Gretas Versprechen - Nora Engel - E-Book

Gretas Versprechen E-Book

Nora Engel

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Heimkehr der Töchter Sommer 2019: Gretas drei Töchter sind in alle Himmelsrichtungen verstreut. Während Mel in New York glücklich verheiratet ist und Caro in Berlin als erfolgreiche Künstlerin ihren Weg geht, führt Jule ein Luxushotel in Spanien. So zumindest glauben sie es voneinander. Doch die Wahrheit ist eine andere … Als ihr Vater Bruno stirbt, kehren die Schwestern in die Pfalz zurück. Sie müssen entscheiden, was mit dem Weingut Freudberg geschehen soll. Eine fast unmögliche Aufgabe, bedeutet dies doch, mit dem geheimnisvollen Verschwinden ihrer Mutter Greta endgültig abzuschließen. Denn nur dann sind Mel, Jule und Caro bereit für einen Neubeginn.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 462

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

»Wir sehen nicht zurück, um traurig zu sein, sondern um zu verstehen. Und blicken in die Zukunft, um glücklich zu sein.«

 

Die Schwestern Mel, Caro und Jule kehren zurück in die Pfalz, weil ihr Vater Bruno gestorben ist. Auf Gut Freudberg werden viele Erinnerungen wach, die mit dem Verschwinden ihrer stets liebevollen und fürsorglichen Mutter Greta vor zwanzig Jahren verbunden sind. Seither hat jede der Schwestern versucht, diese schmerzvolle Lücke für sich zu füllen: Mel hat sich ein mondänes Leben in New York aufgebaut, Caro entfaltet ihr künstlerisches Talent in Berlin, und Jule managt erfolgreich ein Luxushotel in Spanien. Das erzählen sie sich zumindest gegenseitig, obwohl die Realität eine andere ist. Als sie entscheiden müssen, wie es mit dem Weingut weitergehen soll, wird ihnen bewusst, dass sie mit ihren Lebenslügen vor allem sich selbst täuschen. Werden Gretas Töchter auf Gut Freudberg wieder den Mut finden, ihren eigenen Lebensweg zu gehen?

Nora Engel

Gretas Versprechen

Die Winzerin

Roman

 

 

 

»Eines Abends sang die Seele

des Weines in den Flaschen.«

Charles Baudelaire

Prolog

Kirchheim,

Donnerstag, 15. August 2019, 20:30 Uhr

 

Es war ein anstrengender Tag gewesen. Dem fünfundsiebzigjährigen Bruno Bachstern war es vorgekommen, als ob die Arbeit nicht hatte enden wollen.

Jetzt beobachtete er, wie die Sonne hinter dem Weinberg unterging, wo die Einzellage ›Flammenpfad‹ lag. Ihre letzten Strahlen erleuchteten die Rebstöcke, die im Überfluss Chardonnay-Trauben trugen. Er griff nach seinem Weinglas und nahm den letzten Schluck, so wie er es jeden Abend um diese Jahreszeit tat, wenn er auf der Terrasse stand. Und jeden Abend, wie nun fast seit zwei Jahrzehnten, erinnerte er sich daran, wie oft seine Frau Greta hier gestanden hatte. Die Zeit schien seitdem stehengeblieben zu sein.

Bruno stellte sein Weinglas ab, klopfte seine Pfeife aus und rieb sich über die Augen. Er war müde des Hoffens, des Wartens und der Arbeit.

Dabei würde die Lese sicher anstrengend werden. Die Rebstöcke hingen in diesem Jahr voll. Wenn das Wetter mitspielte, würde der Chardonnay besonders gut ausfallen.

Bruno streckte sich. In letzter Zeit hatte er immer wieder so ein Ziehen in den Schultern. Greta hätte längst darauf bestanden, dass er einen Termin beim Arzt machte. Doch dafür blieb ihm jetzt, kurz vor der Weinlese, keine Zeit.

Er ging ums Haus hinüber zur Halle. Unbedingt wollte er noch die Barriquefässer auffüllen. Mit der Zeit verdunstete der Inhalt, und die Fässer mussten immer voll sein. Diese Arbeit wollte er zumindest heute Abend noch in der obersten Fassreihe erledigen.

Der Bewegungsmelder ließ die Strahler im Hof angehen. Bruno öffnete das schwere Hallentor und schaltete das Licht ein. Max und Jockel hatten den Boden bereits ordentlich abgespritzt. Hier und da standen noch kleine Pfützen auf den Steinen, die mit den Jahren uneben geworden waren.

Er durchquerte die menschenleere Halle, stieg die Stufen hinab und schaltete auch im Weinkeller das Licht an.

Die Leiter lehnte am Ende der Reihe der aufgestapelten Weinfässer, die Max in den letzten Jahren angeschafft hatte. Bruno war mit dem Vorschlag seines Kellermeisters, den Spätburgunder und versuchshalber auch den Chardonnay in Holzfässern auszubauen, einverstanden gewesen. Aber alle Entscheidungen wollte er Max nicht überlassen. Das ließ Brunos Winzerstolz nicht zu, noch war er der Herr auf Gut Freudberg, auch wenn er sich blind auf Max verlassen konnte.

Bruno schöpfte mit einem Krug Wein aus dem Auffüllfass, prüfte, ob die Leiter sicher stand, und stieg langsam die zwei Meter empor, sich nur mit einer Hand festhaltend.

Im letzten Jahr hatten sie einen Praktikanten gehabt, der unter Höhenangst gelitten hatte. So zumindest entschuldigte sich der junge Mann, dass er nicht auf die Leiter steigen und auffüllen konnte. Daraufhin hatte Bruno ihn in die Stahltanks kriechen lassen, durch den kleinen Einstieg, wobei man seine gymnastischen Fähigkeiten unter Beweis stellen musste, um die großen Weinbehälter auszuspritzen. Danach war die Höhenangst des Praktikanten verflogen. Max hatte laut aufgelacht, als er das gesehen und Bruno ihm zugezwinkert hatte.

Bruno entfernte den Gärspund des ersten Fasses und legte ihn neben die Öffnung. Er hob den schweren Krug und fing an, langsam den Wein hineinzugießen. Das Aroma des Rotweins stieg auf. Bruno lauschte auf das leise Gluckern im Fass und goss weiter. Aber plötzlich überkam ihn eine nie gekannte Schwäche: Der Krug in seiner Hand wurde unerträglich schwer. Hastig wollte er ihn auf dem Fass abstellen, aber das halb volle Gefäß glitt ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Steinboden. Ein Schmerz durchfuhr Brunos Brust, und er taumelte. Er versuchte, sich auf der Leiter zu halten, aber trat mit einem Fuß ins Leere. Mit beiden Händen griff er an die Metallkante des Fasses, doch sie schnitt ihm ins Fleisch. Wenn ich loslasse, stürze ich, dachte er. Da fiel er auch schon.

Es tut nicht weh, lächelte er verwundert, als er auf dem Steinboden aufschlug und alles um ihn herum in Dunkelheit versank.

Erster Teil

1. Kapitel

New York,

Donnerstag, 15. August 2019, 17 Uhr

 

Melanie Montgomery verfluchte ihre neuen High Heels, als sie die Central Park West bis zur 72. Straße entlanglief. Nach dem Treffen mit ihrer Assistentin Franny, bei dem sie ihre Rede für die heutige Galaveranstaltung bis ins letzte Detail noch einmal durchgegangen waren, hatte sie die Hemden ihres Mannes aus der chinesischen Reinigung am Broadway abgeholt.

Tom, der Doorman, stand in seiner dunkelblauen Livree mit den goldenen Epauletten auf den Schultern wie ein General an der Tür. Als sie näher kam, öffnete er die doppelflügelige Glastür an einem der schweren, auf Hochglanz geputzten Messinggriffe für sie.

Mel spürte unter ihren dünnen Schuhsohlen den dicken Flor des dunkelroten Teppichs, der zum Eingang des Apartmenthauses in der Upper West Side führte. Der helle Baldachin, der auf den letzten Metern des Bürgersteigs endete, sorgte auch dafür, dass kein Bewohner des traditionsreichen Gebäudes im Regen stehen musste.

Sie hielt kurz inne und sah hinüber zum Central Park. Die neununddreißigjährige Mel lebte in dieser faszinierenden Stadt. Aber auch, wenn sie inzwischen seit zwanzig Jahren hier wohnte, hatte sie nicht vergessen, dass New York nicht ihre Geburtsstadt war. Besonders um diese Tageszeit, wenn die Sonne tiefer stand und die letzten Strahlen durch die Baumwipfel der mächtigen Bäume aufblitzten, erinnerte sie dieses Licht an ihr ehemaliges Zuhause. Das eigenwillige Leuchten kannte sie von Gut Freudberg in der Pfalz, wo die Sonnenstrahlen über die Weinberge glitten, als wollten sie die Reben streicheln.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Mrs. Montgomery«, sagte Tom mit einem Lächeln. Seine weißen Zähne leuchteten hell in dem tiefgebräunten Gesicht. Der Doorman kam aus Puerto Rico und wohnte mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Queens. Mehrmals hatte er sich als Doorman beworben und war überglücklich gewesen, als er endlich die Stelle hier bekommen hatte. Denn für ihn war dieser Beruf mehr, als nur den Bewohnern die Tür aufzuhalten oder ein Taxi heranzuwinken. Er sah sich berufen, über sie zu wachen und sie zu schützen, und fühlte sich für ihr Wohlergehen verantwortlich. Er wollte ein Bindeglied zwischen dem rauen Außen und dem behüteten Innen sein. Das alles hatte Tom ihr vor acht Jahren an seinem ersten Arbeitstag erzählt, als Mel ihm nachmittags einen Kaffee hinuntergebracht hatte. Sie hatte ihn kennenlernen wollen, den Mann, dem sie nun täglich begegnen würde.

Ihr Mann Gavin hatte über das Kaffeepläuschchen gelächelt, als sie ihm davon erzählt und erklärt hatte, dass sie, so wie ihre Mutter Greta früher, auch mehr über die Menschen wissen wollte als nur ihren Namen.

»Danke, Tom.« Mel nickte ihm freundlich zu. Sie durchquerte das Foyer des Art-déco-Gebäudes, das mit schwarz-weißen Fliesen ausgelegt war. Vor einem mannshohen Kamin, der wohl noch nie befeuert worden war, stand eine Vase mit feuerroten Gladiolen. Einer der beiden Fahrstühle wartete bereits im Erdgeschoss, was zweifelsohne auf Toms Service zurückzuführen war.

Mel betrat die verspiegelte Kabine und gab einen Zahlencode ein, damit der Lift direkt in ihr Penthouse in den 31. Stock fuhr. Die moderne digitale Vorrichtung passte nicht zu den altmodischen nummerierten Messingknöpfen.

Während sich die Fahrstuhltüren leise schlossen, warf Mel einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihre Kurzhaarfrisur saß perfekt. Heute Vormittag war ihre Friseurin Gwen gekommen und hatte Mel nur ein bisschen den schräg fallenden blonden Pony ihres locker sitzenden Bobs gestutzt. Wie immer hatte Gwen dabei ohne Unterlass von ihrer Mutter erzählt, die in der Bronx lebte, ihrem Bruder, der Schaffner bei der Hudson Line war, und von ihrem neuesten Verehrer. Mel hörte ihr gern zu. Nicht nur, dass sie sehr unterhaltsam und selbstironisch über sich und ihre Familie herzog – Gwen war genau wie Tom Mels Verbindung zu der Welt der normalen New Yorker, zu der sie selbst nie einen Zugang gehabt hatte. Ihre Jugend in Deutschland war mit ihrem Leben hier in der Metropole nicht zu vergleichen. Das vierhundert Quadratmeter große Penthouse erschien ihr manchmal wie aus einem Hollywoodfilm.

Lautlos öffnete sich die Tür des Fahrstuhls. Ella Fitzgerald und Louis Armstrong sangen gerade »Cheek to Cheek«. Das bedeutete, dass Gavin zu Hause und gut gelaunt war, wie Mel aus Erfahrung wusste. Während ihrer ersten Ehejahre hatte Gavin oft nachts, wenn er Fallakten las, Jazz gehört. Wenn sie davon erwacht und zu ihm gegangen war, hatte er sie sofort in die Arme genommen, zurück ins Schlafzimmer gebracht und sie geliebt. Damals, in jenen Nächten, hatte sie noch an die große Liebe geglaubt, die ein Leben lang hielt.

Mel legte ihre Handtasche und die Hemden auf den Designersessel, den Gavin vor Jahren auf einer Auktion ersteigert hatte.

Der japanische Designer Tokujin Yoshioka hatte den Sessel aus Papier hergestellt und dem Honigwabenprinzip der Bienen nachempfunden. Wie eine Kinderlaterne ließ er sich entfalten. Gavin hatte ihre damals sechsjährige Tochter Hailey aufgefordert, sich auf den »Honey-Pop Chair« zu setzen. Die Kleine hatte aufgeregt gequiekt und war froh gewesen, dass die Papierkonstruktion sie gehalten hatte. Gavin hatte den Sessel in den Eingangsbereich gestellt.

Mel war es bis heute ein Rätsel, dass Gavin immer wieder so viel Geld für diese ›Objekte‹, wie sie seine diversen Errungenschaften bei sich nannte, ausgab, von dem eine vierköpfige Familie vier Wochen hätte leben können. Doch Gavin arbeitete hart für sein Geld, und Mel wäre nicht auf die Idee gekommen, ihm vorzuschreiben, wofür er es ausgab, zumal sie jedes Mal seine Augen leuchten sah, wenn er ein neues Kunstwerk erstand. Der Papiersessel war zumindest praktisch, um seine Hemden darauf abzulegen.

Gavin stand vor den bodentiefen Fenstern im Wohnzimmer und wandte Mel den Rücken zu. In der Hand hielt er ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Mel musterte sein kastanienbraunes Haar, das inzwischen von grauen Strähnen durchzogen, aber immer noch voll war. Er war barfuß, trug eine weiße Jeans und ein dunkelblaues Sweatshirt und wirkte, als sei er soeben aus dem Jachtclub gekommen. Seit Gavin vor zwei Jahren sechzig geworden war, ging er öfter segeln.

»Hi, Sweety. Der Wagen kommt in vierzig Minuten«, sagte er und drehte sich zu ihr um. Drei Tage war Gavin in Philadelphia bei einem potenziellen neuen Klienten für seine Anwaltskanzlei gewesen. Ein ganz großer Fisch in der Politik, wie er erzählt hatte.

Mel und Gavin Montgomery galten in der New Yorker Society als das Vorzeigeehepaar. Seit fast zwanzig Jahren waren sie verheiratet, Skandale hatte es nie gegeben. Gavins Kanzlei, die er als junger Anwalt aus dem Nichts aufgebaut hatte, galt heute als ›die‹ Adresse unter denjenigen, die um ihr Recht kämpften. Oder um das, was sie dafür hielten. Seine Mandanten kamen überwiegend aus Wirtschaft und Politik. Gavin wählte sie kalkuliert und vorausschauend aus, wobei natürlich Geld die größte Rolle spielte. War ein Fall nicht lukrativ, lehnte Gavin ab. Mit dieser Strategie hatte er sein Vermögen in den letzten Jahren deutlich vermehrt, was ihnen einen hohen Lebensstandard ermöglichte. Inzwischen beschäftigte Gavin vierzig Anwälte unterschiedlicher Fachrichtungen und diverse Assistenten. Und Assistentinnen. Gavin bestand darauf, die Vorstellungsgespräche persönlich zu führen. Am Anfang ihrer Ehe hatte Mel ihn damit aufgezogen, denn Gavin suchte immer sehr gut aussehende junge Damen aus, statt sich von ihren Zeugnissen leiten zu lassen. Damals hatte Gavin laut aufgelacht. Auch Blondinen müssten schließlich eine Chance bekommen, hatte er geantwortet, und Mel sei schließlich auch blond.

Als Gavin und sie damals zusammenkamen, war er noch in zweiter Ehe verheiratet gewesen. Mel hatte sich wochenlang gegen ihre Gefühle gewehrt. Sie war nach dem Abitur nach New York als Au-pair zu den Montgomerys gegangen. Und Gavin hatte ihr sofort zu verstehen gegeben, dass er an ihr, die dreiundzwanzig Jahre jünger war als er, interessiert war. Er hatte sie so bezaubernd umworben, ihr New York quasi zu Füßen gelegt, dass Mel seinem Charme nicht lange hatte widerstehen können und sie ein Paar wurden. Als sie ihre Gewissensbisse ausgesprochen hatte, hatte Gavin ihre Bedenken weggewischt und ihr versichert, dass seine Frau und ihre beiden Söhne, die sie mit in die Ehe gebracht hatte, nicht leer ausgehen würden. Doch die Scheidung hatte sich hingezogen, und Mel und Gavin hatten erst nach Haileys Geburt geheiratet.

Sie ging zu ihm und küsste ihn auf die Wange. »Guten Abend, Liebster. Warst du erfolgreich?«

Gavin nickte und nippte an seinem Single Malt Whisky. Er musterte sie kurz. »Du bleibst so?«, fragte er und betrachtete mit kritischem Blick das pastellfarbene Leinenkostüm, das sie trug.

»Ich wollte heute Abend das Rote von Vera Wang tragen.«

Gavin zog eine Augenbraue hoch: »Meinst du nicht, dass das Kleid von Christian Siriano passender ist für deine Benefizveranstaltung?«

Vor zwölf Jahren, nachdem ihre Tochter Hailey in die Schule gekommen war, hatte Mel die Foundation YCR – You Can Read gegründet, für die Leseförderung benachteiligter Kinder. In den ersten Jahren war es schwer gewesen, sich unter den vielen gemeinnützigen Vereinen hervorzutun. Doch Mel hatte nicht aufgegeben, das Konzept der Spendensammlung immer weiterentwickelt. Seit einigen Jahren riss man sich in der New Yorker High Society um die Eintrittskarten zu ihren Veranstaltungen – und die Spendengelder stiegen stetig.

»Dein Lieblings-Smokinghemd liegt auf dem Honey-Pop. Ich mache mich rasch fertig«, sagte sie, ohne auf seinen Einwand einzugehen.

»Warte«, sagte Gavin, als sie sich zum Gehen abwandte. Er griff in seine Hosentasche, zog ein kleines Schmucketui heraus und reichte es ihr. »Ich hoffe, sie gefallen dir, Sweety.«

Mel öffnete es. Ein Paar Ohrringe des Juweliers Milner aus der eleganten Sansom Street in Philadelphia lag darin. Grüne Smaragde in einem kleinen Kranz Brillanten funkelten ihr entgegen. Sie sahen so unverschämt teuer aus, dass Mel eine dunkle Ahnung beschlich: Schmuckgeschenke bedeuteten nicht immer etwas Gutes.

»Danke, Gavin«, sagte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich werde sie gleich heute Abend anlegen.« Sie ging in das Ankleidezimmer.

Schnell schlüpfte sie aus ihrem Leinenkostüm und griff nach dem Bademantel, als auf der Kommode Gavins Handy vibrierte. Er hatte es da wohl abgelegt, als er in seinen Freizeitdress geschlüpft war. Reflexartig warf Mel einen Blick drauf:

»Danke für Philadelphia. Freue mich schon sehr auf nächste Woche in Boston. Patricia .«

 

Gavin blickte von der Couch auf, als Mel ihm sein Handy vors Gesicht hielt. »Nächste Woche in Boston?«

Gavin zog die Augenbrauen hoch. »Was meinst du?«

»Ich rede von deiner amtierenden Bettgefährtin Patricia, die du letztes Jahr als deine persönliche Assistentin eingestellt hast. Irre ich mich, oder ist sie ungefähr so alt, wie ich es war, als wir uns kennenlernten?«

Als Gavin nicht nach dem Handy griff, ließ sie es direkt vor ihm achtlos auf den gefliesten Boden fallen. Ein Knirschen ertönte, und ein zartes Netz von Sprüngen breitete sich auf dem Display aus.

Gelassen hob Gavin es auf. »Ach, Mel.«

»Du brauchst nicht nur ein neues Handy. Wenn du so weitermachst, brauchst du auch eine neue Ehefrau!« Sie holte tief Luft. »Vor vier Jahren hast du mich schon mal betrogen. Glaubst du etwa, ich habe das nicht mitbekommen?«

Gavin sah sie betroffen an. »Wie hast du das …?«

»Ich war es nicht, mit der du im Waldorf Astoria im Doppelzimmer übernachtet hast! Inklusive Champagner vom Zimmerservice! Ich weiß nicht, was dümmer ist: sich dafür eine Quittung ausstellen zu lassen oder sie in der Anzugtasche aufzubewahren. Ich habe sie gefunden, als ich deinen Anzug in die Reinigung gebracht habe.« Mel holte tief Luft. »Ich habe damals nichts gesagt. Kurz darauf warst du wieder so aufmerksam und liebevoll wie die Jahre zuvor. Wahrscheinlich war die Affäre da beendet? Ich habe darüber hinweggesehen und versucht, meinen Schmerz zu überwinden. Ich wollte unsere Ehe nicht so schnell aufgeben, allein schon wegen Hailey.«

»Mel, ich …«, setzte Gavin an.

»Und dann hast du mir vor einem halben Jahr von einer Geschäftsreise die kleine Halskette mitgebracht. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Doch bei der zweiten, dritten und vierten wurde ich stutzig. Du warst so unaufmerksam, hattest keine Lust mehr, mit mir zu schlafen. Lass mich überlegen – wann hatten wir das letzte Mal Sex?« Sie runzelte gespielt die Stirn. »Richtig, vor sechs Monaten. Komischer Zufall, oder? Und es gab immer mal wieder Phasen in unserer Ehe, wo du mich nicht angefasst hast. Da ist doch die Frage erlaubt, wie viele Affären du wohl hattest? Meine Charity-Freundinnen sagen: ›Männer beruhigen mit Schmuckgeschenken ihr schlechtes Gewissen.‹ Wahrscheinlich haben sie recht. Ich kann und werde nicht mehr stillschweigend darüber hinwegsehen.«

»Bitte, Sweety. Es ist nicht so …«

Mel, die schon an der Tür stand, wirbelte herum. »Doch, Gavin, es ist genau so, wonach es aussieht«, vollendete sie seinen Satz. »Hör auf, es zu leugnen. Du bist ein Ehebrecher!«

Reumütig sah er sie an. »Mel, bitte, verzeih mir. Ich liebe dich.« Er stand auf und kam auf sie zu.

Mel hielt inne, erstaunt und empört darüber, wie strategisch er diesen Satz nutzte. »Du liebst nicht mich, du liebst dich selbst«, sagte sie.

Er griff nach ihrer Hand. »Bitte, lass uns morgen in Ruhe über alles reden. Das ist doch dein Abend, deine Gala. Und wir wollen doch beide keinen Skandal. Denk an Hailey, an ihre Zukunft.«

Gavin sah zerknirscht aus. Tut es ihm wirklich leid? Sie konnte seinen Blick nicht deuten. Sie wusste nur, wie verletzt und durcheinander sie war. Vielleicht hatte er recht, und sie sollten morgen in Ruhe reden. Ohne etwas zu sagen, verließ sie den Livingroom.

 

Wie auf Autopilot machte Mel sich für die Gala zurecht. Sie schlüpfte in ihr neues schwarzes Abendkleid von Escada. Schwarz war die Farbe, die sie für angemessen hielt. Sie zog sich die Lippen nach und blieb regungslos vor dem Spiegel stehen. Der leuchtend rote Lippenstift wollte nicht zu ihrem Gemütszustand passen. Denn nicht nur beim Anblick des schwarzen Kleides überkam sie eine Traurigkeit, die sie in letzter Zeit immer öfter verspürte, wenn sie über ihre Ehe nachdachte. Aber es waren nicht nur diese Gedanken, denn wenn sie ihr Leben betrachtete, nahm ihre Vergangenheit einen großen Platz darin ein. Die Erinnerungen setzten ihr zu.

Jetzt weckte der Name Escada verdrängte Gefühle für die Heimat. Ihr Nennonkel Matse hatte in den 80er-Jahren für das deutsche Modelabel in München gearbeitet. Viel zu früh war er an AIDS verstorben. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter Greta ihn in den Armen gehalten und getröstet hatte, bis er eines Morgens auf Gut Freudberg für immer die Augen geschlossen hatte. Und doch hatte Mel aus dieser traurigen Erfahrung auch etwas sehr Wertvolles mitgenommen: Ihre Mutter war für die Menschen da, die sie liebte. Auf Greta würde sie sich immer verlassen können.

Weshalb ihre Welt zerbrach, als Greta im Februar 2000 die Pfalz verließ. Ohne ein Wort der Erklärung und ohne ein Wort des Abschieds war sie von einer Reise nicht mehr zurückgekehrt. Mels jüngere Schwestern Caro und Jule hatten sie und ihren Bruder Leo, der auf einem Weingut nördlich von New York in Poughkeepsie gearbeitet hatte, über den AOL-Chat kontaktiert. Täglich hatten sie miteinander debattiert, Vermutungen angestellt und sich ausgetauscht, was sie machen könnten. War ihrer Mutter etwas zugestoßen? Und schließlich hatte Leo eine Mail geschrieben, sie Jule geschickt, die sie ausgedruckt und Bruno gegeben hatte. Das hatte ihren Vater endlich dazu bewogen, mit ihnen allen gemeinsam zu sprechen: mit Mel in New York, Leo in Poughkeepsie, Caro in Berlin und Jule in der Pfalz.

In diesem Telefonat hatte Jule ihren Vater vor den Geschwistern mit dem Satz konfrontiert, den er zu ihr, als sie noch auf Gut Freudberg gelebt hatte, nach Gretas Verschwinden gesagt hatte: »Ich habe sie weggeschickt. Sie hat mich beim Wort genommen und ist gegangen.« Dafür hatten die Geschwister eine Erklärung gefordert.

Doch Bruno hatte sich ihnen nicht erklärt, hatte nur gesagt, dass Greta nicht nur ihn verlassen hatte, sondern auch ihre Kinder. Das war der einzige und letzte Satz, den sie von ihrem Vater zu Gretas Fortgang gehört hatten. Mel, die damals vier Wochen zuvor Mutter der kleinen Hailey geworden war, war in ein tiefes Loch gefallen. Noch heute konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter sie verlassen hatte. Denn Greta war es gewesen, die alles für ihre Kinder getan hatte. Sie hatte sie auf ihrem Lebensweg immer unterstützt, war an ihrer Seite gewesen, egal, was sie angestellt hatten.

Mel hatte versucht, ihren Schmerz zu verdrängen. Sie hatte sich ganz darauf konzentriert, Hailey eine liebevolle Mutter und Gavin eine gute Ehefrau zu sein und die gesellschaftlichen Verpflichtungen wahrzunehmen, die das mit sich brachte. Sie hatte eine Mauer errichtet: zwischen der Zeit mit ihrer Mutter in Deutschland und der Zeit ohne ihre Mutter in den USA.

Die Erinnerungen an ihr Leben in Deutschland schoben sich in letzter Zeit immer häufiger in den Vordergrund. Seit sie in New York lebte, war sie nicht ein einziges Mal in der Pfalz gewesen. Ihre Leidenschaft fürs Weingut hatte ihr Vater nie akzeptiert. Bruno hatte ihr, im Gegensatz zu ihrem Bruder Leo, nichts zugetraut. Und sie hatte unter dieser Ungerechtigkeit gelitten. Es war ihre Mutter Greta gewesen, die sie in ihrem Wunsch bestärkt hatte, Winzerin zu werden und zusammen mit Leo eines Tages das Weingut zu führen. Greta hatte dafür gekämpft, dass sich ihre Kinder ihre Lebensträume erfüllen konnten. Es war unvorstellbar, dass sie ihre vier Kinder von heute auf morgen im Stich gelassen hatte.

Gavin rief, dass die Limousine unten vorgefahren sei. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass er ihre schlimmsten Befürchtungen soeben bestätigt hatte. Wollte sie diese Ehe weiterleben, sie retten?

 

Mel und Gavin traten auf die Straße. Doorman Tom öffnete schwungvoll die hintere Tür der Limousine. Mel setzte sich in den Wagen, während Gavin auf der anderen Seite Platz nahm. Als ihr Handy klingelte, warf er ihr einen Blick zu und schlug einen unbefangenen Ton an: »Bitte keine stundenlangen Gespräche mit Hailey. Du wolltest doch noch mal mit mir die Gästeliste durchgehen. Wobei die Frau vom Gouverneur ja dein Part ist. Sie soll genauso yogaverrückt wie du sein.«

Aha, er geht also bereits zur Tagesordnung über, stellte Mel fest.

Nicht einen Moment zweifelte sie daran, dass er ihre gemeinsame Tochter liebte, doch schien er auf die Telefonate von Mel und Hailey eifersüchtig zu sein. Er forderte viel von dem Mädchen, aber ermöglichte ihr auch viel. Hailey ging auf die Stanford Law School in Kalifornien, sollte später in seine Kanzlei einsteigen. Mel war sich nicht sicher, ob Hailey nur zugestimmt hatte, weil sie Gavin nicht enttäuschen wollte. Manchmal sah sie ihren Dad durch die rosarote Brille, denn bislang hatte sich Hailey nicht mit juristischen Themen beschäftigt. Mel erinnerte sich gut daran, wie begeistert Hailey vor ein paar Jahren in ihrem Zimmer Pflanzen gezogen hatte, bis es darin wie in einem Dschungel ausgesehen hatte. Bei so viel Leidenschaft für alles, was wuchs, hätte Mel wetten können, dass Hailey auch beruflich in diese Richtung gehen würde.

Mel zog ihr Handy aus der mit Strass besetzten kleinen Clutch und sah aufs Display. Es war nicht Hailey. Zudem hatte sie heute bereits zweimal mit ihrer Tochter gesprochen. Eine Nummer mit deutscher Vorwahl wurde angezeigt. Sie nahm das Gespräch entgegen. »Hallo?«

»Guten Abend. Spreche ich mit Mel Montgomery?«, erklang eine männliche Stimme.

»Ja. Wer ist da, bitte?« Sie sprach Deutsch, was sie selten tat, seit Hailey nicht mehr da war.

Der Anrufer räusperte sich. »Hier spricht Max Lacrosse. Ich bin der Kellermeister auf Gut Freudberg. Leider habe ich eine traurige Nachricht.«

Unwillkürlich krallte Mel die Finger der freien Hand in den weichen Ledersitz. »Und da rufen Sie ausgerechnet mich in New York an?«

»Ihr Name steht als erster auf Brunos Telefonliste. Sie sind die Älteste.« Mein Name und nicht Leos, dachte Mel. Da war er wieder: der Schmerz um ihren großen Bruder.

»Was ist passiert?« Sie konnte den Sätzen kaum folgen. Dieser Max Lacrosse sprach sehr schnell, die Verbindung war nicht gut. Hörte nur einzelne Worte wie »Unfall«, »Notarzt« und »tot«. Schließlich schwieg er, und sie hörte sich sagen: »Das mache ich.«

Als sie den Anruf beendete, sah Gavin sie fragend von der Seite an. »Schlechte Neuigkeiten aus Deutschland?«

»Mein Vater ist gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte er. Es klang wenig mitfühlend, eher wie eine Feststellung.

Mel wurde schlagartig bewusst, dass Gavin der letzte Mensch auf Erden war, den sie jetzt an ihrer Seite wissen wollte. Sein Verrat, den sie eben erst entdeckt hatte, gepaart mit dieser unsensibel formulierten Bemerkung, stieß sie ab.

Den Rest der kurzen Fahrt schwiegen sie. Schließlich hielt die Limousine vor der New York Public Library. Das neoklassizistische Gebäude mit den griechischen Säulen, in dem über fünfundfünfzig Millionen Medien den Nutzern zur Verfügung standen, lag an der Fifth Avenue, Ecke 42nd Street.

Sofort wurde von einem Valet die Tür geöffnet. Mel beachtete den Mann in der Livree nicht, sondern hielt Gavin am Arm fest, der schon aussteigen wollte. »Wo andere Menschen ein Herz haben, hast du einen Stein, Gavin Montgomery. Du bist ein emotionales Monster.«

Gavins Gesicht verzog sich. Er beugte sich zu ihr. »Mir war nicht bewusst, wie sehr du deinen Vater liebst und wie sehr dich sein Tod schmerzt, wo du ihn doch die letzten zwanzig Jahre nicht besucht hast, Sweety. Ich schlage vor, du konzentrierst dich heute Abend nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart. Von deiner Rede hängt doch für die Foundation eine Menge ab, nicht wahr? Wir gehen da gleich hinein, strahlend, lächelnd, und werden im großen Lesesaal vorzüglich speisen. Und wenn wir diesen Abend hinter uns gebracht haben, reden wir über unsere Zukunft.«

Mel stieg zögernd aus. Fotografen hatten Aufstellung genommen, um sie beide auf dem roten Teppich zu fotografieren. Franny erwartete sie bereits am Fuß der Treppe.

»Ready?«, fragte sie leise, als Mel zu ihr trat.

Mel nickte.

Als sie mit Franny an Gavins Seite die Treppe zwischen den beiden Löwen Patience und Fortitude emporstieg, blieb Mel abrupt stehen und beugte sich zu Franny. »Du musst das heute Abend ohne mich machen.«

Franny blickte sie irritiert an.

»Du wirst die Rede halten, ich muss weg. Ich schreibe dir alles Weitere.«

Auch Gavin war stehen geblieben. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, um ihn vor der Öffentlichkeit nicht zu brüskieren, flüsterte ihm aber noch ein »Ehebrecher« ins Ohr und machte auf dem Absatz kehrt. Zum Erstaunen aller lief sie leichtfüßig die Treppe wieder herunter.

 

Ein gelbes Cab nach dem nächsten fuhr an Mel vorbei. Kurz überlegte sie, ob sie eins anhalten sollte. Doch sie brauchte Sauerstoff. Viel Sauerstoff. Und sie wollte allein sein, nicht einmal einen Taxifahrer würde sie ertragen.

Sie lief die Fifth Avenue hinauf, direkt auf den Central Park zu. Als sie am Pulitzer Fountain ankam, tauchte sie ihre Hand in das kühle Wasser. Erst jetzt spürte sie, wie sehr ihre Füße schmerzten. Kurz entschlossen zog sie ihre hohen Abendsandaletten aus, ließ den Brunnen und das Plaza Hotel hinter sich, überquerte die 59th Street, lief an den auf Touristen wartenden Kutschern mit ihren Pferdedroschken vorbei und betrat den Central Park.

Er war entworfen worden, um es mit den Parks in Europa aufzunehmen. Vielleicht fühlte sie sich deshalb hier so wohl. Die Gestalter hatten versucht, den amerikanischen Grundgedanken der Demokratie in Bäumen und Pflanzen wiederzugeben.

Selbst jetzt, am frühen Abend, war dieser Ort belebt und verströmte Geborgenheit für Mel. Hier, in diesem Herzstück von Manhattan, regierte die Natur. Und was gab es Friedlicheres als diese?

Sie trat neben den kleinen Kiesweg, fühlte das trockene Gras unter ihren nackten Füßen. Die Straßengeräusche drangen gedämpft an ihr Ohr, und sie spürte, wie sie sich allmählich beruhigte.

Vorbei an Shakespeares Bronzeskulptur lief sie The Mall entlang, wo in regelmäßigen Abständen Skulpturen bekannter Schriftsteller standen. Als sie die Monumental Women, die drei amerikanischen Frauenrechtlerinnen, passiert hatte, bog sie nach links ab. Zügig durchquerte sie den Park, um schließlich erschöpft auf einer Bank beim John-Lennon-Memorial Strawberry Fields Platz zu nehmen.

Gavin! Alles um sie herum brach weg. Den Mann, in den sie sich vor zwanzig Jahren verliebt hatte, gab es nicht mehr. Oder hatte es ihn überhaupt je gegeben? Sie war so fasziniert von dieser urbanen Welt gewesen, als sie nach New York gekommen war. Und Gavin hatte sich darin so selbstsicher und souverän bewegt. Das hatte ihr als junge Frau imponiert. Jung, naiv und beeinflussbar war sie gewesen. Sie hatte das damals nicht weiter hinterfragt, war viel zu schnell schwanger geworden und hatte auch zu schnell geheiratet. Doch Gavin hatte ihr den Halt gegeben, den sie nach Gretas Verschwinden verloren hatte. Am Anfang ihrer Ehe hatten sie über weitere Kinder gesprochen, doch Mel hatte sich dagegen entschieden. Ihr Schicksal hatte ihr mit Leos Verlust und Gretas Verschwinden schon übel genug mitgespielt, hatte sie argumentiert. Sie hatte es nicht noch einmal herausfordern wollen, sondern war dankbar gewesen, dass Hailey gesund war. Stattdessen hatte sie ihre Foundation gegründet und sich um benachteiligte Kinder gekümmert. Gavin hatte ihre Entscheidung respektiert.

Gedankenverloren las sie »Imagine«, John Lennons Songtitel. In kleinen dunklen Steinen war das Wort in der Mitte des hellen Mosaiks eingelassen und beschwor eine bessere Welt. »Stell dir vor« – ja, wie sollte sie sich ihr weiteres Leben vorstellen? Sie würde erst einmal nach Deutschland fliegen, in die Pfalz. Sie würde im Weinberg stehen, mit ihren Fingern über die Blätter streifen, die Trauben kosten und den Geruch der Erde tief einatmen. Entscheidungen mussten getroffen werden. Sie musste ihre beiden Schwestern informieren. Oder hatte dieser Max Lacrosse das auch getan? Am Ende ihres kurzen Gesprächs, an das sie sich kaum erinnerte, hatte er sie noch gefragt, ob er ihnen Bescheid geben sollte. Was sie verneint hatte.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche. Seit Jahren skypte sie mit ihren Schwestern zu ihren Geburts- oder an Feiertagen. Das letzte Mal hatten sie sich vor gut drei Wochen zu Caros siebenunddreißigstem Geburtstag gesprochen. Trotz oder gerade wegen der Entfernungen zwischen ihnen hielten sie Kontakt.

Jetzt drückte Mel auf den WhatsApp-Chat »Sister Act« und schrieb:

»Ruft mich an! Dringend! Mel.«

2. Kapitel

Frankfurt am Main und Dénia/Spanien,

Samstag, 17. August 2019, 10 Uhr

 

Mel stand am Gepäckband, das sich noch nicht in Bewegung gesetzt hatte. Sie sah zu einem jungen Paar. Fürsorglich legte der Mann der Frau einen Pullover über die Schultern. Fliegen macht müde, und wenn man Schlafmangel hat, friert man, dachte Mel. Sie war wie gerädert, denn obwohl sie in der Businessklasse geflogen war, hatte sie kein Auge zugetan. So wie auch schon in der Nacht zuvor. Der Streit mit Gavin, als er nach der Gala nach Hause gekommen war, hatte sie mitgenommen. Ihr Mann hatte sie mit Vorwürfen überhäuft, dass sie ihn auf ›ihrer‹ Gala allein gelassen hatte. Er hätte die Stellung halten müssen, um ihrem gesellschaftlichen Ansehen nicht zu schaden. Mel hatte gar nicht erst versucht, sich zu rechtfertigen, hatte ihn darüber informiert, dass sie Franny sämtliche Vollmachten gemailt hatte, die diese befähigten, die Foundation während Mels Abwesenheit zu führen. Nicht vorwurfsvoll, eher nüchtern hatte sie ihn erneut auf sein Fremdgehen angesprochen. Gavin hatte dazu geschwiegen. Zum ersten Mal hatte sie sich eingestehen können, was sie schon länger spürte: Ihre Liebe zu Gavin war vorbei, sie hatte das Vertrauen in ihre Ehe verloren.

Das Gepäckband setzte sich in Bewegung. Sie sah es als ein Zeichen, dass ihr Koffer der erste war. Sie nahm den silberfarbenen Rimowa vom Band und ging, ihn neben sich herschiebend, zum Ausgang. Ob ihre Schwestern schon auf Gut Freudberg waren? Sie wählte Jules Nummer in Spanien. Ihre Schwester nahm nach dem zweiten Klingeln ab.

»Hi, Jule, ich bin’s. Bin gelandet. Bist du schon da?«

»Was glaubst du denn? Ich bin noch gar nicht losgekommen.«

»Was?!«, entfuhr es Mel. Ich hätte es ahnen können, mahnte sie sich. Jule war selten pünktlich. Auch zu ihren Skype-Terminen schaltete sie sich grundsätzlich fünfzehn Minuten später zu. »Und wann landest du?«

»Es ist nicht so einfach. Ich muss ja noch das Personal einteilen und einweisen, wenn ich ein paar Tage weg bin. Wir sind ausgebucht!«

»Dein Luxushotel am Meer wird doch nicht gleich bankrottgehen, nur weil du mal nicht da bist. Hast du wenigstens schon einen Flug gebucht?«

»Die Koffer sind gepackt. Und ich fliege nicht«, hörte sie Jule sagen. »Ich fahre noch heute los.«

»Du willst zweitausend Kilometer mit dem Auto fahren? Seit wann hast du überhaupt einen Führerschein?«, wunderte sich Mel und versuchte ihren Ärger darüber zu verbergen, dass Jule frühestens morgen Abend in Kirchheim sein würde.

»Ich habe einen Fahrer. Und jetzt muss ich Schluss machen. Sonst komme ich nie los.« Jule beendete das Gespräch.

*

»Juliane Irene Bachstern. Du lügst wie gedruckt«, sagte der achtzehnjährige Antonio lachend.

Jule, das Handy noch in der Hand, drehte sich zu ihrem Sohn um und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Mache ich nicht, ich beuge die Wahrheit nur ein bisschen.«

»Personal einteilen? Wir sind ausgebucht?!« Antonio, den Jule stets nur Toni nannte, überragte sie um einen Kopf und war, ganz anders als die blonde Jule, dunkelhaarig. Nur die Locken und die Augenfarbe, das helle Blau, zeichneten sie als Mutter und Sohn aus. Sie standen neben dem gepackten Wagen vor einem Haus in erster Strandlinie des spanischen Küstenortes Dénia, zwischen Alicante und Valencia gelegen. Die Strandnähe und der herrliche Blick auf das Mittelmeer waren das Beste, was man über das Haus sagen konnte. Denn ansonsten war es abbruchreif. Der Sturm, der im Frühjahr an der Costa Blanca getobt hatte, hatte viele Häuser an der Küstenlinie zerstört. So auch Jules kleines Hostel, das schon vor dem Sturm baufällig gewesen war.

Viele Jahre war es ihr Zuhause gewesen. Als Jule mit knapp sechzehn mit Toni schwanger geworden war, hatte ihr eine alte Dame, Señora Eduarda Silvara Gomez, in diesem Haus Unterkunft gewährt. Nach Gretas Verschwinden war Jule damals eine verlorene Seele gewesen. Sie hatte am Strand wild gecampt und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten.

Señora Eduarda hatte drauf bestanden, dass Jule in ihr Haus zog. Die Nächte würden kalt werden, und ein Zelt sei kein Platz für eine ›guapa‹, ein hübsches Mädchen wie sie, hatte die alte Frau insistiert und resolut die Zeltheringe herausgezogen. Sie war für Jule wie eine liebevolle Großmutter gewesen. Eduarda hatte ihr die Kraft gegeben, die Schwangerschaft zu meistern und nicht zu verzweifeln. Nach Tonis Geburt hatte sie sich um den Jungen gekümmert, wenn Jule gekellnert hatte. Um keinen Preis der Welt hatte Jule in die Pfalz zurückkehren wollen. Es wäre ihr unmöglich gewesen, mit Bruno, der beharrlich über Gretas Verschwinden schwieg, auf dem Gut zu bleiben. Und was er zu seinem kleinen Enkelsohn gesagt hätte – das hatte sie sich nicht vorzustellen getraut.

Als die Señora vor zehn Jahren starb, hatte sie Jule das Haus vermacht. Jule meldete ein Hostel an und gestaltete es um. Sie war es leid, nur während der Saison als Kellnerin zu arbeiten. Bei den Arbeitszeiten in der Gastronomie konnte sie sich viel zu wenig um Toni kümmern. Das Hostel, in dem überwiegend Backpacker für wenig Geld übernachteten, hatte genug abgeworfen, damit sie und Toni über die Runden kamen. Mehr aber nicht.

Und damit war es jetzt auch vorbei. Der Frühjahrssturm hatte das Wasser ins Haus gedrückt und die Eingangstür aus den Angeln gerissen. Mit Brettern hatten Jule und Toni den Eingang vernagelt. Fortan kletterten sie durchs Fenster, um in einem der hinteren Räume zu schlafen. In den vorderen hatte sich wegen der Feuchtigkeit inzwischen Schimmel ausgebreitet. Gäste konnten sie nicht mehr beherbergen.

Jule, die bereits in ihrem Hostel gelegentlich ihre Gäste bekocht hatte, hatte als Köchin in einem Strandrestaurant angefangen, das der Sturm verschont hatte. Kochen war ihre Leidenschaft, seit sie ein junges Mädchen war. Jetzt half es ihr und Toni zu überleben.

Dabei musste sie allerdings jeden Tag an ihre Mutter denken, was sie sonst vermied. Es lag an dem Kochbuch, das sie immer wieder zurate zog und das meist aufgeschlagen auf dem Tresen lag. Winkler und Bocuse – Jule hatte es vor vielen Jahren von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen. Inzwischen waren die Seiten von unzähligen Fettspritzern übersät.

Toni, der sehr wohl wusste, dass ihnen die existenzielle Grundlage weggebrochen war, hatte sich heimlich einen Job auf einem Campo de Naranjos gesucht, um etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Bis zu dem Tag, als Jule aufgetaucht war und dem Bauern angeboten hatte, anstelle ihres Sohns zu arbeiten. Sie wollte unter allen Umständen, dass Toni sich auf sein Abitur konzentrierte. Das hatte er nun in der Tasche, ebenso den Führerschein.

 

Nun war der Tag gekommen, dass ihre Zeit in Spanien endete und sie zurück in die Pfalz fuhren. Als Mel angerufen und von Brunos Tod berichtet hatte, war Jule sofort klar gewesen, dass sie Dénia verlassen würden. Auch wenn sie noch nicht wusste, wo sie und Toni als Nächstes leben würden.

Sie hatte mit einem großen Streit gerechnet, als sie ihm von ihren Plänen erzählt hatte. Toni hatte anfangs hierbleiben wollen, seine Freunde, vor allem seine Clique, mit denen er regelmäßig surfte, nicht aufgeben wollen. Jule hatte ihm versprochen, dass er ja irgendwann wieder zurückkehren könnte. Schließlich hatte Toni sie breit angegrinst: Okay, dann gucke ich mir mal jetzt etwas von der großen weiten Welt an und beginne in der Pfalz, hatte er verschmitzt gemeint. Noch hatte er keine Idee, was er später in seinem Leben machen wollte.

»Ich habe alles ins Auto gepackt, Mamita. Wir müssen los.« Obwohl er perfekt Deutsch sprach, nannte er sie auf Spanisch »Mama«.

»Hast du meine Paellapfanne, Toni?«, fragte Jule.

»Na klar, und dein Kochbuch auch.« Er hielt ihr die Beifahrertür des grünen Seat auf, und Jule spähte zur Rückbank, wo Toni ihr Hab und Gut verstaut hatte. Obenauf hatte er noch zwei Kisten mit reifen Orangen gestellt und zwischen Rückbank und Vordersitz seinen wertvollsten Besitz verstaut: seine Gitarre. Eduardas ehemaliger Wagen war bis oben hin gepackt. Toni hatte ihn nach dem Tod der alten Señora aufgepäppelt. An Autos, überhaupt an Maschinen zu basteln, war neben der Musik sein großes Hobby, und Jule war überzeugt, dass der alte Wagen sie unversehrt bis in die Pfalz bringen würde. Falls nicht, würde Toni ihn unterwegs reparieren.

»Also gut. Dann war es das wohl.« Jule stieg ein, und Toni nahm neben ihr auf dem Fahrersitz Platz.

»Frei gekommen, frei gegangen«, sagte sie leise.

Toni sah, dass seiner Mutter der Abschied schwerer fiel als ihm. Er legte einen Arm um sie. »Sei nicht traurig, dass wir wegfahren, Mamita.«

»Wird dir denn das Meer gar nicht fehlen, Toni? Dieses Gefühl, dass alle Antworten in dem tiefen Blau zu finden sind?«, fragte Jule. »Wie schön es ist, wenn man morgens barfuß am Strand sitzt und seinen Kaffee trinkt?«

Toni schüttelte den Kopf. »Fang jetzt nicht wieder damit an. Das hatten wir schon. Noch mal: Ich bin auf die Pfalz sehr gespannt. Und natürlich auf das Weingut.«

Jule nickte, aber sie kämpfte mit den Tränen. »Jetzt werden wir nie erfahren, was mit meiner Mutter passiert ist. Dieses Geheimnis nimmt Bruno nun mit ins Grab«, sagte sie bedrückt.

»So wie du mir auch nicht sagst, wer mein Vater ist.«

Jule tätschelte seine Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. »Und du fang jetzt nicht wieder damit an«, zitierte sie ihn. »Du bist das Beste, was ich in meinem Leben jemals zustande gebracht habe. Praktisch ganz alleine.« Sie lächelte ihn liebevoll an. »Sag mal, traust du dir überhaupt zu, die zweitausend Kilometer zu fahren?«, lenkte sie vom Thema ab.

Toni zuckte mit den Achseln und ließ den Motor an. »Klar. Auch wenn es meine erste große Reise ist.«

»Und meine zweite«, sagte Jule mehr zu sich.

»Jetzt, wo wir gehen, kannst du mir endlich erzählen, wie du damals hierhergekommen bist.«

Während er den Wagen umsichtig in Richtung Küstenstraße lenkte, lehnte sich Jule nachdenklich zurück. Was konnte sie ihrem Sohn sagen? »Ich bin ja die Jüngste von uns vier Geschwistern. Und ich war die Wildeste.« Jule warf ihre langen blonden Locken zurück, streckte das energische Kinn vor und stemmte die nackten Füße mit den knallrot lackierten Zehennägeln gegen das Armaturenbrett.

Toni warf ihr einen Blick zu. »Das glaube ich sofort.«

»Wir hatten eine schöne Kindheit auf Gut Freudberg. Unsere Mutter Greta war immer für uns da, obwohl sie als Winzerin hart gearbeitet hat. Sie war die Seele von allem, hatte den Ablauf des Jahres klar vor Augen und wusste genau, wann was in den Weinbergen getan werden musste. Als wir polnische Erntehelfer hatten, hat sie sogar etwas Polnisch gelernt. So eine Frau war meine Mutter, deine Großmutter. Aber ich glaube, die Ehe von unseren Eltern war nicht die beste. Dann wollten sie zusammen nach Paris fliegen. Meine Geschwister waren schon aus dem Haus, ich war fünfzehn und als Einzige noch auf Gut Freudberg. Unsere Eltern fuhren also morgens mit dem Auto los, wollten es am Frankfurter Flughafen stehen lassen. Aber zwei Stunden später kam mein Vater wieder. Mama war allein geflogen und hatte ihr Handy dagelassen. Als Bruno sie nach zehn Tagen vom Flughafen abholen wollte, kehrte sie nicht zurück. Vor dem Haus saß er im Wagen und war unfähig auszusteigen. Papa hat geweint und gesagt, dass er Mama weggeschickt habe. Das war’s.«

Toni bremste ab und fuhr langsam in den Kreisel. Jule sah aus dem Fenster aufs Mittelmeer, das sich so weit erstreckte wie das Auge reichte. Sie bemerkte erstaunt, dass sie beim Erzählen zu »Mama« und »Papa« gewechselt war.

»Und dann?«, fragte Toni.

»Ich bin ausgetickt. Er schwieg, sagte nicht, wohin er sie geschickt hat. Stell dir mal vor, was wir alle für Angst um unsere Mutter gehabt haben. Wir hatten tausend Fragen und bekamen keine einzige Antwort von ihm. Trotzdem habe ich jeden Tag gemerkt, wie sehr er Greta vermisst hat und dass er sich Vorwürfe machte. Es war herzzerreißend, aber er hat beharrlich weiter geschwiegen. Ich konnte nicht an ihn herankommen. Schließlich bin ich abgehauen.« Nicht allein, ergänzte Jule in Gedanken, aber das würde sie Toni niemals erzählen. Auch nicht, wie hilflos und emotional verunsichert sie damals gewesen war. Und ganz sicher nicht, dass sie immer wieder ihre einmal in so jungen Jahren getroffene Entscheidung, den Namen von Tonis Vater niemals preiszugeben, infrage gestellt hatte. Doch bis heute hatte sie diesen Entschluss nicht revidiert. Je weniger er davon wusste, desto sicherer blieb ihr Geheimnis.

»Einfach so?«

Jule nickte. »Jede Ecke in dem Haus erinnerte mich an meine Mutter. Manchmal habe ich sogar geglaubt, ihre Stimme zu hören.«

»Das klingt ein bisschen lost.«

»Ich habe einen Rucksack gepackt und bin nach Spanien getrampt, habe gejobbt, wild gezeltet und dann dich bekommen, mein Schatz.«

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter, bis Toni unvermittelt fragte: »Bist du sauer auf ihn?«

Jule nickte. »Auf Bruno? Ja, ziemlich. Wenn er nicht geschwiegen hätte, wüssten wir, was mit unserer Mutter geschehen ist, oder hätten zumindest einen Anhaltspunkt.«

Sie fuhren an Palmen vorbei, die links und rechts der Straße hoch hinaufragten. »Du sagst doch selbst immer: ›Menschen, die nachtragend sind, reisen ein Leben lang mit Übergepäck‹. Versuch ihm zu vergeben«, meinte Toni.

»Den Spruch habe ich von Greta«, sagte Jule leise.

»Sie ist schon zwanzig Jahre weg. Meinst du, du vergisst sie irgendwann?«, fragte Toni vorsichtig.

Jule schüttelte den Kopf: »Seine Mamita vergisst man nie.«

3. Kapitel

Frankfurt am Main und Berlin-Charlottenburg,

Samstag, 17. August 2019, 10:30 Uhr

 

Mel trat mit ihrem Koffer aus der Drehtür des Flughafengebäudes und ging zum Taxistand. Sie beugte sich durch das geöffnete Beifahrerfenster: »Können Sie mich nach Kirchheim an der Weinstraße fahren?«

Der Taxifahrer legte sein iPad zur Seite. Mel erspähte den Schriftzug der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und das Foto eines bezopften Mädchens. »Bei so einer Tour sage ich nicht Nein. Da lasse ich glatt den spannenden Artikel über Greta Thunberg sausen. Die Kleine segelt mit dem Katamaran nach Amerika. Weil sie nicht fliegen will. Wenn das jeder machen würde, hätte ich keinen Job.« Er stieg aus, öffnete den Kofferraum, hievte Mels Gepäck hinein und stöhnte auf. »Baggersteine?«

»Garderobe«, bemerkte Mel trocken und stieg ein. Es waren keine zwanzig Stunden vergangen, seit sie wahllos Kleidung in ihren Koffer geworfen hatte und zum JFK Airport gefahren war. Das pastellfarbene Leinenkostüm, das sie vor der Benefizveranstaltung auf einen Sessel geworfen hatte, war eine denkbar schlechte Wahl als Reisekleidung gewesen. Sie sah an sich herunter. Ihr Rock war völlig verknittert. Wenn jetzt Fasching wäre, könnte ich als Ziehharmonika gehen, dachte sie. Und ich muss aus diesen Pumps raus. Welcher Teufel hat mich geritten, in High Heels zu fliegen?

Der Taxifahrer setzte sich hinters Steuer und schaltete sein Navigationsgerät ein. »Wo genau in Kirchheim?«

»Zum Weingut Freudberg. Ich lotse Sie, wenn wir im Ort sind.«

»Alles klar.« Er drehte sich zu ihr um. »Wird nicht ganz billig, schätze mal hundertfünfzig, hundertsechzig Euro.«

»Kann ich mit Kreditkarte zahlen? Oder nehmen Sie Dollar? Ich konnte keine Euros ziehen, der Geldautomat in der Halle war außer Betrieb.«

»Ach, aus Amiland kommen Sie? Da bringen mich keine zehn Pferde hin, solange ›The Donald‹ das Sagen hat. Klar nehme ich Karte.« Er ließ den Motor an und fädelte sich in den langsam fließenden Verkehr auf der A5 ein.

Gavin hatte als bekennender Republikaner vor drei Jahren Donald Trump seine Stimme gegeben. Mel hatte sich klar für Hillary Clinton ausgesprochen. Es war zum Streit gekommen, auf dessen Höhepunkt Gavin sie als Kommunistin tituliert hatte. Mel hatte lachend die Diskussion abgebrochen.

»Sind Sie zu Besuch in Deutschland?«, fragte der gesprächige Taxifahrer.

»Ich weiß es nicht«, gab Mel zurück.

Er lachte auf, warf ihr im Rückspiegel einen fragenden Blick zu und verfiel in einen Plauderton. »Wissen Sie, ich fahre seit zehn Jahren Taxi. Es macht mir Spaß zu raten, woher die Leute kommen. Ob sie bleiben, wo sie im Urlaub waren. Und bei Ihnen würde ich sagen, dass Sie wie eine New Yorkerin aussehen.«

Mel schmunzelte. »Richtig geraten.«

»Sie leben da?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie nachdenklich, mehr zu sich selbst.

Der Taxifahrer versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. »Wie lange bleiben Sie denn in unserer schönen Pfalz?«

Mel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Na, das hört sich ziemlich kompliziert an, wenn Sie nicht mal so einfache Fragen beantworten können.«

»Ich weiß.« Mel holte ihr Handy aus ihrer Handtasche und tippte auf einen Namen. »Aber etwas werde ich gleich wissen. Nämlich, wo meine Schwester steckt.«

Nach dem zweiten Klingeln nahm Caro ab. »Hallo, Mel. Bist du schon gelandet?«

»Ja, sitze im Taxi auf dem Weg nach Kirchheim. Soll ich dich irgendwo einsammeln? Wann kommt dein Zug an? Und wo? Mannheim?«

»Heute gar nicht. Ich habe gleich noch ein wichtiges Gespräch mit meinem Galeristen wegen meiner Ausstellung. Aber gleich morgen früh kann ich los. Ich melde mich. Bis dann!«

Klick, aufgelegt.

*

Caro saß in der Küche ihrer WG in Berlin-Charlottenburg. Sie war erschöpft. Wilde Träume hatten wie so oft verhindert, dass sie ausgeruht war. Diese Nacht hatte sie sich bei ihrer eigenen Vernissage gesehen, fremde, gesichtslose Menschen hatten ihr zugeprostet, sie gefeiert. Perfekt gemalte Bilder hingen an den Wänden. Aber sie war mit einem Farbeimer und einer Rolle in der Hand von Gemälde zu Gemälde gegangen und hatte jedes weiß übermalt. Erst bei der letzten Leinwand war sie erschrocken aus dem Schlaf aufgeschreckt. Sie seufzte, stand auf und griff nach der Kaffeebüchse im Regal, um sich einen Kaffee zu machen – leer.

In diesem Moment kam Saskia gähnend in die Küche. Seit einem halben Jahr wohnte die Neunzehnjährige in der Künstler-WG, in die Caro selbst vor zwanzig Jahren eingezogen war. Der Mietvertrag lief inzwischen auf ihren Namen. Auf dem Tisch lag der Inhalt von Caros Portemonnaie: ein Fünf-Euro-Schein und eine Handvoll Münzen.

»Kannst du mir fünfzig Euro leihen?«, fragte sie Saskia.

»Sehe ich so aus?«, gab das Mädchen schnippisch zurück. »Ich bin Studentin, keine Bank.«

»Dann kauf wenigstens mal Kaffee.« Caro klaubte ihr Geld zusammen und verstaute es in ihrem Portemonnaie. Mitte des Monats war bei keinem ihrer drei Mitbewohner etwas zu holen.

Sie ging in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Wie zum Teufel sollte sie ohne Geld in die Pfalz kommen? Aufgeben, nachgeben, alles geben – das war immer der Leitspruch ihrer Mutter gewesen, wobei Greta stets alles gegeben hatte. Doch sie, Caro, hatte wohl eher aufgegeben.

Sie rappelte sich auf, strich sich das lange rotblonde Haar zurück und sah zu den Kunstdrucken, die an den Wänden hingen.

Seit sie 1999 hier eingezogen war und zusammen mit ihrer Mutter die Bilder von Frida Kahlo, Paula Modersohn-Becker, Emy Roeder und Niki de Saint Phalle aufgehängt hatte, hatte sich in dem Zimmer kaum etwas verändert. Noch immer hängte sie ihre Garderobe an einem Kleiderständer mit Rollen auf, noch immer verstaute sie ihre Sachen auf einem Ikea-Regal. Eingezogen war sie mit einer Matratze. Immerhin: Mittlerweile hatte sie ein richtiges Bett.

Vor drei Jahren hatte Alexis Politakis sie damit überrascht. Nach ihrer ersten Liebesnacht war er am nächsten Tag mit einem großen Karton vor ihrer Tür gestanden: »Damit wir es das nächste Mal etwas komfortabler haben«, hatte er lächelnd gesagt und sich an ihr vorbeigeschoben.

»Wenn es denn überhaupt ein nächstes Mal gibt«, hatte Caro schlagfertig geantwortet. Doch da hatte sie schon gewusst, dass sie diesen zärtlichen, aufmerksamen und ausgesprochen attraktiven Mann mehr als mochte.

Schnurstracks hatte Alexis den Karton in ihrem Zimmer ausgepackt und begonnen, ein schlichtes Holzbett samt Lattenrost aufzubauen.

An ihrem ersten Tag als Kellnerin im Lubitsch hatte sie ihn kennengelernt. Er war am Nachmittag in das kleine Restaurant in der Bleibtreustraße gekommen, um einen Coffee to go zu holen, wie er das jeden Nachmittag tat, hatte ihr ein Kollege zugeraunt. Doch an diesem Tag war er nicht gleich wieder gegangen, sondern hatte an einem Tisch Platz genommen, hin und wieder etwas bestellt und sich durch die internationale Presse gelesen, die dort auslag. Als sie mit ihrer Abrechnung fertig gewesen war, hatte er ihr galant die Tür aufgehalten und sie angesprochen. Unaufdringlich, charmant und humorvoll. Caro war von der Arbeit so aufgedreht gewesen, dass sie ihm vorgeschlagen hatte, irgendwo noch einen Digestif zu nehmen. Sie waren in seine Galerie gegangen, die nur zwei Häuser neben dem Lubitsch lag, und hatten sich bei Cognac über Kunst unterhalten. Caro hatte ihm von ihrem abgebrochenen Kunststudium erzählt – etwas, worüber sie nie zuvor gesprochen hatte. Es war ein unerwarteter Vertrauensbeweis gewesen, der zu mehr geführt hatte. Noch in derselben Nacht war er mit in ihr WG-Zimmer gekommen. Es hatte sich ganz selbstverständlich angefühlt, dass sie mit ihm die Nacht verbrachte. Erst einmal, dann immer wieder.

Eines Morgens war Caro wach geworden und hatte sich verschlafen nach Alexis umgesehen, der nicht neben ihr lag. Stattdessen hatte er konzentriert eines ihrer unvollendeten Bilder betrachtet.

Denn an den Wänden ihres Zimmers lehnten in mehreren tiefen Reihen Caros Werke. Jedoch waren alle so verstaut, dass man sie nicht betrachten konnte. Keines war fertig, obwohl Caro ihr weniges Geld, das sie im Lubitsch als Aushilfskellnerin verdiente, immer wieder für Farben, Pinsel und Leinwände ausgab. Alexis hatte ein Bild herausgezogen und so hingestellt, dass es auch Caro von der Matratze aus hatte sehen können. »Der Schnee in mir« hatte sie es für sich genannt und diesen Titel auch mit Bleistift auf die Rückseite der Leinwand geschrieben. Es war nicht etwa weiß, sondern kunterbunt, wobei Blutrot überwog. Aber natürlich war auch dieses Werk nicht fertiggestellt. Als Caro Alexis fast verzweifelt gebeten hatte, es zurückzustellen, war er nachdenklich ihrer Bitte gefolgt.

 

Drei Jahre lang dauerte ihre lose Affäre nun schon. Gelegentlich schlug Alexis etwas vor – eine Reise, eine gemeinsame Aktivität –, was Caro ahnen ließ: Er wollte mehr. Doch sie hatte Alexis klar zu verstehen gegeben, dass sie kein Paar waren. Nach Gretas Verschwinden war ihre Angst zu groß, noch einmal einen geliebten Menschen zu verlieren, auch wenn Alexis der Einzige war, dem sie vertraute.

Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft er seitdem versucht hatte, sie zum Weitermalen zu bewegen. »Bitte, Caro, nur ein Bild, mach ›Der Schnee in mir‹ fertig und überlasse es mir«, hatte er sie gebeten. Aber das war ihr unmöglich. Dabei hatte ihr Studium an der HDK, die heute UDK hieß, so vielversprechend angefangen. Als sie die Collage ›Erinnerungen‹ im Februar 2000 begonnen hatte, war sie – und auch ihr Professor – euphorisch gewesen. Das Zusammenspiel verschiedener Materialien hatte sie damals fasziniert. Doch es war zum ersten Projekt geworden, das sie nach dem Verschwinden ihrer Mutter nicht fertiggestellt hatte. Und viele weitere folgten.

Caro stand auf und schaltete ihren alten CD-Player ein. John Pizzarellis »They Can’t Take That Away from Me« erklang. Dieser Sound beruhigte sie. Er war so unaufgeregt und zugleich so liebevoll. Sie strich mit der Hand über den Rücken einer Leinwand, auf der eine dicke Staubschicht lag. Ich habe aufgegeben, Mama, dachte sie. Bruno war tot, sie war die letzte der Schwestern, die ihn gesehen hatte. Sie musste in die Pfalz. Aber wie nur? Um einen Vorschuss bei ihrem Chef im Lubitsch zu bitten, kam nicht infrage. Das hatte sie bereits letzte Woche getan und stand bei ihm mit hundert Euro in den Miesen.

Der einzige Mensch, den sie um Geld bitten konnte, war Alexis. Noch nie hatte sie ihn darum gebeten, aus einer vagen Angst heraus, von ihm abhängig zu sein und ihm im Gegenzug etwas geben zu müssen, für das sie nicht bereit war. Doch heute hatte sie keine andere Wahl. Sie musste zu ihm.

 

Als Caro in die Bleibtreustraße einbog, sah sie, wie Alexis die Tür zu seiner Galerie aufschloss und hineinging. Wie immer begleitete ihn sein Mischlingshund Kuno. Alexis hatte sich vor zehn Jahren auf zeitgenössische Kunst spezialisiert. Sein Ruf als Galerist ging über Berlin hinaus, sein Blick für junge Talente war in der Kunstszene anerkannt. Regelmäßig stellte er seine Künstler auf der Art Basel in Miami Beach aus. Einmal hatte er Caro lachend erzählt, sein Traum wäre es, eine Kooperation mit der renommierten Eden Gallery in New York einzugehen. Träum weiter, hatte sie gedacht und sich zugleich nicht gewundert, wenn ihm genau das eines Tages gelingen würde.

Caro blieb einen Moment vor der Fensterfront stehen und musterte Alexis durch die Scheibe. Er hatte ihr erzählt, dass er an einer Vernissage eines lettischen Künstlers arbeitete. Die Hände hatte er tief in die Jeanstaschen vergraben, und er tippte mit einer Fußspitze gedankenverloren auf den Dielenboden, während er ein großformatiges Bild betrachtete, das gegen die Wand gelehnt war. Eine Strähne seines schwarzen, glatten Haars fiel ihm ins Gesicht. Er hatte Caro einmal Fotos von seiner Familie gezeigt. Er kam nach seinem griechischen Vater, einem Diplomaten, der als Attaché zehn Jahre in Berlin gelebt und sich in eine waschechte Berlinerin verliebt hatte. Alexis war das jüngste von drei Kindern. Seine älteren Schwestern waren so blond wie ihre Mutter.

Als Caro die Tür öffnete, wandte er sich ihr zu. Im Juni hatte er seine Schwestern Ariadne und Cilia, die mit ihren Familien auf Korfu lebten, besucht und Caro eingeladen, ihn zu begleiten. Doch sie hatte abgelehnt, wie schon so oft, wenn er sie seiner Familie vorstellen wollte. Kommentarlos hatte er ihr Nein akzeptiert. Doch zum ersten Mal hatte sie seinen traurigen Gesichtsausdruck bemerkt.

Wie immer trug er einen Dreitagebart, sein Gesicht war gebräunt und stand in Kontrast zu dem weißen Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte.

»Ah, Caro! Lange nicht gesehen.« Er lachte, hatte er doch erst vor zwei Tagen bei ihr übernachtet. »Fängst du heute schon so früh im Lubitsch