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Von der Pfalz bis New York, von den 1970ern bis heute Ein lauer Wind in der Sommerhitze, das unerwartete Lächeln eines Mannes und ein gestohlener Kuss verändern Marias Leben für immer. 17 Jahre später lebt ihre Tochter Greta als Halbwaise bei der Winzerfamilie Hellert. Die meiste Zeit ist es für das zierliche Mädchen in Ordnung, das fünfte Rad am Wagen zu sein, ihre junge Mutter nur von einem Foto und ihren Vater gar nicht zu kennen. Sie arbeitet gern in den Weinbergen und verbringt viel Zeit mit Robert, dem rebellischen Sohn der Hellerts. Je näher sich die beiden kommen und je älter Greta wird, desto klarer spürt sie, dass sie ihren Träumen folgen muss: Sie will lernen, selbstbestimmt leben, Anteil an der neuen Freiheit der Frauen haben. Bis ein überraschendes Erbe alles verändert.
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Seitenzahl: 479
»Längst hatte sie sich an das leise Knarren der Holzstiege gewöhnt, die nach oben führte und deren Stufen zu flüstern schienen: ›Du bist anders als die anderen.‹«
Deutschland in den 1970ern: Während in Berlin und anderswo die Freiheit gelebt und gefeiert wird, ist das Leben in den pfälzischen Weinbergen noch immer traditionell. Das spürt auch die 16-jährige Greta. Als Halbwaise, der Vater unbekannt, lebt sie bei der Winzerfamilie Hellert. Die meiste Zeit ist es für das zierliche Mädchen in Ordnung, nie ganz dazuzugehören. Greta arbeitet gern in den Weinbergen der Familie. Am liebsten verbringt sie Zeit mit Robert, dem rebellischen Sohn der Hellerts. Er ist der Einzige, der erkennt, wie klug und besonders Greta ist. Und der sie in ihrem Ziel, zu studieren, unterstützt. Ihre Zieheltern hingegen wollen Greta, die anders als die vier Hellertkinder eine natürliche Begabung für den Weinbau hat, nicht als Arbeitskraft verlieren. Doch Greta ist nicht bereit, ihre Träume von einem freien, selbstbestimmten Leben aufzugeben.
Nora Engel
Die Winzerin
Roman
»… schade, daß man einen Wein
nicht streicheln kann.«
Kurt Tucholsky
Kirchheim an der Weinstraße,
Sommer 1953
Maria stieg vom Fahrrad. Sie war barfuß, auf ihren nackten Füßen hatte der trockene Lehm, über den sie gefahren war, feinen roten Staub hinterlassen. Rasch zog sie ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und wischte sich damit übers Gesicht, strich sich das schulterlange, glatte Haar zurück. Es war der dritte heiße Augusttag hintereinander mit fast vierzig Grad.
Auf dem Hof hatte Elfriede Hellert wie immer das Mittagessen zubereitet. Seit zwei Jahren war es Marias Aufgabe, dieses den Männern zu bringen, die auf den zwei Weinbergen der Hellerts arbeiteten.
Sie war etwas später dran als sonst. Der Anstieg zum südlichen Hang war mit dem Rad für die Sechzehnjährige, so zart und zierlich, wie sie war, in der Hitze besonders beschwerlich gewesen. Immer wieder hatte sich ihr roter Tellerrock in den Speichen verfangen.
Auf dem Rücken trug sie einen großen Rucksack, der gefüllt mit gekühlten Getränken war. Hinten und vorn auf dem Fahrrad standen Körbe, in denen sie Essen, Geschirr und Besteck transportierte.
Als Maria die Körbe abgenommen hatte, legte sie das Fahrrad am Wegesrand ab. Nur selten kam jemand außer den Hellerts hier herauf. Dann griff sie die Körbe und trat in eine der Rebreihen, die zu der alten Ulme führte, dem bevorzugten Rastplatz der Männer. Gebückt unter der schweren Last lief sie auf der Schattenseite der Reihe entlang.
Auch hier war die Erde trocken und rissig. Und obwohl die Menschen unter der Hitze litten, für den Wein war sie gut. Bei jeder Mahlzeit, die Maria mit den Hellerts einnahm, drehten sich die Gespräche irgendwann um das Wetter. Beschwingte Stimmung herrschte, wenn es so warm war wie jetzt, sorgenvoll und alarmiert war die Familie, wenn ein Gewitter das zu vernichten drohte, wofür sie das Jahr über gearbeitet hatten. Sie sprachen auch oft über Politik. Denn gern politisierte Harald Hellert, während Elfriede Hellert, die Kinder und Maria ihm lauschten. Über die Krönung der Queen Elizabeth hatte er berichtet, eine junge Frau an der Spitze des Commonwealth. Im Juni erst hatte Herr Harald sich über den Aufstand in der DDR ereifert, hatte verurteilt, wie von Staatsseite auf die protestierenden Arbeiter geschossen und so der Aufstand unterdrückt wurde. Da hatte ihm Maria aufmerksam zugehört und sich später vorgestellt, wie es sein musste, gegen den eigenen Staat zu revoltieren und bereit zu sein, dafür den Tod in Kauf zu nehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Mut dazu aufbringen würde. Was sie vor allem aber nicht verstand: Ein Staat sollte seine Bürger doch schützen, nicht verfolgen und töten. Das war schließlich der Unterschied zwischen dem demokratischen und dem nationalsozialistischen Deutschland, oder? Und die DDR hatte das »demokratisch« sogar im Namen.
Als Harald Hellert sie sah, rief er ihr zu: »Dräm net rum. Wir sind am Verhungern, und mächtigen Durst haben wir auch!«
Die Männer waren bis zum Ende der Reihe gekommen. Meist schaffte Harald die Arbeit auf dem Weinberg allein. Doch wenn es zu viel wurde, holte er sich tageweise zwei oder manchmal sogar drei junge Burschen aus dem Dorf dazu, die ihn unterstützten und nicht viel kosteten. So wie in dieser Woche.
Sie hatten die Triebe angebunden, um sie vor Windbruch zu schützen, und warteten bereits im Schatten der alten Ulme auf Maria. Maria wusste: Wenn Herr Harald ins Pfälzische verfiel, war das ein klares Anzeichen, dass er ungeduldig wurde. Besser, sie beeilte sich. Die letzten Meter lief sie schneller, auch wenn die Riemen des Rucksacks mit jedem Schritt tiefer in ihre Schultern schnürten. Elfriede Hellert hatte ihr heute Morgen einen scharfen Blick von der Seite zugeworfen, als sie in der kurzärmeligen, ausgeschnittenen Bluse die Küche betreten hatte. Sofort hatte Maria sich entschuldigt: »Ich war gestern Abend so müde. Ich habe es nicht mehr geschafft, die andere auszuwaschen.«
»Ja, ist ein heißer Sommer dieses Jahr«, hatte Elfriede Hellert nur gemeint. »Aber wenn du später zu den Männern auf den Weinberg gehst, ziehst du dir was über!« Ihr war nicht entgangen, dass Maria weibliche Formen bekam – und sie hatte den Gesichtsausdruck der Männer bemerkt, wenn sie das blonde Mädchen sahen.
Aber Maria hatte ihr leichtes Tuch vergessen.
Als sie bei Harald Hellert und den zwei Gehilfen ankam, stellte sie die beiden Körbe ab. Harald nahm ihr den Rucksack von den Schultern. Einer der Burschen schlug das karierte Leinentuch zurück, mit dem Elfriede das Essen abgedeckt hatte, und warf es seinem Kollegen zu. Heute gab es Grumbeersalat mit Wurst und als Nachtisch einen Apfelkuchen. Der zweite Arbeiter musterte Maria kurz, bevor er das Leinentuch auf dem Boden ausbreitete, damit es als Tischdecke diente, und nahm aus dem zweiten Korb Teller und Besteck, um den »Tisch zu decken«.
»Komm, setz dich zu uns. Hast du schon gegessen?«, fragte Harald Hellert wohlwollend.
»Ja, unten mit den Kindern«, antwortete Maria. »Ich soll das Geschirr gleich wieder mitnehmen, hat Frau Elfriede gesagt.« Seit sie bei den Hellerts war, nannte sie Elfriede und Harald »Frau« und »Herr«. Nur Elfriede und Harald wäre respektlos gewesen, »Frau Hellert« und »Herr Hellert« zu distanziert, und Mutter und Vater – das waren sie nun mal nicht.
Harald nickte. »Geht’s meiner Frau gut?«
»Eigentlich schon, aber die Hitze macht ihr zu schaffen. Ihre Füße sind ganz geschwollen.«
»Wird Zeit, dass das Kind kommt«, grummelte Harald und nahm sich von dem Salat, während Maria unschlüssig neben ihm stehen blieb. »Und es wird Zeit, dass die Buwen hier auf dem Feld mit anpacken.«
Maria kicherte. »Na, das wird aber noch ein paar Jahre dauern, Herr Harald. Der Johann ist doch erst vier, und Robert steckt noch in den Windeln. Auch wenn er schon ganz stolz meint, keine mehr zu brauchen.«
Harald schlug sich amüsiert vor die Stirn. »Wie konnte ich das nur vergessen. Sprechen und singen kann er schon, der kleine Lump, aber in die Windeln …« Er sah sie aufmerksam an. »Wird es dir nicht zu viel, wenn das Kleine kommt, Maria? Dann musst du auf drei Racker aufpassen.«
Maria sah ihn ernst an: »Aber Sie wissen doch, Herr Harald, wie sehr ich Kinder mag. Besonders Ihre.«
Harald nickte kauend. »Du bist uns wirklich eine große Hilfe, Mädsche. Und meine Frau, na, die ist im Moment vielleicht manchmal ein bisschen ungeduldig, weil gerade alles eben nicht so leicht ist für sie.«
Maria verstand, was er ihr sagen wollte, und freute sich über das versteckte Lob. Denn letztendlich war sie im Moment allein für die Kinder verantwortlich, wusch die Wäsche, auch Roberts schmutzige Windeln. Aber das störte sie nicht. Sie war dankbar, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter im vergangenen Winter bei den Hellerts hatte bleiben dürfen. Sie sei jetzt so etwas wie die Haustochter, hatte Elfriede gesagt und sie kurz an sich gedrückt, als sie vom Friedhof zurück auf den Hof gegangen waren.
Frau Elfriede hatte ihr geholfen, die wenigen Sachen der Mutter zusammenzupacken. Viel war es nicht gewesen. Die Kleidung hatten sie in einen Karton gelegt. Maria hatte das einzige Foto, das es von ihr und ihrer Mutter gab, von dem kleinen Nachttisch genommen und es auf ihren gestellt. Der Nachbar hatte es letztes Jahr auf seinem großen Weinfest aufgenommen. Maria erinnerte sich noch gut daran. Sie war froh, dass sie dieses Foto von sich und ihrer Mutter besaß. Ganz nah hatte sie neben ihrer Mutter gestanden, und in dem Moment, wo das Foto gemacht wurde, hatte die Mutter, statt in die Kamera zu blicken, ihr liebevoll zugelächelt.
Ein halbes Jahr nach dem Hoffest war die Mutter gestorben, und allmählich verblasste deren Antlitz in ihrer Erinnerung. Seit dem Tag der Beerdigung bedachte Maria das Foto jeden Abend mit einem Luftkuss, bevor sie die Augen schloss.
Maria hatte sich nun doch unter die Ulme gesetzt und lehnte mit dem Rücken gegen den breiten Stamm. Für einen kurzen Augenblick schloss sie die Augen und genoss den kühlen Luftzug, der über ihr Gesicht wehte. Als die Männer das Geschirr klappernd zusammenstellten, blickte sie auf und erhob sich. Umsichtig stellte sie Gläser und Teller wieder in die Körbe, deckte das karierte Tuch ordentlich darüber. »Bis heute Abend«, sagte sie und winkte Harald Hellert zu, der mit seinen Arbeitern bereits in der nächsten Reihe begonnen hatte, weitere Triebe anzubinden.
Mit den deutlich leichteren Körben lief sie beschwingt zu ihrem Fahrrad, stellte es auf und befestigte die Körbe darauf. Sie freute sich. Was für ein Vergnügen war es jetzt, sich langsam den Feldweg nach unten rollen zu lassen! Doch als sie aufsteigen wollte, sah sie, dass sie vorne einen Platten hatte. Und sie hatte die Luftpumpe nicht dabei. Die lag im Schuppen auf dem Regal. Gestern hatte sie mit Johann gespielt, ihm immer wieder Luft damit ins Gesicht geblasen, dass der Kleine jedes Mal laut aufgejuchzt hatte und vor ihr weggelaufen war, um dann gleich wieder erwartungsvoll stehen zu bleiben, um die nächste Luftspritze zu bekommen.
Es half nichts: Seufzend schob sie das Fahrrad den Feldweg entlang. Sie war noch nicht weit gekommen, als hinter ihr ein tuckerndes Motorengeräusch erklang. Sie sah sich um. Ein Traktor, dessen Anhänger mit alten, verdorrten Weinstöcken gefüllt war, kam auf sie zu. Rasch schob sie das Fahrrad zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Nur wenige Weinbauern hatten einen Traktor wie diesen soliden Allgaier, der hellgrün lackiert war wie ein frisch ausgetriebenes Weinblatt. Maria kannte den Mann auf dem Fahrersitz und grüßte.
Zu ihrer Überraschung fuhr er nicht an ihr vorbei, sondern hielt wenige Meter vor ihr an. Beschwingt sprang er vom Fahrersitz auf den Boden. »Was schiebst du denn das Rad? Brauchst du Hilfe?«
Maria sah zu ihm auf. Der Mann überragte sie um einen Kopf. Groß und schlank war er und von der körperlichen Arbeit muskulös. Mit einer nachlässigen Handbewegung strich er sich sein Haar zurück, das er länger trug als die anderen Männer im Dorf, und musterte das Fahrrad.
Maria zeigte auf den platten Reifen. »Ich habe die Luftpumpe zu Hause vergessen.«
Er hockte sich hin und inspizierte fachmännisch das Vorderrad. Als er sich wieder aufrichtete, blieb sein Blick kurz an ihrem tiefen Ausschnitt hängen, bevor er ihr in die Augen sah und sie anlächelte. »Du bist doch bei den Hellerts. Maria, richtig?«
Maria nickte, erstaunt, dass er ihren Namen kannte.
»Ich bringe dich nach Hause. Wir laden dein Fahrrad hinten auf. Du kannst bei mir oben auf dem Bock mitfahren. Da weht ein leichter Wind.« Spontan strich er Maria eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die an ihrer Wange klebte. Die Berührung hatte nicht nur etwas Fürsorgliches. Eine Zärtlichkeit lag darin, die die junge Frau erschauern ließ. Er nahm das Fahrrad auf, und mit einer Leichtigkeit, als ob es nichts wiegen würde, schwang er es auf den Anhänger und warf es neben die trockenen Weinstöcke. Die Körbe und den Rucksack, den Maria ihm reichte, stellte er daneben.
»Bist du schon mal mit einem Traktor gefahren?«
Maria schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Harald sagt, dass wir dafür noch lange sparen müssen.«
Er nickte bedächtig. Wieder streifte sein Blick ihren Ausschnitt, und wieder lief Maria ein kleiner Schauer über den Rücken. »Na, dann sitz mal auf.« Er sah auf ihre nackten Füße. »Gib Obacht, dass du dich an dem scharfen Metall nicht schneidest.«
Er griff sie mit beiden Händen an der Taille. Fast konnte er sie umfassen, so schmal war sie und so groß waren seine Hände. Er hob Maria hoch, bevor er selbst hinaufkletterte.
»Ich sitze hier?«, fragte sie und zeigte auf den Beifahrersitz, der auf dem Schutzblech des hohen Hinterrads befestigt war.
»Nein, hier.« Er schlug mit der flachen Hand zweimal auf den Fahrersitz. »Ich zeige dir, wie man fährt.«
Maria riss die Augen auf. »Das traue ich mich nicht.«
Er zog sie auf seinen Schoß. »Ich bin ja da und passe auf. Brauchst keine Angst zu haben«, sagte er, bevor er den Traktor anließ und auf das Kupplungspedal zeigte. »Und da trittst du jetzt vorsichtig drauf.« Maria streckte ihr Bein aus, doch es fehlten ein paar Zentimeter. Er lachte laut auf. »Also gut, wir machen es anders. Du lenkst fürs Erste nur.« Er gab vorsichtig Gas.
Langsam setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Mit beiden Händen umklammerte Maria das Lenkrad. Sie war aufgeregt, aber schon nach wenigen Metern fühlte sie sich sicherer. Wie herrlich war es, hier so weit oben zu sitzen. Der leichte Fahrtwind fuhr ihr durch das helle Haar, wehte es aus ihrem erhitzten Gesicht. Unter ihren Beinen spürte sie, wie sich seine Muskeln anspannten, wenn er Gas gab oder behutsam bremste.
Wenn sie mit dem kleinen Johann unterwegs war, blieb der jedes Mal stehen, wenn er einen Traktor sah. So eine fahrende Ziehmaschine war noch immer ein imposanter Anblick. Und nun fuhr sie selbst so eine! Wenn sie das den Hellerts heute beim Abendessen erzählen würde …
Maria biss sich auf die Lippen. Besser, sie behielt dieses kleine Abenteuer für sich.
»Achtung«, rief er in diesem Moment. »Da vorn biegen wir rechts ab. Wir fahren durch das kleine Buchenwäldchen beim See, das ist der kürzere Weg, und schattig ist es da auch.«
Er griff nach ihren Händen und führte gemeinsam mit ihr die Rechtskurve aus. Sie spürte seine rauen Handinnenflächen auf ihrer Haut. Es lag etwas Selbstverständliches in der Berührung, und sie ertappte sich dabei, dass sie dieses Gefühl genoss. »Du bist begabt, Maria«, raunte er ihr zu.
Als sie die Kurve hinter sich gelassen hatten und auf das Wäldchen zusteuerten, ließ er seine Hände auf ihren liegen.
Auf einmal ruckte es unter ihr. Der Traktor beschleunigte, und Maria lachte auf. Der Wind wehte ihren Rock hoch, strich über ihre schlanken Beine. Frei und unbeschwert fühlte sie sich. So musste es sein, wenn man flog. Als sie an den ersten Bäumen des Wäldchens vorbeikamen, legte sich deren dunkler Schatten wie eine kühle Decke über sie. Maria atmete tief durch. Sie genoss diese Fahrt und blickte verstohlen auf die von der Sonne gebräunten Hände des Mannes.
Die geheimnisvollen Geschichten, die sie über ihn gehört hatte, hatten ihr Respekt eingeflößt. Und immer, wenn sie ihn sah und gegrüßt hatte, hatte sie ein kleines angstvolles Gefühl beschlichen. Aber davon spürte sie jetzt nichts, hier oben auf dem Traktor, mit seinen Händen auf den ihren.
Nach der nächsten Kurve tauchte unvermittelt der See vor ihnen auf. Wie herrlich wäre es, dort hineinzuspringen, einmal unterzutauchen und sich abzukühlen! Als hätte er ihre Gedanken gelesen, verlangsamte der Mann das Tempo. Schließlich hielt er an, stellte den Traktor ab und griff nach ihrer Hand. »Komm, du Naturtalent. Du hast dir eine kleine Erfrischung redlich verdient.« Er half ihr herunter.
Maria ließ seine Hand los und lief leichtfüßig zum Ufer. Mit ihren nackten Füßen watete sie in den See, bis ihr das Wasser zu den Knien reichte, wobei sie ihren roten Rock etwas raffte und anhob. »Das tut gut. Wollen Sie sich nicht auch ein bisschen erfrischen?«, rief sie ihm zu.
Er lächelte sie an. Statt einer Antwort bückte er sich und schnürte seine schweren Feldschuhe auf, streifte die Socken ab und krempelte die Hosenbeine hoch. Dann trat er in das Wasser, beugte sich vor und spritzte sich eine Handvoll kühles Nass ins Gesicht.
–––––
Er sah zu Maria, die sich ein Stück von ihm entfernt hatte. Das Mädchen beeindruckte ihn. Eine rührende Unschuld und eine unbändige Lebensfreude zugleich gingen von ihr aus.
Er hatte davon gehört, dass sie es nicht leicht gehabt hatte in den letzten Jahren. Und wie anmutig sie war! Ihr Haar schimmerte fast silbern in den Sonnenstrahlen, die durch die Bäume am Seeufer fielen. Als Maria sich zu ihm umdrehte und ihn anlächelte, wusste er, dass er dieses Mädchen haben musste. Er wollte ihre Haut spüren, ihr nah sein, etwas von der Leichtigkeit zurückbekommen, die er in den letzten Jahren in seiner Ehe verloren hatte. Von seiner Frau fühlte er sich nicht mehr angezogen, vielleicht weil sie seit Jahren nicht schwanger wurde und die monatliche Enttäuschung sie immer trauriger werden ließ.
Er hatte gedacht, er könnte keine Frau mehr begehren. Er hatte sich getäuscht.
Maria watete auf ihn zu, griff nach seiner Hand und zog ihn zu einer Ansammlung von Findlingen im Uferbereich, die zum Sitzen einlud. Sie stemmte sich hoch, nahm Platz und ließ die Füße baumeln. Wie eine blutrote Decke breitete sie ihren Rock um sich aus, er hatte dunkle Flecken dort, wo der Stoff mit Wasser in Berührung gekommen war.
Plötzlich breitete sie die Arme aus und rief:
»Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.«
Mit verschränkten Armen stand er im seichten Wasser vor ihr und sah sie prüfend an.
»Das ist von Goethe, eines meiner Lieblingsgedichte«, sagte sie und fuhr fort: »Ich muss unbedingt mit den Kindern einmal herkommen, wenn es Frau Elfriede erlaubt.« Sie schlug leicht mit den Füßen im Wasser, sodass es unter ihr aufwirbelte.
»Was willst du denn einmal werden, Maria? Du kannst doch nicht ewig bei den Hellerts als Dienstmagd arbeiten.«
Maria legte kokett den Kopf schief. »Sie wollen wirklich wissen, was mein größter Traum ist?«
Er nickte.
»Ich will Lehrerin werden. Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich lernen soll. Wenn man lernt und was kann, dann sehen einen die Leute anders an, hat sie gemeint. Und man muss dann nicht so schwer arbeiten.« Sie kicherte. »Und vielleicht unterrichte ich dann eines Tages die Kinder von den Hellerts. Ohne die kann ich mir mein Leben gar nicht vorstellen.«
»Das ist ein guter Plan.« Er wunderte sich, wie viel diese junge Frau schon vom Leben zu verstehen schien. Wie vorhin griff er um ihre Taille und hob sie vom Stein herunter. Doch er setzte sie nicht ab, sondern küsste sie.
Ihre Lippen fühlten sich so voll und weich an. Den Gedanken an seine Frau schob er rasch zur Seite, um diesen Kuss zu genießen. Als sie sich schwer atmend voneinander lösten, trug er sie vorsichtig wie eine unendlich wertvolle Last ans Ufer.
Mit einem Mal war die Lust, von der er schon geglaubt hatte, sie verloren zu haben, wieder da. Er spürte, wie Maria ihre Hand vorsichtig unter sein Hemd schob, fühlte ihre warmen Finger auf seiner nackten Haut und sog hart die Luft ein, weil seine Erregung fast schmerzte.
»Wir dürfen das nicht tun, Maria. Es ist nicht recht.«
»Doch«, murmelte sie. »Wir dürfen alles. Wir sind frei …«
Das Mädchen hatte recht. Er dachte nur daran, dass er mit ihr sein wollte. Er ging, sie immer noch in den Armen haltend, etwas tiefer ins Wäldchen hinein, bis er zu einer moosbewachsenen kleinen Lichtung kam. Hier wollte er sie lieben, hier wollte er ihr nah sein und sich in ihr verlieren.
–––––
Maria saß seitlich von ihm auf dem Traktor. War das, was sie eben erlebt hatte, wirklich geschehen? Oder hatte sie das nur geträumt? Es schien ihr so unwirklich. Sie glaubte, seine Hände noch auf ihrer Haut zu spüren, schmeckte seine warmen Lippen. Nie würde sie das vergessen. Aber warum sprach er nicht mit ihr? Nicht ein Wort hatten sie gewechselt, seit sie vom See aufgebrochen waren. Drei Kurven, und sie wäre zu Hause, bei den Hellerts. Sie musste unbedingt vorher von dem Traktor steigen. Sie durfte nicht zusammen mit ihm gesehen werden. Doch sie wünschte, er würde weiterfahren, immer weiter …
Ob Frau Elfriede ihr ansah, was sie eben getan hatte? Sie betrachtete sein Profil, die große, aber gerade, schmale Nase, den strengen, etwas harten Mund, dessen Lippen sich so weich angefühlt hatten. Er blickte geradeaus. Würden sie sich wiedersehen? War das, was sie eben mit ihm erlebt hatte, die Liebe? Was war es sonst? Sie konnte sich diese Frage nicht beantworten, aber wen sollte sie fragen? Wem konnte sie sich anvertrauen?
Vor der letzten Kurve hielt er an und schaltete in den Leerlauf. Er sah Maria direkt in die Augen. »Und jetzt runter mit dir.«
Er wartete, bis sie heruntergeklettert war. Dann stieg er ebenfalls ab, nahm das Fahrrad vom Anhänger und stellte die beiden Körbe und den Rucksack daneben. »Und komm bloß nicht auf den Gedanken, jemandem von unserem Stelldichein zu erzählen. Denn das hat nie stattgefunden, verstanden? Kein Wort, kein Ton – zu niemandem! Man würde dir sowieso nicht glauben, einem kleinen Dienstmädchen. Also halt den Mund!«
Maria zuckte zusammen. Seine Stimme klang rau und herrisch, sein Gesicht erschien ihr wie eine Maske, in der sie nichts lesen konnte. Er sah sie kalt an. War das der Mann, der ihr eben noch Zärtlichkeiten ins Ohr geflüstert hatte? Bevor sie Gelegenheit hatte, ihn zu fragen, wann sie sich wiedersehen würden, stieg er zurück auf den Sitz, legte den Gang ein und fuhr ohne ein Wort des Abschieds davon.
Maria sah ihm nach, bis er um die nächste Biegung und damit ihrem Blick entschwand. In diesem Moment schwor sie sich, niemandem von dem Zusammensein am See zu erzählen. Nicht etwa, weil er ihr gedroht hatte. Sie wollte sich ihren Stolz bewahren.
Wenn sie nicht darüber sprach, war es, als sei es nie passiert.
Kirchheim an der Weinstraße,
Mai 1970
Greta Piontek lief die letzten Meter die leicht ansteigende Einfahrt zum Haus hinauf, an dessen weißgetünchter Wand sich der Efeu bis zum Dach emporrankte. Rechts und links des Weges, der von der Straße zum Hof führte, hatten Greta und Elfriede Hellert, ihre Ziehmutter, vor einigen Jahren Pfingstrosen gepflanzt, die nun in voller Pracht blühten.
Greta hatte sich sehr beeilt. Der Bus aus dem zehn Kilometer entfernten Bad Dürkheim, wo sie zur Realschule ging, war pünktlich gewesen. Aber vom Dorf aus waren es gut zwanzig Minuten zu Fuß bis zum Gehöft der Hellerts. Elfriede hatte sie heute Morgen ermahnt, nach der Schule auf keinen Fall zu trödeln. Ein paar schnelle Herzschläge lang hatte Greta gedacht, dass Elfriede etwas Besonderes zu ihrem sechzehnten Geburtstag plante. Doch stattdessen fuhr Elfriede fort, dass Greta ihrem Ziehvater Harald bei der Arbeit auf dem Weinberg helfen solle. Als sie Gretas enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie rasch hinzu, dass sie ihren Geburtstagskuchen dann später essen würden, alle sechs zusammen. »Herzlichen Glückwunsch!« Sie hatte Greta kurz gedrückt und erklärt, was das Mädchen längst gewusst hatte: Dieses Jahr wollte Harald einen besonderen Wein aus den Rieslanertrauben machen, die er sofort gepflanzt hatte, als sie vor zwei Jahren ihre Zulassung bekommen hatten. Die Weinstöcke waren noch jung und mussten deshalb intensiv gepflegt werden.
Vor der Haustür nahm Greta ihren Lederranzen ab und zog sich die Strickjacke aus, die ihr Renate, die Tochter der Hellerts, gnädig überlassen hatte. Die Farbe – ein helles Blau – würde ihr nicht stehen, zu sehr Babyfarbe, hatte Renate gesagt. Als ob ein Geschenk einer Erklärung bedurfte! Erst später hatte Greta entdeckt, dass die Jacke ein kleines Loch hatte. Deswegen hatte Renate sie ihr geschenkt. Greta lächelte, als sie jetzt daran dachte. Das Loch war ganz eindeutig ein Brandloch, Renate hatte wahrscheinlich wieder einmal heimlich geraucht.
Doch Greta mochte die Jacke. Sie hatte das Loch gestopft; die Farbe passte perfekt zu ihren blauen Augen und zu dem blau-weiß gepunkteten Wickelrock, den sie sich neulich genäht hatte.
Hinter ihr erklang eine Fahrradklingel. Als sie sich umdrehte, stieg Renate von ihrem weißen Bonanzarad ab, das einen rosafarbenen Sattel passend zu den Handgriffen hatte. Am unteren Teil des Lenkers hatte es eine rosafarbene Fahrradhupe. Sie hatte es letztes Jahr von den Eltern zum Schulabschluss bekommen. Greta wartete, bis Renate das Rad die Einfahrt bis zu ihr hochgeschoben hatte. Sie trug eine orangefarbene Bluse, die Greta noch nie an ihr gesehen hatte. Renate rückte ihre übergroße Sonnenbrille zurück in ihr dunkles Haar. »Na, Schulkind, wie geht’s?«, grinste sie Greta kess an.
»Selber Schulkind«, konterte die.
Renate lachte auf. »Mein Sekretärinnen-Lehrgang ist ja wohl mit deiner Realschule nicht zu vergleichen. Mann, bin ich froh, dass ich da nicht mehr hinmuss. Du wirst schon noch sehen, wie es sich anfühlt, wenn du das im Sommer endgültig hinter dir hast.« Renate hatte letztes Jahr mit Ach und Krach die Mittlere Reife bestanden und wahrscheinlich auch nur, weil sie ihren Klassenlehrer gezielt umgarnt hatte, bis er gar nicht anders gekonnt hatte, als ihre Fünf in Mathe in eine Vier zu verwandeln.
»Mir gefällt es wirklich gut in der Schule«, sagte Greta.
»Streberin«, meinte Renate abfällig.
Was nicht stimmte. Greta war keine Streberin, obwohl sie seit Jahren Klassenbeste war. Ihr fiel das Lernen leicht. Sie warf einen Blick auf die englischen Vokabeln, und schon konnte sie sie. Auch Mathematik lag ihr. Da stand sie seit Jahren auf Eins, wie auch in allen anderen Fächern. Nur in Kunst hatte sie im letzten Zeugnis ein Befriedigend bekommen. Aber das hatte nicht an ihrem Siebdruck gelegen, sondern an der ollen Schweiger. Die gab als beste Note nur ganz selten eine Zwei.
Renate stellte ihr Fahrrad direkt vor den Treppenstufen ab, die ins Haus führten. Elfriede würde sich bestimmt wieder darüber ärgern, doch Renate bekam selten Schimpfe, wenn sie etwas nicht richtig machte. Greta hingegen wurde immer gleich gerügt.
Die Tür zum Wohnhaus wurde aufgerissen, und Elfriede kam mit einem Korb leerer Flaschen die Stufen herunter. Sie sah Greta streng an. »Harald wartet schon auf dem Weinberg auf dich. Was trödelt ihr denn hier herum? Renate, du hilfst mir beim Spülen der Flaschen. Hopp, hopp jetzt, ihr zwei!«
Greta lief an ihr vorbei ins Haus. Im breiten Flur hatte es sich der schwarze Kater, den sie auf den Namen Murr getauft hatten, neben der Kommode auf einem Stapel alter Pullover bequem gemacht. Aus einem Regal quollen die Gummistiefel der Hausbewohner. An den Garderobenhaken, die die beiden älteren Söhne im Werkunterricht geschmiedet hatten, hingen diverse Jacken. Greta ging an der offenen Küchentür vorbei. Die Tür zum Wohnzimmer, das der Küche gegenüberlag, war wie immer tagsüber geschlossen. Dann stieg sie die Treppe hoch.
Die Zimmer der Hellerts befanden sich allesamt im ersten Stock – das Schlafzimmer von Elfriede und Harald, die Jugendzimmer von Johann, dem ältesten Sohn, und Tochter Renate, das Kinderzimmer vom kleinen Matthias, den alle Matse nannten. Und der leere Raum, in dem der zweitälteste Sohn Robert gewohnt hatte, bis er bei Nacht und Nebel nach Berlin gegangen war.
Gretas Zimmer war oben unter dem Dach. In der kleinen Kammer hatte früher ihre Mutter Maria gewohnt. Als Renate ein Jahr vor Greta eingeschult wurde, hatte Elfriede dafür gesorgt, dass die beiden ihr eigenes Zimmer bekamen, damit Renate als Schulkind besser lernen konnte. Es war ganz selbstverständlich, dass Greta nach oben zog.
Längst hatte Greta sich an das leise Knarren der steilen Holzstiege gewöhnt, die nach oben führte und deren Stufen zu flüstern schienen: »Du bist anders als die anderen.«
Rasch griff sie nach einer Latzhose und einer alten Bluse. Sie musste sich umziehen, ihre guten Sachen sollten auf dem Weinberg nicht schmutzig werden. Als sie die Kommodenschublade öffnete und nach einem Paar Socken griff, die sie in die Gummistiefel anziehen wollte, fiel ihr Blick auf das Foto auf der Kommode, neben dem immer eine kleine Kerze stand. Eine sehr junge und eine ältere Frau lächelten in die Kamera. »Mama, ich bin heute sechzehn Jahre alt geworden«, flüsterte sie der Jüngeren zu.
Zärtlich strich Greta mit dem Finger über das Glas. Es war das einzige Foto, das sie von ihrer Mutter Maria und ihrer Großmutter Magda besaß. 1952 hatte es ein Nachbar auf einem Weinfest gemacht, ganz klein stand das Datum auf der Rückseite, mit Bleistift geschrieben. Da war ihre Mutter fünfzehn gewesen. Mit siebzehn, bei Gretas Geburt, war Maria gestorben.
Die Hellerts hatten Greta mit ihren Kindern zusammen aufgezogen. Elfriede war es wichtig gewesen, dass sie von Anfang an wusste, dass sie nicht ihre leibliche Tochter war. »Heimlichkeiten tun keinem gut, schon gar nicht einer kleinen Kinderseele«, hatte sie Greta erklärt, als sie älter wurde und nach ihren Eltern gefragt hatte. Über Gretas Vater wusste Elfriede nichts. Maria hatte niemandem erzählt, wer der Vater ihres Kindes war.
Doch über Maria konnte Elfriede etwas erzählen, schließlich hatte sie jahrelang auf dem Hof mitgearbeitet und bei ihnen gelebt.
Zusammen mit ihrer Mutter Magda war diese als neunjähriges Mädchen 1946 auf den Hof der Hellerts gekommen. Flüchtlinge waren sie gewesen, kamen aus Breslau. Sie hatten in der Nähe der niederschlesischen Stadt zwei Jahre bei einem Weinbauern gearbeitet. Doch eines Tages hatte Magda einen Rucksack gepackt. Frühmorgens war sie mit ihrer kleinen Tochter Maria aufgebrochen und hatte sich auf den langen und gefährlichen Weg in den Westen gemacht. Sie hatte von einem Cousin gehört, der sich in der Pfalz, in Laumersheim, niedergelassen haben sollte. Mit dem Weinanbau waren Magda und die kleine Maria schon vertraut, und so schien es eine gute Lösung zu sein, zu ihm zu gehen. Doch sie fanden ihn nicht. Dafür kamen sie bei den Hellerts unter, die damals dringend eine Dienstmagd suchten. Bei ihnen bekamen Mutter und Kind ein Zuhause, obwohl viele im Dorf den Flüchtlingen aus dem Osten misstrauten. Wieder und wieder hatte Elfriede Greta diese Geschichte erzählt. Sie wollte, dass das kleine Mädchen das bisschen Familiengeschichte, das sie kannte, erfuhr. Jedes noch so kleine Detail hatte Greta sich gemerkt.
Für Elfriede war es ganz folgerichtig gewesen, das Foto von Maria und Magda neben Gretas Wiege zu stellen. Ein kleines schwarzes Oktavheft legte sie in die unterste Kommodenschublade, das Greta erst fand, als sie in der zweiten Klasse war und lesen konnte. Darin hatte ihre Mutter mit Bleistift Gedichte von Dichtern wie Goethe, Heine, Novalis, Kästner, Ringelnatz und Morgenstern notiert. Die Schrift war mit den Jahren verblasst, kaum noch lesbar. Aber Greta hatte die Gedichte bereits als Kind auswendig gelernt und öffnete heute das kleine Heftchen nur selten, aus Angst, die zunehmend brüchigen Seiten einzureißen.
Als Greta älter wurde, war sie Elfriede dankbar für diese Offenheit und dass es nie Heimlichkeiten um ihre Herkunft gab. Greta war blond und hatte hellblaue Augen, war zartgliedrig, während die vier leiblichen Kinder der Hellerts dunkelhaarig und stabil waren, mit dunklen Augen. Was hätten sich die Leute das Maul zerrissen, wenn die Hellerts sie als leibliche Tochter ausgegeben hätten.
Greta erinnerte sich an ein Gespräch zwischen Renate und Elfriede, das sie zufällig im letzten Jahr mitangehört hatte, als sie an Renates Zimmer vorbeigegangen war. Die beiden hatten Kleidung für die Sekretärinnenschule sortiert. Renate sollte immer ordentlich und adrett aussehen. »Auch wenn du glaubst, du wärst jetzt erwachsen – lass dich bloß nicht mit einem Kerl ein. Wir Hellerts werden schon vom Angucken schwanger. Es ist wie ein Fluch!«
»Aber Mutti, hast du uns denn nicht gewollt?«, hatte Renate erschrocken gefragt.
»Ach, Kind.« Elfriede hatte leise und beruhigend aufgelacht. »Ich war fast vierzig, und es hat nur einen Schlüpfer gebraucht, der übers Bett flog, dass ich mit Matse schwanger wurde.« Greta, die wie angewurzelt vor Renates Zimmer stehen geblieben war und ein schlechtes Gewissen bekommen hatte, dass sie dieses Mutter-Tochter-Gespräch belauschte, wollte schon gehen, als Elfriede hinzugefügt hatte: »Ich liebe alle meine leiblichen Kinder. Das weißt du doch, Renate.«
Greta schüttelte die Erinnerung ab, band sich das Haar zu einem Zopf und wollte nach unten eilen, als das jüngste der Hellert-Kinder die Treppe hochgelaufen kam und in ihr Zimmer stürmte. Aufgeregt wedelte Matse mit einem Blatt Papier.
»Du warst heute Morgen so schnell weg, Mimi. Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Du musstest doch erst zur zweiten Stunde. Ich wollte, dass du ausschlafen kannst«, meinte Greta.
Er streckte ihr das Papier entgegen: »Hier, dein Geschenk.«
Matse war der Einzige in der Familie, der sie Mimi nannte. Von klein auf hatte Greta ihn immer ins Bett gebracht. Als er zwei Jahre alt war, hatte es Greta gelangweilt, ihm stets die gleichen Schlaflieder vorzusingen, und sie ging zu Schlagern über. Einer ihrer Lieblings-Hits war »Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett«. Sie mochte den Swing in der Melodie und schnipste mit den Fingern dazu. Matse hatte den Song ebenso gemocht wie sie. Seitdem nannte er sie Mimi.
Greta setzte sich aufs Bett und zog Matse zu sich. »Hast du das gemalt?«, fragte sie, obwohl es unverkennbar der Stil des Neunjährigen war. Er hatte ein Ballkleid gezeichnet, daneben ein rot schimmerndes Stück Stoff geklebt. »Das ist wie ein Gutschein. Also, wenn ich größer bin, dann nähe ich dir mal so ein Kleid. Gefällt es dir?«
»Das ist ein wunderschönes Geschenk, Matse. Das schönste überhaupt.« Und es ist bisher das einzige Geschenk von den Hellerts, dachte sie und biss sich auf die Unterlippe. Es tat weh.
»Echt?!« Er strahlte sie an und zeigte auf eine kleine Stelle auf dem Stoff. »Den Fleck habe ich nicht herausgekriegt. Aber später wird das Kleid keinen Fleck haben. Versprochen, Mimi.«
Greta drückte Matse fest an sich. »Danke.«
Der Junge streckte ihr zwei Haargummis entgegen. »Machst du mir wieder Zöpfe?«
Greta schüttelte den Kopf. Seit einiger Zeit bestand Matse darauf, dass sie seine kurzen dunklen Locken zu Mini-Zöpfen flocht. Einmal hatte er sich einen Rock von ihr stibitzt und ihn wie ein Kleid über seine schmalen Schultern gezogen. Sie ließ ihn, aber sie war sich sicher, dass das bei den Hellerts nicht gut ankommen würde. Ein Junge, der gern Mädchensachen anzog – das passte nicht in ihr Weltbild. Sie selbst fand es auch etwas eigenartig, aber Matse war so ein süßer Junge, und sie hatte ihn so lieb, dass sie ihn besser beschützte, indem sie nichts sagte.
»Tut mir leid, ich muss jetzt gleich dem Vati helfen. Aber heute Abend vielleicht, zum Schlafengehen, einverstanden?« Greta lehnte den Kleidentwurf auf der Kommode gegen die Wand. »Hier kann ich es immer sehen.«
Matse stand auf, fischte nach dem Papier und flitzte mit einem »Ich bin noch nicht ganz fertig« aus dem Zimmer.
Als Greta auf Socken die Treppe hinuntereilte, hörte sie draußen Motorengeknatter. Sie nahm ihre Gummistiefel aus dem Regal und stieg hinein. Das Motorengeräusch erstarb. Greta öffnete die Tür und trat in den Hof.
Mitten auf dem Platz stand ein schweres Motorrad. Der Tank blitzte in einem auffälligen Goldorange. Der Motorradfahrer, ganz in Jeansblau gekleidet und mit schwarzen Lederstiefeln, wandte ihr den Rücken zu und kramte in einer der Satteltaschen. Auf dem Sitz war ein Gitarrenkasten festgebunden. Greta sah sich um, konnte Elfriede und Renate aber nirgends sehen. Wahrscheinlich waren die beiden noch im Weinkeller und hatten nicht gehört, dass ein Kunde gekommen war.
»Kann ich Ihnen helfen? Für die Weinverkostung sind Sie leider etwas zu früh dran. Wir haben erst wieder um fünfzehn Uhr geöffnet«, rief sie dem Motorradfahrer zu.
Der Mann verharrte einen Moment, als er ihre Stimme hörte, dann richtete er sich langsam auf und drehte sich zu ihr um. Dunkle lange Locken ringelten sich um ein schmales Gesicht, braune Augen blitzten, als er sie anlachte. »Du arbeitest an deinem Geburtstag? Fleißig, fleißig …«
Gretas Herz machte einen Sprung. »Robert! Ich habe dich gar nicht erkannt! Was machst du hier?«
Lässig schlenderte er auf sie zu. »Ich hatte die Nase voll von Berlin. Und da dachte ich mir, dass ich dich an diesem Tag nicht allein lassen sollte. Bittersüß wie jedes Jahr?«
Greta wusste, dass er damit nicht nur ihren Geburtstag, sondern auch den Todestag ihrer Mutter meinte.
Robert zog eine kleine braune Papiertüte aus der Jackentasche und umarmte Greta. »Alles Gute, Gretchen.« Dann ließ er sie abrupt los, trat einen Schritt zurück und musterte sie unverhohlen. »Schau an, schau an. Aus dem Gretchen ist ja eine Greta geworden …«
Greta knuffte ihn in die Seite. Sie war froh, dass ihr Lieblingsziehbruder wieder da war. »Ganz schön frech. Lernt man das in Berlin?«
Doch bevor Robert antworten konnte, gellte es über den Hof: »Mutti, komm schnell!« Renate stellte einen Korb mit gespülten Flaschen neben der Tür zum Weinkeller ab und lief auf Robert zu. Als sie vor ihm stand, stützte sie die Hände in die Taille und musterte ihn von oben bis unten. »Na, du hast ja Mut, hier ohne Ankündigung aufzukreuzen.« Greta trat einen Schritt zur Seite, als Renate die Hand ausstreckte, eine seiner schulterlangen Locken griff und heftiger als nötig daran zog, während Robert hastig die kleine Papiertüte zurück in die Jackentasche steckte. »Bin ja mal gespannt, wie Vati deine neue Frisur gefällt.«
Greta musterte ihn verstohlen. War Robert noch größer geworden? Als er vom Hof verschwand, waren sie beide beinahe gleich groß gewesen, jetzt war er fast einen Kopf größer als sie selbst. Auch hatte sie ihn nicht so mager in Erinnerung.
»Immer noch die kleine Kratzbürste?«, raunte er Renate zu.
Seine Schwester schnappte nach Luft.
Doch Robert lachte und umarmte sie. »Wer austeilt, muss auch einstecken können. Komm her, Schwesterlein.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ja, Junge, was machst du denn hier?«, erklang nun Elfriedes Stimme von der Kellertür, erschrocken und erfreut zugleich.
Robert sah zu seiner Mutter. »Hallo, Elfriede.«
Greta horchte auf. Warum nannte Robert seine Mutter mit Vornamen und nicht Mutti, wie Johann, Renate und Matse es taten? Es klang ungewohnt, fremd. Als ob er die familiäre Verbindung zu seiner Mutter abgelegt hätte. Elfriedes gab es viele, aber er hatte nur eine Mutter, oder? Am liebsten hätte Greta ihn gleich danach gefragt, aber sie verkniff es sich.
Elfriede schien die neue Anrede nicht zu bemerken. Sie kam eilig auf Robert zu, wobei ihre in Locken gelegten Haare auf und ab wippten. Im Gegensatz zu Roberts wilder Mähne wirkten ihre Locken zahm und gebändigt. Sehr präzise drehte Elfriede jeden Samstagabend ihr frisch gewaschenes Haar auf Wickler, befestigte diese dann mit einem kleinen, daran angebrachten Gummiband und träufelte Haarfestiger darauf. Danach hielt Haarspray die Frisur in Form. »Ach, Junge, warum hast du denn nicht angerufen?«
Robert wendete theatralisch das Taschenfutter seiner Jeans nach außen und grinste sie an. »Mit den letzten Groschen musste ich tanken. Ich dachte, du siehst mich lieber, als dass du meine Stimme hörst.« Er umarmte seine Mutter, doch die wandte sich sofort zur Seite und klopfte ihm etwas ungelenk auf den Arm. Zärtlichkeiten wurden bei den Hellerts höchst sparsam verteilt. Das galt wohl selbst für Söhne, die nach eineinhalb Jahren unerwartet zurückkehrten. »Du bist gesund. Das ist gut«, murmelte sie mehr zu sich selbst.
»Und ich habe einen mörderischen Kohldampf.« Robert versuchte, eine Verbindung zu seiner Mutter herzustellen, was Greta nicht entging. Denn wenn es um die Versorgung der Familie ging, war Elfriede die Ansprechpartnerin. Natürlich ahnte er, dass sein Auftauchen die Familie erschüttern würde, da war es nur klug, die Mutter als Verbündete zu haben. »Meinst du, du hast noch etwas zu essen für den verloren geglaubten Sohn?«
Elfriede sah ihn streng an. »Du weißt ja hoffentlich, dass hier dein Zuhause ist.« Sie wischte sich die vom Flaschenspülen vermeintlich nassen Hände an ihrer geblümten Kittelschürze ab, obwohl sie längst in der warmen Maisonne getrocknet waren. Dann fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht, gab vor, von der Sonne geblendet zu sein. Aber Greta sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.
Weshalb Elfriede wohl den Blick auf das Motorrad statt auf den Sohn richtete. »Darfst du denn mit so einer Höllenmaschine überhaupt fahren?«, fragte sie kopfschüttelnd.
Robert nickte. »Na klar. Diese ›Höllenmaschine‹ ist eine Honda CB750. Ich hab in West-Berlin den Führerschein gemacht. Den 1er und den 3er. War total leicht.«
Zum ersten Mal lächelte Elfriede. »Wundert mich nicht. Du konntest ja auch schon früh Traktor fahren.« Sie wandte sich von Robert und den Mädchen ab und schritt zur Eingangstür. »Ein Butterbrot kannst du haben.«
Robert grinste. »Klingt super«, sagte er.
Elfriede blieb stehen, drehte sich zu ihm um. »Lass dich bloß nicht in diesem Aufzug von deinem Vater sehen. Wenn du was gegessen hast, läufst du gleich rüber zum Fahlbusch. Der verpasst dir einen ordentlichen Haarschnitt, bevor Vater vom Weinberg kommt.«
Renate kicherte. »Erst gestern hat sich Vati über die Gammler mit den langen Zotteln ausgelassen«, zischte sie boshaft in Roberts Richtung.
Der ignorierte sie, zwinkerte stattdessen Greta zu und flüsterte ihr ins Ohr: »Nur über meine Leiche. Ich liebe meine Matte.«
Elfriede, die inzwischen am Haus angekommen war, drehte sich noch einmal zu ihnen um. »Hopp, hopp jetzt, Kinder. Renate, ab zurück in den Weinkeller, da warten noch mehr Flaschen, die gespült werden müssen.« Sie sah zu Greta. »Was stehst du hier rum? Harald braucht dich. Und sag ihm, dass Robert zurück ist. Dann kann er sich an den Gedanken schon mal gewöhnen«, rief sie ungeduldig, bevor sie Robert, der noch immer lächelte, mit einer herrischen Handbewegung bedeutete, ihr zu folgen.
Er hat gut lächeln, dachte Greta mit bangem Herzen, da sie es sein würde, die Harald die Nachricht überbrachte und wahrscheinlich seinen Unmut abbekam.
So war es häufig bei den Hellerts: Wenn es etwas Unangenehmes zu tun gab, reichte man es gern an Greta weiter. Doch das würde sie wie immer aushalten. Hauptsache, Robert war zurück.
Kirchheim,
Mai 1970
Trotz der klobigen Gummistiefel lief Greta leichtfüßig in Richtung westlicher Weinberg. Am liebsten wäre sie bei jedem Schritt wie ein kleines Mädchen gehüpft, so froh war sie. Doch das verkniff sie sich, es würde sie zu viel Zeit kosten. Und Harald wartete sicherlich schon auf sie.
Sie bog von der Straße ab, die erst vor einigen Jahren asphaltiert worden war und keine Seitenbefestigung hatte, sodass Harald mit dem Traktor, wenn es regnete, immer wieder Gefahr lief, mit einem Reifen in dem schmalen, flachen Graben abzurutschen. Neben der staubigen Sandstraße erstreckten sich rechts und links Weinfelder. Greta war diesen Weg schon von Kindesbeinen an unzählige Male hinauf- und hinabgelaufen. Und jedes Mal genoss sie den Anblick der weiten Reihen der Weinreben, die je nach Jahreszeit ihre eigene Farbe hatten – ein lichtes Hellgrün, ein kräftiges Dunkelgrün, ein flammend buntes Rot und dann ein strenges Dunkelgrau, das sich gegen Frost und Schnee abhob. Der Weg führte zwischen den sanften Hügeln hinauf auf eine kleine Anhöhe, die in einer Ebene auslief und sich ausbreitete. Und wie jedes Mal hielt Greta kurz inne, drehte sich im Laufen um und genoss den Blick auf die Weinfelder, die bis nach Kirchheim reichten. Sie blinzelte kurz, als sie die Kirchturmspitze in der Sonne glänzen sah.
Nach zwanzig Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie entdeckte den Traktor mit dem Anhänger am Ende der vierten Rieslanerreihe. Beschwingt eilte sie auf Harald und Johann zu, die neben dem Traktor standen. Beide waren sich mit ihren etwas untersetzten Figuren und den ausgebeulten Hosen so ähnlich, dass man sie aus der Ferne fast für Brüder halten konnte. Bloß dass Harald schon grau war, während Johanns zurückgekämmtes Haar tiefschwarz glänzte. Was auch an dem Haarwasser liegen mochte, das er benutzte.
Als Greta auf die beiden zulief, wurde ihr erst bewusst, wie lange keiner da gewesen war, der mal einen ironischen Scherz beim Abendessen gemacht, keiner, der ihr beigestanden hatte, wenn Elfriede sie zu Unrecht gerügt hatte. Die Tadel, die Greta galten, hatte Robert mit seinen intelligenten Kommentaren oftmals relativiert. Und Matse würde sich bestimmt auch freuen, dass Robert zurück war. Robert verstand es, seinem kleinen Bruder Aufmerksamkeit zu schenken, die dem Jungen guttat. Er spielte auf der Gitarre und sang ihm Titel der Komikergruppe Insterburg & Co. vor, in die Matse dann einfiel und sich vor Lachen ausschüttete.
Erst jetzt wurde Greta bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Der Gedanke, dass er vielleicht bald schon wieder fortging, tat weh. War er nur zu Besuch da? Wie lange würde er bleiben? Warum hatte sie ihn nur nicht gleich danach gefragt.
Als Harald Greta die Reihe entlangkommen sah, winkte er ihr zu. Johann sah nicht von seiner Arbeit auf. Er befüllte gerade eine Buckelspritze, die er anschließend auf seinem Rücken befestigen würde. Die Herbizidflüssigkeit, die Mehltau und Ungeziefer verhindern sollte, wurde manuell auf die Weinstöcke gespritzt.
Als Greta bei den Männern ankam, reichte Harald ihr sofort eine Stockhacke. »Alla hopp, los geht’s. Bis heute Abend muss das Unkraut in der Reihe weg sein. Wir wollen den Boden schön auflockern, Mädsche.« Er wandte sich an Johann. »Und wir zwei sehen zu, dass wir den Mehltau wegkriegen.«
Johann nickte zustimmend. »Wenn nicht dauernd die Düse verstopft.«
Greta stöhnte innerlich auf. Diese Arbeit hasste sie am meisten. Sie wusste jetzt schon, dass sie morgen vor Rückenschmerzen kaum aus dem Bett kommen würde. Gerade auf dem westlichen Weinberg war der Boden lehmig. Was für die Weinstöcke gut war, war für das Bearbeiten äußerst mühsam. Seit zwei Wochen hatte es nicht geregnet. Da musste man schon mit aller Kraft in den Boden reinhacken, um ihn aufzulockern und das Unkraut zu entfernen. Und sie ahnte, dass Johann sie wie immer mit Argusaugen kontrollieren würde. Manchmal glaubte sie, er machte sich einen Spaß daraus, sich wie ein Oberfeldwebel aufzuführen. Sie musste daran denken, dass Robert seinen Bruder früher oft als »Sklaventreiber« bezeichnet hatte.
Ach, hoffentlich blieb Robert eine Weile hier. Dann würden sie sich abends wieder in der alten Scheune treffen und sich hinten auf den kaputten Karren setzen. Früher hatten sie sich oft nach dem Abendessen hingeschlichen, um sich ungestört auszutauschen oder auch einfach nur schweigend nebeneinanderzusitzen. Robert hatte geraucht und sie sogar mal ziehen lassen. Aber Greta hatte gleich so einen Hustenanfall bekommen, dass sie das nie wieder probiert hatte, und er hatte es ihr auch nicht mehr angeboten.
Als er vor anderthalb Jahren Kirchheim verlassen hatte, war Greta die erste Zeit gelegentlich allein in die Scheune gegangen. Aber es war nicht mehr das Gleiche wie mit Robert gewesen. Sie hatte sich auf den Karren gesetzt, die Beine baumeln lassen, aber nicht so recht gewusst, was sie hier eigentlich sollte. Eine Leere hatte sie überfallen, sodass sie diesen Ort seitdem bewusst mied.
Haralds ungeduldige Stimme drang an ihr Ohr: »Mädsche, dräm net rum. Nun greif schon zu, oder willst du hier Wurzeln schlagen?«
Greta sah zu ihrem Ziehvater auf, der ihr immer noch ungeduldig die Stockhacke entgegenstreckte. Sie griff danach. »Ich soll noch sagen, dass Robert wieder da ist«, sagte sie und hielt die Luft an.
»Robert?« Harald sah sie einen Moment stirnrunzelnd an, dann wandte er sich an Johann. »Hast gehört, Johann? Dein Bruder ist zurück, da kommen wir morgen ordentlich voran.«
Johann zuckte mit den Schultern. »Wenn der Drückeberger überhaupt noch mit anpackt.«
Greta fand Johanns Spruch ungerecht. Roberts Weggang war in der Familie nur kurz kommentiert worden. Er hatte einen Zettel hinterlassen, geschrieben, dass er auf dem Weg nach West-Berlin sei. Denn keine zehn Pferde würden ihn zu den Totschlägern, womit er die Bundeswehr meinte, bringen. Er wolle nicht zum Mörder werden.
Johann hatte sich damals ziemlich aufgeregt und Robert als Angsthasen und Vaterlandsverräter bezeichnet. Bis ihm Elfriede mit einem strengen Blick Einhalt geboten hatte. Johann war kurz verstummt, verkündete aber gleich darauf, dass er mit Robert nichts mehr zu schaffen habe. Er selbst habe schließlich auch gedient, war achtzehn Monate beim Bund gewesen und hatte ihn immerhin als Obergefreiter verlassen, so wie es sich gehörte als pflichtbewusster deutscher Staatsbürger.
Bereits einen Tag später wurde über Roberts Weggang nicht mehr gesprochen. Das Thema wurde totgeschwiegen. Über Roberts Postkarten, die er hin und wieder schickte und die Elfriede kommentarlos in der Küche neben dem Kühlschrank ein paar Tage liegen ließ, wurde nicht geredet. Greta hatte sie immer begierig gelesen, auch wenn sie nicht mehr als ein flüchtiges Lebenszeichen von Robert gewesen waren.
Schweigend machte sich Greta an die Arbeit, hackte in den lehmigen Boden, bis die trockene Erde aufbrach, in kleinen Schollen nach links und rechts fiel. Schon nach wenigen Schlägen spürte sie, wie ihr der Schweiß in einem dünnen Rinnsal die Wirbelsäule entlang über den Rücken lief. Mit jedem Schlag reagierte sie ihre Wut über Johanns Worte ab.
Nach einer Weile reichte Harald Greta einen Becher mit Wasser. »Trink mal, Mädsche. Schuftest ja heute für zwei.«
Dankbar trank sie den Becher in einem Zug leer.
»Freust dich, dass der Robert wieder da ist, gell?«
Greta nickte. »Wir sind doch eine Familie«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.
Harald legte ihr eine Hand auf die Schulter, und als sie den Blick hob, sah er sie ernst an. »Sozusagen. Aber jeder hat hier in dieser Familie auch seine Pflicht zu erfüllen, wenn er seinen Platz behalten will.«
Johann mischte sich ein. »Ein Klampfenspieler bringt uns auf dem Hof nicht weiter. Wir brauchen jemanden, der zupackt, so wie du.«
Greta war erstaunt, sie hörte selten ein Lob von Johann. Insgeheim freute sie sich, aber sie wusste auch, wie gerissen Johann war und wie gern er Fronten aufbaute. »Psychologische Kriegsführung«, hatte er das genannt, als er einen Schoppen beim letzten Weinfest zu viel hatte und sich vor einem Kumpel profilieren wollte, »Grenzen abstecken, Meinung beeinflussen.« Das hatte Greta aufgeschnappt und sich gemerkt.
Harald bückte sich, hob einen faustgroßen Stein auf, der zwischen zwei Weinstöcken lag, und reichte ihn Johann. »Robert kann sich gleich mal den Frontlader vornehmen. Bin erst vor zwei Tagen wieder damit liegen geblieben, ausgerechnet als ich die vertrockneten Reben hinten auf dem Hänger hatte. Und glaub mal nicht, dass Freudberg, als er vorbeifuhr, mir geholfen hätte. Ohne Gruß ist der weitergefahren. Hab das Gefährt mit Müh und Not wieder zum Laufen gebracht«, sagte Harald. Er nahm selbst noch einen Schluck Wasser, bevor er die Flasche zuschraubte und auf den Anhänger zurückstellte. Dann saß er auf und fuhr den Traktor ein Stück vor, damit sie mehr Platz zum Arbeiten hatten. Jedoch nicht mehr als fünfzig Meter. Das war Haralds ehernes Gesetz: Kanister und Werkzeuge in der Nähe zu haben. Er war ein »Freund der kurzen Wege«, wie er gern betonte.
»Ich hätt auch nix anderes von diesem Teufelswinzer erwartet, führt sein Gut wie ein Landgraf. Fehlt nur noch, dass seine Angestellten vor ihm knicksen«, sagte Johann verächtlich. Greta lächelte über diesen Vergleich. Johann konnte mit seinen Sprüchen manchmal recht bissig sein, aber brachte es auch auf den Punkt. »Da lassen wir uns mal überraschen, was mein kleiner Bruder zustande bringt.«
Schweigend arbeiteten sie weiter. Greta hing ihren Gedanken nach. Ihre Lieblingslehrerin Fräulein Heuser hatte ihr heute Morgen, gleich als sie ins Klassenzimmer kam, zum Geburtstag gratuliert. Das tat sie bei allen ihren Schülerinnen und Schülern. Doch Greta glaubte, dass die Lehrerin sie besonders mochte. Denn sie hatte ihr ein kleines Taschenbuch geschenkt, und Greta hatte sich freudig bedankt. Im Haus der Hellerts gab es kaum Bücher. Für so etwas war kein Geld da. Außerdem las keiner der Hellerts gern. Die einzige Lektüre war höchstens mal das Gemeindeblatt oder die Tageszeitung, die Elfriede von ihrer Cousine mitbrachte und über deren politische Artikel sich dann Harald aufregte, wenn er sie spät am Abend las.
Zwar hatte Greta eine Karte für die öffentliche Stadtbücherei in Kirchheim. Aber da hatte sie jetzt schon so viele Bücher ausgelesen, dass sie immer auf die Neuanschaffungen warten musste.
Fräulein Heuser hatte ihr heute aber nicht nur etwas geschenkt, Greta hatte in ihrem Aufsatz über Wolfgang Koeppens Tauben im Gras eine Eins geschrieben. Sie hatte den Roman abends im Bett förmlich verschlungen. Wie Heinrich Böll und Siegfried Lenz gehörte Koeppen zu ihren Lieblingsliteraten. Wenn er über etwas schrieb, hatte es zwar manchmal etwas Trauriges, aber es sprach auch eine Ehrlichkeit aus seinen Gedanken, die Greta in eine andere Welt versetzte und sie an ein anderes Leben glauben ließ.
Das Leben zwischen den bedruckten Seiten gab ihr eine Sicherheit, die sie in ihrem realen Leben nicht hatte. Wenn sie las, vergaß sie alles um sich herum, tauchte in die Geschichte ein und fühlte sich mit den Charakteren enger verwoben, als sie es je mit ihrer Ersatzfamilie sein würde.
Noch mehr als über die Eins im Aufsatz hatte sich Greta über das Lob von Fräulein Heuser gefreut, die erklärt hatte, dass sie sich überlegen sollte, aufs Gymnasium zu gehen. Der Gedanke war neu und aufregend.
Inzwischen war Greta am Ende der Reihe angekommen und atmete tief durch. Wie immer legte sie an dieser Stelle eine kurze Pause ein und lehnte die Hacke gegen den letzten Rebenstock. Johann, der mit der Buckelspritze aus Messing auf dem Rücken neben ihr hergegangen war, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in Kringeln aus.
»Noch zwei Reihen, dann ist Feierabend. Hoffentlich reicht die Brühe noch.« Er grinste sie an. »Und nachher machen wir uns über deinen Geburtstagskuchen her. Gibst uns doch ein Stück ab, oder?«
»Na klar«, meinte Greta und wedelte den Rauch, den Johann in ihre Richtung blies, mit der Hand weg. »Aber erst mal müssen wir hier fertig werden.« Sie wandte sich an Harald, der bereits den Traktor in die nächste Reihe umgesetzt hatte und begann, dort die Rebenblätter zu spritzen. »Ich habe heute eine Eins zurückbekommen«, erzählte sie stolz und griff nach der Stockhacke.
Harald nickte. »Sehr gut. Wirst schon deinen Abschluss im Sommer schaffen.« Er schwieg, und Greta nahm an, dass er es damit beließ. Harald lobte nicht. Aber sie täuschte sich, denn er fuhr fort: »Eigentlich wollten wir es dir erst sagen, wenn es so weit ist, Mädsche. Aber warum nicht schon jetzt? Du wirst nach dem Sommer beim Mahlig in die Lehre gehen.«
Greta hielt mitten in der Bewegung inne. »Beim Mahlig Schorsch? Der leitet doch den Edeka in Kirchheim?«
»Ganz genau. Da lernst du Verkäuferin, was Vernünftiges, und Geld gibt’s während der Lehre auch. Das hilft uns allen.«
Johann trat seine Zigarette aus und lachte laut. »Hat es gleich was gebracht, dass der Rudi Carrell für Edeka Reklame macht.« Er schob sich die Spritze auf dem Rücken in eine angenehmere Position zurecht. »Mal sehen, ob sie in der Berufsschule auch so gute Noten bekommt.«
»Das Mädchen ist fleißig, das wird uns schon nicht enttäuschen«, sagte Harald.
Greta war es gewohnt, dass man in ihrer Gegenwart oft über sie sprach, als sei sie gar nicht anwesend. Aber das, was sie eben gehört hatte, riss sie aus der Unsichtbarkeit heraus. »Ich soll Verkäuferin werden? Muss man dafür überhaupt auf eine Berufsschule?« Sie ließ die Stockhacke sinken. Die Vorstellung, eine Lehre als Verkäuferin zu machen, war entsetzlich.
»Selbstverständlich. Wenn du Lebensmittel verkaufst, musst du eine Menge lernen. Warenkunde und Buchhaltung sind wichtig«, meinte Harald.
»Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen werden da wohl nicht sein«, kommentierte Greta leise.
»Keine Ahnung, wer dann in deiner Klasse ist. Aber der Heinrich vom Obstbauern in Laumersheim, der heißt doch Bölling? Und der muss doch auch erst noch zum Bund, außerdem ist er der Zweitgeborene, oder?«, wandte sich Harald an Johann. »Und ob der Verkäufer werden will?«, setzte er zweifelnd hinzu.
Johann nickte. »Für den müssen sie erst noch eine Berufsschule erfinden. Der ist strunzdumm. Der braucht eher eine gute Partie.«
Harald lachte auf. »Da pass mal auf, dass der nicht ein Auge auf die Metzgerstochter wirft.«
Johann ging nicht auf den Spaß ein. »Für Dagmar ist der viel zu jung!« Er wandte sich ab und fuhr kommentarlos fort, die Rebenblätter zu spritzen.
Harald grinste in sich hinein und zwinkerte Greta zu, bevor er zum Traktor ging, um ihn erneut ein Stück vorzufahren.
Greta wusste, dass Johann zum Wurstmarkt in Bad Dürkheim im vergangenen Herbst mit der Metzgerstochter Dagmar gegangen war. Er hatte sich dafür extra den Wagen, den Harald vor zwei Jahren gebraucht gekauft hatte, ausgeliehen. Greta erinnerte sich, wie Harald zusammen mit Johann auf dem Hof gestanden war, den Autoschlüssel fest umschlossen in seiner Hand. Eine regelrechte technische Einweisung über das Auto hatte Johann über sich ergehen lassen müssen. Mahnend hatte ihm Harald eingeschärft, auf den »Großen Bruder« vom Käfer, dem VW 1600, dieser Schräghecklimousine, gut aufzupassen, ihn wie ein rohes Ei zu behandeln.
Greta und Renate hatten am Küchenfenster gelehnt und gelauscht. Dabei hatten sich beide immer wieder zwicken müssen, um nicht loszuprusten, so lustig hatten sie Haralds Ansprache und vor allem Johanns entnervten Gesichtsausdruck gefunden. Als dann auch noch Elfriede auf den Hof gelaufen war, hatte Johann sich vor den nicht enden wollenden Ermahnungen seines Vaters endlich in den Wagen flüchten können. Elfriede hatte aber energisch ans Fahrerfenster geklopft und im nächsten Moment die Autotür aufgerissen, bevor Johann, in seiner besten Hose und seinem besten Hemd, losfahren konnte. Dass er nur ja nicht die Scheibe herunterdrehte, hatte sie ihm eingeschärft. Denn die klemmte, nie wieder würde er sie danach hochdrehen können. Und keinen Tropfen Alkohol dürfe er trinken. Sonst würde er wie Dagmars Bruder Otto im Straßengraben landen.
Es war Dorfgespräch gewesen, als der junge Mann vor zwei Jahren verunglückt und später herausgekommen war, dass er betrunken gewesen war. Das Mitleid war in Häme umgeschlagen, und Otto war nie mehr im Dorfgasthof aufgetaucht.
Johann hatte zu den Ermahnungen genickt und dann den Motor angelassen. Zweimal hatte er selbstbewusst auf die Hupe gedrückt und war wie ein grüner Blitz vom Hof gebraust.
Doch seitdem war der Name Dagmar nicht mehr gefallen. Bis heute.
Greta wusste, wie Johann seine Zukunft sah. Ein einfacher Plan: Er wollte heiraten und eines Tages das Weingut übernehmen. Fast beneidete sie ihn um diese Klarheit in seinem Leben, denn sie selbst konnte für sich noch nicht erkennen, wie ihre Zukunft aussah. Aber Verkäuferin wollte sie keinesfalls werden.