Gretas Geheimnis - Nora Engel - E-Book
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Gretas Geheimnis E-Book

Nora Engel

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Beschreibung

Von der Halbwaise zur erfolgreichen Winzerin Greta kommt der Bedingung nach, die ihr Vater Fritz Freudberg in seinem Testament gestellt hat: Sie heiratet dessen Kellermeister Bruno Bachstern und erbt so – mit nur 20 Jahren – das größte Weingut in der Pfalz. Diese Ehe bietet ihr nach ihrer schweren Jugend als Ziehkind in der Winzerfamilie Hellert die Chance auf ein Zuhause und eine eigene Familie. Greta und Bruno eint die Liebe zu den Weinbergen und der Kunst des Kelterns. Das Glück scheint perfekt, als der kleine Leo zur Welt kommt. Doch je erfolgreicher Greta als Winzerin wird, desto mehr distanziert sich Bruno von ihr. Als der lebenslustige Student Henry van Buren aus Südafrika Erntehelfer auf dem Gut wird, trifft Greta eine schicksalhafte Entscheidung …

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Seitenzahl: 506

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Nora Engel

Gretas Geheimnis

Die Winzerin

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

»Wenn Sie ihn verstanden haben,

werden Sie von nun an keinen Wein mehr trinken,

sondern Geheimnisse kosten.«

Salvador Dalí

Prolog

Kirchheim, 2. März 1975

 

Renate Hellert zog die Schublade zu ihrem Nachttischkästchen auf und nahm einen Brief heraus. Als sie ihn Anfang Februar aus dem Briefkasten geholt hatte, hatte sie ihn eigentlich gleich an die Empfängerin weiterreichen wollen. Deren Name hatte groß und deutlich auf dem hellblauen Luftpostumschlag gestanden. Aber dann hatte Renate gezögert, ihn in ihre Handtasche gesteckt und mit auf ihr Zimmer genommen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie später das Messer in ihre Hand gekommen war und sie den Brief mit einem Schnitt aufgeschlitzt hatte.

Mittlerweile kannte sie ihn auswendig. Trotzdem faltete sie den Briefbogen jetzt auseinander. Der rotviolette Airmail-Stempel schimmerte leicht hinter dem handgeschriebenen Text durch. Sie trat einen Schritt zum Fenster und begann zu lesen.

 

New York, Greenwich Village, 24.12.1974

 

Liebe Greta,

es ist jetzt der zehnte Brief, den ich Dir schreibe. Und dieses Mal bin ich mir sicher, dass ich ihn abschicke. Vielleicht nicht gleich morgen, aber ich werde den Mut finden, ihn einzuwerfen.

Heute ist Weihnachten, da fühle ich mich irgendwie mutig und entschlossener.

Ich war damals so dumm! Total blöd! Und ich glaube, wenn ich Du wäre, würde ich mir nicht verzeihen. Aber Du bist ja so viel klüger als ich, und ich will nichts unversucht lassen, Dich zurückzubekommen. Ich liebe Dich, Greta! Jeden Tag denke ich an Dich. Bei den Gigs bist Du immer bei mir. Wenn wir die Instrumente stimmen, wenn der Soundcheck gemacht wird, wenn das Konzert losgeht, wenn das Publikum klatscht und pfeift – es vergeht nicht eine Minute, wo Du nicht in meinem Kopf bist. Das muss doch Liebe sein? Das ist Liebe! Du bist meine Liebe!

Ich glaube, ich bin erwachsen geworden hier in Amerika. Ich hatte wirklich riesiges Glück, dass mich der Agent an Billy Joel vermittelt hatte. Unser letzter Auftritt war in Philadelphia, bis Anfang Januar bin ich noch in New York, dann geht die Tour weiter. Mein Job ist am 28. Februar zu Ende, das Flugticket habe ich schon gebucht. Ich komme am 2. März in Kirchheim an. Und ich hoffe, Du hast mir bis dahin verziehen, vergeben und nimmst mich zurück!

Unser Streit tut mir so leid, vor allem, weil ich gar nicht richtig verstehe, wie es dazu kommen konnte. Na ja, ich will ehrlich sein. Im Grunde war ich schuld. Ich hätte mit Dir reden sollen, statt mich auf die Bühne zu stellen und anzugeben. Und noch ehrlicher: Ich dachte, dass ich Dich damit aus der Reserve locken könnte. Und Du mit mir kommen würdest. Ich habe damals nicht gesehen, dass das für Dich unmöglich war. Heute verstehe ich Dich.

Bitte sei da, wenn ich komme. Dann singe ich »Get back« von den Beatles. Ich habe es erst neulich hier bei einer Session gespielt. Aber dann kannst Du mich hören – und erhörst mich dann hoffentlich.

Ich küsse Dich, so wie ich Dir jeden Abend einen Kuss über den Ozean schicke.

Verzeih mir!

Ewig Dein, ewig mein, ewig uns.

Robert

 

Renate sah hinunter auf den Hof, wo ihr Vater in seinem VW 1600 vorfuhr. Harald hatte Robert vom Flughafen in Frankfurt abgeholt. Schnell zog sie ein Streichholzbriefchen aus ihrer Rocktasche und zündete den Brief an einer Ecke an, bevor sie ihn in den runden Aschenbecher legte. Jedes Mal, wenn sie ihn gelesen hatte, hatte sie sich gewünscht, dass ihr Verlobter Detlef ihr eines Tages auch einen solchen Liebesbrief schreiben würde. Die bittere Erkenntnis, dass dies kaum eintreten würde und sie auch zuvor von ihren Verehrern nie einen Liebesbrief bekommen hatte, schmerzte. Sie würde heiraten, ihren Detlef, aber eben ohne Liebesbrief. Als Kaufmannssohn konnte er besser mit Zahlen als mit dem geschriebenen Wort umgehen. Hauptsache war, dass er sie liebte, hatte ihre Mutter Elfriede bemerkt, als sie sich letzte Woche gemeinsam im Neckermann-Katalog Brautkleider angesehen hatten.

Ihre Ziehschwester Greta, diese elende Verräterin, hatte diesen Brief nicht verdient. Jahrelang hatte sie hinter dem Rücken der Familie eine Affäre mit ihrem Bruder gehabt. Sie gehörte nicht mehr zu ihnen, hatte nie dazu gehört. Und schon gar nicht gehörte sie zu Robert. Renate beobachtete, wie sich schwarze Ränder auf dem dünnen Papier ausbreiteten, kleine Flammen daran leckten und der Brief schließlich zu Asche verfiel.

 

Kurz darauf klopfte es an ihrer Tür. Als sie »Herein!« rief, trat Robert ein. Er hielt sich ein unsichtbares Mikrofon vor den Mund und sang laut »Renate, Renate, Renate« zur Melodie des Schlagers »Marina« von Rocco Granata. Dann sah er auf ihren grobgeblümten orangefarbenen Frotteebademantel mit dem breiten braunen Reißverschluss und fuhr fort: »Dein Chic und dein Charme …« Er brach ab und zog die Nase kraus. »Rauchst du immer noch heimlich?«

Renate machte einen Schritt auf ihn zu, stellte sich vor den Aschenbecher und musterte ihren Bruder. Ihr Blick fiel auf seine Stiefel. »Hallo Cowboy«, sagte sie grinsend.

Robert holte ein Päckchen amerikanische Zigaretten aus der Hosentasche und bot ihr eine an. »Weißt du, was mit Greta ist? Vater hat auf der Fahrt so eine seltsame Bemerkung gemacht …«

Erster Teil1975–1979

1. Kapitel

Weingut Freudberg, 3. März 1975

 

Greta trug kein weißes Brautkleid. Sie hatte sich für ein schlichtes mittelblaues Kostüm entschieden, das sie in einem kleinen Kaufhaus in Bad Dürkheim gekauft hatte. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Der Rock war ein bisschen zu lang, die dunkelblauen, flachen Schuhe ein bisschen zu langweilig, ihr Gesicht ein bisschen zu blass.

Sie tuschte ihre Wimpern, um ihre blauen Augen zu betonen. Gegen die Blässe tupfte sie ein wenig Rouge auf ihre Wangen. Dann begann sie, ihr langes blondes Haar zu bürsten. Sie wollte es offen tragen, ohne Blumenkranz. Es war schließlich keine festliche Hochzeit mit einer strahlenden Braut.

Greta würde nicht mit einem Schleier aus der Dorfkirche treten, es würde keine kleinen Mädchen geben, die Blumen streuten. Und es würde nicht der Mann an ihrer Seite sein, von dem sie geglaubt hatte, ihn eines Tages zu heiraten.

Mit Bruno würde sie sicher keinen Baumstamm zersägen als Symbol, dass sie als Eheleute jedes Hindernis aus dem Weg räumen könnten. Dass sie ihn heiratete, hatte nichts mit der Erfüllung eines romantischen Traums zu tun. Und doch hatte sie sich für ihn entschieden.

 

Noch vor kurzer Zeit wäre das undenkbar gewesen. Waren während ihrer Schulzeit alle Mädchen in ihrer Klasse bei jedem Foto von John Lennons und Yoko Onos Hochzeit in Gibraltar und ihren Flitterwochen in Amsterdam in hysterisches Getuschel und Schwärmen ausgebrochen, hatten kollektiv geseufzt, als Mick Jagger seine Bianca in St. Tropez geheiratet hatte, so hatte Greta nur davon geträumt, mit Robert zusammen sein zu können. Und dass sie ihre Liebe nicht mehr verheimlichen müssten.

Dieser Traum war vor genau fünf Monaten und vierundzwanzig Tagen geplatzt, als Robert nach Amerika verschwunden war. Auch ihre anderen Träume gingen nicht in Erfüllung. Greta hatte Abitur machen, studieren und Lehrerin werden wollen. Doch ihre Zieheltern, die Hellerts, hatten sie vom Gymnasium genommen und zur Winzerschule geschickt. Wenn Greta zurückblickte, war es eine Zeit voller Lügen gewesen, und dennoch auch eine Zeit voller Sehnsucht. Eine Zeit, die derart aufregend, leidenschaftlich und erfüllt gewesen war, dass Greta sich hatte hinreißen lassen, zu Robert zu sagen: »Du bist meine Zukunft.«

Aber ihr Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Und heute nun heiratete sie einen fast Fremden.

 

Es klopfte an der Tür.

Greta ließ die Bürste sinken und rief: »Herein.«

Adela Freudberg betrat das Zimmer. Ihre Großmutter trug heute nicht eines ihrer schlichten Alltagskleider, sondern ein dunkelgrünes elegantes Kostüm aus einem feinen Wollstoff. Die alte Frau musterte Greta aufmerksam und nickte anerkennend. In der Hand hielt sie eine kleine Schmuckschatulle, die sie auf die Frisierkommode stellte.

»Für mich?«, fragte Greta erstaunt.

Adela tätschelte ihre Hand. »Für wen denn sonst, mein Kind? Hübsch siehst du aus.«

»Ich komme mir in dem Kostüm wie eine Stewardess von Pan Am vor.«

»Weil es ein ähnliches Blau ist? Es ist nur ein ungewohnter Anblick für dich. Und ich glaube, es fehlt noch etwas …« Sie öffnete das Kästchen und nahm eine matt glänzende Perlenkette heraus. »Meine Eltern schenkten sie mir zum einundzwanzigsten Geburtstag. Nun sollst du sie bekommen.« Sie trat hinter Greta, um ihr die Kette anzulegen.

Kühl schmiegten sich die weißen Perlen an die zarte Haut um Gretas Hals. Sie berührte sie vorsichtig und beugte sich vor, um sich besser im Spiegel sehen zu können. »Sie sind sehr schön. Bist du sicher, dass ich sie bekommen soll?«

»Alles hat seine Zeit im Leben«, erwiderte Adela. »Und jetzt ist für dich die Zeit der Perlen gekommen.«

»Danke, Adela. Das ist wirklich sehr lieb von dir.«

»Du bist meine einzige Enkeltochter. Sie sind bei dir gut aufgehoben«, meinte Adela schlicht. Sie bemerkte Gretas skeptischen Blick. »Gefällt sie dir nicht?«, hakte sie nach. Als Greta zögerte, fügte sie hinzu: »Du kannst ruhig ehrlich sein.« Aufmunternd nickte sie ihr zu.

Greta strich mit einem Finger die aufgezogenen Perlen entlang. »Findest du nicht, dass ich damit so erwachsen aussehe?«

Adela nickte. »Du bist volljährig, wirst in wenigen Stunden heiraten und das größte Weingut in der Pfalz führen. Du bist erwachsen, Greta.«

Erst nach dem Unfalltod von Fritz Freudberg und seiner Frau Ilse im Januar hatte Greta erfahren, dass dieser ihr leiblicher Vater war und Adela Freudberg ihre Großmutter. Greta erbte das Weingut unter drei Bedingungen: Adela konnte auf dem Weingut wohnen bleiben, Greta durfte kein Land verkaufen, und sie musste innerhalb von drei Monaten Freudbergs Kellermeister Bruno Bachstern heiraten. Greta hatte das Erbe angenommen. Für sie kam es dadurch zum Bruch mit ihren Zieheltern, Elfriede und Harald Hellert. Die beiden hatten sie nach dem Tod ihrer Mutter Maria, die als Dienstmädchen bei den Hellerts gelebt und gearbeitet hatte, aufgenommen. Maria war bei Gretas Geburt gestorben. Niemand hatte gewusst, dass Fritz Freudberg der Vater war. Doch nicht das war der Grund für die Feindschaft der Hellerts mit Fritz Freudberg. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war es Freudberg gelungen, das riesige Weingut, auf das auch die Hellerts spekuliert hatten, von den französischen Besatzern zu bekommen. Dafür hatte ihn Harald Hellert zeitlebens gehasst.

Adela sah auf die Uhr. »Lass uns gehen. Bruno wartet schon. Ich glaube, er ist ein bisschen nervös.« Sie lachte leise auf. »Er weiß noch nicht so recht, wie ihm geschieht.«

Greta nestelte an der Perlenkette. »Ich weiß es auch noch nicht.«

Adela wischte die Bedenken ihrer Enkeltochter fort. »Du tust genau das Richtige. Ich bin froh, dass du dich so entschieden hast. Oder hast du es dir anders überlegt?«, hakte Adela nach, als Greta schwieg.

»Nein, natürlich nicht.« Greta umarmte sie. »Es ist nur, dass ich Bruno kaum kenne. Er ist mir so fremd.«

Adela schien erleichtert. »Du wirst ihn schon noch besser kennenlernen. Er ist ein feiner Kerl. Ich sage dir: Eine Ehe besteht aus viel mehr als aus Verliebtheit. Es braucht Vertrauen, Bestand, Verlässlichkeit – und auf Bruno kannst du dich verlassen.« Sie warf einen prüfenden Blick auf Gretas schlichtes Kostüm. »Und wer weiß, vielleicht holt ihr ja die Hochzeit in Weiß eines Tages nach. Jetzt gilt es erst mal, dass ihr den Trauschein habt. Das ist wichtig und auch richtig für das Weingut. Du verstehst zwar viel von Wein, das habe ich in den letzten Wochen sehr wohl bemerkt. Aber Bruno hat die jahrelange Erfahrung, hervorragende Weine zu machen. Ihr habt eine gute Basis, denke ich. Und ich verspreche dir, dass ich alles dafür tun werde, dass du glücklich wirst.«

Die letzte Woche hatten sie das kleine Haus neben der Scheune für Adela renoviert. Die Holzdielen waren frisch abgezogen und lackiert worden. Zusammen waren sie ins Möbelhaus nach Mannheim gefahren, und Adela hatte sich ein fliederfarbenes Sofa ausgesucht. Dazu hatte sie sich einen buntgeblümten Ohrensessel bestellt.

Bruno, der seit 1970 Freudbergs Kellermeister war, wohnte in dem kleinen Fachwerkhaus weiter hinten auf dem Hof. Vor dieser Anstellung hatte er im Elsass auf einem Weingut gearbeitet, so viel wusste Greta inzwischen. Aber sie verstand nicht, wieso ihre Großmutter in dem kleinen Haus wohnen wollte. Selbst wenn Bruno und sie nun das renovierte und neu eingerichtete große Schlafzimmer hatten, stünde Adela ihr bisheriges Zimmer noch immer zur Verfügung. Allein im ersten Stock gab es fünf Räume.

Doch davon hatte Adela nichts wissen wollen. »Ein junges Paar braucht Zweisamkeit. Es schickt sich nicht, dass ich mit euch unter einem Dach lebe. Du bist jetzt die neue Herrin auf Gut Freudberg! Hier ist dein Zuhause. Dein Glück und das Gut, nur das zählt«, hatte Adela resolut gesagt, und damit war die Entscheidung gefallen.

 

Als Greta wenig später mit Adela aus dem Haus trat, verriet ihr der Geruch von Pfeifentabak, dass Bruno in der Nähe sein musste. Sie sah sich um, und tatsächlich: Er wartete neben dem grünen Mercedes, einer 280er SE Limousine, Baujahr 1974. Fritz Freudberg hatte sich alle zwei Jahre das neueste Modell geleistet.

Normalerweise trug Bruno ausgebeulte schwarze Hosen und dazu ein Küferhemd, die kräftigen Arme und der breite Oberkörper steckten in einer blauen Drillichjacke, das dunkle Haar war zurückgekämmt und unter einer Wollkappe verborgen. Er war schweigsam und etwas streng, sich seiner Rolle als Kellermeister jede Sekunde bewusst. Heute sah er verändert aus. Sein Anblick rührte Greta. Leicht verlegen wirkte er in seinem dunkelblauen Anzug, in dem sie ihm das erste Mal vor zwei Jahren auf dem Weinfest in Grünstadt begegnet war.

Greta lächelte. Das weiße Hemd war am Kragen zerknittert. Er trug keine Krawatte, der oberste Hemdknopf war geöffnet. Zudem hatte er einen Fedora-Hut auf, einen weichen grauen Filzhut mit breiter Krempe.

Den einzigen Mann, den Greta kannte, der einen Hut trug, war ihr Ziehvater Harald Hellert, wenn er sonntags in die Kirche ging. Die jungen Männer in ihrem Alter trugen keinen Hut. Weder hätte das zu ihrem Stil noch zu ihren Frisuren gepasst, die langgestuft wie die von Mick Jagger, zerzaust wie die von John Lennon oder vorne kurz und hinten lang wie die von Rod Stewart waren.

Greta wusste, dass der Schauspieler Sean Connery in den James Bond-Filmen auch manchmal solch einen Hut trug, und lächelte still in sich hinein. Diese kleine Extravaganz stand Bruno gut.

Ihr zukünftiger Ehemann bemerkte ihren Blick und lüpfte kurz den Hut. »Aus gegebenem Anlass, dachte ich.« Er lächelte sie aus seinen grünen Augen an.

Greta hatte ihn in den vergangenen Wochen selten lächeln sehen. Bruno Bachstern war ein ernster Mann, zehn Jahre älter als sie.

Er reichte ihr einen kleinen Strauß mit weißen Krokussen und zeigte zum Mercedesstern, an dem ebenfalls ein winziger Strauß gebunden war. »Der Hochzeitsschmuck.«

»Das ist sehr aufmerksam, Bruno. Danke schön.«

Er öffnete ihr die Wagentür. »Sind wir bereit?«

Sie hörte eine leichte Unsicherheit in seiner Stimme. Sollte sie ihm sagen, dass auch sie sich nicht sicher war, ob sie beide das Richtige taten?, überlegte sie kurz. Doch rasch schob sie den Gedanken zur Seite und legte ihre Hand auf seine. »Ja, das sind wir.« Sie stieg ein, Bruno schloss die Tür, ließ Adela hinten Platz nehmen und fuhr los.

Souverän lenkte er den Wagen seines verstorbenen Chefs. Greta hatte keine Fahrerlaubnis, dafür hatten ihre Zieheltern kein Geld ausgeben wollen. Obwohl sie in dem Winzerbetrieb der Hellerts mitgearbeitet hatte, hatte ihr Lohn nur aus Kost und Logis bestanden. Sie schwor sich, so schnell wie möglich den Führerschein zu machen.

Bruno bog schwungvoll von der Auffahrt auf die Straße und bremste abrupt ab. Vor ihm fuhr ein Traktor mit Anhänger, auf dem sich alte, trockene Weinstöcke türmten. Hinter ihm herfahrend, passierten sie langsam den Hof der Hellerts. Greta schaute zur Einfahrt hinüber – und zuckte zusammen. Da war Robert! Seit wann war er zurück?

Robert schob gerade seine alte Honda in Richtung Straße und schaute nun zu ihrer Limousine. Ausgerechnet in dem Moment, in dem sie die Auffahrt passierten, bremste der Traktor und setzte den Blinker, um in einen Feldweg abzubiegen. Greta folgte Roberts Blick, der auf den Blumenschmuck am Mercedesstern fiel. Dann sah er direkt in ihre Augen. Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Etwas Brennendes stieg langsam aus Gretas Magen in den Hals. Oder kam dieser Schmerz vom Herzen? Greta hielt seinem Blick stand, glaubte, seine Gedanken lesen zu können: Du heiratest heute Bachstern?! Warum verrätst du dich? Und warum tust du mir so weh? Sie glaubte, dieser stumme Austausch würde nie enden, bis Bruno endlich den ersten Gang einlegte und weiterfuhr.

Sie schloss die Augen und sah sich mit Robert vor fast vier Jahren auf einer Wiese liegen – unschuldig, ehrlich und unendlich verliebt. Auf dem Rückweg von einem Rockkonzert, bei dem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, hatten sie einen Stopp beim Hambacher Schloss eingelegt. Dort hatte sie ihm erzählt, dass sie sich, obwohl sie in seiner Familie aufgewachsen war, immer wie eine Fremde gefühlt hatte. Robert hatte ihr versichert, dass sie, wenn auch nicht zu seiner Familie, doch zu ihm gehörte. Es war ein Versprechen gewesen, das für immer hatte gelten sollen …

Aber nicht ein Mal hatte er ihr geschrieben, sich gemeldet oder gar entschuldigt. Es war Verrat gewesen: Greta hatte sich für ihn entschieden, und er hatte bei einem Auftritt auf der Bühne verkündet, dass er nach Amerika gehen und dort in einer Band spielen würde.

Sie spürte erneut Schmerz in sich aufsteigen und verbat sich jeden weiteren Gedanken an die Zeit mit Robert. Ihre Zukunft ohne ihn hatte längst begonnen.

Als sie die Augen wieder öffnete, lag Kirchheim bereits hinter ihnen. Sie schaute starr auf die Straße, die nach Bad Dürkheim führte. Adelas Stimme erklang vom Rücksitz. »Ich weiß, es ist vielleicht unpassend. Aber in ein paar Minuten gibt es Nachrichten, und ich würde sie gern hören nach dem, was in den letzten Tagen passiert ist.«

»Natürlich.« Greta schaltete ein, froh über die Ablenkung. Sie fragte sich, woher bei ihrer Großmutter dieser Hunger nach Informationen kam. Bei der Hausarbeit lief in der Küche ständig das Radio. Wenn die Eröffnungsmelodie des Südwest-Rundfunks erklang, ließ sie ruhen, was immer sie gerade putzte oder kochte.

»Guten Tag, meine Damen und Herren«, tönte es aus dem Radio. »Soeben hob eine Boeing 707 in Frankfurt Richtung Jemen ab. An Bord der Maschine nach Aden befindet sich der ehemalige Berliner Bürgermeister Pfarrer Heinrich Albertz sowie fünf RAF-Strafgefangene. Sie sollen im Austausch zu Peter Lorenz, der am 27. Februar in die Gewalt der Terrorgruppe Bewegung 2. Juni geriet, freigelassen werden.«

»Der Staat lässt sich erpressen«, kommentierte Adela auf dem Rücksitz.

»Vielleicht ist es der einzige Weg, Lorenz’ Ermordung zu vermeiden. Wir werden erst später wissen, ob es die richtige Entscheidung war«, meinte Greta.

»Diesen Terroristen kann man doch nicht trauen! Wenn sie ihn überhaupt freilassen«, sagte Adela erbost. »Denen ist nichts heilig.«

Die Nachrichten über die RAF nahmen kein Ende. Es schien Greta unwirklich, dass der Terror sogar an ihrem Hochzeitstag allgegenwärtig war.

 

Als Bruno den Wagen in der Nähe des Standesamtes parkte und das Radio ausschaltete, fiel Greta auf, dass er während der ganzen Fahrt nicht ein Wort gesprochen hatte. In den letzten Wochen hatten sie viel Zeit zusammen verbracht. Ihre Gespräche hatten sich meist um die anstehenden Frühjahrsarbeiten in den Weinbergen gedreht, selten über die bevorstehende Hochzeit. Ohne Worte hatten sie sich beide körperlich zurückgehalten. Hatten dem anderen Zeit gegeben. Brunos wenige Berührungen waren eher zufällig und immer sehr behutsam gewesen. Mehr wie ein Wissen darum, dass sie sich beide mit der Liebe Zeit geben sollten.

 

Vor dem Standesamt wartete bereits Alfons Brenner auf sie. Der langjährige Vorarbeiter auf Gut Freudberg mit der spiegelblanken Glatze trug zur Feier des Tages eine graue Hose mit einer steifen Bügelfalte und zu dem weißen Hemd sogar eine gestreifte Krawatte, die unter seinem geöffneten Lederblouson rot-blau hervorblitzte. Er hatte eine ähnliche Statur wie Bruno, doch er war etwas breitschultriger. Erwartungsvoll sah er ihnen entgegen.

Bruno hatte ihn gebeten, sein Trauzeuge zu sein. Sein bester Freund, Paul Hoffmann, mit dem er im Elsass zusammengearbeitet hatte, war 1970 nach Italien der Liebe wegen ausgewandert und führte dort ein Weingut. Paul sei es so kurzfristig nicht möglich, nach Deutschland zu kommen, hatte Bruno Greta erklärt. Brunos Vater war in den letzten Kriegswochen gefallen, seine Mutter vor zehn Jahren an einer Blutvergiftung gestorben. Er selbst war ein Einzelkind und hatte keine weiteren Verwandten. Enge Freunde hatte Bruno nicht. In seiner wenigen Freizeit las er Zeitschriften und Bücher, um sich über Weinanbau fortzubilden. Selten ging er am Wochenende wandern im Pfälzer oder im Bayerischen Wald.

Greta hatte kurz überlegt, ihren alten Schulkameraden Lutz Fritsch zu fragen, ob er ihr Trauzeuge sein möchte. Doch sie hatte diesen Gedanken schnell wieder verworfen. Lutz war noch immer mit Sabine Schütter zusammen. Die ehemalige Klassenkameradin hatte Greta erst am vergangenen Silvesterabend feindselig beschimpft und hätte sicher alles darangesetzt, dass Lutz ihr absagte. Einen Korb wollte Greta sich nicht holen und auch Lutz nicht in die Bredouille bringen.

Schließlich hatte sie ihre Großmutter gebeten, ihre Trauzeugin zu sein. Adela hatte erfreut Ja gesagt.

 

Nachdem Bruno Alfons mit Handschlag begrüßt hatte, nahm Adela ihn zur Seite: »Hast du an die Ringe gedacht?«

Bruno zog eine kleine Schachtel aus seiner Jackentasche und klappte sie auf.

Adela klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Gut gemacht.«

Die Ehe mit Greta würde Bruno zu einem reichen Mann machen, aber noch war er es nicht. Die mattgoldenen, schlichten Ringe hatte er aus eigener Tasche bezahlt.

Der Standesbeamte bat die kleine Gesellschaft ins Trauzimmer des Rathauses. Als alle Platz genommen hatten, begann er mit so monotoner Stimme seine Einleitungsrede aufzusagen, dass Gretas Gedanken abschweiften.

Sie war nach der Testamentseröffnung direkt zu Bruno gegangen. Es hatte sie Mut gekostet, ihm die Bedingung, dass sie ihn heiraten musste, um das Gut zu erben, zu erzählen.

Bruno hatte ihr aufmerksam zugehört. Wenn sie es wirklich wollte, würde er sie heiraten, hatte er erklärt.

Sie hatte tief Luft geholt. »Willst du mein Mann werden?«

»Ja, darf ich dich küssen?«

Und Greta hatte genickt. Seine weichen, vollen Lippen hatten sich zärtlich auf ihre gelegt, und je länger der Kuss andauerte, desto leidenschaftlicher war er geworden. Greta war überrascht von der Sinnlichkeit gewesen, die dieser Kuss auch in ihr ausgelöst hatte.

Die Tage mit Bruno im Weinkeller waren für Greta sehr lehrreich. Er erklärte ihr seine Vorgehensweise des Kelterns, sprach von Weinfässern und Lagerung. Als Kellermeister war er dort in seinem Element. Er fragte sie nach ihrer Einschätzung, und so konnte sie endlich das Gelernte von der Schule und von den Hellerts zusammenfügen. Sie begriff, dass Bruno individuellere Weine als Harald machte. Von ihm lernte sie mehr als in all den Jahren zuvor.

»Wenn du über Wein sprichts, klingt es, als ob du von deiner Geliebten redest«, hatte Greta einmal lachend zu ihm gesagt. »Das sollte nun eigentlich meine Rolle sein.«

Er hatte sie schuldbewusst in den Arm genommen und einen Moment festgehalten. Sie hatte diese Berührung unvorbereitet getroffen. Doch sie hatte seine Umarmung, die erneut in einem Kuss endete, spontan erwidert. Es hatte sich gut angefühlt.

 

Zwanzig Minuten später tauschten sie vor dem Standesbeamten die Ringe. Greta drehte ihren Kopf zu Bruno, der sie leicht an sich zog und zärtlich küsste. »Wir sind jetzt verheiratet, Frau Bachstern«, raunte er ihr leise zu und lächelte.

Sie griff nach seiner Hand und sah auf ihren Ring, den Bruno ihr an den Mittelfinger gesteckt hatte, denn er war etwas zu groß. Bruno wollte die Ringe noch einmal zum Juwelier bringen, für eine Gravur war keine Zeit mehr gewesen: Greta und Bruno – 3. März 1975 sollte eingraviert werden.

 

Alfons bestand darauf, das frisch vermählte Paar vor dem Standesamt zu fotografieren. Dafür hatte er eigens eine Polaroidkamera gekauft. Greta und Bruno nahmen vor dem Rathaus Aufstellung, Adela schob ihre Enkeltochter an Brunos andere Seite. »Die Frau steht immer rechts«, bemerkte sie liebevoll und zupfte Greta einen Fusel vom Kostüm, ehe sie einen Schritt zurücktrat und sich neben Alfons stellte.

»Eins mit Kuss, bitte«, rief er dem Brautpaar fröhlich zu. Bruno beugte den Kopf zu Greta, die ihn anlächelte, bevor ihre Lippen sich zart berührten, während es klickte. Zu dritt standen sie um Alfons herum und beobachteten staunend, wie sich das Foto aus der Kamera schob und allmählich ihre Umrisse erschienen: Greta hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und Bruno hatte in dem Moment, als Alfons fotografierte, seine Hand auf ihre rechte Schulter gelegt und drückte sie an sich. Es lag viel Innigkeit in dieser Haltung, stellte Greta fest und wunderte sich, warum ihr dieser Anblick so bekannt vorkam. Und plötzlich wusste sie, woran sie das Foto erinnerte.

Robert hatte in seinem WG-Zimmer eine kleine Postkarte von »Der Kuss« des französischen Fotografen Robert Doisneau mit einer Reißzwecke neben seinem Bett befestigt gehabt. »Von meinem Namensvetter. Es erinnert mich an uns«, hatte er ihr damals ins Ohr geflüstert, als sie die Karte betrachtet hatte.

Mit einer kleinen Verbeugung überreichte Alfons Greta das Foto. »Das Hochzeitsfoto«, sagte er feierlich.

»Wir haben vor dem Essen noch ein wenig Zeit, uns die Beine zu vertreten. Der Tisch in der Alten Klosterschänke ist für zwei Uhr reserviert«, bemerkte Adela. Auch wenn es keine große Hochzeitsfeier gab, würden sie diesen Tag in einem angemessenen Rahmen zelebrieren, hatte sie gemeint und kurzerhand reserviert. Mit der Selbstverständlichkeit einer älteren Frau hakte sie sich bei Alfons unter.

Greta griff nach Brunos Arm. Es erschien ihr so unwirklich, ihn geheiratet zu haben. Wir sind jetzt tatsächlich Mann und Frau, schoss es ihr durch den Kopf. In wenigen Tagen, wenn sie beim Notar ihr neues rotes Familienstammbuch vorlegte, würde das Weingut ihr gehören. Sie hatte ein Zuhause.

Als sie am Gradierwerk vorbeikamen, blieb Adela stehen und atmete tief durch. Die gewaltige offene Holzkonstruktion dehnte sich vor ihnen aus, nur wenige Kurgäste besuchten es heute. Dann drehte sie sich zu Greta und Bruno um, die auch stehen geblieben waren. »Manchmal komme ich einfach nur her, um dieses Wunderwerk zu sehen. Es fasziniert mich immer wieder, dass die Menschen schon im Mittelalter erkannt haben, wie wohltuend Salzluft ist.«

Auch Greta atmete tief ein und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. »Wenn ich als Kind hier war, habe ich mir immer eingebildet, dass so das Meer riechen müsste.«

Alfons wandte sich an Bruno. »Wo verbringt ihr eigentlich eure Flitterwochen? Auf Mallorca? Das soll sehr schön sein.«

Greta sah zu Bruno, gleichzeitig schüttelten sie leicht die Köpfe. Sie hatten zwar nicht über Flitterwochen gesprochen, doch Greta wusste genau wie Bruno, dass jetzt die Arbeiten auf dem Weingut keine Zeit dafür ließen. »Irgendwann fahren wir sicher mal ans Meer, oder was meinst du, Bruno?« Sie wandte sich an Alfons. »Aber ganz sicher nicht im ersten Jahr, wo wir erst einmal uns und das Weingut besser kennenlernen sollten.«

Adela warf ihr einen zufriedenen Blick zu.

Bruno nickte. »Im März haben wir alle Hände voll zu tun, wenn die Reben erwachen. Das solltest du eigentlich wissen, Alfons.« Er wandte sich an Greta. »Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Vielleicht schaffen wir es nächstes Jahr, Paul in Italien zu besuchen.«

Greta nickte. »Das wäre schön.«

Bruno lief schweigend neben ihr. Sein klarer Blick und seine Bodenständigkeit gaben ihr Zuversicht. An sein Schweigen würde sie sich gewöhnen. Oder, noch besser, sie würde ihn aus sich herauslocken, ihn besser kennenlernen und eine gute Ehe mit ihm führen. Es würde alles gut werden. Sie sollte Adela vertrauen, die ihr Mut zugesprochen hatte: Eine Ehe wuchs. Eines Tages würden sie und Bruno zusammen verreisen, fremde Länder besuchen und die ganze Welt sehen. Und das Meer.

 

In der Alten Klosterschänke war ein weiß eingedeckter Tisch für sie reserviert. Greta und Bruno nahmen auf der gepolsterten Bank Platz, Adela und Alfons setzten sich ihnen gegenüber.

Der Wirt Klaus Brücher kam an den Tisch und begrüßte zuerst Adela Freudberg, bevor er sich an Greta und Bruno wandte. »Ich gratuliere zur Eheschließung.« Er überreichte Greta einen Strauß Tulpen. »Normalerweise bekommt das Brautpaar eine gute Flasche Wein aus unserem Weinsortiment. Aber das wäre ja bei Ihnen wie Bäume in den Wald tragen, nicht wahr?« Er lachte dröhnend über seinen eigenen Witz und reichte ihnen die Speisekarten. Auf sein Zeichen kam ein Kellner herbeigeeilt und reichte jedem ein Glas Sekt, auch dem Wirt. Zusammen stießen sie an.

»Wie darf ich Sie denn jetzt ansprechen, Fräulein Freudberg?«

Greta zuckte zusammen. Aber natürlich nennt er mich so, kombinierte sie. Adela hatte sicherlich bei der Tischreservierung erwähnt, dass ihre Enkelin heiratete. Von daher ging der Wirt davon aus, dass sie Freudberg hieß. Doch der Wirt war ihr nicht sehr sympathisch. Sie erinnerte sich zu gut an seine Feilscherei, als Harald ihm vor einigen Jahren Rieslanerwein geliefert und lange auf das Geld hatte warten müssen.

»Bestimmt nicht mit Fräulein. Ich heiße Bachstern, Herr Brücher. So wie mein Mann«, gab sie freundlich zurück.

»Oh! Na, das erstaunt mich jetzt aber! Doppelnamen sind doch heutzutage bei den jungen Frauen so modern, gerade jetzt, im Jahr der Frau! Und der Name Freudberg hat doch hier in der Gegend Gewicht«, bemerkte er.

Bevor Greta antworten konnte, sagte Adela: »Herr Brücher, ich bitte Sie! Bachstern ist ein sehr schöner Name, der in der Weinwelt bereits an Bedeutung gewonnen hat.« Sie nickte, als ob das Thema damit beendet sei. »Heiraten macht hungrig. Was empfehlen Sie denn?«

Greta hatte aus Nervosität noch nichts gegessen und spürte, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg. Sie war über Adelas Eingreifen froh und lauschte, was der Kellner ihnen riet: Königinnenpastete als Vorspeise, Wildgulasch als Hauptgericht und als Nachtisch Fürst-Pückler-Eis. Sie bestellten alle vier das Gleiche.

Auf den ersten Gang mussten sie nicht lange warten. Während Greta den Blätterteigdeckel zur Seite schob, um die würzige Worcestersauce auf die Füllung zu träufeln, entspannte sie sich allmählich.

Die Stimmung wurde lebhafter. Liegt es am Wein?, fragte sich Greta, als der Kellner eine weitere Flasche öffnete und ihnen nachschenkte.

»Wie bist du eigentlich nach Gut Freudberg gekommen, Bruno?«, fragte sie und reichte dem Kellner ihren leeren Teller.

Bruno hob das Glas. »Das verdanke ich Ilse Freudberg. Ein Toast auf sie!«

Adela schmunzelte. »Ja, Ilse wusste ganz genau, was sie wollte. Damals, 1968.«

Die Antwort irritierte Greta. Was hatte denn Ilse 1968 mit Brunos Einstellung von 1970 zu tun?

Bruno stellte sein Glas ab. »Die Chefin wollte unbedingt in dem Jahr zur Foire aux Vins d’Alsace, dieser großen Weinmesse im Elsass. Dort trat Gilbert Bécaud auf. Sie überredete ihren Mann, gemeinsam zur Messe zu fahren. Dort stellte auch der Winzer aus, für den ich damals arbeitete. Und während die Chefin dem französischen Sänger lauschte, probierte Freudberg meinen Gewürztraminer und bot mir eine Stelle an.«

»Aber du hast nicht gleich angenommen?«, fragte Greta.

Bruno schwieg einen Moment, als suchte er nach einer Antwort. »Na ja, ich hatte dort auch Verpflichtungen. Es war kurz vor der Lese …«

Alfons fiel ein. »Gib zu, du hast dich vom Chef ganz schön bitten lassen.«

Adela schmunzelte. »Fritz hat nicht lockergelassen und ist im nächsten Jahr wieder zu dieser Messe gefahren. Er wollte dich unbedingt als Kellermeister. Ein halbes Jahr musste er dennoch warten, bis du dich endlich durchringen konntest und zu uns kamst.«

Greta sah Bruno fragend von der Seite an, aber da fuhr Adela bereits fort: »Ilse war über jeden Besuch im Elsass glücklich. Mit einem Fuß war sie ja immer in Frankreich. Ihre Großeltern stammten aus Lothringen. Ihre Plattensammlung besteht fast nur aus französischen Chansonniers.«

Greta nickte. Sie hatte die Schallplatten im Salon, wie sie das vordere Zimmer im Erdgeschoss nannten, längst entdeckt. Die frankophile Ilse hatte den Salon mit französischen Lilientapeten tapezieren lassen und sie mit einer Chaiselongue und einem kleinen Sekretär ausgestattet. Als Greta an einem Abend mit Bruno im Wohnzimmer vor dem Kamin zusammengesessen hatte, hatte sie einige Platten aus dem Salon geholt und aufgelegt, um den rauchigen Stimmen zu lauschen.

Alfons begann leise zu summen. »Mon guide …« Er warf Greta einen aufmunternden Blick zu, und sie fiel ein:

»Nathalie …« Sie mochte diesen Chanson von Gilbert Bécaud sehr.

Adela klatschte in die Hände. »Was für ein schönes Liebeslied. Ilse hat es geliebt. Ich glaube, manchmal wünschte sie sich, sie hieße Nathalie.«

Sie lachten, nur Bruno verzog keine Miene. Er stand auf. »Entschuldigt mich.« Seine Stimme klang rau.

Greta sah ihm nach, als er den Gastraum verließ. Dass er im Elsass gearbeitet hatte, hatte er ihr bereits erzählt. Wie es wohl für ihn dort gewesen war? Sie wusste zu wenig über ihn. Wie er aufgewachsen war, was er gern aß, welche Filme er mochte – alles Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Sie griff nach ihrem Glas und nahm sich fest vor, die Antworten herauszufinden. Nach und nach.

Auch wenn sie wusste, dass sie zu viel trank, leerte sie das Glas in einem Zug. Sie hatte Bruno nichts von Robert erzählt. Besser keine Wahrheit als nur die halbe Wahrheit, dachte sie. Sie hatte das Gefühl, als würde sie dann beide Männer verraten. Und dazu war sie nicht bereit.

Als Bruno zurückkam, setzte er sich wieder zu Greta auf die Bank und bestellte für alle Kaffee. Doch die gelöste Stimmung kehrte nicht wieder zurück. Greta verstand nicht, wieso das so war. Schweigend tranken sie aus, Adela zahlte, und sie verließen das Restaurant.

 

Als sie auf die Straße traten, zuckte Greta zusammen und blieb stehen. Robert Hellert lehnte auf der gegenüberliegenden Straßenseite lässig gegen eine Hauswand und rauchte eine Zigarette. Sicher eine Selbstgedrehte, schoss es Greta durch den Kopf. Er blickte zu ihnen hinüber, doch aus dieser Entfernung konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Sie sah nur seine langen Locken, das schmale Gesicht, seine Ähnlichkeit mit Roger Daltrey von The Who. Regungslos und abwartend stand er da. Als er verstand, dass sie seinem Blick standhielt und nicht daran dachte, den Kopf abzuwenden, warf er die Kippe auf den Boden und zertrat sie demonstrativ. Dann wandte er sich ab und stieg auf seine Honda. Einmal ließ er den Motor aufheulen, dann brauste er davon.

Greta sah ihm nach. Sie fühlte sich leer. Adela, Bruno und Alfons waren nun ebenfalls stehen geblieben, als sie bemerkten, dass Greta ihnen nicht folgte. Ob sie Robert gesehen hatten, vermochte Greta nicht zu sagen.

Bruno kam zu ihr zurück und griff nach ihrer Hand. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«

Es klang für Greta, als sei für sie das Weingut der einzig sichere Ort.

2. Kapitel

Weingut Freudberg, April und Mai 1975

 

Greta und Bruno standen im Weinberg beim Gewürztraminer.

»Ich weiß, es ist eine deiner Lieblinge. Aber der Boden ist viel zu trocken für diese Rebsorte.«

»Fritz und ich haben hier so viel Arbeit reingesteckt.« Bruno streckte die Hand aus und zupfte ein winziges Weinblatt ab. »Auch wenn dein Vater sonst immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat – hier hat er sich getäuscht. Wir haben nie die maximale Ertragshöhe auch nur annähernd erreicht. Im letzten Jahr sind wir gerade mal auf ein Drittel gekommen.«

»Der Gewürztraminer ist eine Diva unter den Rebsorten. Anfällig für Schädlinge und Pilzkrankheiten«, konstatierte Greta. Sie strich Bruno leicht über die Hand, und er ließ das Weinblatt fallen, um seine Hand mit der ihren zu verschränken.

»Dann probieren wir es mit dem Kerner?«, fragte Greta hoffnungsvoll.

»Ich finde deine Idee gut.«

Greta nickte. »Dann ist es entschieden. Wir fangen mit einem Hektar an. Die Sorte ist robust. Und in unseren Leseablauf passt er auch gut. Er ist ja etwas früher reif als der Riesling.« Sie zog die Stirn kraus. »Nächstes Jahr sehen wir, wie er sich macht und ob die Idee wirklich gut ist.«

Bruno glättete mit den Fingerspitzen ihre Falten. »Jetzt doch Zweifel?«

Greta stieß die Luft aus. »Es ist die erste große Entscheidung, die wir treffen.«

»Die du triffst. Es ist dein Weingut. Und es ist die richtige Entscheidung.« Bruno bückte sich, griff nach einem vertrockneten Rebstock und riss ihn mit einer jähen Bewegung aus der Erde.

»Bruno!«, rief Greta erschrocken.

»Er ist nur einer von vielen, die ich rausreißen werde.« Bruno holte aus und schleuderte den verdorrten Weinstock weit in den Weinberg hinein. »Je mehr wir uns von dem Alten trennen, desto mehr Platz bekommen wir für das Neue.«

»Ist das ein Versprechen? Ein Versprechen an uns? Wir sind das Neue?«

Bruno nickte. »Jeden Tag ein Stück mehr ›uns‹.«

Hand in Hand liefen sie zurück zum Feldweg. Und Greta hatte das Gefühl, diesem Mann an ihrer Seite allmählich etwas näherzukommen.

 

Fünf Wochen später betrat Greta das Haus und schloss die Tür hinter sich. Noch bevor sie ihren leichten Mantel an die Garderobe gehängt hatte, kam Adela aus der Küche, einen Kochlöffel in der Hand.

»Und?«, fragte sie erwartungsvoll. Als Greta nicht gleich antwortete, trat Adela zu ihr, wedelte mit dem Kochlöffel und wiederholte: »Und? Nun sag schon …«

Greta sah in die warmen Augen ihrer Großmutter. Sie lächelte und nickte. Adelas Augen leuchteten auf, und sie umarmte ihre Enkeltochter. So fest drückte sie sie an sich, dass Greta sich lachend aus der Umarmung befreite. »Du lässt mir ja keine Luft mehr.«

»Oh, entschuldige, Liebes.« Adela trat einen Schritt zurück, hielt Greta jedoch an beiden Armen fest. »Du passt jetzt gut auf euch zwei auf. Versprich es mir«, sagte sie ernst. Es klang so liebevoll, dass Greta Tränen in die Augen schossen und jetzt sie ihre Großmutter umarmte. Als sie sich voneinander lösten, tätschelte Adela ihr die Wange. »Bruno ist beim Gewürztraminer.«

 

Die Maisonne gab sich alle Mühe, die graue Wolkenwand zu durchbrechen. Ein leichter Wind wehte über die Weinberge, als Greta ihr Fahrrad aus dem kleinen Verschlag holte. Früher hatte es Ilse gehört, die es aber die letzten Jahre kaum benutzt hatte. Als Greta es das erste Mal inspiziert hatte, waren beide Reifen platt gewesen, der Rahmen verschmutzt, die Chromteile blind. Bruno hatte Jockel, der im letzten Jahr seine Lehre beendet und auf Gut Freudberg angefangen hatte, beauftragt, es zu reparieren. Wenige Tage darauf hatte der Junge mit stolzgeschwellter Brust vor ihr gestanden und ihr das Fahrrad präsentiert, mit prallen Reifen, sauberem Rahmen und blitzenden Chromteilen. Greta hatte mit dem Rad eine Runde auf dem Hof gedreht und ihm ein Fünf-Mark-Stück in die Hand gedrückt. Jockel hatte den Heiermann, wie er das Geldstück nannte, an seinem Arbeitsoverall blankgerieben und in die Tasche gesteckt. Damit hatte sie Jockel für sich gewonnen.

Mit Alfons hatte es dagegen Probleme gegeben. In den ersten Wochen hatte er bei jeder Anweisung, die sie ihm gegeben hatte, prüfend zu Bruno geschaut, ob er damit einverstanden sei. Greta hatte sich erst hilflos, dann unglücklich gefühlt. Bis sie sich einen Ruck gegeben und Alfons in ihr Arbeitszimmer zitiert hatte. Höflich, aber in aller Deutlichkeit hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass er genau zwei Möglichkeiten hatte: Entweder er tat, was sie sagte, oder er ging. Seitdem konnte sie sich keinen besseren Vorarbeiter vorstellen.

 

Greta schwang sich auf das Rad. Vom Haus aus führte der schmale Weg zu dem Feld, wo der Gewürztraminer stand, sanft bergab. Greta ließ sich rollen. Von Weitem sah sie den Traktor, der zwischen den Rebreihen stand, und erkannte Bruno, Alfons und Jockel. Sie waren dabei, die alten Gewürztraminerrebstöcke aus dem Boden zu holen. Übermütig und von einem Glücksgefühl überwältigt, betätigte sie die Fahrradklingel gleich mehrmals.

Brunos Hündin Jolie, die unter den Rebstöcken in der Nebenreihe ein Schläfchen gemacht hatte, schreckte auf. Schwanzwedelnd kam sie auf Greta zugelaufen, die abbremste, vom Rad stieg und es am Feldrand vor den langen Rebreihen in das frische, hellgrüne Gras legte.

Bruno warf eine Rebe auf den Hänger, wischte sich die Hände an seiner Arbeitshose ab und kam auf sie zu. Sie hatte ihm heute Morgen erzählt, dass sie einen Termin bei Professor Fritsch hatte, um Gewissheit zu haben, ob sie schwanger war. Kurz dachte sie an ihre Hochzeitsnacht zurück. Alles an Bruno hatte sich fremd angefühlt. Seine Hände waren an ihrem Körper entlanggeglitten. Es war ein sanftes Ertasten gewesen. Greta genoss seine vorsichtigen Berührungen und verbot sich jeglichen Vergleich. Sie wollte sich in Bruno in ihrer ersten gemeinsamen Nacht verlieren. Alles andere wäre ihr verlogen vorgekommen.

Als er sie jetzt fragend ansah, nickte sie lächelnd.

Und Bruno, sonst immer so ernst, lief los, nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. Greta wartete einen Moment, ob er etwas sagen würde. Doch Bruno schwieg, was sie nicht überraschte. Er brauchte immer noch Zeit, um die richtigen Worte zu finden, zumindest bei allen Themen, die nicht den Weinbau betrafen. Gefühle, Träume, Hoffnungen – es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen.

Bruno umfasste ihre Taille, hob sie hoch und drehte sich um sich selbst. »Du machst mich sehr glücklich, Greta.«

Er wirbelte sie weiter um sich herum, drehte sich mit ihr im Kreis.

Greta schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ja, wir werden Eltern.« Sie lehnte ihren Kopf zurück und verspürte eine wunderbare Leichtigkeit, genoss diesen ungewöhnlich gelösten Augenblick zwischen ihnen, wie er sie in seinen kräftigen Armen hielt, als würde er sie nie wieder loslassen wollen. Sie schlug ihm leicht auf die Schulter. »Lass mich runter, Bruno. Mir wird schon ganz schwindelig.«

Er drückte sie an sich, während er sich noch einmal um sich selbst drehte. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich werde der beste Winzer-Papa der Pfalz. Alles werde ich unserem Kind beibringen. Es wird euch nichts geschehen. Ich passe auf euch gut auf. Das verspreche ich dir.« Er küsste sie und setzte sie vorsichtig ab.

»Was wünschst du dir? Einen Jungen oder ein Mädchen?«

»Ein Mädchen so wie du, oder einen Jungen so wie ich«, lachte Bruno.

»Ich glaube, die Chancen stehen ganz gut«, gab Greta glücklich zurück.

Dieser Tag gehörte der Freude über die Nachricht, dass sie Eltern wurden. Seit Greta im Januar nach Gut Freudberg gekommen war, hatte sie geglaubt, dass sie aufgrund ihrer gemeinsamen Ziele eine gute Ehe mit Bruno führen könnte. Auch wenn sie sich gelegentlich dabei ertappte, dass sie an Robert dachte, hatte sie sich für ein Leben an Brunos Seite entschieden. Nun wuchs neues Leben in ihr. Und sie hatte einen Mann, der alles dafür tun wollte, dass es ihr und dem Baby gut ging. Was für ein wunderbares Gefühl.

Bruno schien ähnlich zu fühlen. »Danke für dieses Geschenk«, sagte er mit einem Mal und nahm ihre Hand. Er rief Jockel und Alfons zu: »Macht allein weiter und legt die Rebstöcke auf einen Haufen. Ich brauche den Traktor.«

Als er das Fahrrad auf den Hänger gelegt hatte, fasste er sie an ihrer Taille und hob sie auf den Trecker, bevor er selbst hinaufkletterte. Greta war auf den Fahrersitz gerutscht und hielt ihm die geöffnete Hand entgegen.

Bruno runzelte die Stirn. »Du willst fahren?«

»Warum denn nicht?«, blinzelte sie ihn herausfordernd an.

»Du bist schwanger!«

»Richtig. Ich bin schwanger und nicht krank. Professor Fritsch hat gesagt, ich kann alles machen, was mir guttut. Und Traktorfahren tut mir gut. Außerdem habe ich doch schon den theoretischen Teil der Fahrprüfung bestanden. Ich brauche nur noch ein paar Fahrstunden«, lachte sie seine Bedenken hinfort.

Zögerlich hielt ihr Bruno den Schlüssel hin.

Sie griff danach und startete den Motor, der rumpelnd zum Leben erwachte. Langsam fuhr sie los. Brunos wachsamen Blick spürte sie fast körperlich, als sie nach links statt nach rechts in den Feldweg abbog.

»Wo willst du hin?«, fragte er erstaunt.

»Unserem Kind die Weinberge zeigen«, sagte Greta und schaltete einen Gang hoch. »Es wird doch wissen wollen, wo es aufwachsen wird.«

 

Eine Stunde später lenkte sie den Traktor auf den Hof und hielt. Sie zog den Schlüssel ab.

»Wir werden die besten Eltern, nicht wahr?«, sagte sie zuversichtlich. Bruno nickte wortlos. Sie sah zu der Silvanerrebe, die sie im vergangenen Jahr bei der Besichtigung der Rebschule Aurora als Andenken bekommen hatte. Als sie von den Hellerts weggegangen war, hatte sie den jungen Rebstock mitgenommen und ihn noch am ersten Abend auf Gut Freudberg eingepflanzt. Jetzt schlug der Steckling aus. Nicht mehr lange, und sie würde seine frischen Triebe an dem Rankgerüst neben der Eingangstür zum Wohnhaus festbinden müssen, an dem bis jetzt nur die Klematis wuchs.

Sie drehte sich zu Bruno. »Ich ruf bei Froböss in der Rebschule an. Es bleibt doch dabei, dass wir übermorgen die Kerner-Stecklinge holen?«

Er nickte abwesend. »Im Winter sind wir zu dritt«, sagte er und strich sanft über ihren flachen Bauch.

 

Im Arbeitszimmer setzte sich Greta hinter den schweren Mahagonischreibtisch. Seit sie das Weingut verwaltete, war kein Tag vergangen, an dem sie das nicht getan hatte. Sie legte ihre schmalen Hände, an denen nur ihr Ehering schimmerte, auf die Lederunterlage. Von diesem Platz aus, mit dem Blick auf die weiten Weinberge, hatte ihr Vater sein Weingut geleitet. Nun war es an Greta. Doch obwohl sie sich dieser Aufgabe gern stellte, hatte sie auch großen Respekt davor. Manchmal sogar Angst.

Auf einmal verspürte sie wie schon mehrfach, seit sie auf dem Gut war, Wut in sich aufsteigen. Ihr Vater Fritz hatte sich zeitlebens nicht zu ihr bekannt, geschweige denn, sich um sie gekümmert. Erst in den letzten Jahren, als sie ihm hin und wieder begegnet war, hatte er bemerkt, dass sie ein Händchen für Wein hatte. Im Testament dann zu verfügen, dass sie das Weingut nur unter bestimmten Voraussetzungen erhielt, war feige und dazu auch frech. Greta fühlte sich fremdbestimmt. Schließlich hatte Fritz Freudberg sie niemals gefragt, ob sie diese gewaltige Aufgabe überhaupt übernehmen wollte. Und doch hatte sie das Angebot nicht ausgeschlagen, das Erbe nach erstem Zögern nicht abgelehnt.

Hätte ich anders gehandelt, wenn ich mehr Zeit zum Überlegen gehabt hätte?, fragte sie sich. Sie wusste es nicht, aber im Januar hatte sie es als Chance gesehen und den Sprung gewagt. Ins kalte, ins eiskalte Wasser war sie gesprungen. Sie hoffte inständig, dass sie nicht scheitern würde.

Ihr Blick fiel auf den kleinen Bücherstapel auf ihrem Schreibtisch. Die Romane, die sie sich aus der Bücherei geliehen hatte, warteten auf sie. Obwohl sie nun Geld hatte, sich eigene Bücher zu kaufen, ging sie immer noch gern in die Bücherei. Sie mochte die Vorstellung, dass schon andere Menschen das Buch vor ihr gelesen hatten. Sie seufzte. Heinrich Böll Die verlorene Ehre der Katharina Blum, Erich Fromm Haben oder Sein, Christa Wolf Der geteilte Himmel, Walter Kempowski Tadellöser und Wolff, Ephraim Kishon Kein Öl, Moses?. Für Adela hatte sie die Autobiografie von Lilli Palmer, Dicke Lilli – gutes Kind, mitgebracht. Sie wusste, dass Adela die Schauspielerin verehrte. Doch Greta fragte sich, wann sie selbst die Zeit finden würde, diese Bücher zu lesen.

Vor ihr lag die unglaubliche Herausforderung, diesen Besitz sicher in die Zukunft zu führen. Manchmal kam sie sich wie eine Kapitänin vor, die bisher nur mit einem Ruderkahn auf dem Teich herumgepaddelt war und nun ein riesiges Passagierschiff steuerte. Die Hellerts hatten zwei Hektar. Das war eine Größe, mit der sie vertraut gewesen war. Nun besaß sie sechzig Hektar, und das Land, die Reben, die Menschen, die davon lebten, verließen sich auf sie. War es naiv gewesen, zu glauben, dass sie das schaffen würde? Würde sie dem Weingut mit allem, was daran hing, gerecht werden und nicht damit untergehen? Sie hätte viel für eine Kristallkugel gegeben, die ihr einen Blick in die Zukunft gewähren würde.

Sie seufzte und drehte an dem Rolodex, um die Nummer der Rebschule Aurora herauszusuchen und Herrn Froböss anzurufen. Dabei fiel ihr Blick auf das gerahmte Hochzeitsfoto, auf dem Bruno und sie sich küssten und das Alfons gemacht hatte. Sie und Bruno … Sie lächelte.

Aber als sie das Foto daneben sah, in einem breiten Silberrahmen, runzelte sie die Stirn.

Es zeigte Fritz Freudberg und seine Ehefrau Ilse. Der hochgewachsene Winzer mit dem sandfarbenen Haar und die zierliche Ilse sahen glücklich miteinander aus. Das Foto war in New York aufgenommen worden, und beim Betrachten spürte Greta jähes Fernweh. Ihr Vater und seine Frau standen vor dem berühmten Juweliergeschäft Tiffany. Ilse hielt lachend ihre linke Hand in die Kamera. Ein Diamantring blitzte daran. Fritz Freudberg, der sie um einen Kopf überragte, hatte den Arm um sie gelegt und blickte zärtlich auf seine Frau hinab.

Greta war jedes Mal verwundert, wie ein Blick so viel Liebe ausdrücken konnte. Adela hatte ihr erzählt, dass Fritz seiner Frau jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte. Nur einen hatte er ihr nicht erfüllen können: den nach einem Kind. Aus Angst, dass ihre Ehe daran zerbrechen könnte, hatte er Ilse nie erzählt, dass er eine uneheliche Tochter hatte.

Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Du wirst immer von beiden Eltern geliebt werden, mein Kleines«, flüsterte sie. »Niemand wird dich jemals verleugnen. Das verspreche ich dir.«

Greta nahm das gerahmte Foto von Fritz und Ilse und wollte es mit dem Gesicht nach unten in die unterste Schublade des Schreibtischs legen. Doch dort lag eine Papierrolle, die den ganzen Platz einnahm. Als sie sie aufwickelte, erkannte sie eine Landkarte der Pfalz. Eingezeichnet waren auf ihr die großen Lagen, die im Weingesetz 1971 festgelegt worden waren. Sie stutzte und strich das Papier glatt. In der Winzerschule hatte sie auf ihre Fragen zur Aufteilung der Großen Lagen und Einzellagen von ihrem Lehrer Herrn Hirtz keine bekommen. Wahrscheinlich, weil er sie selbst nicht kannte. Greta war die Bedeutung, einen Weinberg in einer großen Lage oder einer Einzellage zu haben, bewusst. Die Einzellage war im Weinbau eine Möglichkeit, die Herkunft des Weins zu bestimmen und einen hervorragenden Wein zu machen. Aufmerksam studierte sie die Karte. Und stellte verblüfft fest, dass wohl der Müller-Thurgau hinter dem Haus, auf den sie jeden Morgen blickte, auf einer Einzellage stand. Wenn sie die Karte richtig interpretierte, hieß dieses Stück Flammenpfad. Der Boden war dort besonders kalkhaltig, mineralienhaltig und porös. Es kam ihr so vor, als wenn sie gerade eine Schatzkarte betrachtete. Und sie beschloss, eines Tages diesen Schatz zu heben. Sie würde Bruno davon erzählen.

Greta öffnete die Schublade, in der sie ihre persönlichen Gegenstände und Unterlagen verwahrte, und holte ein anderes Foto heraus. Es zeigte ihre Mutter Maria als junges Mädchen, zusammen mit ihrer Großmutter Magda. Gemeinsam waren die beiden nach dem Krieg aus der Nähe von Breslau in den Westen geflohen und schließlich bei den Hellerts gelandet. Es war das einzige Bild, das sie von ihrer Mutter hatte. Greta betrachtete es liebevoll und stellte es schließlich genau an die Stelle, an der das andere Foto gestanden hatte.

Sie griff gerade nach dem Telefonhörer, als Adela das Arbeitszimmer betrat. In der Hand hielt sie einen kleinen Teller, auf dem rote und grüne Paprikaschnitze lagen. »Vitamin C ist ganz wichtig während der Schwangerschaft«, bemerkte sie resolut. »Greif zu. Ich wusste nicht, ob du lieber rote oder grüne isst.«

Greta legte den Hörer zurück auf die Gabel. Sie schaute zu ihrer Großmutter, dann auf den Teller. Kurz überlegte sie, doch entschloss sie sich, ehrlich zu sein. »Das ist lieb von dir, Adela. Ich esse wirklich alles, aber ich mag weder rote noch grüne Paprika.«

Adela nahm einen Schnitz und schob ihn sich selbst in den Mund. »Na, da habe ich ja mitten ins Schwarze getroffen.« Als sie Gretas betroffenen Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie hinzu: »Wir lernen uns gerade erst kennen. Da ist es doch normal, dass wir nicht alles voneinander wissen. Wir wäre es mit einem Orangensaft? Da ist auch viel Vitamin C drin.«

Greta schluckte. »Weißt du, obwohl ich nur über die Straße in das Nachbargut gezogen bin, ist mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Von jetzt auf gleich habe ich einen Mann, bekomme ein Kind und besitze eines der größten Weingüter in der Pfalz.«

Adela zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Greta gegenüber. »Ich weiß, das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Und sicher kannst du nicht alles auf einmal lösen. Versuch es vielleicht mal mit etwas Pragmatismus. Was stört dich am meisten?« Die alte Frau schmunzelte. »Dass du einen Mann hast oder dass du ein Kind erwartest? Oder ist es die Last der Verantwortung?«

Bedrückt antwortete Greta: »Dass ich für all das verantwortlich bin, obwohl ich keine richtige Winzerin bin. Ich habe keine Ausbildung, Adela, habe weder die Lehre noch die Winzerschule abgeschlossen. Ich bin nichts.«

»Papperlapapp. Mach dich nicht kleiner, als du bist.«

»Ich habe letzte Woche mit drei Winzern gesprochen, die einen Ausbildungsbetrieb haben. Ich dachte, bei einem von ihnen könnte ich meine Lehre zu Ende machen. Ich habe ja nur noch ein halbes Jahr. Aber kaum habe ich meinen Namen genannt, kaum das Weingut Freudberg erwähnt, wollten sie mich nicht mal mehr ausreden lassen.«

Adela lachte, aber es klang ein bisschen bitter. »Wundert dich das?«

Greta nickte. »Ja, natürlich. Es ist ungerecht, dass ich meine Lehre nicht abschließen kann. Als ich von den Hellerts weg bin, war mir klar, dass ich mir einen neuen Ausbilder suchen muss.«

Adela stand auf, stützte sich auf den Schreibtisch und beugte sich leicht vor.

»Ach, Greta. Was glaubst du denn? Niemals wird dich ein anderer Winzer nehmen. Du bist jetzt die größte Konkurrentin aller Winzer in der Pfalz und noch nicht mal einundzwanzig Jahre alt. Ein halbes Jahr bei einem von ihnen und du wüsstest genau, welche Strukturen sie haben und wie sie ihren Wein machen.«

Greta wollte etwas einwerfen, aber Adela winkte ungeduldig ab. »Jetzt sag mir nicht, du würdest deinen größten Konkurrenten auf den Hof holen.« Sie zog scharf die Luft ein. »Hinzu kommt: Du bist eine Frau, Liebes. Eine Frau, die gerade in eine Männerdomäne eindringt, eine Frau, die mehr von Wein versteht als so manch gestandener Winzer. Du wirst kämpfen müssen. Und ich weiß, dass du das kannst. Das hast du schon oft in deinem kurzen Leben beweisen müssen. Es ist völlig egal, ob du einen Abschluss hast, der dir bescheinigt, dass du eine Winzerin bist. Ich sage dir: Du bist eine Winzerin, auch ohne jedes Papier. Du hast die besten Voraussetzungen, die besten Instrumente dazu. Denn du hast Wissen, Macht und Geld. Und vor allem hast du es im Blut! Mehr geht doch nicht.« Adela setzte sich wieder auf ihren Stuhl, griff nach einem Paprikaschnitz, schob ihn sich in den Mund und blickte ihre Enkelin abwartend an.

Greta hatte ihre Großmutter bislang zumeist duldsam, gütig und nachgiebig erlebt. Jetzt lernte sie eine neue Seite von Adela kennen. Langsam verzog sie ihren Mund zu einem Lächeln. »Du meinst also, ich könnte diesen Wisch, den ich in einem halben Jahr bekommen würde, wenn sich jemand dazu herablassen würde, mich auszubilden, genauso gut aufs Klo hängen?«

Adela nickte. »Ich meine, dass du deine Energie und dein erstaunliches Talent nicht an ein Stück Papier verschwenden solltest. Investiere sie in dein Weingut! Es ist groß, es braucht all deine Ideen und deine Intelligenz, damit es gut in die nächsten Jahre geführt wird. Dein Vater wusste, dass du das schaffst. Außerdem bist du mit dem besten Kellermeister in der Pfalz verheiratet. Mach etwas daraus. Das ist bei Weitem lukrativer, befriedigender und gesünder, als an die Türen mittelmäßiger Winzer zu klopfen und sie um einen Ausbildungsplatz zu bitten. Und jetzt hole ich dir deinen Orangensaft.«

Greta lehnte sich in dem Stuhl zurück. Sie war es, die jetzt die Entscheidungen traf. Und sie hatte auch schon damit begonnen. Nicht fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt. Sie sollte aufhören, an sich zu zweifeln: Sie wusste, dass sie noch viel lernen musste. Doch das war ihr Weg. Der Weg einer Winzerin!

3. Kapitel

Kirchheim an der Weinstraße, Dezember 1975

 

Greta zog sich wieder an und trat hinter dem Paravent hervor.

Frauenarzt Professor Fritsch saß bereits an seinem Schreibtisch. Er lächelte sie über seine Brille hinweg an. »Frau Bachstern, es ist alles bestens. Am Geburtstermin hat sich nichts geändert, ich denke, Ende des Monats ist es so weit, wenn sich das Kleine nicht verspätet. Bei der ersten Geburt lassen sich Babys manchmal Zeit.«

»Danke, Herr Professor. Wir freuen uns schon so«, sagte Greta. Sie griff nach ihrem Mantel und schlüpfte hinein. »Kommt denn Lutz über Weihnachten zu Ihnen? Wenn ja, grüßen Sie ihn bitte von mir.«

Professor Fritsch nickte. »Er verlässt über die Weihnachtsfeiertage ausnahmsweise seine Studentenbude in Mainz. Aber wir werden ihn sicher wieder wenig sehen. Seine Freundin nimmt ihn sehr in Beschlag. Kennen Sie sie, sie heißt Sabine Schütter?«

»Ja, wir waren damals alle drei in einer Klasse. Sabine macht eine Banklehre in Bad Dürkheim, richtig?«, fragte Greta. Sie sagte nicht, dass sie sie nicht ausstehen konnte, sie für berechnend hielt. Sabine war darauf aus, Lutz, den angehenden Arzt, schnellstmöglich an sich zu binden.

»Auf jeden Fall fahren meine Frau und ich wie immer gleich nach den Feiertagen nach Kitzbühel«, fuhr Professor Fritsch fort. »Eine Hebamme haben Sie für die Betreuung nach der Geburt? Im Kreiskrankenhaus sind Sie in der Entbindungsstation angemeldet?«

Greta nickte. »Ja, ich möchte mein Baby keinesfalls zu Hause bekommen.«

»Das verstehe ich. Glauben Sie mir, im Kreiskrankenhaus sind Sie in den allerbesten Händen.«

Der Professor stand auf. Die Art und Weise, wie er sich bewegte, wie er den Kopf hielt und sie fragend anschaute, ließ ihn auf Greta wie eine vierzig Jahre ältere Ausgabe ihres Schulfreunds wirken. Unwillkürlich musste sie schmunzeln.

Er reichte ihr die Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich bin sicher, dass es eine leichte Geburt sein wird. Sie sind jung und gesund, das Baby liegt genau richtig.«

Er klang so väterlich-liebevoll, dass Greta auf einmal einen Kloß im Hals hatte. Und sie fragte sich, ob Lutz seinem Vater erzählt hatte, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. »Danke, Herr Professor.«

 

Bruno hatte darauf bestanden, sie nach Bad Dürkheim zu fahren. Er hatte gemurmelt, dass er etwas erledigen müsse, und Greta hatte nicht weiter nachgefragt. Als sie jetzt aus dem Altbau trat, in dem Professor Fritsch seine Praxis hatte, blickte sie suchend die Straße entlang. Sie entdeckte den grünen Mercedes drei Häuser weiter. Gegen den Winterwind, der kalt durch die Straßen fuhr, schlug sie den Kragen ihres mit Fell gefütterten Mantels hoch und ging vorsichtig los. Der Bürgersteig war vereist.

Bruno saß bei geöffnetem Fenster, sog an seiner Pfeife und las in einem Weinmagazin. Als sie die Wagentür öffnete, legte er die Zeitschrift beiseite und lächelte sie an. »Alles in Ordnung?«, fragte er und klopfte seine Pfeife aus.

»Ja, alles ist gut«, antwortete Greta und rutschte auf den Beifahrersitz. Er fragte sie selten, wie es ihr ging, doch an seinen Blicken und vor allem an seinem Schweigen konnte sie ablesen, dass er sich wegen ihrer Schwangerschaft um sie sorgte. Greta hatte in den vergangenen Monaten gelernt, Brunos Schweigen zu interpretieren. Für sich unterschied sie in freundliches, abwartendes, zärtliches, wohlwollendes und abweisendes Schweigen. Manchmal irritierte sie sein schweigendes Schweigen. Dann war er ihr fremd. Doch jetzt schien ihr sein Schweigen besorgt. Sie sah ihn an und sagte: »Lass uns nach Hause fahren. Es ist so ungemütlich.«

 

Seit fast einem Jahr lebte Greta nun schon auf dem Weingut. Jetzt, im Dezember, lagen die Weinberge im Winterschlaf. Was nicht hieß, dass es nichts zu tun gab. Bruno verbrachte in den Wintermonaten viel Zeit im Weinkeller, wo er an der Qualitätsverbesserung der Weine arbeitete. Greta kümmerte sich hingegen um die Verwaltung. In den letzten Monaten war diese Aufgabe nicht leichter geworden. Tagtäglich gab es viele Überlegungen gegeneinander abzuwiegen und zahlreiche Entscheidungen zu treffen.

Und so ging Greta auch nun ins Arbeitszimmer. Als sie sich mit ihrem dicken Bauch behäbig an den Schreibtisch setzte, fiel ihr Blick auf einen Brief, den Adela wohl aus dem Briefkasten genommen und ihr hingelegt hatte. Er war nicht an das Weingut adressiert, sondern an sie persönlich. Neugierig drehte sie ihn um: Irene Heuser, Nieland 36, 2250 Husum-Hockensbüll, las sie. Ihre alte Deutschlehrerin schrieb ihr? Greta griff zum Brieföffner.

 

Husum, 13. Dezember 1975

 

Meine liebste Greta,

auf dem letzten Klassentreffen erzählte mir Lutz Fritsch, dass Du geheiratet hast, und er gab mir Deine Adresse. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du Dein Glück gefunden hast. Als ich damals erfuhr, dass Du das Gymnasium verlassen musstest, war das für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich glaubte, Deinen Schmerz bis hinauf an die Nordsee fühlen zu können.

Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich nicht noch mehr für Dich hätte kämpfen müssen. Einstehen für Deine Ausbildung, damit Du Dein Abitur machen und studieren kannst.