Gute Bildung sieht anders aus - Harald Lesch - E-Book

Gute Bildung sieht anders aus E-Book

Harald Lesch

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Beschreibung

Wie Schulen aussehen, die unsere Kinder stark machen für eine fordernde Welt

Der Physiker und leidenschaftliche Wissenschaftsvermittler Harald Lesch bemüht sich seit vielen Jahren darum, aktuelles naturwissenschaftliches Wissen etwa zum Klimawandel besonders auch in Schulen zu tragen, weil er das Verständnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge für gesellschaftlich wichtig hält. Dabei erlebt er oft frustrierte Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, die an den Verhältnissen und starren Lehrplänen scheitern. Klaus Zierer beobachtet die Krise der Schulen, die sich nicht nur in Pisa-Ergebnissen niederschlägt, von der anderen Seite: Der Erziehungswissenschaftler bildet den Nachwuchs für Schulen aus und mahnt Reformen an, regelmäßig mischt er sich in Bildungsdebatten ein. Gemeinsam haben sie aus ihren Erfahrungen heraus ein Manifest verfasst, in dem sie darlegen, wie die Schule aussehen sollte, die Kinder durch Bildung stark macht für ein gelingendes Leben in einer fordernden Welt. Ein Buch für Eltern, denen nicht egal ist, was ihre Kinder in der Schule lernen, und überhaupt für alle, die mit Schulen zu tun haben.

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Wie Schulen aussehen, die unsere Kinder stark machen für eine fordernde Welt

Der Physiker und leidenschaftliche Wissenschaftsvermittler Harald Lesch bemüht sich seit vielen Jahren darum, aktuelles naturwissenschaftliches Wissen etwa zum Klimawandel besonders auch in Schulen zu tragen, weil er das Verständnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge für gesellschaftlich wichtig hält. Dabei erlebt er oft frustrierte Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, die an den Verhältnissen und starren Lehrplänen scheitern. Klaus Zierer beobachtet die Krise der Schulen, die sich nicht nur in PISA-Ergebnissen niederschlägt, von der anderen Seite: Der Erziehungswissenschaftler bildet den Nachwuchs für Schulen aus und mahnt Reformen an, regelmäßig mischt er sich in Bildungsdebatten ein. Gemeinsam haben sie aus ihren Erfahrungen heraus ein Manifest verfasst, in dem sie darlegen, wie die Schule aussehen sollte, die Kinder durch Bildung stark macht für ein gelingendes Leben in einer fordernden Welt. Ein Buch für Eltern, denen nicht egal ist, was ihre Kinder in der Schule lernen, und überhaupt für alle, die mit Schulen zu tun haben.

Harald Lesch ist Professor für Theoretische Astrophysik am Institut für Astronomie und Astrophysik der Ludwig-Maximilians-Universität München und einer der bekanntesten Wissenschaftsvermittler in Deutschland, bekannt vor allem durch »Leschs Kosmos« im ZDF. Seit vielen Jahren engagiert er sich auch in Schulen. Er hat, allein oder mit Co-Autoren, eine Vielzahl erfolgreicher Bücher veröffentlicht, zuletzt Was hat das Universum mit mir zu tun?,Wenn nicht jetzt, wann dann?,Die Entdeckung der Milchstraße und Denkt mit!.

Klaus Zierer, geboren 1976, ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Associate Research Fellow am ESRC Centre on Skills, Knowledge and Organisational Performance (SKOPE) der University of Oxford. Zuvor war er Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften an der Universität Oldenburg, hat an der LMU München promoviert und wurde dort 2009 habilitiert. Nach dem Studium des Grundschullehramts war er zunächst mehrere Jahre als Grundschullehrer tätig. Er ist Vater von drei Kindern.

www.penguin-verlag.de

HARALD LESCH

KLAUS ZIERER

GUTE BILDUNG SIEHT ANDERS AUS

WELCHE SCHULEN UNSERE KINDER JETZT BRAUCHEN

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Copyright © 2024 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Eckard Schuster, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/exopixel und Freudi

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32011-9V001

www.penguin-verlag.de

INHALT

Pädagogische Krisenzeiten

1  Lehrpläne – anders!

2  Lehrer – anders!

3  Schule – anders!

4 Schulsystem – anders!

5  Unterricht – anders!

6  Eltern – anders!

7  Schüler – anders!

Pädagogische Zeitenwende

Anmerkungen

PÄDAGOGISCHE KRISENZEITEN

Wenn wir auf Schulen blicken, haben wir es mit einer paradoxen Situation zu tun. Noch nie

waren die Klassen so klein wie heute,gab es so viele Lehrerinnen und Lehrer und pädagogisches Personal wie heute undwar so viel Geld im System wie heute.[1]

Diesen Bemühungen zum Trotz ist es um das Bildungsniveau nicht sonderlich gut bestellt. So

gehen die Leistungen im Lesen, Rechnen, Schreiben und den Naturwissenschaften zurück,lässt die körperliche Verfassung zu wünschen übrig underweist sich die psycho-soziale Entwicklung bei immer mehr Kindern und Jugendlichen als ungesund.[2]

Wir stehen mitten in einer Bildungskrise. Man könnte es sich einfach machen und schließen: Dies ist die Folge der Coronapandemie. Aber das wäre zu einfach. Denn die empirischen Ergebnisse weisen seit mehr als zehn Jahren in eine Richtung – nach unten. Kinder und Jugendliche heute erreichen erstmals seit der Nachkriegszeit in Deutschland in nahezu allen untersuchten Bereichen schlechtere Leistungen als die vorausgehende Generation.

Man könnte hier einwenden und sagen, dass es uns gesamtgesellschaftlich doch gut geht – wir haben die Coronakrise überstanden, wir haben eine bisweilen zwar streitsüchtige, aber dennoch stabile Regierung, wir haben die energiepolitischen Folgen des Ukrainekrieges in den Griff bekommen, und unseren Wohlstand scheinen die Krisen im Großen und Ganzen nicht oder nur geringfügig einzuschränken. Also: kein Grund zur Sorge. Doch Vorsicht ist geboten. Denn es gibt einen empirisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau eines Landes und seiner Wirtschaftskraft sowie seiner Demokratiefähigkeit. Nimmt also das Bildungsniveau ab, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Wirtschaftskraft und Demokratie darunter leiden.

Es ist also Zeit, Bildung anders zu denken. Kinder und Jugendliche brauchen nicht noch mehr von dem, was sie seit Jahrzehnten einschränkt, sondern wir brauchen eine Revolution im Bildungssystem. Doch was machen wir? Wir verlangen von Kindern und Jugendlichen immer mehr vom Gleichen. Jüngst forderte die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz angesichts sinkender Leistungen beim Lesen und Rechnen – natürlich – mehr Deutsch- und Mathematikunterricht.[3] Auf den ersten Blick liegt diese Schlussfolgerung auf der Hand: Wo es hapert, muss auch mehr gemacht werden. Aber mehr vom Gleichen wird uns in dieser Situation keine Hilfe sein.[4] Vielmehr wird das die aktuelle Bildungskrise verstärken. Denn wir müssen auch anerkennen, dass uns genau diese Art, über Bildung nachzudenken, in diese Bildungskrise geführt hat. Und es ergibt daher wenig Sinn, diesen Weg als Ausweg aus der Bildungskrise zu propagieren. Eine im Übrigen schon ältere Weisheit, denn wir können nicht davon ausgehen, dass sich Dinge verändern, wenn wir immer wieder dasselbe tun. Ob Albert Einstein das schon vor Jahrzehnten so sagte, ist strittig. Unstrittig aber ist: Auch Albert Einstein war jemand, aus dem was geworden ist, trotz Schule.

Schlagen wir deshalb einen anderen Weg ein, blicken wir kritisch-konstruktiv zurück! Sir Ken Robinson, einer der einflussreichsten Erziehungswissenschaftler weltweit, hat dies immer wieder getan und spricht von einer pädagogischen Klimakrise – besonders eindringlich in seinem TED Talk aus dem Jahr 2006, den weltweit über 75 Millionen Menschen gesehen haben.[5] Kinder und Jugendliche werden in einem System groß, das ihnen nicht gerecht wird und sie nicht versteht. Diese pädagogische Klimakrise ist vielleicht fast noch schwerwiegender als die ökologische Klimakrise. Denn ohne ein Klima in den Bildungseinrichtungen, das Kinder und Jugendliche achtet und ihnen sowohl Zeit als auch Raum für die Entfaltung im umfassenden Sinn lässt, können Kinder und Jugendliche sich nicht umfassend bilden. Und auch wenn Bildung allein die ökologische Klimakrise nicht lösen wird, ohne sie wird es ganz bestimmt nicht klappen.

Gründe für sein harsches Urteil über unser Bildungssystem nennt Ken Robinson einige. Zunächst kritisiert er, dass Kreativität von Kindern und Jugendlichen in der Schule getötet wird – so manche Schulpsychologinnen und Schulpsychologen gehen noch einen Schritt weiter und sagen:[6] Schule tötet nicht nur die Kreativität von Kindern und Jugendlichen, sie kann sogar krank machen.[7] Verantwortlich ist hierfür eine falsch verstandene Standardisierung, die die Individualität der Menschen verkennt. Zudem dominiert ein Verständnis von Fehlern, das nicht dem menschlichen Lernen entspricht. Diesem falschen Verständnis zufolge sind Fehler in der Schule immer etwas, was es zu vermeiden gilt. Aber richtig verstanden ist der Fehler der Motor des Lernens – ohne Fehler kein Lernen! »Wir irren uns empor«,[8] so der Philosoph Gerhard Vollmer. Und schließlich kritisiert Robinson auch eine daraus folgende Oberflächlichkeit, die im Kern den menschlichen Möglichkeiten nicht gerecht wird: Durch zu viel sinnloses Detailwissen verlieren Kinder und Jugendliche die Lust am Lernen und damit auch die Freude an der Schule.

Sollte mit diesen Überlegungen jetzt der Eindruck entstanden sein, dass das Schulsystem allein dafür verantwortlich ist, wie es heute um die Bildung von Kindern und Jugendlichen steht, so muss dem allerdings widersprochen werden: Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe! Alle müssen sich auf den Weg machen, um für die nachwachsende Generation die beste Bildung zu ermöglichen. Sicherlich sind vor diesem Hintergrund die Voraussetzungen heute andere als noch vor Jahren: Die Schülerschaft ist durch Zuwanderung uneinheitlicher und vielschichtiger geworden. Ebenso haben sich die Familienstrukturen verändert. Die Digitalisierung der Lebenswelt tut ein Übriges. So sind es heute ganz andere Kinder und Jugendliche, die die Schulbank drücken. Auch wenn jetzt viele die angeblich gute alte Zeit beschwören, müsste ihnen doch klar sein, dass genau deswegen ein »Weiter so!« oder gar ein »Zurück« nicht funktionieren kann. Jede Zeit erfordert es aufs Neue, eine Bildungsvision zu formulieren und ein Bildungssystem zu gestalten, das den damit verbundenen Herausforderungen gerecht wird.

Was brauchen also Deutschlands Schulen jetzt? Auf diese Frage gehen wir in den nächsten Kapiteln ein und richten unseren Blick auf alle, die am Bildungserfolg der nachwachsenden Generation mitwirken: auf Lehrkräfte und Schulleitungen, auf Eltern, auf die Bildungsverwaltung und natürlich auch auf die Schüler. Wir fordern nicht weniger als eine pädagogische Zeitenwende! Schule und Bildung müssen anders gedacht werden – fangen wir also damit an.

1  LEHRPLÄNE – ANDERS!

Sie gehören wie Kinder zur Schule: Lehrpläne. Und natürlich sind sie wichtig. In ihnen wird von der älteren Generation festgelegt, was die nachwachsende Generation lernen und vor allem können soll. Folgerichtig ist der Aufwand, der bei der Erstellung von Lehrplänen betrieben wird, sehr groß. Involviert sind neben den Ministerien auch viele Verbände und Kommissionen, die in jahrelanger Arbeit an neuen Lehrplänen schmieden. Ohne Zweifel wird diese Arbeit mit größter Gewissenhaftigkeit durchgeführt. Das Ergebnis ist im Vergleich zu früheren Zeiten durchdachter, systematischer und mittlerweile auch digital abrufbar.

Das Versprechen nun, das jedes Mal nach Abschluss dieser Arbeit zu vernehmen ist, lautet: Die neuen Lehrpläne sind die besten Lehrpläne, die es je gab. Doch ist das so? Unternimmt man den kühnen Versuch, das Behauptete zu hinterfragen, und sucht nach Studien, so muss man dann doch zu der Erkenntnis gelangen: Man – also die Ministerien – weiß das gar nicht. Denn Studien gibt es zu neuen Lehrplänen eigentlich nicht – oder sie sind so gut verschlossen, dass man sie als Außenstehender nicht zu Gesicht bekommt (oder bekommen darf). Von dieser Kühnheit getrieben, schlug einer von uns beiden eines Tages im bayerischen Kultusministerium auf, als gerade wieder neue Lehrpläne am Start waren. Die Idee: Wenn nicht jetzt, wann sonst könnte eine wissenschaftliche Begleitung stattfinden? Nicht zuletzt die Aussagen aus den verschiedenen Regierungsbezirken bestärkten uns in unserem Vorhaben, denn diese behaupteten alle von sich, dass sie die neuen Lehrpläne jeweils am besten umsetzten, ohne jedoch zu wissen, wie es die anderen Regierungsbezirke taten. Die Antwort auf den Vorstoß seitens des Ministeriums war aber dann doch ernüchternd und hallt bis heute nach: »Warum sollen wir etwas evaluieren, von dem wir wissen, dass es nichts bringt?«

Es ist also höchste Zeit, sich den Lehrplänen zu widmen – offen und ehrlich. Denn um es deutlich vorab zu sagen: Sie sind nicht zeitgemäß, sie haben eine kognitive Schlagseite und sie verhindern manchmal sogar Bildung.

Weniger PISA, mehr Bildung

Seit dem PISA-Schock 2001 spitzt sich die Bildungsdiskussion in Deutschland zu. Es wird vernehmlich über die sprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen gesprochen – als wäre das allein schon Bildung. Ganze Delegationen pilgerten in den letzten Jahren in die Länder der damaligen PISA-Sieger (allen voran Finnland und Schweden, deren Glanz jedoch mittlerweile deutlich verblasst ist), um den heiligen Gral zu finden. Gefunden haben sie ihn nicht, stattdessen haben sie ein Verständnis von Schule und Unterricht mitgebracht und dann auch implementiert, das aus empirischer Sicht konsequent ist, weil vor allem das zählt, was messbar ist.

Und dieses »Ritual« wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Jede neue Erhebung von PISA führt immer zu den gleichen Debatten. Fast fühlt man sich an Und täglich grüßt das Murmeltier erinnert. Gebracht hat all das bis heute wenig, wie die jüngsten Daten aus 2022 zeigen:[9] Deutschland steht heute im internationalen Vergleich so schlecht da wie noch nie und weist die geringsten Werte in den sprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen auf, die jemals gemessen wurden. Vielleicht ist es der einzige Trost, dass weltweit seit Beginn von PISA das Leistungsniveau sinkt – eine globale Bildungskrise tut sich auf. Statt die erhoffte Effektivitätssteigerung zu erreichen, wurde die Tradition des Humanismus zu Grabe getragen, die nicht auf Messbarkeit setzt, sondern Bildung ganz anders versteht: nämlich als Zweckfreiheit.

Aber es war nicht alles schlecht, was infolge von PISA ins deutsche Schulsystem getragen wurde. Das Bemühen, nach der Wirksamkeit von pädagogischen Maßnahmen zu fragen, ist wichtig. Zu lange hat sich gerade die deutsche Pädagogik nicht damit befasst und lediglich auf das Bauchgefühl kluger Menschen gehört. Wie wir aber alle wissen, kann das Bauchgefühl auch trügen. Empirische Daten helfen, uns einen Spiegel vorzuhalten, der die Wirklichkeit angemessen abbildet. Aber auch beim Blick in den Spiegel der Empirie ist zu beachten: »Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«, wie schon dem kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry aufgefallen ist.[10] Allein auf die Empirie zu vertrauen ist daher zu kurz gegriffen und wird einem Bildungsdenken, wie wir es uns vorstellen, nicht gerecht – und damit auch nicht den Menschen im Schulsystem.

So wichtig also PISA & Co. für das Bildungssystem waren, so dringlich ist es jetzt, auf Bildung auch aus anderen Perspektiven zu blicken, die es schon einmal gab und die in Vergessenheit geraten sind. Welche Perspektiven sind dies?

In der langen Tradition des Humanismus finden sich viele Anknüpfungspunkte. Besonders deutlich formuliert es Wilhelm von Humboldt, der bis heute als einer der bedeutendsten Bildungsreformer der Neuzeit gilt, auch wenn er zu Lebzeiten nicht alle Ideen umsetzen konnte. So schreibt er 1792 in der Abhandlung Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen: »Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.«[11] Dementsprechend bemerkt Johann Friedrich Herbart in seinem Buch Umriss pädagogischer Vorlesungen von 1835, einer der Gründerväter der deutschen Pädagogik und damit eine zentrale Figur aus historischer Sicht: »Der Wert des Menschen liegt zwar nicht im Wissen, sondern im Wollen.«[12]

Dieser Gedanke, Bildung nicht nur auf das Kognitive zu reduzieren und schon gar nicht auf einzelne Bereiche innerhalb dieses Kognitiven, wie es PISA macht, sondern den Menschen in allen seinen Möglichkeiten zu begreifen, macht den Kern eines humanistischen Bildungsverständnisses aus. Unter den aktuellen Autoren in diesem Kontext ragt Howard Gardner heraus. Seines Zeichens Professor für Erziehungswissenschaft an der Harvard University, hat Gardner eine Theorie formuliert, die mit dem empirischen Mainstream bricht:[13] die Theorie der multiplen Intelligenzen. Darin macht er deutlich, dass Intelligenz nicht nur das ist, was ein Intelligenztest zu messen in der Lage ist, sondern viele weitere Facetten umspannt. Diese lassen sich häufig eben nicht empirisch messen – aber nicht, weil es sie nicht gibt, sondern weil sie sich (noch) einer empirischen Messbarkeit entziehen. Die empirische Bildungsforschung tut sich bis heute schwer damit anzuerkennen, dass es etwas gibt, das wichtig ist, aber jenseits ihrer Zugangsweisen und bisherigen Methoden existiert. Dass Gardner für seine Arbeit an der Theorie der multiplen Intelligenzen weltweit mehr als dreißig Ehrenpromotionen zuerkannt bekommen hat, macht deutlich, wie bedeutsam seine Theorie für die Pädagogik ist.

Worum geht es ihm? Howard Gardner erläutert an einer Reihe berühmter Persönlichkeiten, dass es neben der dominierenden kognitiven Perspektive auch eine motorische, soziale, affektive, moralische, ethische und religiöse Lesart und Sichtweise von Bildung gibt. Diese Liste ist nicht abgeschlossen, und vermutlich lässt sich in Sprache auch gar nicht alles fassen, was den Menschen als Menschen auszeichnet. Die Liste ist aber hilfreich, um deutlich zu machen, dass Bildung mehr ist als das, was in PISA gemessen wird und durch PISA zu einer Separierung des Geistes führt.

Bemerkenswert an den genannten Perspektiven ist aus pädagogischer Sicht, dass Zusammenhänge bestehen. Wichtig dabei ist die Richtung des Zusammenhanges. Denn es gilt eben nicht, dass aus einer hohen Leistung im kognitiven Bereich eine hohe Leistung in den anderen Bereichen folgt. Der Existenzphilosoph Max Müller macht das an einer Gegenüberstellung deutlich: einerseits ein Arzt, mit allen akademischen Weihen versehen, sportlich aktiv, musikalisch gebildet und künstlerisch versiert, der unter den Nationalsozialisten Menschenversuche macht; andererseits ein Bauer, der keine besondere Schulbildung genossen hat, aber im Einklang mit sich und der Welt lebt.[14] Was in diesem Beispiel anschaulich wird, beweist die empirische Forschung: dass nämlich eine hohe Leistung in vielen Lernbereichen nicht hinreichend für Bildung ist. Es lohnt sich also, Bildung umfassend zu verstehen und den Menschen mit all seinen Möglichkeiten zu fördern. Der Mensch im Allgemeinen und seine kognitive Perspektive im Besonderen profitieren davon.

Die wichtigste Forderung für eine Schule der Zukunft, die sich aus den angestellten Überlegungen ergibt, lautet deshalb: Reformiert die Lehrpläne! Und zwar unbedingt! Sie sind zu voll, sie haben eine kognitive Schlagseite, und sie gehen auch an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen vorbei.

Nun muss man gestehen, dass es viele Lehrplanreformen gegeben hat und dies sogar eine Konstante jeder Bildungspolitik ist. Aber bis heute gilt, was Erich Kästner überspitzt für die Schulbücher gesagt hat: »Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berg Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist etwas ganz anderes.«[15]

Im Kern gilt das auch für die Lehrpläne – trotz ihrer viel beschworenen Kompetenzorientierung, die auf dem Papier sinnvoll erscheinen mag, in der Realität aber verpufft ist. Lehrpläne sind bis heute die heilige Kuh. Denn bei jeder Reform schwingen allzu viele Interessen mit, und diese verhindern immer wieder, dass eine wirkliche, eine gründliche Reform möglich ist.

Daher plädieren wir – wie schon viele vor uns, aber das soll unsere Forderung nicht schwächen, sondern stärken – für eine Entrümpelung. Beim Wort »Entrümpeln« formiert sich immer Kritik: In den Lehrplänen steht doch kein Gerümpel, so der Einwand. Aus fachlicher Sicht mag das korrekt sein: Alles, was im Lehrplan steht, ist aus fachlicher Sicht bedeutsam, weil es in die letzte Auswahl für einen möglichen Lehrplaninhalt gekommen ist und sich dann auch durchsetzen konnte. Aber: Die fachliche Perspektive ist nur eine, die für ein Schulsystem wichtig ist. Die andere ist die Sichtweise der Kinder und Jugendlichen – und diese setzt andere Maßstäbe an. Hier geht es weniger darum, was in einem Fach bedeutsam ist, sondern vielmehr darum, ob die Kompetenzen, die ich erwerben soll, für mich als Mensch von Bedeutung sind und einen Sinn haben.

Weniger Kompetenzen, mehr Verstehen

Halt! So werden jetzt viele aus der Bildungsverwaltung rufen. Die modernen Lehrpläne berücksichtigen genau das: Sie versuchen, eben nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch Können – als hätte jemals ein vernünftiger Didaktiker etwas anderes gefordert! Das Zauberwort heißt in der Fachsprache: Kompetenzorientierung. Als Ausläufer von PISA & Co. führte sie zu einer Lehrplanreform, die nicht nur auf Bundesländerebene spürbar war, sondern auch auf Bundesebene. Denn in der Folge der Kompetenzorientierung wurden bundesweite Bildungsstandards für alle möglichen Bereiche entwickelt: zu Mathematik und Deutsch für die Primarstufe, für die Sekundarstufe I, für den Hauptschulabschluss, für die Allgemeine Hochschulreife, dann auch zu Biologie, Chemie und Physik, hier aber nur für den Hauptschulabschluss und für die Allgemeine Hochschulreife und schließlich ebenso für die Fremdsprachen (Englisch und Französisch).

In den Lehrplänen der Bundesländer werden diese Bildungsstandards gesetzt und in einer Kombination von Gegenstandsbereichen (»Größen und Messen« in Mathematik) und prozessbezogenen Kompetenzen (etwa »Argumentieren« in Mathematik) zusammengeführt. Das Ergebnis ist dann, um es an einem Fall deutlich zu machen, im Mathematikunterricht der fünften Jahrgangsstufe des bayerischen Gymnasiums ein Kompetenzkatalog von 39 Kompetenzen – bei ebenso vielen Schulwochen also eine Kompetenz pro Woche. Das allein ist schon herausfordernd, hinzu kommt aber noch, dass die Kompetenzen selbst einer Modellierung folgen, die Kompetenzstufen genannt werden: auf der ersten Stufe als einfaches Wiedergeben (Mindeststandard) bis zur letzten Stufe als komplexes Problemlösen (Optimalstandard). Mit anderen Worten: Schülerinnen und Schüler sollen die Kompetenz nicht nur erwerben, sondern so vertiefen, dass sie diese jederzeit anwenden können – wie gesagt, pro Kompetenz in all ihren Stufen durchschnittlich eine Woche Unterrichtszeit.

Wäre man jetzt kleinlich, so könnte man einwenden: Was ist mit allen anderen Abschlüssen, etwa dem Realschulabschluss? Oder was ist mit den anderen Fächern? Es sind ja nicht nur Mathematik, Deutsch, Biologie, Chemie, Physik und die Fremdsprachen wichtig. Unser Einwand gegen die Kompetenzorientierung greift aber tiefer: Ebenso wie PISA zu einer Separierung des Geistes führt, indem es bestimmte Fächer ins Zentrum rückt, führt die Kompetenzorientierung zu einer Zerlegung des Denkens und scheitert letztlich an den selbst gesteckten Zielen.

Besonders eindringlich zeigt dies Ludger Wößmann in einer Auswertung der internationalen und nationalen Vergleichsstudien aus den letzten zwanzig Jahren – insgesamt 43 Erhebungen aus PISA, IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) sowie den IQB-Bildungstrends (Bundesländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung hinsichtlich der sprachlichen Kompetenzentwicklung bei Dritt- und Neuntklässlern). Sie alle folgen der dargestellten Logik und damit einer Kompetenzorientierung. Sein Ergebnis lautet: Seit über zehn Jahren geht es mit den Lernleistungen abwärts – beim Lesen, beim Schreiben, beim Rechnen und in den Naturwissenschaften.[16]

Allein das wäre schon schlimm genug. Ein detaillierter Blick auf die Kompetenzstufen zeigt aber auch, dass die Anzahl derer, die den Mindeststandard nicht erreichen, zunimmt und sich damit immer weniger Schülerinnen und Schüler in Richtung Optimalstandard entwickeln.[17] Das Ganze erhält schließlich noch eine gesamtgesellschaftliche Brisanz, denn vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus fallen immer weiter ab. Damit geht die Bildungsschere immer weiter auseinander.

Man kann es nun drehen und wenden, wie man möchte: Tatsache ist, dass die Kompetenzorientierung es nicht schafft, den selbstgesetzten Ansprüchen gerecht zu werden. Ganz im Gegenteil: Die Lernleistungen sind seit Jahren rückläufig, und trotz der Kompetenzorientierung wissen und können die Schülerinnen und Schüler immer weniger. Kein Wunder also, dass damit auch das Verstehen des Gelernten schwindet.

Dass Können nicht gleich Verstehen ist, gilt in der Philosophie als Allgemeinplatz. Im Kern versucht das die Kompetenzorientierung mit ihren Kompetenzstufen abzubilden. Während es auf dem Niveau des Mindeststandards um das einfache Wiedergeben des Gelernten geht, steht beim Optimalstandard die Anwendung und damit das Verstehen im Zentrum. Ganz einfach lässt sich das am Beispiel des Prozentrechnens erklären: Nur weil ein Mensch Prozente berechnen kann, hat er das Prozentrechnen noch nicht verstanden. Sobald sich nämlich der Sachverhalt ändert, in dem Prozente zu berechnen sind, wird es ohne ein entsprechendes Verständnis des Sachverhalts schwierig. Allein mit dem Können des Prozentrechnens kommt man dann nicht weiter.

So sind es denn auch die Sachverhalte, die jeweiligen sachlichen Zusammenhänge, die von entscheidender Bedeutung für Bildung sind. Fehlt das Verständnis für den Zusammenhang, kann der Schüler nicht vom Minimalstandard zum Optimalstandard voranschreiten. Sind die Zusammenhänge zu lebensfern, stellt sich ebenso wenig ein Verstehen ein, weil den Lernenden nicht deutlich wird, warum sie überhaupt etwas lernen sollen. Wirft man vor diesem Hintergrund einen Blick in die derzeitigen Lehrpläne, so muss man leider zur Kenntnis nehmen: Es mangelt an Sachverhalten, die Kindern und Jugendlichen etwas sagen. Warum bitte sollte ein Grundschüler für sich ausrechnen, wie viele verschiedene Kleiderkombinationen er aus drei Hosen und vier Pullovern anziehen kann? Ist das eine Frage, die ihn in der Gegenwart oder in der Zukunft beschäftigt? Fachlich mag dieses Grundschulbeispiel aus Bayern richtig sein, aber aus Sicht eines Kindes ist es – bedeutungslos.

Die Kompetenzorientierung hat es also weder geschafft, die Lehrplanfülle zu reduzieren, noch führt sie zu mehr Verstehen in den Schulen. Beides, die Reduzierung der Lehrpläne wie auch die Förderung des Verstehens, sind daher notwendige Reformen, wenn man Bildung anders denkt.

Wolfgang Klafki, einer der führenden deutschen Erziehungswissenschaftler, hat für beide Anliegen einen Vorschlag unterbreitet.[18] Er spricht von drei Bedeutungszusammenhängen, die bei der Auswahl von Lehrplaninhalten zu beachten sind: Erstens: Gegenwartsbedeutung. Ist es für mich heute wichtig, diese Kompetenz zu erwerben? Zweitens: Zukunftsbedeutung. Ist es für mich wichtig, die Kompetenz zu erwerben, um zukünftig davon profitieren zu können? Und drittens: exemplarische Bedeutung. Ist es für mich wichtig, die Kompetenz zu erwerben, weil damit eine fachliche Perspektive auf besondere Art und Weise erschlossen wird? Klafki hat diese Fragen formuliert, um die Stofffülle in den Lehrplänen in den Griff zu bekommen. Denn seit jeher ist die Klage vernehmbar, dass in der Schule zwar viel gelernt, nicht alles aber verstanden und das meiste schnell wieder vergessen wird.

In der empirischen Forschung gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien, die den Ansatz von Wolfgang Klafki bestätigen. Zu den bekannteren zählen die Arbeiten von John Keller und sein sogenanntes ARZZ-Modell. Mit diesem Akronym macht er deutlich, dass Sinnhaftigkeit und Motivation im Unterricht steigen, wenn die Inhalte Aufmerksamkeit (A) erzeugen, eine Relevanz (R) aufweisen, Zuversicht (Z) generieren und Zufriedenheit (Z) ermöglichen.[19]

Setzt man nun die Kriterien an, die Klafki oder Keller nennen, wird man schnell erkennen: Nicht alles, was in den Lehrplänen steht und von Kindern und Jugendlichen verlangt wird, ist heute oder morgen noch von Bedeutung oder erregt noch Aufmerksamkeit. Vieles ist ausschließlich aus der Sicht des Faches eine Kompetenz, die es sich anzueignen lohnt. Akzeptiert man diese Erkenntnis, lassen sich schnell mehrere Kompetenzen aus den aktuellen Lehrplänen streichen. Warum auch sollten Kinder und Jugendliche etwas lernen, was sie weder heute noch morgen brauchen werden? In diesem Sinn unser Vorschlag: Lasst uns 30 Prozent an Kompetenzen streichen, um mehr Zeit und Raum für Vertiefung, Sinnhaftigkeit und Lebensnähe zu erhalten. All das ist wichtig und für Bildung entscheidend, und all das braucht mehr Zeit und Raum für Bildung.

Eine solche Lehrplanreform, die entrümpeln soll, verfolgt nicht das Ziel, die Anforderungen zu senken, wie immer wieder kritisiert wird. Ganz im Gegenteil: Durch mehr Lebensnähe und mehr Sinnhaftigkeit werden erst adäquate Herausforderungen gesetzt! Auch führt dieses Entrümpeln nicht zu weniger Fachkompetenz, sondern letztlich sogar zu mehr. Viele Fächer zeichnen sich heute noch dadurch aus, dass sie aufgrund des traditionellen enzyklopädischen Charakters der ihnen zugrunde liegenden Lehrpläne überfrachtet sind und darunter das Verstehen leidet. Doch sicher ist: Wer nur in die Breite lernt, wird niemals in der Tiefe ankommen. Und: Wer nur an der Oberfläche kratzt, wird den Kern der Sache nicht erkennen.

Ein weiterer wichtiger Reformpunkt sind Lebensnähe und Sinnhaftigkeit. Dadurch bekommen die Fragen der Schülerinnen und Schüler genügend Raum in der Schule. Egal, wie man zu Fridays for Future stehen mag – diese Schülerbewegung zeigt auf alle Fälle, dass beachtliche Teile der nachwachsenden Generation durchaus – und sogar ganz dezidiert – gesellschaftliche Interessen haben und sich dafür engagieren wollen. Doch was passiert, wenn die Schule darauf nicht eingeht und auch nicht eingehen kann, weil für aktuelle Debatten gar keine Zeit ist? Dann lernen Kinder und Jugendliche über das Thema »Nachhaltigkeit« mehr auf der Straße oder im Internet als in den Schulen – ohne Begleitung und ohne Reflexion. Mittlerweile hat sich zumindest beim Thema »Nachhaltigkeit« die Situation an den Schulen gewandelt und verbessert. Es wird einiges unternommen, auch wenn vieles noch zu sehr an »Greenwashing« erinnert. Die Lehre aus dem Gesagten aber ist eindeutig: Lehrpläne brauchen fest verankerte Bildungszeiten und Bildungsräume für aktuelle Fragen. Schülerinnen und Schüler können nicht jedes Mal, wenn ihnen etwas auf den Nägeln brennt, freitags auf die Straße gehen. Vielmehr muss die Schule hierfür der zentrale Bildungsort und Lebensraum sein. So wichtig eine Kompetenzorientierung auch ist, sie allein reicht nicht aus, dass aus Lernen Verstehen wird.

Weniger Kopf, mehr Mensch

Es ist wohl eines der bekanntesten Zitate aus der Antike: »Mens sana in corpore sano.«[20] Auch wenn Juvenal diese Worte in einer seiner Satiren verwendete, so sind sie heute doch zu einer pädagogischen Botschaft geworden: Der Mensch ist mehr als sein Kopf! Wie ist diesbezüglich die aktuelle Lage? Ein paar Schlaglichter dazu:[21]

Schwimmverbände schlagen Alarm, weil immer weniger Kinder schwimmen können. Verbände gehen derzeit davon aus, dass 40 Prozent der Kinder am Ende der Grundschule nicht einmal das Seepferdchen haben – mit steigender Tendenz in den letzten Jahren.[22] Der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen liegt seit Jahren mehr oder weniger konstant bei etwa 15 Prozent. Ärztinnen und Ärzte finden das besorgniserregend, weil die Folgen eines frühen Übergewichts später kaum noch zu kompensieren sind – abgesehen davon, dass sie das Gesundheitssystem massiv belasten.[23]

Die Hauptursachen für diese Entwicklungen sind vor allem falsche Ernährung und Bewegungsmangel. Viele Kinder und Jugendliche essen zu fett und zu süß und bewegen sich zu wenig. Letzteres ist nicht zuletzt auf eine zunehmende Digitalisierung der Lebenswelt zurückzuführen, in der Bewegungszeiten den Sitz- und Liegezeiten vor den digitalen Geräten gewichen sind. Auch wenn es unterschiedliche Befragungsergebnisse zur Nutzungszeit pro Tag gibt, ist die Tendenz eindeutig: Verbrachten Jugendliche 2019 laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über 200 Minuten pro Tag vor Bildschirmen,[24] sind es laut der Digital-Studie der Postbank 2023 bereits über 60 Stunden pro Woche, was um die 500 Minuten pro Tag ausmacht.[25]

Nun kann man es sich einfach machen und sagen: Was hat das mit Schule zu tun? Die Ernährung ist doch vorwiegend Aufgabe der Eltern, und auch die körperliche Verfassung des Nachwuchses fällt doch vornehmlich unter ihre Verantwortung. Das ist sicherlich richtig. Aber Schule hat einen Bildungs- und Erziehungsauftrag und dazu gehört nicht nur, das Kognitive zu fördern, sondern den Menschen in seiner Leib-Seele-Geist-Einheit zu sehen. Dass es diese gibt, kann jeder aus eigener Erfahrung nachvollziehen: Wer krank ist, tut sich schwer mit langen und herausfordernden Denkaufgaben. Und wer auf Dauer viel lernen muss, weil er gerade im Prüfungsstress steckt, wird anfälliger für Infekte.