niedergehen, und der Bär begann zu laufen. Er trottete ein langes, schnurgerades Stück der Schneisenbahn entlang, das genau auf dem Kurs der Leviathan lag.

Nach und nach wurde der Bär schneller, bis er schließlich rannte. Laut Dr. Busk konnte das Tierchen die Geschwindigkeit des Luftschiffs für kurze Zeit halten. Wenn Newkirk den Haken nicht gleich beim ersten Mal einhängen könnte, müssten sie wenden und das Tier verschnaufen lassen. Dadurch würden sie die Hälfte der Zeit wieder einbüßen, die sie dadurch sparten, dass sie nicht auf ganz normale Weise landeten und luden.

Und der Zar, so schien es, wollte seine Fracht brüllend schnell ans Ziel gebracht sehen.

Während das Luftschiff sich dem Bären näherte, spürte Deryn den donnernden Schritt durch die Luft. Staub vom kalten, hart gestampfen Boden wirbelte hinter ihm auf. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ein Trupp solcher Ungeheuer in den Kampf zog, ausgerüstet mit glitzernden Kampfsporen und zwanzig Schützen auf dem Rücken. Die Deutschen mussten verrückt sein, diesen Krieg provoziert zu haben und ihre Maschinen nicht nur gegen die Luftschiffe und Kraken Britanniens ins Feld zu schicken, sondern auch gegen die riesigen Landtiere von Russland und Frankreich.

Sie und Newkirk waren nun nicht mehr weit hinter dem Bären, in sicherer Entfernung zu den Baumwipfeln. Die Transsibirische Schneisenbahn war eines der Weltwunder, das hatte sogar Alek eingeräumt. Von Mammutinen platt gestampft erstreckte sie sich von Moskau bis zum Japanischen Meer und war so breit wie ein Kricketfeld – genug für zwei Bären, um in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeizulaufen, ohne sich zu stören.

Diese Ursinen, wie man die Bärenartigen nannte, waren störrische Tierchen. Gestern Abend hatte Mr. Rigby Newkirk mit Geschichten darüber ergötzt, wie gern sie ihre Lenker fraßen.

Die Leviathan holte den Bären rasch ein, und Newkirk gab Deryn ein Zeichen, ihn weiter nach Backbord zu ziehen. Sie legte die Flügel schräg und spürte, wie der Luftstrom an ihrem Körper zerrte, wobei sie kurz an Lilit in ihrem Flugdrachen dachte. Deryn fragte sich, wie es dem Mädchen wohl in der neuen osmanischen Republik erging. Dann schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.

Die Palette kam näher, doch die Schlaufe, die Newkirk erwischen sollte, hob und senkte sich mit dem wankenden Lauf des Riesenbären. Newkirk senkte den Haken und versuchte ihn, mit Schwung näher ans Ziel zu bringen. Einer der Russen kletterte auf die Frachtpalette und streckte den Arm aus.

Deryn legte die Flügel einen Micker schräger und brachte Newkirk noch weiter nach Backbord.

Er schob den Haken vor, Metall schlug gegen Metall, und im kalten Wind klapperte und rasselte es laut – dann war der Haken in der Schlaufe eingeschnappt!

»Das Paket auf den Haken nehmen.«

Die Russen schrien und begannen damit, die Riemen zu lösen, mit denen die Palette auf der Ladefläche befestigt war. Der Bärenlenker winkte mit der Peitsche vor und zurück, das Signal für die Steuerleute auf der Leviathan, wieder in den Steigflug überzugehen.

Das Luftschiff hob die Nase, und der Haken zog sich in der Schlaufe fest. Neben Deryn spannte sich das dicke Tau. Natürlich löste sich die Palette nicht vom Rücken des Kampfbären – noch nicht. Man konnte einem Luftschiff nicht zwei Tonnen zusätzlicher Ladung aufbürden und erwarten, dass es senkrecht in die Höhe stieg.

Aus den Luken der Leviathan floss Ballast. Aus dem Verdauungstrakt gepumpt fühlte sich das Brackwasser warm wie Pisse an. Aber im sibirischen Wind gefror es augenblicklich und lag wie ein glitzernder Eisnebel in der Luft.

Im nächsten Moment stachen diese Eiskristalle Deryn wie Hagel ins Gesicht und prasselten gegen ihre Schutzbrille. Sie biss die Zähne zusammen, aber trotzdem musste sie lachen. Sie hatten es beim ersten Versuch geschafft, und in Kürze würde die Fracht in der Luft sein. Und Deryn flog!

Doch während ihr Lachen noch verklang, dröhnte ein tiefes Knurren durch die Luft, ein überhebliches und ärgerlicher Laut, der Deryn schlimmer in die Knochen fuhr als der sibirische Wind.

Der Kampfbär gebärdete sich störrisch.

Und zwar nicht ohne guten Grund. Der gefrorene Schiet von tausend Tierchen regnete auf seinen Kopf nieder und trug den Geruch von Boteneidechsen und Glühwürmchen, Huxleys und Wasserstoffschnüfflern, Fledermäusen und Bienen und Vögeln und natürlich den des großen Wals selbst heran – hundert Spezies, die der Kampfbär nie zuvor gerochen hatte.

Er warf den Kopf zurück und brüllte erneut, schüttelte voller Ärger die großen braunen Schultern und schleuderte die russische Mannschaft in die Luft. Die Männer landeten jedoch sicher wie Flieger bei Sturm wieder auf ihren Plätzen.

Der Haken klirrte in der Öse, als der Bär sich hin und her warf, und das dicke Tau für die Fracht knallte und zitterte neben Deryn. Sie lehnte sich weit nach links und versuchte, sich und Newkirk in Sicherheit zu bringen.

Der Lenker schlug einige Male mit der Peitsche zu, und der Bär beruhigte sich ein wenig. Während oben in der Luft immer mehr Ballast glitzerte, kam die Fracht endlich in die Höhe.

Der letzte von der Mannschaft des Kampfbären sprang von der Palette und winkte ihnen zu. Deryn salutierte, derweil der Bär langsamer wurde und stehen blieb. Die Fracht drehte sich jetzt in der Luft und schwebte nur knapp über dem Boden.

Deryn runzelte die Stirn. Warum stieg die Leviathan nicht schneller? Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zur nächsten Kurve in der Schneisenbahn, und sie und Newkirk sowie die Ladung befanden sich noch unterhalb der Baumwipfel.

Sie blickte nach oben. Der Ballastregen hatte aufgehört. Die Mechanistenmotoren dröhnten, spuckten Rauch und versuchten, durch Aerodynamik Auftrieb zu erzeugen. Aber das Luftschiff stieg zu langsam.

Die Falten auf Deryns Stirn vertieften sich. Dr. Busk, der Obereierkopf persönlich, hatte die Berechnungen für diese Frachtaufnahme vorgenommen. Er hatte bestimmt sehr genau gerechnet, denn schließlich lag noch eine lange Reise vor ihnen. Aber Deryn und Mr. Rigby hatten den Abwurf von Ballast über der Tundra überwacht, wo man das Schiff exakt auf das richtige Gewicht gebracht hatte …

Es sei denn, die Palette mit der Fracht war schwerer, als im Brief des Zaren angegeben worden war.

»Brüllende Könige!«, schrie Deryn. Gottesgnadentum änderte nichts an den Gesetzen von Schwerkraft und Wasserstoff, daran ließ sich nicht rütteln.

Sie hörte den schrillen Ballastalarm von oben und fluchte. Was auch immer durch die Luken abgeworfen würde, sie und Newkirk wären genau im Weg.

»Wir sind zu schwer!«, rief sie nach unten.

»Aye, ist mir auch schon aufgefallen!«, antwortete der Junge, als die Schneisenbahn unter ihm nach rechts abbog.

Die Palette krachte in die Spitze eines Baumes, und Newkirk verschwand in einer Wolke aus Kiefernnadeln und Schnee.

»Wir müssen einen Teil der Ladung loswerden!«, rief Deryn und drehte die Flügel nach rechts. Als sie und Newkirk über der Palette waren, ließ sie ihren Karabinerhaken am Frachtseil einschnappen und befreite sich von ihren Gleitflügeln.

Zusammen mit Newkirk rutschte sie kreischend nach unten und landete mit den Stiefeln voran auf der Fracht.

»Pusteln und Karbunkel, Mr. Sharp! Wollen Sie uns umbringen?«

»Ich rette uns, Mr. Newkirk, wie immer.« Sie schnallte sich ab und rollte sich auf die Palette. »Wir müssen etwas abwerfen!«

»Bestnote darin, das Offensichtliche festzustellen!«, schrie Newkirk, als die Palette gerade wieder gegen einen Baumwipfel krachte. Durch den Zusammenstoß geriet die Welt in eine Drehbewegung, und Deryn landete flach auf dem Bauch und suchte nach Halt.

Ihre Nase wurde gegen die Ladung gedrückt, und sie roch etwas Fleischiges. Deryn runzelte die Stirn. War die Palette mit getrocknetem Rind vollgepackt?

Sie hob den Kopf und sah sich um. Auf den ersten Blick gab es nichts, was man einfach so abwerfen könnte, keine Kisten, die man losschneiden könnte. Nur ein schweres Netz über einer formlosen braunen Masse. Sie würden minutenlang brauchen, um mit ihren Taklermessern ein Loch hineinzuschneiden.

»Pusteln und Karbunkel«, schrie Newkirk.

Deryn folgte seinem Blick nach oben und fluchte erneut. Der Ballastalarm war in vollem Gange. Flechet-Fledermäuse stiegen in die Luft auf, und sogar das Spülwasser aus der Kombüse wurde aus den Luken geschüttet. An der Frachtraumtür erschien ein Fass und trudelte nach unten, auf sie zu.

Deryn hielt sich noch fester, für den Fall, dass sie vom Fass getroffen und in Drehung versetzt würden – oder würde die ganze Palette einfach auseinanderbrechen?

Doch das Fass donnerte einige Meter entfernt vorbei und zerbrach in einer weißen Mehlwolke auf dem harten Tundraboden.

»Hier drüben, Mr. Sharp!«, rief Newkirk. Er war auf die andere Seite der Palette gekrabbelt, und ein Fuß baumelte über die Kante.

»Was haben Sie entdeckt?«

»Nichts!«, rief er. Als Deryn zögerte, fügte er hinzu: »Kommen Sie einfach her, Sie brüllender Idiot!«

Als sie zu Newkirk hinüberkletterte, begann die Palette unter ihrem Gewicht zu kippen. Einen Moment lang verlor sie den Halt am Netz und rutschte auf den Rand zu.

Newkirk streckte die Hand aus und bremste sie.

»Festhalten!«, schrie er, während die Palette weiterkippte.

Endlich begriff Deryn seinen Plan – ihr Gewicht legte die sorgfältig ausbalancierte Palette auf die Seite, und daraufhin schnitt sie wie eine Messerklinge durch die Bäume. Außerdem bildete sie jetzt ein wesentlich kleineres Ziel für den Kram, der von oben herabregnete, und der Großteil der Fracht befand sich über den beiden Kadetten und schützte sie davor, getroffen zu werden.

Das nächste Fass flog knapp vorbei und zerschmetterte auf dem Boden hinter dem Luftschiff. Einige eisbepackte Baumwipfel rasten vorbei, doch endlich kam die Leviathan hoch, da sie nun leicht genug war, um einige wenige Fuß in die Höhe zu steigen.

Newkirk grinste. »Es macht Ihnen doch nichts aus, mal selbst gerettet zu werden, Mr. Sharp?«

»Nein, nein, ist schon in Ordnung, Mr. Newkirk«, sagte sie und griff mit der Hand um. »Sie waren mir schließlich auch noch etwas schuldig.«

»Rückkehr mit der Fracht.«

Während die Baumwipfel unter ihnen zurückblieben, stieg Deryn nach oben. Die Palette richtete sich wieder aus, und sie wurden mit der Winde nach oben gezogen. Deryn sah sich genauer an, was sich dort im Netz befand. Anscheinend handelte es sich tatsächlich um getrocknetes Rindfleisch, viele, viele Scheiben, die zusammengepackt waren.

»Wonach riecht das für Sie?«, fragte sie Newkirk.

Er schnüffelte. »Frühstück.«

Sie nickte. Es roch ganz genau wie Speck, der darauf wartete, in die Pfanne gelegt zu werden.

»Aye«, sagte sie leise. »Aber Frühstück für wen?«

4. KAPITEL

»Wir fliegen immer noch nach Westnordwest.« Alek betrachtete seine Notizen. »Bei einem Kompasskurs von fünfundfünfzig Grad, wenn ich richtig abgelesen habe.«

Volger betrachtete düster die Karte auf seinem Schreibtisch. »Sie müssen sich irren, Alek. Auf diesem Kurs gibt es nichts. Keine Städte und keine Häfen, nur Wildnis.«

»Nun, ja …« Alek versuchte sich zu erinnern, wie Newkirk es ihm erklärt hatte. »Es hat vielleicht damit zu tun, dass die Erde rund ist und diese Karte hingegen flach.«

»Ja, ja. Ich habe die Großkreisroute berechnet.« Volger fuhr mit dem Zeigefinger die Linie entlang, die sich als Kurve vom Schwarzen Meer nach Tokio erstreckte. »Aber die haben wir verlassen, nachdem wir über Omsk nach Norden abgebogen sind.«

Alek seufzte. Kannte denn jeder außer ihm diese Sache mit dem »Großkreis«? Ehe der Große Krieg alles geändert hatte, war Wildgraf Volger Kavallerieoffizier in Diensten von Aleks Vater gewesen. Woher wusste er so viel über Navigation?

Durch das Fenster von Volgers Kabine sah man, wie der Schatten der Leviathan nach vorn länger wurde. Der untergehenden Sonne zufolge war das Luftschiff weiterhin nach Norden unterwegs.

»Wenn schon«, meinte Volger, »dann sollten wir mittlerweile nach Südwesten fliegen, in Richtung Tsingtao.«

Alek runzelte die Stirn. »Zum deutschen Hafen in China?«

»Ja. Dort haben ungefähr ein halbes Dutzend Panzerschiffe der Mechanisten ihren Stützpunkt. Sie bedrohen den Frachtverkehr der Darwinisten auf dem gesamten Pazifik, von Australien bis zum Königreich Hawaii. Wie man in den Zeitungen lesen kann, die mir Dr. Barlow freundlicherweise überlassen hat, bereiten sich die Japaner auf eine Belagerung der Stadt vor.«

»Und die brauchen die Hilfe der Leviathan?«

»Wohl kaum. Aber Lord Churchill möchte die Japaner wohl nicht ohne die Hilfe der Briten siegen lassen. Es würde sich nicht geziemen, wenn Asiaten irgendwo ganz allein eine europäische Großmacht besiegen könnten.«

Alek stöhnte. »Was für eine kolossale Übung in Idiotie. Sie meinten, wir fliegen um die halbe Welt, nur um ein bisschen mit dem Union Jack zu wedeln?«

»Das war die Absicht, dessen bin ich sicher. Aber seit die Nachricht des Zaren eingetroffen ist, fliegen wir einen anderen Kurs.« Volger trommelte mit den Fingern auf die Karte. »Bei der Fracht, die wir von den Russen aufgenommen haben, müsste sich ein Hinweis finden. Hat Dylan Ihnen nichts darüber gesagt?«

»Ich konnte ihn noch nicht fragen. Er nimmt wegen des Überlastalarms immer noch die Palette auseinander.«

»Weswegen?«, fragte der Wildgraf, und Alek musste unwillkürlich lächeln. Wenigstens wusste er eine Sache, die Volger nicht kannte.

»Nachdem wir die Fracht aufgenommen hatten, wurde Alarm gegeben – diese Horntöne. Vielleicht kennen Sie die noch aus den Alpen, als wir das Gold meines Vaters abwerfen mussten.«

»Erinnern Sie mich nicht daran.«

»Sollte auch gar nicht notwendig sein«, sagte Alek. Volger hätte sie beinahe alle umgebracht, weil er eine Vierteltonne Gold an Bord geschmuggelt hatte. »Überlastalarm bedeutet, dass das Schiff zu schwer ist, und Dylan war den ganzen Nachmittag mit Dr. Barlow im Laderaum. Vermutlich nehmen sie die Fracht auseinander, um festzustellen, warum sie schwerer als erwartet ist.«

»Klingt durchaus logisch«, meinte Volger und schüttelte den Kopf. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum eine einzige Palette mit Fracht bei einem Schiff von dreihundert Metern Länge so viel ausmacht. Das erscheint mir absurd.«

»Es ist überhaupt nicht absurd. Die Leviathan ist ein Aerostat, das bedeutet, es ist vollkommen im Gleichgewicht mit der Dichte der –«

»Verschonen Sie mich, Durchlaucht.« Volger hob eine Hand. »Aber vielleicht könnten Sie Ihre Aeronautik-Stunden ein anderes Mal wiederholen.«

»Sie würden möglicherweise Interesse daran finden, Graf«, erwiderte Alek steif. »Denn allein der Aeronautik haben Sie es zu verdanken, dass Sie in diesem Augenblick nicht abstürzen.«

»Wohl wahr. Also sollten wir dieses Feld den Experten überlassen, oder, Prinz?«

Alek kamen mehrere scharfe Antworten in den Sinn, doch er biss sich auf die Zunge. Warum hatte Volger so schlechte Laune? Als die Leviathan sich vor zwei Wochen nach Osten gewandt hatte, schien er zufrieden damit zu sein, nicht nach Britannien gebracht zu werden, wo sie ganz gewiss die Verhaftung erwartete. Der Mann hatte sich sogar ein wenig an das Leben auf der Leviathan gewöhnt, tauschte mit Dr. Barlow Informationen aus und hatte angefangen, eine gewisse Sympathie für Dylan zu entwickeln. Aber heute war Volger absolut unausstehlich.

Und Dylan hatte aufgehört, dem Wildgrafen das Frühstück zu bringen. Hatten die beiden sich gestritten?

Volger rollte seine Karte zusammen und legte sie in die Schreibtischschublade. »Finden Sie heraus, was in der russischen Fracht ist, und zwar selbst dann, wenn sie es aus diesem Jungen herausprügeln müssen.«

»Mit ›diesem Jungen‹ meinen Sie vermutlich meinen guten Freund Dylan?«

»Er ist ganz bestimmt nicht Ihr Freund. Ohne ihn würden Sie sich längst in Freiheit befinden.«

»Das war meine eigene Entscheidung«, erwiderte Alek fest. Dylan hatte Alek vielleicht überreden wollen, wieder mit auf das Schiff zu kommen, doch es hatte keinen Sinn, irgendwem die Schuld zuzuschieben. Alek hatte sich selbst dafür entschieden. »Aber ich werde ihn fragen, was sie gefunden haben. Vielleicht könnten Sie bei Dr. Barlow Erkundigungen anstellen, denn Sie verstehen sich doch so gut mit ihr.«

Volger schüttelte den Kopf. »Diese Frau erzählt mir nur das, was ihrer Meinung nach nützlich ist, wenn wir es wissen.«

»Dann würde ich vorschlagen, suchen Sie in Ihren Zeitungen nach Hinweisen. Über alles, weshalb die Russen Hilfe im Norden von Sibirien brauchen könnten?«

»Da werde ich wohl kaum etwas finden.« Volger holte eine Boulevardzeitung aus der offenen Schublade und schob sie Alek zu. »Zumindest hat dieser amerikanische Reporter aufgehört, über Sie zu schreiben.«

Alek nahm die Zeitung – die New York World. Auf der Titelseite gab es eine Geschichte von Eddie Malone, einem amerikanischen Reporter, den er und Dylan in Istanbul kennengelernt hatten. Malone hatte gewisse Geheimnisse über die Revolution in Erfahrung gebracht, daher hatte Alek dem Mann seine Lebensgeschichte erzählt, um dem Mann sein Schweigen abzukaufen. Als Folge davon hatte es eine Reihe von Artikeln über das Attentat auf Aleks Eltern und seine Flucht von zu Hause gegeben.

Das war alles äußerst geschmacklos gewesen.

Aber in diesem Bericht ging es nicht um Alek. Die Schlagzeile lautete: DIPLOMATISCHES DESASTER AN BORD DES UNERSCHROCKENEN!

Darunter befand sich eine Fotografie des Unerschrockenen, eines Läufers in Elefantengestalt, den der britische Botschafter in Istanbul benutzte. Deutsche Geheimagenten hatten während des Aufenthalts der Leviathan einen Aufruhr provoziert, wodurch es beinahe zu einem Aufstand gekommen wäre, den man den Briten zur Last legte. Nur Dylans schnelle Auffassungsgabe hatte verhindert, dass die Situation in einer Katastrophe geendet war.

»Nachdenkliche Stimmung.«

»Aber das war, na, vor sieben Wochen? Nennen die das in Amerika neueste Nachrichten?«

»Diese Zeitung hat eine Weile gebraucht, bis sie in meine Hände gelangt ist, und ja, es war eine alte Nachricht. Offensichtlich sind diesem Malone Ihre Geheimnisse ausgegangen.«

»Dem Himmel sei Dank«, murmelte Alek und las die Geschichte auf einer anderen Seite weiter. Dort fand sich auch eine weitere Fotografie: Dylan, der sich vom Metallrüssel des Elefanten schwang und gegen einen der Deutschen kämpfte.

»Ein tollkühner Kadett rettet die Lage«, las er vor und grinste. Diesmal hatte Dylan im Rampenlicht gestanden, nicht er. »Kann ich das behalten?«

Der Wildgraf antwortete nicht – er starrte an die Decke, wo eine Boteneidechse erschienen war.

»Prinz Aleksandar«, sagte das Tierchen mit der Stimme von Dr. Barlow. »Mr. Sharp und ich möchten Sie um das Vergnügen Ihrer Anwesenheit im Frachtraum bitten, wenn es einzurichten wäre.«

»Frachtraum?«, fragte Alek. »Natürlich, Dr. Barlow. Ich bin in Kürze bei Ihnen. Ende der Nachricht.«

Volger fuchtelte herum, um die Eidechse zu verscheuchen, doch die war längst in Richtung Botenröhre verschwunden. »Hervorragend. Jetzt bekommen wir vielleicht ein paar Antworten.«

Alek faltete die Zeitung zusammen und schob sie in die Tasche. »Aber wozu brauchen die mich?«

»Weil es so ein Vergnügen ist, Sie dabeizuhaben, wie sich von selbst versteht.« Der Wildgraf zuckte mit den Schultern. »Sicherlich lügt eine Eidechse nicht.«

Im Frachtraum roch es wie in einer Gerberei, nach einer Mischung aus altem Fleisch und Leder. In langen, dunkelbraunen Streifen lag beides überall auf Haufen, und dazwischen standen ein paar Holzkisten.

»Ist dies die ach so wertvolle Fracht?«, erkundigte sich Alek.

»Zwei Tonnen getrocknetes Rindfleisch, hundertzwölf Pfund Beruhigungsmittel und tausend Schuss Munition für ein Maschinengewehr«, las Dylan von einer Liste vor. »Dazu ein paar Kisten mit etwas anderem.«

»Etwas Unerwartetem«, ergänzte Dr. Barlow. Sie war mit Tazza in der anderen Ecke des Raums und starrte in eine offene Kiste. »Und ziemlich schwer ist es dazu.«

»Ziemlich«, sagte der Loris auf ihrer Schulter und beäugte die Kiste voller Missfallen.

Alek sah sich nach Bovril um. Der hing über Dylans Kopf von der Decke. Alek hob die Hand, und das Tier kletterte auf seine Schulter. Graf Volger erlaubte solche Abscheulichkeiten natürlich nicht in seiner Nähe.

»Guten Tag«, grüßte das Tierchen.

»Guten Abend«, berichtigte Alek und wandte sich Dr. Barlow zu. »Darf ich fragen, warum uns der Zar gebeten hat, eine Ladung Dörrfleisch aufzunehmen?«

»Dürfen Sie nicht«, sagte sie. »Aber schauen Sie sich doch bitte einmal diese unerwartete Fracht an. Wir brauchen Ihren Sachverstand als Mechanist.«

»Meinen Sachverstand als Mechanist?« Alek gesellte sich zu Miss Eierkopf neben der Kiste. Inmitten von Stroh, das als Polstermaterial diente, lagen verschiedene Metallteile, die in der Dunkelheit glänzten. Alek kniete, griff in die Kiste und nahm eins der Teile heraus. Tazza schnüffelte daran und winselte.

Es handelte sich um ein elektrisches Bauteil, das ungefähr so lang wie ein Unterarm und am Ende mit zwei blanken Drähten ausgestattet war.

»Der Zar hat Ihnen nicht verraten, wie man das zusammenbaut?«

»Eigentlich sollte überhaupt keine Maschine dabei sein«, erwiderte Dylan. »Aber es sind fast eine halbe Tonne Metallteile und Werkzeuge hier drin. Die hätten den armen Mr. Newkirk fast in eine Kiefer gezogen!«

»Und alles das Produkt von Mechanisten«, murmelte Alek. Er begutachtete ein weiteres Teil, eine mundgeblasene Glaskugel. Mit einem satten Klicken rastete sie bei dem ersten Teil ein.

»Das sieht aus wie ein Zündkondensator, wie einer von denen, die wir in meinem Sturmläufer hatten.«

»Zündkondensator«, wiederholte Bovril leise.

»Sie können uns also den Zweck dieses Geräts erklären?«, fragte Dr. Barlow.

»Vielleicht.« Alek sah in die Kiste. Dort lag ein Dutzend weiterer Teile, und es gab noch zwei andere Kisten. »Aber dazu brauche ich Klopps Hilfe.«

»Nun, ja, das wäre ein Problem.« Dr. Barlow seufzte. »Aber sicherlich können wir den Kapitän überreden. Sie müssten sich nur beeilen. Morgen erreichen wir unser Ziel.«

»So bald? Interessant.« Alek lächelte, er hatte gerade ein Teil entdeckt, das zu den anderen beiden passte. Es handelte sich um einen sehr eng aufgewickelten Kupferdraht mit wenigstens tausend Windungen wie bei einer Hochspannungskaskade. Er pfiff eine Boteneidechse herbei, die er daraufhin zu seinen Männern schickte, aber er wartete nicht, bis sie eingetroffen waren.

In gewisser Hinsicht war es leicht zu erraten, wie die Teile zusammengehörten. Er hatte einen Monat lang in der Wildnis dabei mitgeholfen, seinen Sturmläufer mit reparierten, gestohlenen oder behelfsmäßigen Teilen in Gang zu halten. Und die Metall- und Glasteile vor seiner Nase waren keinesfalls behelfsmäßig, sondern es handelte sich um elegante Stücke, so geschwungen wie die Möbelschöpfungen aus Holz an Bord der Leviathan. Während er arbeitete, schienen seine Finger von selbst zu begreifen, wie man die Teile zusammensetzen musste, auch wenn er den Sinn des Apparates noch nicht verstand. Als Klopp und Hoffman schließlich eintrafen, hatte er schon einen beachtlichen Teil der Arbeit erledigt.

Vielleicht war Seine Durchlaucht Aleksandar Prinz von Hohenberg am Ende doch keine Wasserstoffverschwendung.

5. KAPITEL

Früh am nächsten Morgen war der Apparat so gut wie fertig. Die wenigen Teile, die noch übrig waren, Knöpfe und Hebel für das Steuerpult, lagen überall auf dem Boden verstreut. Das Trockenfleisch hatte man aus dem Frachtraum entfernt, um Platz zu schaffen, doch der Geruch hing weiterhin in der Luft.

Alek, Dylan, Bauer und Hoffman hatten ohne zu schlafen durchgearbeitet, Meister Klopp hatte den Großteil der Nacht auf einem Stuhl gedöst und war nur gelegentlich aufgewacht, um Anweisungen zu geben und den Entwickler des Apparates zu verfluchen. Seiner Meinung nach waren die grazilen Linien zu fantasievoll und eine Beleidigung der Mechanisten-Prinzipien. Bovril saß auf seiner Schulter und prägte sich voller Freude die Schimpfwörter des Deutschen ein.

Seit der Nacht der osmanischen Revolution benutzte Klopp einen Gehstock und verzog das Gesicht, wann immer er aufstehen musste. Sein Kampfläufer war beim Angriff auf die Tesla-Kanone gestürzt, als er vom Orientexpress umgefahren worden war. Dr. Busk, der Schiffsarzt der Leviathan, sagte, es sei ein Wunder, dass er überhaupt noch gehen konnte.

»Zusammenbau des Apparates.«

Die Revolution hatte nur eine Nacht gedauert, doch sie hatte große Opfer gefordert. Lilits Vater war gestorben, und zwar zusammen mit tausend anderen rebellischen Soldaten und zahllosen Osmanen. Ganze Viertel der antiken Stadt Istanbul lagen in Schutt und Asche.

Natürlich war die Schlacht, die in Europa stattfand, zehnmal schlimmer, vor allem der Kampf zwischen Aleks Landsleuten und den Russen. In Galizien war eine Horde Kampfbären auf Hunderte von Maschinen getroffen, ein riesiger Zusammenprall von Fleisch und Metall, der Österreich ins Wanken gebracht hatte. Und der Krieg ging, wie Dylan unablässig wiederholte, gerade erst los.

Newkirk brachte ihnen Frühstück, als gerade die ersten Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Frachtluke schienen.

»Was zum Teufel ist das für eine Apparatur?«, fragte er.

Alek nahm die Kaffeekanne von Newkirks Tablett und goss sich eine Tasse ein.

»Gute Frage.« Er reichte den Kaffee Klopp und wechselte ins Deutsche. »Schon irgendwelche Ideen?«

»Nun ja, jedenfalls soll man das Ding herumtragen können«, meinte Klopp und klopfte mit dem Stock an die langen Griffe an den Seiten. »Vermutlich von zwei Männern, und möglicherweise wird ein dritter für die Bedienung gebraucht.«