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Dieses eBook: "Großfuß" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Ich ging aber vor allem deshalb den Klippenpfad hinunter, weil es furchtbar stürmisch war und weil die Klippen mich gegen den Regen schützten. Ich wußte aber nicht, daß im letzten Sommer ein Erdrutsch gewesen war. Der Weg brach plötzlich ab, ich erkannte das erst, als ich auf einen losen Stein trat und hinunterfiel. Ich dachte, ich würde mir das Genick brechen; aber ich kam wieder zu mir und stellte fest, daß ich auf der Kante eines Kreidefelsens lag. Ich konnte mich kaum bewegen und wartete den Morgen ab. Ich sah zwei Wagen die Straße entlangfahren. Einer fuhr zu dem Haus, das ich von meinem Platz aus gut sehen konnte, der andere schien nur bis zu dem Steinbruch zu fahren." Edgar Wallace (1875-1932) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
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Seitenzahl: 325
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Inhaltsverzeichnis
Es war ein Zufall, daß Super gerade an diesem schönen Frühlingsmorgen einen Besuch in Barley Stack machte, denn er wußte noch nichts davon, daß man versucht hatte, in Mr. Stephen Elsons Haus einzubrechen. Er hatte auch keine Ahnung, daß ein Landstreicher namens Sullivan existierte und daß sein schwachsinniger Kumpan frei in der schönen Gegend umherwanderte und obendrein noch närrische kleine Liebeslieder in einer Sprache sang, die niemand verstand.
Barley Stack hatte für Super dieselbe geheimnisvolle Anziehungskraft wie die Lampe für die Motte oder, um ein besseres Bild zu gebrauchen: die Schlacht für ein altes Soldatenpferd. Übrigens hätte er wissen müssen, daß Mr. Cardew um diese Stunde schon zur City gefahren war – Gordon Cardew hatte seine alte Gewohnheit beibehalten, um neun Uhr morgens im Büro zu sein, obgleich er seinen Beruf längst aufgegeben hatte.
Trotzdem machte Super einen Besuch. Er hatte zwar keine Gelegenheit, sich mit Cardew zu streiten, aber es war schon eine Befriedigung für ihn, sich mit Hanna Shaw ein wenig herumzuzanken. Mr. Cardew war ihm gegenüber sehr empfindlich, denn Super hatte ihn früher einmal beleidigt. Aber auch Hanna Shaw konnte nicht höflich und liebenswürdig sein. Sie haßte den alten Polizeioberinspektor und gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Gefühle zu verbergen.
Sie stand vierschrötig in der Durchfahrt von Barley Stack, und die bösen Blicke ihrer braunen Augen sagten genug. Sie war eine Frau von mittlerer Größe und etwas untersetzt, obwohl man sie nicht als korpulent bezeichnen konnte. Auch war ihr schwarzes Alpakakleid nicht dazu angetan, ihre Anmut zu heben. Ihr Gesicht war glatt und von regelmäßiger Schönheit. Dichtes schwarzes Haar legte sich in Wellen über die Stirn und zeigte nicht den leisesten Anflug von Grau, obwohl sie schon Anfang der Vierzig war.
»Wir haben schönes Wetter heute«, sagte Super. Müde lehnte er sich an sein altes, verbeultes Motorrad. Seine Augen waren halb geschlossen. Die Wärme des Morgens und die Schönheit der Gegend schienen ihn schläfrig zu machen. »Der Garten sieht prächtig aus, ich habe noch nie so viele Nelken und Narzissen zusammen gesehen. Ich möchte wetten, daß Sie einen guten Gärtner haben. – Ist Mr. Cardew zu Hause?«
»Nein.«
»Sicher verfolgt er die Spur der Boscomp-Bankräuber«, sagte Super und schüttelte mit geheuchelter Bewunderung den Kopf. »Als ich den Bericht über den Einbruch in der Zeitung las, sagte ich zu meinem Sergeanten: ›Um die Bande aufzuspüren, braucht man einen Mann wie Mr. Cardew – die gewöhnliche Polizei kann das nicht, die würde niemals einen Anhaltspunkt finden und gleich von vornherein auf die falsche Spur geraten.‹«
»Mr. Cardew ist in sein Büro gegangen, wie Sie wohl wissen könnten, Minter«, fuhr sie ihn an und schaute böse drein. »Er hat etwas anderes zu tun, als sich um Polizeisachen zu kümmern. Wir zahlen unsere Steuern und Abgaben für die Polizei, aber ich muß schon sagen, das sind mir nette Leute – alles unwissende, unbedeutende Menschen, die nicht einmal eine ordentliche Erziehung haben.«
»Man kann nicht alles zu gleicher Zeit erwarten«, sagte Super traurig. »Das müssen Sie doch einsehen. Mrs. Shaw …«
»Miss Shaw«, verbesserte ihn Hanna laut.
»In meinen Gedanken sind Sie immer ein Fräulein«, entschuldigte sich Super. »Ich sagte noch neulich zu meinem Sergeanten: ›Ich weiß gar nicht, warum sich diese reizende, hübsche Dame nicht verheiratet. Sie ist jung …‹«
»Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten, Minter …«
»Mr. Minter«, bat Super höflich.
»Wenn Sie irgendeine Nachricht für Mr. Cardew haben, so will ich sie annehmen – im übrigen habe ich eine Menge Arbeit und Besseres zu tun, als mit Ihnen zu plaudern.«
»Ist in dieser Gegend in letzter Zeit irgendein Einbruch vorgekommen?« fragte Super, als sie sich schon halb zum Gehen gewandt hatte.
»Nein«, sagte sie kurz. »Und wenn wirklich einer gewesen wäre, dann hätten wir auch nicht nach Ihnen geschickt.«
»Das weiß ich ganz genau. Mr. Cardew hätte die Maße der Fußspuren der Räuber genommen und in seinen Büchern über Anthro – oder wie das Zeug heißt – nachgesehen, und noch vor Abend wäre der arme Kerl verhaftet worden.«
Hanna Shaw wandte sich plötzlich zu ihm um.
»Wenn Sie glauben, daß Sie sich hier mit Ihrer Schlauheit brüsten können, dann möchte ich Ihnen mitteilen, daß es in London Leute gibt, gegen die Sie klein und häßlich sind. Wenn Mr. Cardew zum Minister ginge und ihm nur die Hälfte von all dem erzählen würde, was Sie tun und sagen, dann müßten Sie noch vor Ende der Woche Ihre Uniform ausziehen.«
Super schaute kritisch auf den Ärmel seines Rockes.
Was hat das zu bedeuten? fragte er sich, als sie ihm die Tür heftig vor der Nase zuschlug.
Er lächelte nicht und war auch nicht beleidigt. Er nahm seine alte, schmutzige Pfeife aus der Tasche, füllte sie bedächtig, schaute bewundernd auf die herrliche Blumenpracht, die auf allen Beeten blühte, nahm sich schnell noch eine Nelke und steckte sie an das Knopfloch seines abgetragenen Rocks. Dann fuhr er unter großem Lärm mit seinem alten Motorrad die Hauptstraße hinunter.
Eine halbe Stunde später war er in seinem Büro.
»Wenn ein Mann in meine Jahre kommt und in einer gewissen Position ist«, sagte er mit einem schnellen Blick auf den hübschen, jungen Beamten, der ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß, »dann darf er auch sentimental werden. Und heute bin ich sentimental. Es liegt etwas Wunderbares in der Luft, etwas vom Frühling, und ich habe am letzten Sonntag sogar einen Kuckuck gehört. Wenn der Kuckuck ruft und die blauen Glockenblumen auf der Wiese blühen, geht mir das Herz auf. Vorhin hatte ich eine kleine Unterhaltung mit der schönen Herrin von Barley Stack, und nun ist mein Kopf voll sentimentaler Gedanken. – Sie sagen, ich soll mir den Landstreicher einmal ansehen? Ich möchte viel lieber Schlüsselblumen pflücken.«
Super war ein großer, eckiger Mann. In seiner äußeren Erscheinung war er etwas ungewöhnlich. Er trug alte, zerschlissene Anzüge, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammten. Sie waren gereinigt und gewendet, aber sie verdienten eigentlich ihren Namen nicht mehr. Sein längliches, braunes Gesicht und seine buschigen Augenbrauen gaben ihm ein respektables Aussehen, das jedoch durch seine schlechte Kleidung wieder zerstört wurde. Aber die Verachtung, mit der zum Beispiel Hanna Shaw seine Garderobe betrachtet hatte, erfüllte ihn mit freudiger Genugtuung.
Es gab mehrere Oberinspektoren bei der Londoner Polizei, aber wenn jemand von ›Super‹ sprach, meinte er damit nur Patrick J. Minter und niemand anders.
»Nun gehen Sie und verhören Sie den Landstreicher, mein lieber Sergeant.« Er machte eine liebenswürdige Geste mit der Hand. »Die schwierige Aufgabe, Verbrecher aufzuspüren, gehört meiner Vergangenheit an. Das war etwas zu einfach für mich, dabei bekam ich Gehirnerweichung. Deshalb habe ich doch auch diese Stellung angenommen, wo ich mir auf dem Land Hühner und Kaninchen halten kann und wo ich der Natur in ihrer Schönheit nahe bin.«
*
Polizeibezirk I der Hauptstadt umfaßte jenen Teil der ländlichen Vororte Londons, die an Sussex grenzen, und es ist allgemein bekannt, daß dies ein etwas gemütlicher Bezirk ist, ein ruhiger Hafen, in den die Beamten dankbar einlaufen, wenn sie die Stürme von Limehouse, Greenwich und Noddingdale hinter sich haben. Der Bezirk I hatte hauptsächlich mit so aufregenden Verbrechen wie Landstreicherei und Wilddieberei zu tun. Hin und wieder wurde auch einmal ein Heuhaufen auf den Feldern angesteckt. Die Beamten hatten verlaufene Pferde und Rinder einzufangen und darauf zu achten, daß die Vorschriften über Maul-und Klauenseuche eingehalten wurden. Man nannte sie allgemein nur die Jockel, die Heuhüpfer oder die ›Verlorene Legion‹. Aber sie lebten in hübschen, kleinen Landhäusern, bebauten ihre Gärten, viele von ihnen betrieben sogar einen kleinen Handel mit Gemüse, und sie konnten zufrieden lächeln, wenn ihre neidischen Kameraden dumme Bemerkungen über ihr ländliches Leben machten.
Man hatte Super nicht von Scotland Yard an diesen ruhigen Platz versetzt, weil seine Vorgesetzten außerordentlich zufrieden mit ihm waren oder weil man seine ungewöhnlichen Verdienste belohnen wollte – er war einer der fünf großen Beamten, die damals die russische Bande in Whitechapel niederkämpften –, in Wahrheit war er versetzt worden, weil er verschiedenen höheren Beamten ein Dorn im Auge war. Super war eine stete Quelle der Beunruhigung. Er hatte vor niemand Respekt, er war zu niemand höflich, er konnte sich mit niemand vertragen. Er machte Schwierigkeiten, er diskutierte, und gelegentlich trotzte er auch. Aber das Unangenehmste war, daß er meistens recht hatte. Und wenn es sich herausstellte, daß seine Vorgesetzten unrecht und er recht hatte, so erwähnte er das im Laufe eines Tages mindestens zwanzig-bis dreißigmal.
»Was die Hauptsache ist«, fuhr er fort, »wenn ich mich mit diesem Landstreicher befassen soll, muß ich meine Studien unterbrechen. Ich bin jetzt gerade dabei, einen eingehenden Kurs über Kriminologie zu nehmen. Haben Sie niemals etwas von Lombroso gehört? Ich will wetten, nein – dann wissen Sie überhaupt nichts von Verbrechergehirnen. Ein gewöhnliches Hirn wiegt – ich habe es vergessen, wieviel. Aber die Verbrechergehirne sind leichter. Bringen Sie mir das Gehirn dieses Mannes, und ich werde Ihnen gleich sagen, ob er versuchte, in Barley Stack einzubrechen. Auch ist es wichtig, zu erfahren, ob er gelenkige Füße hat, mit denen er greifen kann. Wissen Sie nicht, daß fünf Prozent der Verbrecher Gegenstände mit ihren Zehen aufheben können? Nehmen Sie ein Maß und messen Sie diesen Strolch, prüfen Sie auch, ob er ein unsymmetrisches Gesicht hat. Früher war es verhältnismäßig schwierig, Bösewichte zu fangen, aber heutzutage ist es kinderleicht geworden!«
Sergeant Lattimer war zu klug, um seinen Vorgesetzten zu unterbrechen. Erst als sein Redestrom allmählich verebbte, schien ihm der günstige Moment gekommen, auch eine Bemerkung einzuwerfen.
»Super, das ist kein gewöhnlicher Einbruch, wenn man den Aussagen Sullivans Glauben schenken kann – so heißt nämlich dieser Kerl …«
»Nun hören Sie einmal zu. Landstreicher haben überhaupt keinen Namen«, sagte Super gelangweilt. »Da sind Sie auf einem ganz falschen Weg. Die heißen Johann oder Karl oder Klamottenaugust, aber sie haben keine Familiennamen.«
»Sullivan hat ausgesagt, daß der andere Landstreicher, der bei ihm war, ihn daran hinderte, Elsons Haus zu betreten und Geld zu stehlen. Er hat anscheinend nach etwas gesucht …«
»Vielleicht Grundstücksurkunden über alten Familienbesitz – mag sein. Oder den Geburtsschein des rechtmäßigen Erben«, sagte Super nachdenklich. »Auch möglich, daß Mr. Elson ein Mann aus amerikanischen Verbrecherkreisen ist, der den heiligen Rubin aus dem rechten Auge des Gottes Hokum gestohlen hat, und nun sind diese finsteren Inder auf seiner Spur und suchen eine günstige Gelegenheit. Das ist ein Fall für Cardew! Aber vielleicht werden Sie auch damit fertig. Also, fangen wir an! Sie werden dann in den Zeitungen erwähnt, und das bringt Ihnen das Lob Ihrer Vorgesetzten ein. Vielleicht heiraten Sie dann das Mädchen, das scheinbar eine Dienstmagd ist, sich später aber als Tochter eines Herzogs entpuppt, die in ihrer Jugend von Zigeunern gestohlen wurde – also lassen Sie sich nicht abhalten!«
Inhaltsverzeichnis
Der junge Beamte hörte mit bewunderungswürdiger Geduld zu.
»Ich habe Sullivan festgenommen, weil er vorige Nacht in der Nachbarschaft des Tatortes schlief. Praktisch hat er schon eingestanden, daß er versuchte, in das Haus einzubrechen.«
»Nehmen Sie die Maße seiner Ohren und betrachten Sie ihre Form.« Bei diesen Worten nahm Super seinen Federhalter auf. »Haben Sie schon bemerkt, daß Verbrecher und Halbverrückte Ohren haben, die so groß wie Wandschirme sind? Das steht alles in dem Buch, und das Buch kann doch nicht lügen. Der Detektivberuf ist nicht mehr das, was er einst war, mein lieber Sergeant. Wir brauchen jetzt mehr Physiognomiker und mehr Chemiker. Wenn ich mir so einen richtigen Detektiv von heute vorstelle, sehe ich einen Mann vor mir, der in einer feinen Villa wohnt, in einem kostbaren Armsessel sitzt und ein Mikroskop, einen Blutfleck und etwas Londoner Straßenschmutz vor sich hat. Wenn er diese Dinge zusammenmischt, dann kann er Ihnen sagen, daß die Juwelen von einem linkshändigen Mann gestohlen wurden, der in einem grünlackierten Packard, letztes Modell, fuhr. Sind Sie schon einmal einem Mann mit Namen Ferraby begegnet?«
»Mr. Ferraby von der Staatsanwaltschaft?« fragte der Sergeant interessiert. »Ja, ich sah ihn, als er neulich hier war.«
Super nickte. Seine Kiefer schlössen sich wie eine Rattenfalle, und dann zeigten sich zwei Reihen gesunder Zähne, als er lachte.
»Der ist kein Detektiv«, sagte Super mit Nachdruck. »Der versteht sich nur auf die Gesichter der Leute. Wenn der zugezogen würde, um die geheimnisvolle Sache mit dem Rajah von Bong aufzuklären, dessen Armbanduhr verlorenging, würde er zunächst entdecken, daß der Großwesir, oder wie der Kerl heißt, so ein Ding bei Veltheims Tag-und Nachtleihhaus versetzt hat, und dann würde er den Wesir schnappen und gefangensetzen. Aber ein wirklicher Detektiv würde nicht so töricht handeln. Der würde erst folgern, daß die Uhr im Kampf mit einer jungen, schönen Stenotypistin abgerissen wurde, die hinter einer geheimen Tapetentür verborgen sitzt, mit einem Knebel im Munde, vollständig gefesselt und soweit verpackt, daß sie von diesen verdammten Indern nach dem Lapislazulipalast gebracht werden kann. Der alte Cardew, das ist ein Detektiv! Das ist ein Mann, an dem Sie sich ein Beispiel nehmen müssen, Sergeant!«
Super zeigte mit dem Ende seines Federhalters bedeutsam auf seinen Untergebenen.
»Er kennt sich in der Psychologie aus, er versteht etwas von der Form der Ohren, er weiß, was ein vorstehendes Kinn und ein unsymmetrisches Gesicht bedeuten und wieviel ein Gehirn wiegen kann – und noch viel mehr so schöne Dinge. In Barley Stack hat er eine große Bibliothek, in der nur Bücher über Verbrechen stehen.«
Wenn Super erst anfing, von dem ausgezeichneten Amateurdetektiv Gordon Cardew zu sprechen, dann war schwer etwas mit ihm anzufangen. Der Sergeant seufzte leise und respektvoll.
»Wollen Sie Sullivan sprechen, Super? Er hat praktisch schon eingestanden, daß er nach Hill Brow kam, um einen Einbruch zu verüben.«
Super schaute drohend um sich, dann nickte er plötzlich zum größten Erstaunen Lattimers.
»Ich will ihn sehen, lassen Sie ihn hereinkommen.«
Der Sergeant erhob sich schnell und verschwand in dem anstoßenden Raum. Einige Minuten später kehrte er mit einem großen, wenig appetitlichen Landstreicher zurück, der sehr verwirrt aussah.
»Dies ist Sullivan«, meldete der Beamte.
Super legte seine Feder hin, nahm seine Brille ab und schaute den Gefangenen an.
»Was hast du da vorhin erzählt …, daß dieser Strolch dich nicht nach Hill Brow hineinließ?« fragte er unerwartet. »Und wenn du lügen willst, Sullivan, dann lüge wenigstens so, daß es glaubwürdig erscheint.«
»Es stimmt, Super«, sagte der Landstreicher heiser. »Und wenn ich in dieser Minute sterben soll – der schwachsinnige Kerl hat mich beinahe umgebracht, als ich das Fenster öffnen wollte. Und wir hatten doch vorher alles so genau ausgemacht – er sagte mir sogar die Stelle, wo der Amerikaner sein Geld aufbewahrt. Und wenn ich diesen Augenblick sterben soll …«
»Das wirst du nicht tun – Landstreicher sterben überhaupt nicht«, bemerkte Super bissig. »Sullivan? Jetzt weiß ich Bescheid. Du bist doch damals wegen Raubes zu drei Jahren verurteilt worden … Lukas Markus Sullivan – ich erinnere mich genau an deine Heiligennamen!«
Lukas Markus bewegte sich unruhig hin und her, aber bevor er widersprechen und seine Unschuld beteuern konnte, fuhr Super fort: »Was weißt du von diesem verrückten Landstreicher?«
Sullivan wußte nur wenig. Er hatte ihn in Devonshire getroffen, hatte aber schon vorher durch andere ›Ritter‹ der Landstraße von ihm gehört.
»Er ist nicht ganz richtig im Kopf, Super, das sagen alle. Er geht im Land umher und singt vor sich hin, er schließt sich keiner größeren Gesellschaft an und führt so merkwürdige Reden – so vornehmes Zeug – und dann spricht er immer in fremden Sprachen.«
Super lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
»Das hast du nicht aus den Fingern gesogen, dazu hat dein Gehirn nicht das nötige Gewicht. Wo hat er denn seine Bleibe?«
»Er kampiert überall. Aber ich glaube, daß er doch irgendwo eine feste Wohnung hat, wahrscheinlich in der Nähe des Meeres. Als ich die eine Woche mit ihm zusammen auf der Straße wanderte, fragte er mich öfters, ob ich Schiffe gern hätte, und dann erzählte er mir, daß er ihnen ganze Tage lang auf der See zuschaute und feststellte, welche nicht untergehen könnten. Er ist wirklich verrückt. Nachdem wir ausgemacht hatten, daß wir in das Haus einbrechen wollen – was meinen Sie, was er zu mir gesagt hat? Er hat mich angefahren, als ob er ein böser Hund wäre. ›Fort‹, sagte er – genauso, wie ich es jetzt sage, Super –, ›fort, deine Hände sind nicht rein genug, um …‹, und dann kam noch etwas von Gerechtigkeit … der ist verrückt.«
Der Oberinspektor sah den Mann lange Zeit an, ohne zu sprechen. Sullivan war es nicht wohl dabei.
»Dir bleiben die Lügen ja im Hals stecken«, meinte Super schließlich. »Du kannst die Wahrheit gar nicht sagen, du hast so sonderbare Augen! Bringen Sie ihn wieder hinter Schloß, und Riegel, Sergeant – wir werden ihn hängen!«
Super schaute düster und bewegungslos auf das Tintenfaß und hielt den Federhalter in der Hand. Sullivan saß wieder in seiner Zelle, und der Sergeant hatte sein Mittagessen noch nicht ganz beendet, als Super sich wieder erhob. Er schnitt ein Gesicht, als ob er Schmerzen empfände, zog die Pantoffeln aus, die er unweigerlich während der Bürostunden trug, und zog mit einem Seufzer seine zerrissenen Stiefel an.
Lattimer war beim Pudding, als sein Vorgesetzter in das Beamtenzimmer trat.
»Wissen Sie irgend etwas über diesen Amerikaner Elson? Bleiben Sie aber ruhig sitzen und essen Sie weiter.«
»Man sagt, daß er sehr reich sei.«
»Das habe ich auch schon herausgebracht«, meinte Super. »Wenn ein Mann in einem großen Haus lebt, drei Autos und zwanzig Dienstboten hat, dann kann ich mir an meinen fünf Fingern abzählen, daß er in den besten Verhältnissen lebt. Ich werde ihn jetzt aufsuchen.«
Super hatte ein Motorrad, das in der ganzen Gegend verrufen war. Es verhielt sich zu einem anständigen Motorrad wie etwa eine Spelunke zum Buckingham-Palast. Jedes Frühjahr nahm er seine Maschine fast vollständig auseinander, und während Sergeant Lattimer bestürzt zuschaute, reinigte er sie und setzte sie wieder zusammen. Und dann gab er ihr ein ganz anderes Aussehen, denn er hatte eine Vorliebe dafür, die Farbe der alten Maschine zu ändern. Einmal erstrahlte sie in einem leuchtenden Grün, ein andermal war sie feuerrot. In einem Jahr hatte er sie sogar weiß und die Speichen himmelblau angestrichen. Er konnte an keinem Farbengeschäft vorbeigehen, ohne sich neue Emaillefarben zur Verschönerung seines Rades zu kaufen. In dem kleinen Schuppen hinter seinem Haus standen die Farbtöpfe reihenweise auf den Wandbrettern. An das Kriegsjahr, in dem er ein Dutzend kleiner Probenäpfe dazu benützte, seiner Maschine einen Tarnanstrich zu geben, erinnern sich noch sämtliche Polizeibeamten Londons.
Aber es war immerhin noch ein brauchbares Motorrad. Der Zweizylinder war wunderbarerweise außerordentlich leistungsfähig und machte eine große Geschwindigkeit möglich. Die früher blanken Teile der Maschine waren längst mit Farbe übermalt, der Sitz war mit vielen Lederstrippen repariert, und die Reifen hatten ein so auffälliges Muster, daß selbst das kleinste Kind in einem Dorf, wenn es nur die Spuren des Rades sah, sagen konnte, daß Super vorbeigekommen und in welcher Richtung er gefahren war.
So ratterte er denn seinen Weg entlang bis nach Dewlag Hill und fuhr an der hohen, roten Ziegelmauer von Hill Brow vorbei. Dann stieg er ab, stieß das Tor auf und ging zwischen den Ulmen durch, die die Zufahrt zu dem Haus von Mr. Elson einfaßten. Er lehnte sein Motorrad an einen Baumstamm, ging langsam zu dem großen Gebäude, stieg die breiten Stufen empor und blieb in der offenen Eingangshalle stehen. Sie war leer, aber er hörte die Stimmen einer Frau und eines Mannes. Der Schall drang aus einem Raum, der mit der Halle in Verbindung stand. Der Türflügel war nur angelehnt. Plötzlich sah er vier kürze, dicke Finger um die Kante der Tür greifen. Er schaute sich nach einer elektrischen Klingel um und bemerkte, daß sie in der Mitte des Haustores war. Er ging eben darauf zu, um auf den Knopf zu drücken …
»Heirat, aber sonst nicht, Steve! Ich bin lange genug zum Narren gehalten worden. Versprechen, Versprechen – immer nur Versprechen … Ich werde krank, wenn ich nur davon höre! Geld! Was bedeutet mir das? Ich bin ebenso reich wie Sie …«
In diesem Augenblick wurde die Tür ganz geöffnet, und Super konnte die Frau sehen. Er erkannte sie, obgleich sie ihm den Rücken zukehrte. Es war Hanna Shaw, die unfreundliche Hausdame von Barley Stack. Einen Augenblick schaute er verwundert auf die Gestalt, schlüpfte dann leise zur Tür, stieg schnell über das Geländer der Treppe und verschwand. Hanna hatte nicht einmal seinen Schatten bemerkt. Aber um ganz sicher zu sein, daß seine Anwesenheit nicht bekannt wurde, schob Super sein Motorrad erst einen Kilometer weit, bevor er es wieder bestieg.
Inhaltsverzeichnis
An einem schönen Frühlingstag mit einem dunkelblauen Himmel ist der Temple ein wunderbar träumerischer Platz, an dem man gerne ausruht. Die malerischen Partien in den Gärten, die grünen Blätter der Bäume, die ihre Äste über altersgraue Steinplatten recken, schimmern im goldgrünen Licht der Sonne, und die Springbrunnen plätschern melodisch. Die Fassaden des Gebäudes, die in den nebligen Tagen des Februar so drohend erscheinen, sehen hell und freundlich aus. Die Anwälte in ihren grauen Perücken und ihren langen schwarzen Gewändern verlangsamen ihre Schritte, wenn sie diese wunderbaren Gärten durchwandern, die ihre Büros umgeben.
Jim Ferraby, der gemächlich von Fleet Street zu seinen Räumen nach King’s Bench Walk ging, machte an einem Springbrunnen halt, um den Hut eines kleinen Mädchens zu retten, der vom Wind hineingetrieben worden war. Als er weiterging, pfiff er eine leise Melodie. Seine Hände steckten tief in den Taschen, und Zufriedenheit lag auf seinem Gesicht. Er war ein junger Mann Anfang der Dreißig.
Er erreichte den Flur, hielt aber vor den Steinstufen der Treppe an und schaute frohgestimmt auf den silberhellen Fluß, den er von hier aus sehen konnte. Langsam ging, er die dunkle Treppe hinauf und machte vor einer schweren, dunkelbraunen Tür halt. Er holte einen großen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schlüsselloch.
Als er ihn umdrehte, hörte er, daß sich die gegenüberliegende Tür öffnete. Er wandte sich um, und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens, das in der Türöffnung stand.
»Guten Morgen, Miss Leigh«, sagte er vergnügt.
Sie nickte.
»Guten Morgen, Mr. Ferraby.«
Elfas Stimme war sanft und merkwürdig melodisch. Diese Stimme hatte zuerst Jims Aufmerksamkeit auf die Sekretärin des alten Cardew gelenkt. Elfa hatte ein schönes Gesicht, wie es wohl Künstler malen können, wie es aber in Wirklichkeit selten zu sehen ist, und eine anmutig, schlanke Gestalt. Die tiefen, grauen Augen, die wie die einer Orientalin etwas schräg standen, schauten ihn vergnügt an. Aber alles das war nichts im Vergleich zu dem wunderbaren Zauber ihrer Stimme.
Ihre Bekanntschaft dauerte schon über ein Jahr. Sie hatte auf diesem staubigen Treppenabsatz begonnen und war mit einer gewissen Steifheit und Förmlichkeit die ganze Zeit über fortgesetzt worden. Es lag eigentlich gar kein Grund vor, weshalb der alte Mr. Cardew überhaupt ein Büro in King’s Bench Walk unterhielt; denn er übte seinen Beruf nicht mehr aus.
Er zählte achtundfünfzig Jahre, und dieses Alter erscheint einer, jungen Dame von zwanzig als außerordentlich hoch. Früher hatte die Firma Cardew & Cardew eine ungewöhnlich vornehme und reiche Kundschaft in London. Die Rechtsanwälte waren Agenten beim Verkauf großer Landgüter, sie verwalteten Vermögen und waren die juristischen Vertreter mächtiger Verbände. Aber während des Krieges war der letzte Cardew all der Verantwortlichkeit müde geworden und hatte seine Klienten einem jüngeren und, wie er sagte, tatkräftigeren Anwalt übertragen. Er hätte auch der Überlieferung folgen und sich einen Partner nehmen können, dann wäre der Name der alten Firma, die über hundertfünfzig Jahre in Ehren bestand, nicht untergegangen. Aber er zog es vor, sich ganz aus der Praxis zurückzuziehen, und sein großes, düsteres Büro in King’s Bench Walk war ausschließlich der Führung seiner eigenen Geschäfte gewidmet; denn Mr. Gordon Cardew hatte Vermögen.
»Ich vermute, Sie sind mit Erfolg vor Gericht aufgetreten, und der arme Mann ist ins Gefängnis gewandert?«
Die beiden standen einander nun in den offenen Türen gegenüber, und ihre Stimmen hallten in dem leeren Treppenhaus wider.
»Nein, ich habe keinen Erfolg gehabt«, sagte Jim ruhig, »und ›der arme Mann‹ sitzt aller Wahrscheinlichkeit nach in irgendeinem Wirtshaus, trinkt ein Glas Bier und schimpft auf das Gesetz.«
Sie sah ihn etwas verwirrt an.
»Oh – das tut mir sehr leid … Ich will damit nicht sagen, daß ich traurig bin, daß der Mann in Freiheit ist – ich wollte nur sagen, es tut mir leid, daß Sie keinen Erfolg hatten. Mr. Cardew sagte mir, daß der Mann sicher überführt würde. Hat denn die Gegenseite neues Tatsachenmaterial beigebracht?«
Sie sprach ganz sachlich von der Gegenseite, wie das unter Anwälten so üblich ist.
»Nein, sie hat weiter nichts vorbringen können. Sullivan ist freigekommen, weil ich als Staatsanwalt gegen ihn auftrat. Das klingt merkwürdig, Miss Leigh, aber ich habe die Gesinnung eines Verbrechers. Während der ganzen Zeit, die ich gegen ihn sprach, dachte ich für ihn. Es war der erste Fall, in dem ich jemals als Staatsanwalt vor dem Gericht erschien, und es wird wahrscheinlich auch der letzte gewesen sein. Der Richter sagte in seiner Begründung, daß meine Anklagerede die einzig mögliche Verteidigung sei, die der Gefangene hätte vorbringen können. Sullivan hätte eigentlich auf ein Jahr ins Gefängnis wandern müssen, statt dessen läuft er nun im Land herum und stiehlt Enten.«
»Enten? Ich dachte, es war ein Einbruch?« Sie war erstaunt.
»Ich habe dafür plädiert, daß die Strafverfolgung ausgesetzt wird. Ich bin ein ruinierter Mann, Miss Leigh, ich habe den Verstand eines Erzverbrechers, verbunden mit dem hohen moralischen Gewissen eines frommen Bußpredigers. Von jetzt ab werde ich wieder ein namenloser Beamter bei der Staatsanwaltschaft sein.«
Sie lachte leise bei dieser feierlichen Erklärung. In diesem Augenblick hörten sie einen festen Schritt auf der Treppe, und als Jim hinunterschaute, sah er den tadellosen Zylinder von Mr. Cardew. Ein ernstes, vornehm geschnittenes Gesicht und freundliche Augen unter buschigen Brauen zeichneten Mr. Gordon Cardew aus. Er war von einer peinlichen Eleganz in seiner Kleidung und äußerst korrekt in seiner Sprechweise.
Ein sorgfältig zusammengerollter Regenschirm hing über seinem Arm. Als er die Treppe heraufkam, war sein Gesicht von Sorgen umwölkt.
»Hallo, Ferraby«, sagte er, als er den jungen Mann sah, »wie ich höre, ist Ihr Mann freigekommen?«
»Böse Nachrichten verbreiten sich schnell«, sagte Jim düster. »Mein Vorgesetzter ist wütend darüber!«
»Das glaube ich wohl.« Ein feines Lächeln huschte über Cardews Gesicht. »Ich traf eben Jebbings, den Geheimrat aus dem Finanzministerium. Er sagte … Ach, es ist ja gleich, was er sagte …, ich will keinen Streit zwischen Beamten verursachen. Guten Morgen, Miss Leigh! Liegt etwas Dringendes vor? Nein? Mr. Ferraby, darf ich Sie bitten, näher zu treten?«
Jim folgte dem Anwalt in das vornehm eingerichtete Büro. Cardew schloß die Tür hinter ihm, öffnete eine Zigarrenkiste und reichte sie seinem jungen Kollegen.
»Zur Überführung von Verbrechern haben Sie wenig Talent«, sagte er mit einem etwas spöttischen Lächeln. »Und aus gesellschaftlichen und finanziellen Gründen brauchen Sie ja keinen Beruf auszuüben. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen über den Mißerfolg machen. Ich interessiere mich natürlich für den Fall, weil Mr. Stephen Elson mein Nachbar ist – ein etwas hochfahrender Amerikaner, dem es an Manieren fehlt. Aber im Grunde genommen hat er ein gutes Herz, wie man mir sagt. Er wird natürlich ärgerlich sein.«
Jim schüttelte hilflos den Kopf.
»Bei mir muß doch irgendwo eine Schraube los sein«, erklärte er verzweifelt. »Wenn ich in meinem Büro sitze, sind meine Sympathien stets auf sehen des Gesetzes und der Ordnung, und ich freue mich über jeden Verbrecher, der durch meine Beweisführung gehängt wird. Aber wenn ich vor Gericht auftrete, arbeitet mein Verstand mit doppelter Anstrengung, um Entschuldigungsgründe für den Verbrecher zu finden – Entschuldigungsgründe, die ich selbst für mich vorbringen würde, wenn ich in der Lage des Angeklagten wäre.«
Mr. Cardew sah ihn mißbilligend an.
»Wenn aber ein Staatsanwalt vor Gericht sich erhebt und die Unfehlbarkeit des Fingerabdrucksystems bezweifelt –«
»Habe ich das getan?« fragte Jim und errötete schuldbewußt. »Großer Gott, ich scheine die Sache vollständig verfahren zu haben!«
»Das ist auch meine Ansicht. Trinken Sie so früh am Morgen Portwein?« Als Jim ablehnte, öffnete Cardew eine Schranktür, nahm daraus eine dunkle, staubige Flasche, stellte vorsichtig ein Glas auf den Tisch und füllte es mit einem prachtvoll rubinroten Wein.
»Ich habe noch ein anderes Interesse an Sullivan«, fuhr Cardew fort. »Wie Sie vielleicht wissen, beschäftige ich mich mit Anthropologie. Ich schmeichle mir, daß ein ausgezeichneter Detektiv an mir verlorengegangen ist. Wenn man die Männer sieht, die in hervorragenden Stellen im Polizeipräsidium sitzen, möchte man das ganze System reorganisieren, damit einmal Leute von reicher Erfahrung und Bildung ihr Talent zeigen könnten. In meinem Bezirk ist zum Beispiel ein Beamter, der einfach …«
Die Worte fehlten ihm. Er zuckte nur die Schultern. Jim, der den Oberinspektor Minter kannte, unterdrückte ein Lächeln. Es war allgemein bekannt, daß Super die gebildeten und theoretisch arbeitenden Amateurdetektive vom Grund seiner Seele aus verachtete. Seine Einstellung war ungefähr die eines guten Handwerkers einem Künstler gegenüber. Bei einer Gelegenheit, bei der es sich um Anthropologie handelte, war er sogar sehr ausfallend geworden. Mr. Cardew nannte sein Benehmen tölpelhaft und bäurisch.
»Herr, Sie sind kindisch!« hatte Super ihn damals angefahren, als er leise andeutete, daß eine gebrochene Stimme und große, harte Augen eine bestimmte verbrecherische Anlage verrieten.
Jim wunderte sich und war neugierig, aus welchem Grund Cardew ihn plötzlich und unerwartet in sein Privatbüro einlud. Es war sein erster Besuch hier, obgleich er den Anwalt bereits seit fünf Jahren kannte. Daß der Aufforderung etwas Besonderes zugrunde liegen mußte, war ganz klar, das ging schon aus dem Benehmen Cardews hervor. Er war nervös und schien offenbar Sorgen zu haben. Mit unentschlossenen Schritten ging er in dem Raum auf und ab und machte ab und zu halt, um ein Schriftstück auf dem Pult geradezurücken oder einen Stuhl anders zu stellen.
»Während ich zur Stadt fuhr, habe ich dauernd an Sie gedacht«, begann er plötzlich. »Ich habe mir überlegt, ob ich Sie um Rat fragen soll – Sie kennen meine Haushälterin Hanna Shaw?«
Jim erinnerte sich sehr gut an die böse dreinschauende Frau, die nur wenig sprach und sich nicht die mindeste Mühe gab, ihre Feindschaft gegen Super zu verheimlichen, wenn ihn jemand erwähnte.
»Sie mögen sie nicht?« fragte er. »Sie hat sich nicht nett gegen Sie benommen, als Sie das letztemal zu mir kamen. Mein Chauffeur, der gerne klatscht, erzählte mir, daß sie Sie angefahren hat. Zweifellos ist sie bissig und mürrisch und eine unangenehme Person; aber ich bin sonst sehr zufrieden mit ihr. Überdies ist sie sozusagen das Vermächtnis meiner verstorbenen Frau. Sie hat sie aus einem Waisenhaus zu sich genommen, als sie noch ein Kind war, und Hanna ist in meinem Haus großgezogen worden. Ich möchte sie fast mit einem Terrier vergleichen, der mit Ausnahme seines Herrn alle Leute beißt.«
Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und entnahm ihr einige Papiere, die er auf dem Tisch ausbreitete.
»Ich ziehe Sie ins Vertrauen«, sagte er. Er schaute noch einmal nach der geschlossenen Tür. »Bitte, lesen Sie dies.«
Es war ein gewöhnliches Blatt ohne Adresse, Datum oder irgendwelche Oberschrift. Nur drei handgeschriebene Zeilen standen darauf:
»Ich habe Sie zweimal gewarnt. Dies ist das letztemal. Sie haben mich zur Verzweiflung gebracht.«
Das Schriftstück war mit ›Großfuß‹ unterzeichnet.
»Großfuß? Wer ist das?« fragte Jim, als er es noch einmal durchlas. »Ihre Haushälterin ist demnach bedroht worden? Hat sie Ihnen das gezeigt?«
»Nein, es kam auf sonderbare Art in meinen Besitz. Am Ersten jeden Monats bringt mir Hanna die Haushaltsrechnung und legt sie auf das Pult in meinem Arbeitszimmer. Ich schreibe dann die Schecks für die verschiedenen Kaufleute aus. Sie hat die Angewohnheit, die Rechnungen vorher in ihrer Handtasche mit sich herumzutragen und sie erst im letzten Augenblick zusammenzusuchen. – Dieses Schreiben habe ich in einer zusammengefalteten Rechnung des Kolonialwarenhändlers gefunden. Sie muß es in der Eile mit den anderen Papieren aus ihrer Tasche genommen haben, ohne zu merken, daß sie mir einen Privatbrief gab.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
Mr. Cardew zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er zögernd. »Das tat ich nicht. Ich habe ihr aber unter der Hand zu verstehen gegeben, daß sie mich ins Vertrauen ziehen soll, wenn sie jemals in Sorge oder Unannehmlichkeiten kommt. Aber Hanna hat – ich kann keinen anderen Ausdruck dafür finden –, sie hat mich angeknurrt. Es war geradezu unverschämt.« Er seufzte schwer. »Ich kann neue Gesichter nicht leiden, und es würde mir leid tun, wenn ich Hanna verlieren müßte. Wenn sie sich anders betragen hätte, wüßte sie natürlich von meiner Entdeckung. Und um vollständig offen zu sein, ich fürchte mich, ihr zu sagen, daß ich einen ihrer Briefe habe. Wir hatten eine ziemlich ernste Auseinandersetzung wegen eines dummen Scherzes, den sie machte. Der nächste Streit wird uns vollständig trennen. Was denken Sie von dem Brief?«
»Es scheint irgendein Erpressungsversuch zu sein«, vermutete Jim. »Er ist mit der linken Hand geschrieben, um die Schrift unkenntlich zu machen. Meiner Meinung nach müßten Sie Hanna Shaw doch um eine Erklärung bitten.«
»Sie fragen?« entgegnete Mr. Cardew aufgebracht. »Um alles in der Welt – das geht nicht! Ich kann nur meine Augen offenhalten und bei der ersten Gelegenheit, wenn sie in besserer Stimmung ist – und wenigstens zweimal im Jahr ist das der Fall –, diese Sache mit ihr besprechen …«
»Warum vertrauen Sie sich nicht der Polizei an?«
Mr. Cardew wurde steif und zugeknöpft.
»Minter?« fragte er eisig. »Diesem unhöflichen, unfähigen Beamten? Ist das wirklich Ihr Ernst? Nein, wenn es irgendwelche Detektivarbeit gibt, so glaube ich, daß ich allein imstande bin, die Sache aufzuklären. Aber es gibt außer diesem Brief noch ein anderes Geheimnis.«
Er schaute wieder nach der Tür, hinter der seine harmlose Sekretärin arbeitete, und sprach leiser.
»Wie Sie wissen, habe ich ein kleines Haus an der Küste von Pawsey Bay. Es war früher eine alte Wachstation, und ich habe es während des Krieges für eine geringe Summe gekauft. Früher habe ich schöne Stunden dort zugebracht, aber jetzt gehe ich selten hin. Gewöhnlich überlasse ich das Haus meinen Angestellten zur Benutzung. Miss Leigh ist im letzten Jahr öfter zum Ferienaufenthalt dort gewesen und hat mit verschiedenen Freundinnen in der Villa logiert. Nun kam heute morgen ganz unerwartet Hanna zu mir und fragte, ob sie von Sonnabend bis Montag in dem Haus wohnen könne. Seit Jahren ist sie nicht mehr dort gewesen. Sie haßt den Platz, sie hat es mir noch vor einer Woche gesagt. Ich bin nun neugierig, ob diese plötzliche Reise an die Küste irgend etwas mit dem Brief zu tun hat.«
»Lassen Sie sie doch von Detektiven beobachten«, rief Jim.
»Das habe ich mir auch schon überlegt«, erwiderte Cardew nachdenklich. »Aber ich möchte es nicht gerne tun. Bedenken Sie doch, daß sie über zwanzig Jahre in meinen Diensten ist. Natürlich gab ich ihr die Erlaubnis, obgleich ich etwas besorgt bin, was daraus entstehen wird. Gewöhnlich bringt Hanna ihre freie Zeit damit zu, in einem alten Fordwagen im Lande herumzufahren – sie geht also nicht zur Küste, weil sie eine Luftveränderung braucht. Ich gebe ihr ein gutes Gehalt, und sie könnte bequem in einem anständigen Hotel wohnen. Ich wüßte nicht, warum sie nach Pawsey gehen sollte, wenn sie nicht diesen geheimnisvollen Menschen treffen will, der sich den Namen ›Großfuß‹ beilegt. Wissen Sie, manchmal denke ich, sie ist etwas …« Er zeigte mit seinem Finger an die Stirn.
Jim wunderte sich immer mehr, warum ihn der Anwalt zu Rate zog; aber er sollte es jetzt erfahren.
»Am Freitag habe ich eine kleine Gesellschaft in Barley Stack, und ich möchte Sie bitten, auch zu kommen und Hanna scharf zu beobachten. Vier Augen sehen mehr als zwei. Es ist möglich, daß Sie etwas bemerken, was mir entgeht.«
Jim dachte verzweifelt über Entschuldigungsgründe nach. Aber Mr. Cardew kam ihm zuvor.
»Würden Sie etwas dagegen haben, Miss Leigh bei mir zu begegnen? Sie ist meine Sekretärin – sie arbeitet einen neuen Zettelkatalog für eine Bibliothek aus, die ich neulich kaufte. Es sind sogar sämtliche Werke von Mantegazza darunter …«
»Ich würde mich sehr freuen«, sagte James Ferraby herzlich.
Inhaltsverzeichnis
»Kennen Sie Mr. Elson?«
Jim Ferraby kannte Mr. Stephen Elson gut und hatte eine begründete Abneigung gegen ihn. Er war, wenn auch ohne sein Zutun, der Hauptzeuge bei der Anklage gegen Lukas Markus Sullivan und hatte den Freispruch dieses Diebes und Landstreichers als eine persönliche Beleidigung empfunden. Jim hatte aus vielen Gründen ein Vorurteil gegen Elson – nicht zuletzt, weil er Elfa Leigh in herausfordernder Weise den Hof machte. Von seinem Standpunkt aus war dieses Benehmen unverschämt, und er hoffte, daß auch Elfa so dachte. Nicht, daß sie in seinem Leben irgend etwas Besonderes bedeutete – sie war für ihn nur die hübsche junge Dame auf der anderen Seite der Treppe. Sie hatte eine schöne, weiche Stimme und graue Augen, sie hatte ein reizendes Wesen, war wohlerzogen und ungewöhnlich gutaussehend – aber er bewunderte sie nur platonisch aus der Ferne.
Elfa war eine Dame und stand gesellschaftlich jedem von Cardews Gästen gleich. Jim Ferraby haßte die plumpe Vertraulichkeit Elsons. Es hatte ihn aufs unangenehmste berührt, daß er überhaupt eingeladen war. Selbst wenn Mr. Cardew kein so guter Detektiv gewesen wäre, hätte er die Antipathie Jims gegen Elson bemerken müssen. Bei der ersten Gelegenheit nahm er den jungen Mann beiseite.
»Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß Sie Elson treffen würden. Es ist mir sehr unangenehm, aber Hanna war dafür, ihn einzuladen. Wenn er zu mir gekommen ist, war jedesmal Hanna die Veranlassung. Sie sagte, daß er das ganze letzte Jahr nicht eingeladen wurde, und ich dachte, daß dies eine gute Gelegenheit sei. Wenn ich allein mit ihm sein müßte, könnte ich es nicht aushalten.«
Jim lachte. »Mir macht es nichts aus, obgleich er sich nach der Gerichtssitzung unglaublich unhöflich gegen mich benommen hat. Was war er eigentlich früher? Weshalb hat er sich in England niedergelassen?«
Cardew schüttelte den Kopf.
»Das ist eine der Fragen, die ich eines Tages klären werde. Ich weiß nur, daß er sehr reich ist.« Er schaute auf die andere Seite des Salons, wo der breitschultrige Amerikaner sich heiter mit Elfa unterhielt. »Die verstehen sich gut miteinander«, sagte er gereizt. »Vermutlich, weil sie Landsleute sind.«
»Miss Leigh ist Amerikanerin?« fragte Jim erstaunt.
»Ja. Ich dachte, Sie wüßten das. Ihr Vater, der unglücklicherweise im Krieg ums Leben kam, war ein hoher Beamter des amerikanischen Schatzamtes. Ich glaube, daß er die meiste Zeit seines Lebens in den Vereinigten Staaten zubrachte, wo auch Miss Leigh erzogen wurde. Ich habe ihren Vater niemals kennengelernt, sie wurde mir durch den amerikanischen Botschafter empfohlen.«
Jim beobachtete sie, während Cardew sprach. Er sah, daß ihre Hautfarbe gut zu ihrem schwarzen Kleid paßte und daß ihre seltene Schönheit durch dieses einfache Kleid noch gehoben wurde.
»Ich hätte nie gedacht, daß sie Amerikanerin ist«, war alles, was er sagen konnte.
»Ich vermutete, Sie seien von der jüngeren englischen Generation«, sagte Mr. Elson gerade zu ihr. »Es ist doch sonderbar, daß ich nicht wußte, daß Sie ein guter Yankee sind.«
»Ich bin aus Vermont«, sagte Elfa. Aber sie war keineswegs erfreut, einen Landsmann in ihm zu begrüßen.
Er hätte ein rotes, tiefgefurchtes Gesicht, grobe Züge und eine knollige Nase. Es schwebte stets ein Geruch von Whisky und fadem Zigarrenrauch um ihn.