Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - E-Book

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke E-Book

Guy de Maupassant

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Beschreibung

Guy de Maupassant (1850-1893) war ein französischer Schriftsteller und Journalist. Maupassant gilt neben Stendhal, Balzac, Flaubert und Zola als einer der großen französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts. Er ist auch einer der am häufigsten verfilmten Autoren. Bel Ami, Dickchen, Ein Menschenleben, Fräulein Fifi, Das Haus, Herr Parent, Der Horla, Die kleine Roque, Der Liebling, Miss Harriet, Mondschein, Nutzlose Schönheit, Die Schnepfe, Die Schwestern Rondoli, Stark wie der Tod, Tag- und Nachtgeschichten, Der Tugendpreis, Unser Herz, Vater Milon, Zwei Brüder Null Papier Verlag

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Guy de Maupassant

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Guy de Maupassant

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962817-69-5

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Va­ter Mi­lon und an­de­re Er­zäh­lun­gen

Vor­wort des Über­set­zers

Va­ter Mi­lon

Am Früh­lings­abend

Der Blin­de

Der ver­häng­nis­vol­le Ku­chen

Der Schä­fer­sprung

Aus al­ten Ta­gen

Ma­gne­tis­mus?

Ein kor­si­ka­ni­scher Ban­dit

Die To­ten­wa­che

Träu­me

Eine Beich­te

Mond­schein

Eine Lei­den­schaft

Brief­wech­sel

An­ge­führt

Yve­li­ne Sa­mo­ris

Freund Jo­sef

Das Pfle­ge­kind

Bel Ami

Teil 1

Teil 2

Das Haus Tel­lier und An­de­res

Das Haus Tel­lier

Der Kirch­hof Mont­mar­tre

Auf dem Was­ser

Ge­dan­ken des Oberst La­por­te

Ber­t­ha

Die Ge­schich­te ei­ner Bau­ern­magd

Im Fa­mi­li­en­krei­se

Si­mons Papa

Ein Men­schen­le­ben

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

Yvet­te und An­de­res

Paul’s Ver­hält­nis

Eine Land­par­tie

Im Früh­ling

Mam­sell Fifi

Fett-Kloss

Zwei Freun­de

Ein Stück­chen Bind­fa­den

Das Zieh­kind

Die Rück­kehr

Mar­ro­ca

Mo­ham­med Cri­pouil­le

Der Wald­hü­ter

Der letz­te Spa­zier­gang

Zwei Brü­der

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Der Hor­la

Der Hor­la

Das Loch

Ge­ret­tet

Clo­chet­te

Der Mar­quis von Fu­me­rol

Das Zei­chen

Der Teu­fel

Drei­kö­nigs­tag

Im Wal­de

Eine Fa­mi­lie

Jo­sef

Das Wirts­haus

Der Land­strei­cher

Lie­be – Aus dem Ta­ge­buch ei­nes Jä­gers

Mont Ori­ol

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Herr Pa­rent

Herr Pa­rent

Bel­hom­mes Vieh

Zu ver­kau­fen

Die Un­be­kann­te

Das Ge­ständ­nis

Die Tau­fe

Un­vor­sich­tig­keit

Ein Wahn­sin­ni­ger

Länd­li­che Ge­richts­ver­hand­lung

Die Haar­na­del

Eine Ent­de­ckung

Die Sch­nep­fen

Auf der Ei­sen­bahn

Ça ira

Ein­sam­keit

An Bet­tes Rand

Die bei­den klei­nen Sol­da­ten

Dick­chen

Dick­chen

Der Bur­sche

Al­lou­ma

Hau­tot Va­ter und Hau­tot Sohn

Ein Abend

Die Steck­na­deln

Duchoux

Das Stell­dich­ein

Die Tote

Nutz­lo­se Schön­heit

Nutz­lo­se Schön­heit

Das Oli­ven­feld

Die Flie­ge

Der Er­trun­ke­ne

Die Pro­be

Die Mas­ke

Das Bild

Der Krüp­pel

Die fünf­und­zwan­zig Fran­ken der Obe­rin

Ein Schei­dungs­grund

Wer weiß!

Schnaps-An­ton

Schnaps-An­ton

Freund Pa­ti­ence

Der Schnurr­bart

Das Bett No. 29

Bom­bard

Das Haar

Der alte Mon­gi­let

Der Schrank

Zim­mer No. 11

Die Ge­fan­ge­ne­nen

Die Mit­gift

Ro­gers Mit­tel

Das Ge­ständ­nis

Die Teu­fe­lin

Der Pro­tek­tor

Theo­dul Sa­bots Beich­te

Die klei­ne Ro­que

Die klei­ne Ro­que

Das Wrack

Der Ein­sied­ler

Fräu­lein Per­le

Ro­sa­lie Pru­dent

Frau Pa­ris­se

Ju­lie Ro­main

Der alte Ama­ble

Die Schwes­tern Ron­do­li

Die Schwes­tern Ron­do­li

Die Wir­tin

Der Fall Lu­neau

Selbst­mor­de

On­kel Sosthè­ne

Das Fäss­chen

Er?

Der Rie­gel

Der Or­den

An­dre­as’ Lei­den

Der Re­gen­schirm

Das Sün­den-Brot

Die Be­geg­nung

Der Wei­se

Châ­li

Der Lieb­ling

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Stark wie der Tod

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Tag- und Nacht­ge­schich­ten

Die Mo­ri­tat

Rosa

Der Va­ter

Das Ge­ständ­nis

Der Schmuck

Das Glück

Der Alte

Ein Feig­ling

Der Säu­fer

Die Blut­ra­che

Coco

Die Hand

Der Krüp­pel

El­tern­mord

Der Lum­men-Fel­sen

Der Klei­ne

Tim­buc­tu

Eine wah­re Ge­schich­te

Adieu

Erin­ne­rung

Die Beich­te

Un­ser Herz

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Miss Har­riet

Miss Har­riet

De­nis

Kell­ner, ein Bier!

Auf der Rei­se

Ein Idyll

Die Erb­schaft

Der Esel

Der Strick

Die Tau­fe

Reue

On­kel Ju­li­us

Mut­ter Sau­va­ge

Ein Men­schen­le­ben

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Mond­schein

Mond­schein

Ein Staats­s­treich

Der Wolf

Das Kind

Weih­nachts­mär­chen

Kö­ni­gin Hor­ten­se

Die Ver­zei­hung

Le­gen­de vom Mont Saint-Mi­chel

Eine Wit­we

Fräu­lein Co­cot­te

Die Schmuck­sa­chen

Vi­si­on

Die Tür

Der Va­ter

Moi­ron

Un­se­re Brie­fe

Die Nacht – Ein Traum­ge­sicht

Die Sch­nep­fe

Die Sch­nep­fe

Das Schwein der Mo­rin

Die Ver­rück­te

Pier­rot

Me­nuet

Die Furcht

Nor­man­ni­scher Scherz

Die Holz­schu­he

Die Rohr­stuhl­flech­te­rin

Auf See

Ein Nor­man­ne

Das Te­sta­ment

Auf dem Lan­de

Ein Hahn hat ge­kräht

Ein Sohn

Sankt An­ton

Wal­ter Schnaffs’ Aben­teu­er

Hans und Pe­ter

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Der Tu­gend­preis

Der Tu­gend­preis

Ab­ge­blitzt

Toll­wut?

Das Mo­dell

Die Baro­nin

Ein Han­del

Der Mör­der

Die Mar­tin

Eine Ge­sell­schaft

Die Beich­te

Schei­dung

Ver­gel­tung

Irr­fahr­ten ei­nes Mäd­chens

Das Fens­ter

Das Haus

Das Haus

Kirch­hofs­lie­be

Auf dem Strom

Ge­schich­te ei­ner Magd

Da­heim

Si­mons Va­ter

Die Land­par­tie

Im Lenz

Pauls Frau

Fräu­lein Fifi

Zur Ein­füh­rung

Die bei­den Freun­de

Lie­bes­wor­te

Der Weih­nachts­abend

Der Er­satz­mann

Die Re­li­quie

Das Holz­scheit

Pa­ri­ser Aben­teu­er

Der Dieb

Das Bett

Fräu­lein Fifi

Er­wacht

Weih­nachts­fei­er

Eine List

Der Spa­zier­ritt

Ein­ge­ros­tet

Toll?

Frau Bap­tis­te

Mar­ro­ca

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

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Vater Milon und andere Erzählungen

Vorwort des Übersetzers

Wir be­gin­nen hier­mit die Ver­öf­fent­li­chung des Nach­las­ses von Guy de Mau­passant. Er ent­hält Er­zäh­lun­gen, No­vel­len, lit­te­ra­ri­sche Chro­ni­ken und Auf­sät­ze, an de­ren ge­ord­ne­ter Her­aus­ga­be der Ver­fas­ser durch einen frü­hen und jä­hen Tod ver­hin­dert wor­den ist.

Die­ser ers­te Band ent­hält eine Rei­he von Ge­schich­ten, de­ren Grun­di­dee Mau­passant in ei­ni­gen sei­ner Bü­cher wie­der auf­ge­nom­men und aus­ge­stal­tet hat. Sie fin­den hier ih­ren na­tür­li­chen Platz, denn sie las­sen uns – ganz ab­ge­se­hen von dem In­ter­es­se, das sie an sich zu be­an­spru­chen ha­ben, – die Ent­wi­cke­lung des Mau­passant’­schen Den­kens und Schaf­fens bis in ihre An­fän­ge zu­rück ver­fol­gen.

Wir sind uns be­wusst, dass die Ver­öf­fent­li­chung die­ser in sei­nen Pa­pie­ren vor­ge­fun­de­nen und von ihm selbst noch ge­ord­ne­ten Ar­bei­ten dazu bei­tra­gen wird, das In­ter­es­se für den großen Schrift­stel­ler und sei­nen Ruhm zu meh­ren.

*

Mit die­ser et­was knap­pen Vor­re­de be­ginnt der am heu­ti­gen Tage zu­gleich mit die­ser Über­set­zung er­schei­nen­de post­hu­me No­vel­len­band Guy de Mau­passants »Le Père Mi­lon«. Die Kür­ze der mir ge­steck­ten Frist er­laub­te nicht, den oben an­ge­deu­te­ten Ge­dan­ken, dass es sich in die­sem Ban­de um meh­re­re Ur­bil­der spä­ter aus­ge­stal­te­ter Wer­ke han­delt, des län­ge­ren aus­ein­an­der zu set­zen, und muss ich mir die­se Auf­ga­be bis auf wei­te­res vor­be­hal­ten. Ein paar ein­lei­ten­de Wor­te mö­gen den­noch am Plat­ze sein.

*

Mau­passant er­scheint auch in die­sem post­hu­men Ban­de als der See­len­künst­ler und Meis­ter des Styls, als der er ge­schätzt wird. Je­des der nach­fol­gen­den Gen­re­bild­chen ist mit epi­gram­ma­ti­scher Kür­ze wie mit un­nach­ahm­li­cher Klar­heit und Ein­fach­heit hin­ge­zeich­net und er­schließt in die­ser meis­ter­li­chen Be­schrän­kung eine gan­ze rei­che Welt. Na­tür­lich hat der große See­len­ken­ner und Pes­si­mist, der eben, weil er See­len­ken­ner war, zum Pes­si­mis­ten wur­de, auch in die­ser Samm­lung mehr die Schat­ten­sei­ten der mensch­li­chen Na­tur als ihre Licht­sei­ten – in frei­lich vir­tuo­ser Wei­se – her­aus­ge­ar­bei­tet. Wenn trotz­dem kaum eine die­ser No­vel­len einen durch­aus un­be­frie­di­gen­den, quä­len­den Ein­druck hin­ter­lässt, so liegt das wohl dar­an, dass die bit­te­re Wahr­heit stets in die him­melblaue Schön­heit feins­ter Styl­kunst ge­taucht ist, und dass Mau­passant ne­ben den Dis­so­nan­zen des Men­schen­le­bens auch die wun­der­vol­len Ak­kor­de der Na­tur er­klin­gen lässt, die er wie kein zwei­ter zu schil­dern weiß. Im­pres­sio­nis­ti­sche Na­tur­bil­der, wie sie in der No­vel­le »Ein kor­si­ka­ni­scher Ban­dit« ent­rollt wer­den, oder die Schil­de­rung des re­gungs­lo­sen Tei­ches in der Herbst­nacht, oder der Zau­ber ei­nes Mond­auf­gan­ges am feuch­ten Früh­lings­abend ge­hö­ren zu den Per­len Mau­passant’­scher Kunst und ste­hen den be­rühm­ten Schil­de­run­gen der Afri­ka­ni­schen Rei­se nicht nach.

Na­tür­lich ste­hen auch in die­ser Samm­lung die Wei­ber im Brenn­punkt des In­ter­es­ses. Wir se­hen sie alle, von der Aben­teue­rin, de­ren Toch­ter aus Gram über den leicht­fer­ti­gen Wan­del der Mut­ter in den Tod geht, und der klei­nen Pa­ri­ser Be­am­ten­frau, die einen Mi­nis­ter des zwei­ten Kai­ser­rei­ches nas­führt, von der jun­gen Frau, die der un­ge­lieb­te Gat­te aus blin­der sinn­lo­ser Ei­fer­sucht fast um­bringt und sie ge­ra­de da­durch zu Miss­trau­en und Un­treue er­zieht – bis zu der lie­be­be­dürf­ti­gen schö­nen See­le, die an einen lang­wei­li­gen kor­rek­ten Pe­dan­ten ge­ket­tet ist und in ei­ner zau­be­ri­schen Mond­nacht am Gen­fer See ihr Herz ver­liert, bis zu der al­tern­den Frau, die in dem weh­mü­ti­gen Ge­dan­ken: »Wie kurz ist doch ein Men­schen­le­ben!« an die fröh­li­chen und sorg­lo­sen Tage ih­rer glück­li­chen Ju­gend zu­rück­denkt und un­ter al­tem Ge­rüm­pel von den Bil­dern der Ver­gan­gen­heit weh­mü­tig be­fal­len wird, und bis zu der rüh­ren­den Ge­stalt der al­ten Jung­fer, die in der Früh­lings­nacht weint, als sie, das arme, nie ge­lieb­te Mäd­chen, das lie­ben­de, schä­kern­de Braut­paar be­wa­chen soll…

Ich möch­te an die­ser Stel­le eine tech­ni­sche Schluss­be­mer­kung nicht un­ter­drücken. Es ver­steht sich von selbst, dass die­ses Buch nicht nach be­lieb­ter Ma­nier »frei nach Mau­passant« er­fun­den ist, son­dern sich eng an das Ori­gi­nal an­schließt. Wenn ich trotz­dem an ge­wis­sen Stel­len nicht bis zur Gren­ze des Er­laub­ten ge­gan­gen bin, so glau­be ich mich trotz­dem nicht am Ur­text ver­sün­digt zu ha­ben, der mir hei­lig ist. Die fran­zö­si­sche Spra­che hat – ganz ab­ge­se­hen da­von, dass es fran­zö­si­sche Art ist, al­les viel frei­er, nai­ver und un­ge­schmink­ter her­aus­zu­sa­gen, als es bei uns an­stän­dig wäre – eine Fül­le von Wor­ten, die al­les mög­li­che be­deu­ten kön­nen, wäh­rend die Äqui­va­len­te bei uns – sehr ein­deu­tig sind. Man lese z. B. einen Ro­man von Zola auf Fran­zö­sisch, und man wird ver­hält­nis­mä­ßig we­nig di­rekt An­stö­ßi­ges dar­in fin­den; man lese ihn in »rea­lis­ti­scher« Über­set­zung, und man wird vor­zie­hen, ihn nicht zu Ende zu le­sen. Es heißt dar­um nicht, einen Au­tor fäl­schen, wenn man ihn in ei­ner sol­chen Ab­tö­nung wie­der­gibt, dass die Wir­kung, die er her­vor­ruft, in bei­den Spra­chen die­sel­be bleibt.

Ber­lin, im Juli 1899.

Fried­rich von Op­peln-Bro­ni­kow­ski.

Vater Milon

Seit ei­nem Mo­nat flammt die Son­ne mit Macht über der Land­schaft. Leuch­tend ent­fal­tet sich das Le­ben un­ter die­sem Feu­er­re­gen. Blau spannt sich der Him­mel bis an die Rän­der der Welt. Die nor­man­ni­schen Höfe, die über die Ebe­ne ver­streut sind, se­hen von fer­ne wie klei­ne Wal­dun­gen aus, die ein ho­her Bu­chen­gür­tel um­schlingt. Kommt man nä­her und öff­net das ver­wit­ter­te Hof­tor, so glaubt man in einen Rie­sen­gar­ten zu tre­ten, denn all die al­ten Ap­fel­bäu­me, die so knor­rig wie die Bau­ern des Lan­des sind, ste­hen in Blü­te. Ihre al­ten schwar­zen, ge­krümm­ten und ge­wun­de­nen Stäm­me ste­hen rei­hen­wei­se im Hofe und ent­fal­ten ihre wei­ßen und rosa Blü­ten­wip­fel un­ter dem blau­en­den Him­mel. Der süße Blü­ten­duft mischt sich in die fet­ten Gerü­che der of­fe­nen Stäl­le und die Aus­düns­tun­gen des gä­ren­den Dün­ger­hau­fens, auf dem es von Hüh­nern wim­melt.

Es ist Mit­tag, die Fa­mi­lie sitzt im Schat­ten des Birn­baums vor der Tür, Va­ter, Mut­ter, vier Kin­der, zwei Mäg­de und drei Knech­te. Ge­spro­chen wird nicht, nur ge­ges­sen. Erst die Sup­pe, dann wird die Fleisch­schüs­sel auf­ge­deckt, auf der Kar­tof­feln mit Speck lie­gen. Von Zeit zu Zeit steht eine Magd auf und geht in den Kel­ler, um den Äp­fel­wein­krug zu fül­len.

Der Mann, ein statt­li­cher Vier­zi­ger, dreht sich nach dem Hau­se um und blickt auf ein Wein­spa­lier, das noch ziem­lich kahl ist und sich wie eine Schlan­ge un­ter den Lä­den weg um die Mau­er win­det. End­lich tut er den Mund auf. »Va­ter sein Wein« sag­te er, »schlägt dies Jahr früh aus. Vi­el­leicht wird er was tra­gen.«

Die Frau dreht sich gleich­falls um und blickt hin, ohne ein Wort zu sa­gen.

Die­ser Wein ist ge­ra­de an der Stel­le ge­pflanzt, wo der Va­ter er­schos­sen wur­de.

*

Es war im Krie­ge 1870. Die Preu­ßen hat­ten das gan­ze Land be­setzt. Ge­ne­ral Faid­her­be stand ih­nen mit der Nor­dar­mee ge­gen­über.

Das preu­ßi­sche Stab­s­quar­tier be­fand sich just in die­sem Hofe. Va­ter Mi­lon, der Be­sit­zer, mit Vor­na­men Pier­re, hat­te den Feind gut auf­ge­nom­men und nach bes­ten Kräf­ten un­ter­ge­bracht.

Die preu­ßi­sche Avant­gar­de lag seit ei­nem Mo­nat hier in Beo­b­ach­tungs-Stel­lung. Die Fran­zo­sen stan­den zehn Mei­len ent­fernt, ohne sich zu rüh­ren, und doch ver­schwan­den all­nächt­lich Ula­nen.

Alle ein­zel­nen Rei­ter, die auf Pa­trouil­le ge­schickt wur­den, auch wenn sie zu zweit oder zu dritt rit­ten, ka­men nie wie­der.

Man fand sie am nächs­ten Mor­gen im Fel­de, am Ran­de ei­nes Ge­höfts oder Gra­bens tot. Selbst ihre Pfer­de la­gen an den Stra­ßen hin­ge­streckt; ein Sä­bel­hieb hat­te ih­nen die Keh­le zer­schnit­ten.

Die­se Mord­ta­ten schie­nen im­mer von den­sel­ben Leu­ten ver­übt zu wer­den, die man nicht ent­de­cken konn­te.

Das Land wur­de ein­ge­schüch­tert, Bau­ern auf ein­fa­che De­nun­zia­ti­on hin er­schos­sen, Wei­ber ge­fan­gen ge­setzt. Aus den Kin­dern such­te man durch Dro­hun­gen et­was her­aus zu pres­sen. Es kam aber nichts her­aus.

Doch da lag ei­nes Mor­gens Va­ter Mi­lon im Stall auf der Streu und hat­te einen klaf­fen­den Hieb im Ge­sicht.

Zwei Ula­nen mit auf­ge­schlitz­tem Lei­be la­gen etwa drei Ki­lo­me­ter vom Hofe ent­fernt. Der eine hielt sei­ne blu­ti­ge Waf­fe noch in der Faust; er hat­te sich ge­wehrt und ge­kämpft.

So­fort wur­de ein Kriegs­ge­richt auf dem Hofe un­ter frei­em Him­mel ab­ge­hal­ten und der Alte vor­ge­führt.

Er war achtund­sech­zig Jah­re alt, von klei­ner Sta­tur, ma­ger, et­was ge­beugt, und hat­te große Hän­de wie Krebs­sche­ren. Sein Haar war ge­bleicht, spär­lich und zart wie der Flaum ei­ner jun­gen Ente; über­all ließ es die Kopf­haut durch­schim­mern. An der brau­nen, run­ze­li­gen Haut des Hal­ses quol­len di­cke Adern her­vor, die un­ter dem Kinn ver­schwan­den und an den Schlä­fen wie­der zu Tage tra­ten.

Man stell­te ihn zwi­schen vier Sol­da­ten und an den her­aus­ge­zo­ge­nen Kü­chen­tisch setz­ten sich fünf Of­fi­zie­re so­wie der Oberst ihm ge­gen­über.

Die­ser er­griff das Wort auf Fran­zö­sisch.

– Va­ter Mi­lon, sag­te er, seit wir hier sind, ha­ben wir uns über Euch nie zu be­kla­gen ge­habt. Ihr seid im­mer ge­fäl­lig und so­gar auf­merk­sam ge­gen uns ge­we­sen. Aber heu­te las­tet eine furcht­ba­re An­kla­ge auf Euch, und die Sa­che be­darf der Auf­klä­rung. Wo­her habt Ihr die Wun­de, die Ihr da im Ge­sicht tragt?

Der Bau­er ant­wor­te­te nicht.

– Euer Schwei­gen ver­dammt Euch selbst, Va­ter Mi­lon, fuhr der Oberst fort. Aber ich wün­sche, dass Ihr ant­wor­tet, ver­steht Ihr mich. Wisst Ihr, wer die bei­den Ula­nen ge­tö­tet hat, die heu­te Mor­gen am Kru­zi­fix ge­fun­den wur­den?

Der Alte sag­te laut und deut­lich:

– Das bin ich ge­we­sen.

Der Oberst war be­trof­fen. Er schwieg eine Se­kun­de und blick­te den Ge­fan­ge­nen scharf an. Va­ter Mi­lon stand un­ge­rührt in sei­ner schwer­fäl­li­gen Bau­ern­art und senk­te die Au­gen, als ob er vor sei­nem Beich­ti­ger stän­de. Nur ei­nes ver­riet viel­leicht sei­ne in­ne­re Be­we­gung: er schluck­te fort­wäh­rend mit sicht­li­cher An­stren­gung, als ob ihm die Keh­le zu­ge­schnürt wäre.

Sei­ne Fa­mi­lie, d. h. sein Sohn Jean, sei­ne Schwie­ger­toch­ter und die zwei Klei­nen, stan­den zehn Schritt da­hin­ter, ver­stört und in ängst­li­cher Span­nung.

Der Oberst fuhr fort.

– Wisst Ihr auch, wer alle Mel­de­rei­ter un­se­rer Ar­mee um­ge­bracht hat, die seit ei­nem Mo­nat je­den Mor­gen auf den Fel­dern ge­fun­den wur­den?

Und mit der­sel­ben bru­ta­len Gleich­gül­tig­keit ant­wor­te­te der Alte:

– Das bin ich ge­we­sen.

– Ihr? Ihr habt sie um­ge­bracht?

– Frei­lich, ich bin es ge­we­sen.

– Ihr al­lein?

– Ich al­lein.

– Sagt mir doch, wie habt Ihr das an­ge­stellt?

Dies­mal schi­en der Mann be­wegt. Der Zwang, lan­ge re­den zu müs­sen, be­läs­tig­te ihn sicht­lich.

Ich… ich weiß nicht. Ich hab’ das ge­tan, wie sich ’s gra­de mach­te.

– Ich ma­che Euch dar­auf auf­merk­sam, fuhr der Oberst fort, dass Ihr nichts zu ver­schwei­gen habt. Ihr wer­det also gut tun, Euch auf der Stel­le zu ent­schlie­ßen. Wie habt Ihr sie um­ge­bracht?

Der Bau­er warf einen un­ru­hi­gen Blick auf sei­ne An­ge­hö­ri­gen, die hin­ter ihm horch­ten, schi­en noch einen Au­gen­blick zu zau­dern und ent­schloss sich dann plötz­lich, zu re­den.

– Ich kam ei­nes Abends heim, sag­te er. Es war um zehn Uhr, den Tag dar­auf, wo Sie her­ge­kom­men wa­ren. Sie und Ihre Sol­da­ten hat­ten mir mehr als für fünf­zig Ta­ler Fut­ter und eine Kuh und zwei Ham­mel fort­ge­nom­men. Ich habe mir gleich ge­sagt: So viel mal sie mir zwan­zig Ta­ler neh­men, so viel will ich ih­nen heim­zah­len. Und dann hat­te ich noch an­de­re Sa­chen auf dem Her­zen, die will ich Ih­nen nach­her sa­gen. Ich sehe da also einen von Ihren Rei­tern, der sitzt auf mei­nem Gra­ben­rand und raucht sei­ne Pfei­fe hin­ter mei­ner Scheu­er. Ich gehe und neh­me mei­ne Sen­se her­un­ter und schlei­che mich ganz sach­te von hin­ten an ihm ’ran, dass er nur ja nichts merkt. Und mit ei­nem Schla­ge hau’ ich ihm den Kopf ab, wie einen Halm, dass er nicht mal mehr »Uff!« sag­te. Sie brau­chen nur im Moor nach­se­hen las­sen, da wer­den Sie ihn in ei­nem Koh­len­sack fin­den, mit ’nem Feld­stein dran­ge­bun­den.

Ich hat­te so mei­nen Ge­dan­ken da­bei; ich nahm alle sei­ne Sa­chen samt den Stie­feln und der Müt­ze mit und ver­steck­te sie in der Kalk­bren­ne­rei am Mar­tins­wald hin­ter dem Hofe.

Der Alte schwieg. Die Of­fi­zie­re blick­ten sich sprach­los an. Das Ver­hör be­gann von Neu­em und hat­te fol­gen­des Er­geb­nis.

*

So­bald er den Mord voll­bracht hat­te, hat­te er nur noch den einen Ge­dan­ken: »Tod den Preu­ßen!« Er hass­te sie mit heim­tücki­schem, er­bit­ter­tem Hass, so­wohl als be­ein­träch­tig­ter Bau­er wie als gu­ter Pa­tri­ot. Er hat­te so sei­nen Ge­dan­ken, wie er sag­te, und war­te­te ein paar Tage ab.

Man ließ ihn tun und las­sen, was er woll­te, und aus- und ein­ge­hen, wie er woll­te, so de­mü­tig, un­ter­wür­fig und ge­fäl­lig hat­te er sich ge­gen die Sie­ger be­nom­men. So sah er je­den Abend die Pa­trouil­len ab­rei­ten und merk­te sich die Na­men der Orte, wo­hin sie rei­ten soll­ten. Des Nachts ging er dann hin­aus, nach­dem er im Ver­kehr mit den Sol­da­ten die paar deut­schen Bro­cken ge­lernt hat­te, die er brauch­te.

Er ver­ließ den Hof, schlich in den Wald und er­reich­te die Kalk­bren­ne­rei, schlüpf­te bis an’s Ende des lan­gen Gan­ges und zog sich die Klei­der des To­ten an, die auf der Erde la­gen.

Dann be­gann er quer­feld­ein zu strei­fen, kroch in den Ge­län­de­fal­ten ent­lang, um nicht ge­se­hen zu wer­den, und lausch­te, un­ru­hig wie ein Wild­dieb, auf das lei­ses­te Geräusch.

Als er glaub­te, dass die Zeit ge­kom­men wäre, zog er sich an die Stra­ße her­an, ver­steck­te sich da in ei­nem Strau­che und war­te­te. End­lich, um Mit­ter­nacht, hör­te er den Ga­lopp ei­nes Pfer­des auf der har­ten Stra­ßen­de­cke. Er leg­te das Ohr auf den Bo­den, um sich zu ver­ge­wis­sern, ob auch nur ein ein­zi­ger Rei­ter käme; dann hielt er sich be­reit.

Der Ulan kam im schlan­ken Tra­be da­her; er brach­te Mel­dun­gen zu­rück. Er hielt das Auge wach und das Ohr ge­spannt. Als er bis auf zehn Schrit­te her­an war, schlepp­te sich Va­ter Mi­lon über die Stra­ße hin und schrie plötz­lich »Hil­fe! Hil­fe!« Der Rei­ter mach­te Halt, er­kann­te einen Rei­ter ohne Pferd, und hielt ihn für ver­wun­det. Als er nichts­ah­nend nä­her kam und sich über den Un­be­kann­ten beug­te, stach ihm die­ser mit dem krum­men Sä­bel mit­ten in den Leib, so­dass er ohne To­des­kampf aus dem Sat­tel sank; nur ein letz­tes Zu­cken lief durch sei­nen Kör­per.

Da er­hob sich der alte Bau­er stumm und freu­de­strah­lend und schnitt dem Leich­nam zum Spaß noch die Keh­le durch. Dann zog er ihn nach dem Gra­ben und warf ihn hin­ein.

Das Pferd war­te­te ru­hig auf sei­nen Herrn; Va­ter Mi­lon setz­te sich in den Sat­tel und ga­lop­pier­te da­von.

Nach etwa ei­ner Stun­de er­blick­te er noch zwei Ula­nen, die Schen­kel an Schen­kel ins Quar­tier rit­ten. Er ga­lop­pier­te stracks auf sie zu und schrie wie­der: »Hil­fe! Hil­fe!« Die Preu­ßen lie­ßen ihn, da sie die Uni­form er­kann­ten, ohne ir­gend­wel­ches Miss­trau­en her­an­kom­men. Der Alte platz­te mit­ten zwi­schen sie hin­ein, wie eine Ku­gel, und mach­te sie mit Sä­bel und Re­vol­ver un­schäd­lich.

Dann schnitt er den Pfer­den – es wa­ren ja deut­sche Pfer­de! – die Häl­se durch, kehr­te in al­ler Ge­müts­ru­he nach sei­nem Kal­kofen zu­rück und ver­barg das Pferd am Ende des dunklen Gan­ges, leg­te sei­ne Uni­form ab, zog sei­ne arm­se­li­gen Bau­ern­klei­der wie­der an, ging heim und schlief bis zum an­de­ren Mor­gen,

Vier Tage lang hielt er sich ru­hig, um das Ende der an­ge­stell­ten Un­ter­su­chung ab­zu­war­ten. Am fünf­ten Tage brach er wie­der aus und tö­te­te noch zwei Sol­da­ten durch die­sel­be Kriegs­list. Seit­dem ging er all­abend­lich auf Men­schen­jagd, durch­quer­te aufs Ge­ra­te­wohl die Ge­gend, schlug die Preu­ßen bald hier, bald dort zu Bo­den und ga­lop­pier­te im Mond­schein als Ulan durch die ver­las­se­nen Fel­der. Hat­te er sei­ne Ab­sicht er­reicht, so ließ er die Lei­chen an den Stra­ßen lie­gen und ver­steck­te Pferd und Uni­form wie­der im Kal­kofen.

Ge­gen Mit­tag ging er dann mit dem ru­higs­ten Ge­sicht von der Welt wie­der hin und brach­te sei­nem Reit­tier Ha­fer und Was­ser in den un­ter­ir­di­schen Gang, wo es an­ge­bun­den war, und füt­ter­te es gut, denn es muss­te ihm viel leis­ten.

An ei­nem der Aben­de je­doch setz­te sich ei­ner der An­ge­grif­fe­nen recht­zei­tig zur Wehr und schlug dem al­ten Bau­ern mit dem Sä­bel ins Ge­sicht.

Er hat­te in­des­sen bei­de ge­tö­tet und war noch bis zu sei­nem Kal­kofen ge­kom­men, hat­te dort sein Pferd un­ter­ge­stellt und sei­ne un­schein­ba­re Klei­dung wie­der an­ge­legt. Dann hat­te er sich nach Hau­se ge­schleppt, war aber un­ter­wegs von ei­ner Schwä­che be­fal­len wor­den, und hat­te nur noch den Stall, nicht mehr das Haus er­reicht.

Dort hat­te man ihn blut­über­strömt auf der Streu ge­fun­den.

*

Als er sei­ne Er­zäh­lung be­en­det hat­te, er­hob er plötz­lich den Kopf und blick­te die preu­ßi­schen Of­fi­zie­re stolz an.

Der Oberst zog an sei­nem Schnur­bart und frag­te:

– Wei­ter habt Ihr nichts zu sa­gen?

– Nein, wei­ter ist’s nichts. Die Rech­nung stimmt. Ich habe sech­zehn ge­tö­tet, kei­nen mehr, kei­nen we­ni­ger.

– Ihr wisst, dass Euch der Tod be­vor­steht?

– Ich habe Sie nicht um Gna­de ge­be­ten.

– Seid Ihr Sol­dat ge­we­sen?

– Zu mei­ner Zeit, ja. Au­ßer­dem habt Ihr mei­nen Va­ter ge­tö­tet, er war Sol­dat un­ter dem ers­ten Kai­ser. Und mei­nen jüngs­ten Sohn François, den habt Ihr ver­gan­ge­nen Mo­nat bei Evreux ge­tö­tet. Was ich Euch schul­dig war, ist nun be­zahlt. Wir sind jetzt quitt.

Die Of­fi­zie­re blick­ten sich an.

– Acht für mei­nen Va­ter, fuhr der Alte fort. Acht für mei­nen Sohn. Nun sind wir quitt. Ich habe den Streit mit Euch nicht ge­sucht. Ich ken­ne Euch nicht. Ich weiß nicht ein­mal, wo Ihr her seid. Ihr seid zu mir ge­kom­men und schal­tet in mei­nem Hau­se, als ob es bei Euch wäre. Ich habe mich für al­les ge­rächt. Ich be­reue nichts.

Der Alte rich­te­te sei­nen stei­fen Kör­per auf und kreuz­te die Arme, wie ein schlich­ter Held.

Die Preu­ßen spra­chen lan­ge mit ge­dämpf­ter Stim­me. Ein Haupt­mann, des­sen Sohn im letz­ten Mo­nat gleich­falls ge­fal­len war, ver­tei­dig­te die­sen ar­men Teu­fel.

Da stand der Oberst auf, trat auf Va­ter Mi­lon zu und sprach mit mil­de­rer Stim­me:

– Hört mich an, Al­ter, viel­leicht gibt es noch ein Mit­tel, Euch das Le­ben zu ret­ten, wenn Ihr…

Aber der hör­te nicht. Er starr­te dem Of­fi­zier des sieg­rei­chen Hee­res fest in die Au­gen, wäh­rend der Wind in sei­nem dün­nen Haar­flaum spiel­te, und schnitt eine schau­der­haf­te Gri­mas­se, dass sein zer­haue­nes Ge­sicht sich furcht­bar ver­zerr­te. Dann blies er die Brust auf und spie dem Preu­ßen mit al­ler Ge­walt ins An­ge­sicht.

Der Oberst er­hob wü­tend die Hand, aber da spie er schon wie­der…

Die Of­fi­zie­re wa­ren sämt­lich auf­ge­sprun­gen und brüll­ten Kom­man­dos durch­ein­an­der.

Ehe noch eine Mi­nu­te ver­ging, war der wa­cke­re Kerl, der noch im­mer un­ge­rührt schi­en, an die Mau­er ge­stellt und er­schos­sen. Sei­nem äl­tes­ten Soh­ne, sei­ner Schwie­ger­toch­ter und den bei­den Klei­nen, die ver­zwei­felt zu­sa­hen, hat­te er noch zu­ge­lä­chelt.

*

Am Frühlingsabend

Jean­ne soll­te ih­ren Vet­ter Jac­ques bald hei­ra­ten. Sie kann­ten sich schon von Kind­heit an, und dar­um hat­te die Lie­be zwi­schen ih­nen nicht je­nes ze­re­mo­ni­el­le Ge­prä­ge an­ge­nom­men, wie es sonst bei Braut­leu­ten be­ob­ach­tet wird. Sie wa­ren zu­sam­men groß ge­wor­den, ohne zu ah­nen, dass sie sich lieb­ten. Das jun­ge Mäd­chen, das et­was ge­fall­süch­tig war, hat­te zwar ein paar un­schul­di­ge Tän­de­lei­en ver­sucht; sie fand den jun­gen Mann über­dies recht nett und hielt ihn für brav, und je­des Mal, wenn sie sich wie­der­sa­hen, küss­te sie ihn recht von Her­zen. Aber sie küss­ten sich doch ohne je­den Schau­der, der den Kör­per von den Fin­gern bis zu den Ze­hen durch­rie­sel­t…

Er dach­te ganz ein­fach: sie ist ein net­tes Ding, mei­ne klei­ne Cou­si­ne; und wenn er an sie dach­te, so ge­sch­ah dies mit je­ner in­stink­ti­ven Zärt­lich­keit, die je­der Mann ei­nem hüb­schen jun­gen Mäd­chen ge­gen­über emp­fin­det. Wei­ter gin­gen sei­ne Ge­dan­ken je­doch nicht.

Doch da hat­te Jean­ne ei­nes Ta­ges durch Zu­fall ge­hört, wie ihre Mut­ter zu ih­rer Tan­te sag­te – Tan­te Al­ber­ta, denn Tan­te Li­son war le­dig ge­blie­ben –: »Ich kann dir ver­si­chern, sie wer­den sich so­fort lie­ben, die­se Kin­der; das sieht man ja. Und Jac­ques ist ganz der Schwie­ger­sohn nach mei­nem Her­zen.«

Von die­sem Tage an hat­te Jean­ne ih­ren Vet­ter Jac­ques an­ge­be­tet. Seit­her er­rö­te­te sie bei sei­nem An­blick und ließ ihre Hand in der des jun­gen Man­nes zit­tern, Ihre Au­gen senk­ten sich scham­haft, wenn ihre Bli­cke sich be­geg­ne­ten, und wenn er sie küss­te, tat sie, als ob sie sich sträub­te, – und dies al­les so gut, dass er’s merk­te… Er hat­te ver­stan­den, und in ei­nem hol­den Au­gen­bli­cke, wo ihn die ge­schmei­chel­te Ei­tel­keit nicht we­ni­ger hin­riss, als die wah­re Nei­gung, hat­te er sei­ne Cou­si­ne fest in die Arme ge­schlos­sen und ihr ein »Ich lie­be dich! Ich lie­be dich!« ins Ohr ge­haucht.

Seit­her herrsch­te ein zärt­li­ches Gir­ren und ar­ti­ges Tän­deln in al­len Ton­ar­ten der Lie­be; die ver­trau­te Be­kannt­schaft von Kind­heit an mach­te ihr Be­neh­men dop­pelt zwang­los und un­ge­bun­den. Im Wohn­zim­mer küss­te Jac­ques sei­ne Zu­künf­ti­ge un­ge­niert vor den drei al­ten Da­men, sei­ner Mut­ter und ih­ren bei­den Schwes­tern, Tan­te Al­ber­ta und Tan­te Li­son. Ta­ge­lang ging er mit ihr al­lein in den Wald, am Flüss­chen ent­lang oder durch die Wie­sen, de­ren Gras­tep­pich schon von den ers­ten Früh­lings­blu­men durch­wirkt war. So er­war­te­ten sie den fest­ge­setz­ten Tag ih­rer end­li­chen Ve­rei­ni­gung ohne all­zu große Un­ge­duld; viel­mehr schwam­men sie in ei­tel Se­lig­keit und ge­nos­sen den pri­ckeln­den Reiz der ver­hal­te­nen Lieb­ko­sun­gen, der war­men Hän­de­drücke und lan­gen, glü­hen­den Bli­cke, in de­nen ihre See­len zu ver­schmel­zen schie­nen… Das un­be­stimm­te Ver­lan­gen nach in­ni­ge­ren Umar­mun­gen quäl­te sie mit sü­ßer Pein, und auf ih­ren Lip­pen, die sich such­ten, lag eine lau­ern­de, war­ten­de, ver­hei­ßen­de Un­ge­duld…

Manch­mal, wenn sie den gan­zen Tag im schwü­len Dunst­krei­se die­ser pla­to­ni­schen Zärt­lich­kei­ten zu­ge­bracht hat­ten, spür­ten sie abends eine läh­men­de Star­re am Her­zen und seufz­ten aus tiefs­ter Brust, ohne zu wis­sen, warum, ohne zu ver­ste­hen, dass es die Er­war­tung war, die ihre Seuf­zer schwell­te.

Die bei­den Müt­ter und ihre Schwes­ter, Tan­te Li­son, sa­hen die­ser jun­gen Lie­be mit zärt­li­chem Lä­cheln zu; be­son­ders Tan­te Li­son war be­wegt, wenn sie die bei­den zu­sam­men sah.

Sie war ein klei­nes Däm­chen, sprach we­nig, war meist für sich al­lein, stets ge­räusch­los, und er­schi­en ei­gent­lich nur zu den Mahl­zei­ten, um gleich nach­her wie­der auf ihr Zim­mer zu ge­hen, wo sie sich be­stän­dig ein­schloss. Sie hat­te ein gu­tes, ält­li­ches Ge­sicht und sanf­te, trau­ri­ge Au­gen; von der Fa­mi­lie wur­de sie kaum be­ach­tet. Die bei­den ver­wit­we­ten Schwes­tern, die in der Welt doch et­was vor­ge­stellt hat­ten, sa­hen sie als et­was ganz Be­deu­tungs­lo­ses an. Man be­han­del­te sie mit größ­ter Ver­trau­lich­keit und mit ei­ner leicht ver­ächt­li­chen Nach­sicht ge­gen die alte Jung­fer… Ei­gent­lich hieß sie Lise; sie war jung ge­we­sen, als Béran­ger Frank­reich be­herrsch­te. Als man aber sah, dass sie nicht hei­ra­te­te, dass sie ganz ge­wiss nicht mehr hei­ra­ten wür­de, än­der­te man ih­ren Na­men in Li­son um und nann­te sie Tan­te Li­son. Jetzt war sie ein al­tes, be­schei­de­nes, et­was ei­ge­nes Däm­chen, und höchst ängst­lich ge­gen die Ih­ri­gen, de­ren Zu­nei­gung zu ihr sich aus Ge­wohn­heit, Mit­leid und wohl­wol­len­der Gleich­gül­tig­keit zu­sam­men­setz­te.

Die Kin­der ka­men nie zu ihr her­auf, um sie zu küs­sen. Nur das Mäd­chen be­trat zu­wei­len ihre Schwel­le. Wenn man mit ihr spre­chen woll­te, ließ man sie ho­len. Man wuss­te kaum, wo das Zim­mer­chen lag, in dem die­ses arme, ein­sa­me Le­ben ver­floss… Sie hat­te durch­aus kei­ne Stel­lung. Wenn sie nicht zu­ge­gen war, war von ihr nie die Rede. Man dach­te auch nie an sie. Sie ge­hör­te zu je­nen ver­ges­se­nen We­sen, die selbst ih­ren nächs­ten An­ge­hö­ri­gen un­be­kannt und gleich­sam un­ent­deckt blei­ben, de­ren Tod in ei­nem Hau­se kei­ne Lücken reißt, und die nicht ver­ste­hen, in das Da­sein und die Ge­wohn­hei­ten oder in die Lie­be ih­rer Mit­menschen ein­zu­drin­gen.

Sie ging im­mer mit klei­nen ei­li­gen und ge­dämpf­ten Schrit­ten; sie mach­te nie ein Geräusch, stieß nie an et­was an und schi­en den Din­gen die Ei­gen­schaft ab­so­lu­ter Laut­lo­sig­keit mit­zu­tei­len. Ihre Hän­de hät­ten von Wat­te sein kön­nen: so leicht und be­hut­sam fass­te sie al­les an.

Wenn man »Tan­te Li­son« sag­te, so er­weck­ten die­se zwei Wor­te in der Vor­stel­lung der Hö­rer kei­nen an­de­ren Ein­druck, als ob man »die Kaf­fee­kan­ne« oder »die Zucker­do­se« sag­te. Die Hün­din Lou­che hat­te ent­schie­den eine aus­ge­spro­che­ne­re Per­sön­lich­keit; sie wur­de fort­wäh­rend ge­lieb­kost und ge­ru­fen: »Komm, mein lie­bes Louch­e­chen, mein schö­nes klei­nes Louch­e­chen!« Man hät­te ihr un­gleich mehr nach­ge­weint.

Der Vet­ter und die Cou­si­ne soll­ten Ende Mai hei­ra­ten. Die jun­gen Leu­te leb­ten nur noch Aug’ in Auge und Hand in Hand; sie wa­ren be­reits ein Herz und eine See­le. Es wur­de die­ses Jahr erst spät und nur zö­gernd Früh­ling. In den hel­len Frost­näch­ten und mor­gens in den Früh­ne­beln war es noch zum Zäh­ne­klap­pern. Dann plötz­lich kam der Lenz mit Macht. Ein paar war­me, et­was duns­ti­ge Tage hat­ten ge­nügt, um den Saft, der noch in der Erde schlief, in Be­we­gung zu set­zen. Die Blät­ter ent­fal­te­ten sich wie durch ein Wun­der, und über­all schweb­te ein be­rau­schen­der, er­mat­ten­der Duft von Knos­pen und er­blü­hen­den Blu­men.

End­lich, ei­nes Nach­mit­tags, hat­te die Son­ne die um­her­trei­ben­den Düns­te auf­ge­so­gen und war mit sieg­rei­chem Pran­gen über der Ebe­ne auf­ge­gan­gen. Ihre hei­te­re Klar­heit durch­ström­te das gan­ze Land und durch­drang al­les, Pflan­zen, Tie­re und Men­schen. Die Vö­gel schwirr­ten lo­ckend und su­chend um­her und schlu­gen mit den Flü­geln. Jac­ques und Jean­ne sa­ßen den gan­zen Tag lang bei ein­an­der auf ei­ner Bank vor dem Schloss­por­tal. Das neue Glück be­ängs­tig­te sie; sie wa­ren furcht­sa­mer als ge­wöhn­lich. Sie fühl­ten, wie es sich in ih­nen reg­te, ganz wie in den Bäu­men, und wag­ten nicht al­lein hin­aus­zu­ge­hen. Ihre Au­gen ruh­ten un­be­stimmt auf dem Teich, der dort un­ten lag und auf dem die großen Schwä­ne sich ver­folg­ten.

Erst als es Abend ward, fühl­ten sie sich er­leich­tert und ru­hi­ger; nach dem Es­sen lehn­ten sie im of­fe­nen Fens­ter des Wohn­zim­mers und plau­der­ten ver­liebt, wäh­rend die bei­den Müt­ter in dem Licht­krei­se, den der run­de Lam­pen­schirm ab­schloss, ihr Pi­ket spiel­ten und Tan­te Li­son für die Orts­ar­men St­rümp­fe strick­te.

Fern hin­ter dem Tei­che brei­te­te ein ein­zel­ner Baum sei­ne ho­hen Wip­fel, und plötz­lich brach durch das kaum ent­spross­te Blät­ter­grün das sil­ber­ne Mond­licht. Lang­sam wan­del­te die lich­te Schei­be durch die Äste, die sich fein­ge­zähnt da­ge­gen ab­ho­ben, zu den Hö­hen des Him­mels em­por, und die Ster­ne um­her er­lo­schen. Über alle Welt er­goss sich der ma­gi­sche Schim­mer, in dem die Düns­te und die Träu­me der Be­trüb­ten, der Dich­ter und Lie­ben­den sich wie­gen…

Die jun­gen Leu­te hat­ten dem auf­ge­hen­den Mon­de zu­ge­schaut; dann, als die wei­che Mil­de der Nacht sie um­floss und der Däm­mer, der auf den Wie­sen und über den Baum­mas­sen web­te, sie lo­ckend ver­zau­ber­te, wa­ren sie hin­aus­ge­gan­gen und wan­del­ten lang­sa­men Schrit­tes auf dem großen, mond­wei­ßen Ra­sen­platz bis zum schil­lern­den Tei­che.

In­zwi­schen hat­ten die bei­den Müt­ter ihre all­abend­li­chen vier Par­ti­en Pi­ket be­en­det und die Au­gen be­gan­nen ih­nen zu­zu­fal­len; sie sehn­ten sich nach Ruhe.

– Wir müs­sen die Kin­der ru­fen, sag­te die eine.

Mit schnel­lem Bli­cke durch­flog die an­de­re den Teil des Gar­tens, in dem die zwei Schat­ten­ge­stal­ten sich lang­sam er­gin­gen.

– Lass sie doch noch! riet sie. Es ist ja so schön drau­ßen. Li­son kann auf sie war­ten. Nicht wahr, Li­son?

Die alte Jung­fer hob un­ru­hig die Au­gen und ant­wor­te­te mit ängst­li­cher Stim­me:

– Ge­wiss, ich wer­de auf sie war­ten.

Da­rauf gin­gen die bei­den Schwes­tern zu Bet­te.

Als sie her­aus wa­ren, stand Tan­te Li­son auch auf, ließ die an­ge­fan­ge­ne Ar­beit samt der Wol­le und der großen Na­del auf dem Arme des Lehn­stuhls lie­gen und leg­te sich mit den El­len­bo­gen ins Fens­ter, um die lieb­li­che Nacht zu ge­nie­ßen.

Die bei­den Lie­ben­den gin­gen im­mer noch über den Ra­sen­platz, vom Teich bis zur Trep­pe und von der Trep­pe bis zum Tei­che. Sie drück­ten sich die Hän­de und hat­ten auf­ge­hört, zu spre­chen, als wä­ren sie ganz ent­rückt und bil­de­ten nur noch einen Teil die­ses Mär­chen­zau­bers, der auf der Welt lag. Jean­ne er­blick­te plötz­lich im Fens­ter­rah­men den Schat­ten der al­ten Dame, der sich scharf ge­gen das Lam­pen­licht ab­hob.

– Halt, sag­te sie ste­hen blei­bend, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Jac­ques blick­te auf.

– In der Tat, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Sie gin­gen dann un­ge­stört wei­ter, wie vor­her, und träum­ten und lieb­ten, wie vor­her. Doch das Gras war vol­ler Tau. Es war kühl und sie frös­tel­ten.

– Wol­len wir nicht hin­ein ge­hen? schlug Jean­ne vor.

Jac­ques nick­te und sie gin­gen wie­der ins Haus.

Als sie ins Wohn­zim­mer tra­ten, saß Tan­te Li­son wie­der über ihre Ar­beit ge­beugt und strick­te; ihre klei­nen, dür­ren Fin­ger zit­ter­ten ein we­nig, wie von Über­mü­dung.

Jean­ne trat nä­her.

– Wir wol­len jetzt zu Bet­te ge­hen, Tan­te.

Das alte Däm­chen schlug die Au­gen auf. Sie wa­ren rot, als hät­te sie ge­weint. Doch Jac­ques und sei­ne Braut ach­te­ten nicht dar­auf. Der jun­ge Mann merk­te nur, dass die dün­nen Le­der­schu­he sei­nes Mäd­chens von Tau trief­ten. Ängst­lich frag­te er:

– Hast du nicht kalt an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen?

Plötz­lich be­gan­nen die Fin­ger der al­ten Tan­te so hef­tig zu zit­tern, dass die Ar­beit ih­nen ent­fiel und das Woll­knäu­el weit über den Bo­den roll­te. Sie ver­barg das Ge­sicht in den Hän­den und fing an zu wei­nen; es war ein hef­ti­ges, krampf­haf­tes Schluch­zen.

Die bei­den Kin­der stürz­ten auf sie zu; Jean­ne knie­te nie­der und nahm ihr die zit­tern­den Hän­de von den Au­gen.

– Was ist dir, Tan­te Li­son? Wa­rum weinst du?

– Weil… Weil… stot­ter­te die alte Dame; ihre Stim­me schi­en in Trä­nen zu zer­flie­ßen, und ein kramfhaf­tes Zit­tern ging durch ih­ren Kör­per, Weil er dich frag­te… hast du nicht kal­t… an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen… Das… hat mir nie ei­ner ge­sag­t… mir nie!…

*

Der Blinde

Wa­rum freu­en wir uns doch so sehr über die ers­te Lenz­son­ne? Wa­rum er­füllt uns die­ses Licht, das die Erde be­scheint, so mit neu­em Le­bens­glück? Der Him­mel ist so blau, die Flur so grün, die Häu­ser so weiß; und uns­re Au­gen fan­gen die­se Far­ben mit Ent­zücken auf, um sie in See­len­freu­de um­zu­set­zen. Und uns wan­delt die Lust an, zu tan­zen, zu lau­fen und zu sin­gen; uns­re Ge­dan­ken sind so glück­lich und leicht; un­ser Herz wei­tet sich so zärt­lich; wir möch­ten die Son­ne um­ar­men…

Nur die Blin­den sit­zen stumpf in den Tü­ren, von ewi­ger Nacht um­fan­gen. Sie sind ru­hig, wie im­mer, auch in­mit­ten die­ses la­chen­den Froh­sinns, und alle Mi­nu­ten hei­ßen sie ih­ren Hund, der mit sprin­gen und ja­gen möch­te, sich ru­hig zu ver­hal­ten; sie ver­ste­hen ja nicht… Erst wenn sie bei sin­ken­der Son­ne am Arm ei­nes jün­ge­ren Bru­ders oder ei­ner klei­nen Schwes­ter ins Haus zu­rück­keh­ren und das Kind sagt: »Ach, heu­te war es schön drau­ßen!«, dann ant­wor­ten sie wohl: »Ich hab’ es wohl ge­merkt, dass es schön war; Lou­lou woll­te gar­nicht still­sit­zen«.

Ich kann­te einen sol­chen Men­schen, für den das Le­ben eine der grau­sams­ten Mar­tern war, die sich den­ken las­sen. Er war ein Bau­er, der Sohn ei­nes Päch­ters aus der Nor­man­die. So­lan­ge Va­ter und Mut­ter leb­ten, wur­de ei­ni­ger­ma­ßen für ihn ge­sorgt, so­dass er nur an sei­ner ent­setz­li­chen Blind­heit zu tra­gen hat­te, aber seit die Al­ten tot wa­ren, be­gann sein Mar­ty­ri­um. Eine Schwes­ter nahm ihn zu sich, aber je­der­man im Hofe be­han­del­te ihn wie einen Bett­ler, der an­de­rer Leu­te Brot aß. Kei­ne Mahl­zeit ver­ging, bei der man ihm nicht sei­ne Nah­rung miss­gönn­te, ihn Faul­len­zer und Klet­te schalt; und trotz­dem sein Schwa­ger sich sei­nes Erb­teils be­mäch­tigt hat­te, gab man ihm kaum so viel Sup­pe, dass er nicht ver­hun­ger­te.

Sein Ge­sicht war ganz fahl; zwei große wei­ße Au­gens­ter­ne wa­ren wie Obla­ten hin­ein­ge­drückt. Er blieb gleich­gül­tig ge­gen die Schelt­wor­te und so in sich ge­kehrt, dass man nicht wuss­te, ob er sie über­haupt emp­fand. Er hat­te ja auch nie ihr Ge­gen­teil ken­nen ge­lernt. Sei­ne Mut­ter hat­te ihn im­mer et­was un­sanft be­han­delt und lieb­te ihn nicht eben sehr; denn auf dem Lan­de gilt al­les, was un­nütz ist, für schäd­lich, und die Bau­ern tä­ten es am liebs­ten den Hüh­nern nach und bräch­ten, wenn sie könn­ten, alle Ge­brech­li­chen um.

So­bald er sei­ne Sup­pe her­un­ter hat­te, stand er auf und setz­te sich – im Som­mer vor die Haus­tür, im Win­ter an den Ofen, und von dort rühr­te er sich nicht mehr bis zum Abend. Er blieb ohne Ge­bär­den, ja ohne Be­we­gun­gen sit­zen; nur sei­ne Au­gen­li­der durch­lief oft ein ner­vö­ses Zu­cken, wäh­rend sie über sei­ne wei­ßen Au­gäp­fel her­ab­fie­len. Hat­te er Geist, Ver­stand und deut­li­ches Le­bens­be­wusst­sein? Die­se Fra­ge leg­te sich nie ei­ner vor.

So ging es ei­ni­ge Jah­re lang. Doch sein Stumpf­sinn und mehr noch sei­ne ab­so­lu­te Un­brauch­bar­keit er­bit­ter­ten schließ­lich sei­ne An­ge­hö­ri­gen und er wur­de bald zur Ziel­schei­be des Spot­tes, zum Mär­ty­rer-Po­panz, zur will­kom­me­nen Beu­te der an­ge­bo­re­nen Nie­der­tracht und bar­ba­ri­schen Freu­de sei­ner bru­ta­len Um­ge­bung. Alle Pos­sen, die sei­ne Blind­heit er­mög­lich­te, wur­den mit ihm an­ge­stellt. Und um sich für das, was er aß, be­zahlt zu ma­chen, trie­ben sei­ne An­ver­wand­ten wäh­rend der Mahl­zeit ih­ren Spott mit ihm und fopp­ten ihn zum Ver­gnü­gen der Nach­barn und zur Qual für den Wehr­lo­sen.

Alle Bau­ern aus der Nach­bar­schaft er­schie­nen zu die­sen Be­lus­ti­gun­gen; man sag­te sich von Tür zu Tür Be­scheid, und die Kü­che des Pacht­ho­fes war je­den Tag ge­drängt voll. Zu­nächst setz­te man einen Hund oder eine Kat­ze auf den Tisch vor den Tel­ler, aus dem der Un­glück­li­che sei­ne Fleisch­brü­he löf­fel­te. Das Tier, das die Schwä­che des Es­sers bald her­aus hat­te, kam sach­te her­an­ge­schli­chen und schleck­te in stil­lem Be­ha­gen mit, bis ein zu lau­tes Zun­gen­schnal­zen die Auf­merk­sam­keit des ar­men Teu­fels schließ­lich er­reg­te: dann mach­te es sich be­hut­sam da­von und wich dem Löf­fel, mit dem der Blin­de plan­los vor sich hin­schlug, ohne viel Mühe aus.

Lau­tes Ge­läch­ter, Ge­drän­ge und Ge­tram­pel der Zuschau­en­den, die dicht ge­drängt an den Wän­den stan­den, folg­te die­ser Pro­ze­dur, wäh­rend der Gef­opp­te, ohne ein Wort zu sa­gen, wie­der zu es­sen be­gann, und mit der vor­ge­hal­te­nen Lin­ken sei­nen Tel­ler be­schütz­te und ver­tei­dig­te.

Dann gab man ihm Pfrop­fen, Holz, Blät­ter und schließ­lich Dreck zu es­sen, was er nicht un­ter­schei­den konn­te. Und schließ­lich, da auch das lang­wei­lig wur­de und die Spä­ße nicht mehr zo­gen, be­gann der Schwa­ger in sei­ner Wut, dass er ihn er­näh­ren muss­te, ihn mit Püf­fen und Schlä­gen zu trak­tie­ren und lach­te über die ver­geb­li­chen An­stren­gun­gen des Un­glück­li­chen, die Schlä­ge zu pa­rie­ren oder hin­aus­zu­ge­ben. Daraus wur­de dann ein neu­es Spiel, das Maul­schel­len­spiel: Och­sen- und Pfer­de­knech­te, Mäg­de, al­les zog ihm fort­wäh­rend die Hän­de durchs Ge­sicht, und sei­ne Li­der zuck­ten dann noch hef­ti­ger. Er wuss­te nicht, wo­hin er sich vor ih­nen ret­ten soll­te, und ging dar­um im­mer mit vor­ge­streck­ten Ar­men, da­mit ihm kei­ner zu nahe käme.

End­lich zwang man ihn, zu bet­teln. An Markt­ta­gen stell­te man ihn auf die Stra­ßen, und so­bald das Geräusch von Schrit­ten oder das Na­hen ei­nes Wa­gens hör­bar ward, muss­te er sei­nen Hut zie­hen und sein: »Bit­te um ein klei­nes Al­mo­sen!« her­be­ten.

Aber der Bau­er ist knicke­rig, und so ver­gin­gen oft Wo­chen, wo er nicht einen Sou heim­brach­te. Seit­dem wuchs der Hass ge­gen ihn ins Gren­zen­lo­se, Er­bar­mungs­lo­se. Und dies war sein Tod.

Ein­mal im Win­ter, als die Erde dicht ver­schneit und es mör­de­risch kalt war, führ­te ihn sein Schwa­ger am frü­hen Mor­gen weit fort auf eine Land­stra­ße, wo er um Al­mo­sen bet­teln soll­te. Dort ließ er ihn den gan­zen Tag über ste­hen, und als es Nacht wur­de, er­klär­te er sei­nen Leu­ten, er hät­te ihn nicht wie­der­ge­fun­den. »Nee«, setz­te er hin­zu, »um Den brau­chen wir uns kei­ne Sor­ge zu ma­chen. Es wird ihn schon ei­ner mit­ge­nom­men ha­ben, wenn ihm kalt war. I wo, der ist nicht drauf­ge­gan­gen. Der wird mor­gen schon wie­der kom­men und sei­ne Sup­pe wol­len.«

Er kam aber nicht wie­der.

Stun­den­lang hat­te er ge­stan­den und ge­war­tet. Dann, als er fühl­te, dass er er­frie­ren wür­de, war er blind­lings drauf los­ge­gan­gen. Er konn­te den ver­schnei­ten Stra­ßen­zug un­ter der Schnee­de­cke nicht er­ken­nen und stürz­te in ver­schnei­te Grä­ben, ar­bei­te­te sich wie­der hoch und such­te still­schwei­gend nach ei­nem Hau­se.

Aber der ei­si­ge Schnee durch­käl­te­te ihn all­mäh­lich im­mer mehr, und als ihn sei­ne schwa­chen Bei­ne nicht mehr tra­gen konn­ten, setz­te er sich mit­ten auf einen Acker, von dem er nicht mehr auf­stand.

Bald hat­ten die wei­ßen Schnee­flo­cken ihn ganz zu­ge­deckt. Sein steif ge­wor­de­ner Kör­per ver­schwand un­ter ih­rer dich­ten De­cke, die sich be­stän­dig er­höh­te, und bald ver­riet nichts mehr die Stel­le, wo der Leich­nam lag.

Sei­ne Ver­wand­ten stell­ten zum Schei­ne Nach­for­schun­gen an und such­ten acht Tage. Sie wein­ten so­gar. Aber der Win­ter war rau und es thau­te erst spät. So fand sich vor­der­hand nichts.

Als die Päch­ters­leu­te ei­nes Sonn­tags zur Mes­se gin­gen, sa­hen sie, wie ein großer Ra­ben­schwarm un­abläs­sig über der Ebe­ne kreis­te und sich dann wie eine schwar­ze Re­gen­wol­ke auf einen be­stimm­ten Fleck nie­der­ließ, wie­der auf­flog und im­mer wie­der zu­rück­kehr­te.

Die Wo­che dar­auf wa­ren sie im­mer noch da, die un­heim­li­chen Vö­gel. Der Him­mel war schwarz von ih­rem Ge­wim­mel, als wä­ren sie von al­len vier Win­den zu­sam­men­ge­flo­gen; sie lie­ßen sich mit lau­tem Ge­krächz auf den glän­zen­den Schnee nie­der, wühl­ten hart­nä­ckig dar­in her­um und be­fleck­ten ihn ei­gen­tüm­lich.

Ein Bursch lief hin, um nach­zu­se­hen, was sie da mach­ten, und ent­deck­te den Ka­da­ver des Blin­den; er war zer­hackt und schon halb auf­ge­fres­sen. Sei­ne wei­ßen Au­gäp­fel wa­ren von den ge­frä­ßi­gen Schnä­beln her­aus­ge­hack­t…

Und je­des Mal, wenn ich die Le­bens­freu­de der ers­ten Son­nen­ta­ge spü­re, kommt mir die trü­be Erin­ne­rung und der weh­mü­ti­ge Ge­dan­ke an die­sen Ent­erb­ten des Le­bens wie­der, des­sen schau­er­li­cher Tod für alle, die ihn kann­ten, eine Er­lö­sung war.

*

Der verhängnisvolle Kuchen

Sa­gen wir, sie hieß Ma­da­me An­ser­re, um ih­ren wah­ren Na­men nicht bloß­zu­stel­len. Sie ge­hör­te zu je­nen Pa­ri­ser Ko­me­ten, die einen leuch­ten­den Schweif hin­ter sich zu­rück­las­sen. Sie dich­te­te und schrieb No­vel­len, hat­te ein ge­fühl­vol­les Herz und war ent­zückend schön. Sie emp­fing we­nig und auch nur Grö­ßen ers­ten Ran­ges, sol­che, die man ge­mei­nig­lich Fürs­ten in ir­gend ei­ner Sa­che nennt. Von ihr emp­fan­gen zu wer­den, war ein wirk­li­cher Adels­ti­tel der In­tel­li­genz; we­nigs­tens schätz­te man ihre Ein­la­dun­gen so.

Ihr Gat­te spiel­te die Rol­le des dunklen Tra­ban­ten. Der Gat­te ei­nes Sterns zu sein, ist nie leicht. Und doch hat­te die­ser Gat­te kei­nen schlech­ten Ein­fall ge­habt: er woll­te einen Staat im Staa­te bil­den und sei­ne Berühmt­heit für sich ha­ben, eine Berühmt­heit zwei­ten Ran­ges frei­lich – aber schließ­lich konn­te er doch auf die­se Wei­se an den Ta­gen, wo sei­ne Frau emp­fing, auch emp­fan­gen; er hat­te sein be­son­de­res Pub­li­kum, das ihn schätz­te, an­hör­te und ihm mehr Be­ach­tung schenk­te, als sei­ner glän­zen­den Ge­fähr­tin.

Er hat­te sich der Land­wirt­schaft ge­wid­met, und zwar der Land­wirt­schaft im Zim­mer. Es gibt ja auch Zim­mer-Ge­ne­ra­le; alle die am grü­nen Tisch des Kriegs-Mi­nis­te­ri­ums groß wer­den und le­ben, sind ja die­ses Schla­ges; eben­so Zim­mer-Ma­ri­ne, sie­he das Ma­ri­ne-Mi­nis­te­ri­um, Zim­mer-Ko­lo­nis­ten u. s. w. Er hat­te also Land­wirt­schaft stu­diert, und zwar tief­gründ­lich, Land­wirt­schaft in ih­ren Be­zie­hun­gen zu den an­de­ren Wis­sen­schaf­ten, zur Na­tio­nal-Öko­no­mie, zu den Küns­ten… Die Küns­te wer­den ja über­all da­zwi­schen ge­mengt, und selbst die schau­der­haf­ten Ei­sen­bahn­brücken wer­den zu »Kunst­wer­ken« ge­stem­pelt! So hat­te er es end­lich er­reicht, dass man ihn einen »tüch­ti­gen Mann« nann­te und in tech­ni­schen Zeit­schrif­ten zi­tier­te. Sei­ne Frau hat­te es fer­ner durch­ge­setzt, dass er zum Mit­glie­de ei­ner Kom­mis­si­on im Acker­bau-Mi­nis­te­ri­um er­nannt wur­de – und die­ser be­schei­de­ne Ruhm ge­nüg­te ihm.

Sei­ne Freun­de lud er un­ter dem Vor­wan­de, die Kos­ten zu ver­rin­gern, im­mer an den­sel­ben Aben­den ein, wo sei­ne Gat­tin die ih­ren emp­fing, doch teil­ten sie sich als­bald in zwei ge­son­der­te La­ger: die Dame des Hau­ses mit ih­rer Sui­te von Künst­lern, Aka­de­mi­kern und Mi­nis­tern »tag­te« in ei­ner Art Gal­le­rie, die im Em­pi­re-Styl mö­bliert und aus­ge­stat­tet war; wäh­rend der Herr sich mit sei­nen Land­wir­ten ge­wöhn­lich in ein be­scheid­ne­res Zim­mer zu­rück­zog, das als Rauch­zim­mer diente und von Ma­da­me An­ser­re iro­nisch das »Land­wirt­schaft­li­che Ka­bi­net« ge­nannt wur­de.

Die bei­den Heer­la­ger wa­ren streng ge­schie­den; nur Herr An­ser­re, dem jede Ei­fer­sucht fern lag, er­schi­en bis­wei­len in der »Aka­de­mie«, wo sich ihm ein Dut­zend Hän­de zum Gru­ße ent­ge­gen­streck­ten, wah­rend die Aka­de­mi­ker es völ­lig un­ter ih­rer Wür­de hiel­ten, das Land­wirt­schaft­li­che Ka­bi­net zu be­tre­ten. Nur ganz sel­ten er­schi­en ei­ner der Fürs­ten der Wis­sen­schaft, des Ge­dan­kens oder an­de­rer At­tri­bu­te un­ter den Land­wir­ten.

Die­se Empfangs-Aben­de kos­te­ten we­nig; es gab Tee und Ku­chen, wei­ter nichts. Herr An­ser­re woll­te an­fäng­lich zwei Ku­chen ha­ben, einen für die Aka­de­mie und einen für die Land­wirt­schaft; aber sei­ne Frau be­merk­te ganz rich­tig, dass da­mit zwei ver­schie­de­ne La­ger an­er­kannt wür­den, und dar­auf hat­te denn ihr Gat­te sei­nen An­spruch fal­len las­sen. Es wur­de also im­mer nur ein Ku­chen her­um­ge­reicht, den Frau An­ser­re zu­erst den Aka­de­mi­kern an­bot, wor­auf er dann nach dem Land­wirt­schaft­li­chen Ka­bi­net her­über­wan­der­te.

Die­ser Ku­chen wur­de für die Aka­de­mi­ker bald zum Ge­gen­stan­de der ei­gen­tüm­lichs­ten Beo­b­ach­tun­gen. Frau An­ser­re schnitt ihn näm­lich nie selbst an. Die­ses Am­tes wal­te­te stets ei­ner der il­lus­t­ren Gäs­te, und bald wur­de es zum ge­such­ten Ehren­am­te, das je­der der Rei­he nach kür­zer oder län­ger be­klei­de­te, meist drei Mo­na­te lang, sel­ten län­ger. Merk­wür­dig war, dass das Pri­vi­le­gi­um, den Ku­chen zu schnei­den, eine Fül­le von an­de­ren Vor­rech­ten mit sich brach­te und dem da­mit be­trau­ten den Kö­nigs- oder doch Vize-Kö­nigs-Rang zu ver­lei­hen schi­en. Der re­gie­ren­de Zer­le­ger führ­te das lau­tes­te Wort; es war ein aus­ge­spro­che­ner Kom­man­do­ton; und alle Gunst­be­wei­se der Her­rin fie­len ihm zu, alle.

Halb­laut und hin­ter den Tü­ren nann­te man die­se in­ti­men Günst­lin­ge des Hau­ses die »Ku­chen-Fa­vo­ri­ten«, und je­der Fa­vo­ri­ten-Wech­sel rief in der Aka­de­mie große Um­wäl­zun­gen her­vor. Das Mes­ser wur­de zum Szep­ter, das Ge­bäck zum Wahr­zei­chen der Macht; die Er­wähl­ten wur­den leb­haft be­glück­wünscht. Herr An­ser­re war na­tür­lich aus­ge­schlos­sen, trotz­dem er auch sei­ne Por­ti­on aß.

Der Ku­chen wur­de der Rei­he nach von Poe­ten, Ma­lern und Ro­man­ciers zer­legt. Ein großer Kom­po­nist teil­te die Por­tio­nen eine Zeit lang ein; ein Ge­sand­ter folg­te ihm im Amte. Bis­wei­len kam auch ein we­ni­ger be­rühm­ter, aber dar­um nicht min­der ele­gan­ter und ge­such­ter Herr vor den sym­bo­li­schen Ku­chen zu sit­zen, ei­ner von de­nen, die man je nach der herr­schen­den Mode einen wah­ren Gent­le­man, einen per­fek­ten Ka­va­lier, einen Dan­dy oder sonst­wie nennt. Je­der von ih­nen schenk­te wäh­rend sei­ner kurz­le­bi­gen Herr­schaft dem Gat­ten et­was mehr Be­ach­tung; dann, wenn die Stun­de sei­nes Fal­les ge­kom­men war, übergab er das Mes­ser ei­nem an­de­ren und ver­lor sich wie­der in der Men­ge von Va­sal­len und An­be­tern der »schö­nen Frau An­ser­re«.

So währ­te es lan­ge, sehr lan­ge. Aber die Ko­me­ten leuch­ten nicht im­mer mit dem­sel­ben Glan­ze. Al­les auf Er­den hat sein Ziel. Auch hier konn­te man be­ob­ach­ten, wie der Ei­fer der Ku­chen­schnei­der all­mäh­lich nachließ, wie sie bis­wei­len zu zö­gern schie­nen, wenn ih­nen der Ku­chen­tel­ler ge­reicht ward, wie das einst so be­nei­de­te Amt im­mer we­ni­ger ge­sucht, im­mer we­ni­ger lan­ge be­haup­tet wur­de und der Stolz, es an­zu­neh­men, im­mer mehr nachließ. Um­sonst ver­schwen­de­te Ma­da­me An­ser­re Lä­cheln und Lie­bens­wür­dig­keit; bald woll­te kei­ner mehr aus frei­en Stücken schnei­den. Wer neu hin­zu­kam, schi­en sich di­rekt zu wei­gern, und die al­ten Fa­vo­ri­ten er­schie­nen ei­ner nach dem an­de­ren wie­der im Amte, wie ent­thron­te Fürs­ten, die man für Au­gen­bli­cke wie­der auf den Thron er­hebt. Dann wur­den die Er­wähl­ten sel­ten, ganz sel­ten. Ei­nen Mo­nat lang schnitt Herr An­ser­re – o Wun­der! – selbst den Ku­chen, bis er es schließ­lich über­drüs­sig wur­de und man ei­nes schö­nen Abends Ma­da­me An­ser­re – »die schö­ne Ma­da­me An­ser­re!« – höchst ei­gen­hän­dig ih­ren Ku­chen schnei­den sah!

Aber das war ihr höchst lang­wei­lig, und am nächs­ten Abend setz­te sie ei­nem ih­rer Gäs­te der­ma­ßen zu, dass er ihre Bit­te nicht aus­schla­gen moch­te.

In­des­sen war das Sym­bol zu gut be­kannt und man blick­te sich mit ängst­li­chen, rat­lo­sen Ge­sich­tern von un­ten her an. Den Ku­chen zu schnei­den, war ja nicht ge­fähr­lich, aber die Vor­rech­te, un­ter de­nen die­se Gunst bis­her ver­ge­ben wor­den, be­ängs­tig­ten jetzt, so­dass die Aka­de­mi­ker, so­bald die Plat­te nur er­schi­en, sich in wir­rem Knäu­el in das Land­wirt­schaft­li­che Ge­mach flüch­te­ten, wie um sich hin­ter dem be­stän­dig lä­cheln­den Gat­ten zu ver­ste­cken. Und wenn Ma­da­me An­ser­re sich be­stürzt auf der Schwel­le zeig­te, den Ku­chen in der einen Hand hal­tend, das Mes­ser in der an­de­ren, so schi­en sich al­les um ih­ren Gat­ten zu scha­ren, wie um ihn um Schutz zu bit­ten.

So ver­gin­gen Jah­re. Nie­mand woll­te mehr den Ku­chen schnei­den, aber im­mer noch such­te sie, die man ga­lan­ter Wei­se im­mer noch die »schö­ne Frau An­ser­re« nann­te, aus al­ter Ge­wohn­heit mit fle­hen­den Bli­cken einen Er­ge­be­nen, der das Mes­ser er­grif­fe – und je­des Mal ent­stand die­sel­be Be­we­gung im Um­krei­se: so­bald die ver­häng­nis­vol­le Fra­ge auf ihre Lip­pen trat, be­gann eine all­ge­mei­ne ge­schick­te Flucht vol­ler Lis­ten und Ma­nö­ver.

Ei­nes Abends nun wur­de ein blut­jun­ger Mensch, ein »rei­ner Tor«, bei Frau An­ser­re ein­ge­führt, dem das Ge­heim­nis des Ku­chens noch un­be­kannt war. Als nun der Ku­chen er­schi­en und Ma­da­me An­ser­re Plat­te und Back­werk aus den Hän­den des Die­ners nahm, blieb er ru­hig in ih­rer Nähe. Vi­el­leicht glaub­te sie, er wüss­te be­scheid und kam lä­chelnd und mit be­weg­ter Stim­me auf ihn zu.

– Wol­len Sie die Lie­bens­wür­dig­keit ha­ben, lie­ber Herr, und die­sen Ku­chen auf­schnei­den?

– Aber ge­wiss, gnä­di­ge Frau, mit dem größ­ten Ver­gnü­gen! er­wi­der­te die­ser, ent­zückt über die Ehre, die ihm zu­teil ward, zog die Hand­schu­he aus und be­gann eif­rig zu schnei­den.

Fern in den Ecken der Gal­le­rie er­schie­nen im Rah­men der Tür, die nach dem Land­wirt­schaft­li­chen Zim­mer ging, ein paar ver­blüff­te Ge­sich­ter. Dann, als man sah, dass der Neu­ling un­ver­zagt drauf los­schnitt, kam al­les schnell nä­her.

Ein al­ter, spaß­haf­ter Dich­ter schlug dem Neu­be­kehr­ten lus­tig auf die Schul­ter.

– Bra­vo, jun­ger Mann! sag­te er ihm ins Ohr.

Al­les blick­te ihn neu­gie­rig an; selbst der Gat­te schi­en über­rascht. Und er selbst wun­der­te sich über die be­son­de­re Be­ach­tung, die ihm plötz­lich von al­len Sei­ten zu­teil wur­de; vor al­lem konn­te er sich nicht er­klä­ren, warum ihn die Her­rin des Hau­ses durch aus­ge­spro­che­ne Zu­vor­kom­men­heit, au­gen­schein­li­che Gunst­be­zeu­gun­gen und eine Art stum­mer Dank­bar­keit aus­zeich­ne­te. Schließ­lich aber hat er es doch be­grif­fen.

Wann und wo ihm die­se Of­fen­ba­rung kam, ist un­be­kannt; aber als er am nächs­ten Abend wie­der er­schi­en, mach­te er einen et­was be­tre­te­nen, fast ver­schäm­ten Ein­druck und blick­te un­ru­hig um sich. Als die Tee­stun­de schlug und der Die­ner er­schi­en, er­griff Ma­da­me An­ser­re mit hol­dem Lä­cheln die Plat­te und such­te ih­ren jun­gen Freund mit den Au­gen. Er war aber so schnell ent­flo­hen, dass er nicht mehr zu se­hen war. Da stand sie auf und ging ihm ent­ge­gen. Sie fand ihn bald in der äu­ßers­ten Ecke des Land­wirt­schaft­li­chen Zim­mers. Er hat­te sei­nen Arm in den ih­res Gat­ten ge­legt und drang ängst­lich in ihn, wel­che Mit­tel zur Ver­til­gung der Re­blaus die bes­ten wä­ren.

– Mein lie­ber Herr, kam Ma­da­me An­ser­re an, wür­den Sie so lie­bens­wür­dig sein, die­sen Ku­chen zu schnei­den?

Er wur­de rot bis an die Ohren, stot­ter­te ein paar Wor­te und ver­lor den Kopf. Herr An­ser­re er­barm­te sich sei­ner und wand­te sich zu sei­ner Frau.

– Mei­ne Teu­ers­te, sag­te er, es wäre sehr schön, wenn du uns nicht stö­ren woll­test: wir spre­chen über Land­wirt­schaft. Lass den Ku­chen doch von Bap­tist schnei­den.

Seit dem Tage schnitt kein Mensch mehr den Ku­chen im Hau­se An­ser­re.

*

Der Schäfersprung

Die Küs­te von Diep­pe bis Le Ha­vre bil­det ein un­un­ter­bro­che­nes Steilufer von etwa hun­dert Me­ter Höhe, das senk­recht wie eine Mau­er zum Mee­re ab­fällt. Von Zeit zu Zeit wird die­se star­re Fels­li­nie plötz­lich un­ter­bro­chen, und ein klei­nes, en­ges Tal mit stei­len Hän­gen, die mit kur­z­em Gras und Meer­bin­sen be­deckt sind, kommt von der be­bau­ten Hoch­flä­che her­ab und mün­det schlucht­ar­tig, wie das Bett ei­nes Gieß­bachs, in das Ufer­ge­röll. Die­se Tä­ler sind von der Na­tur selbst ge­schaf­fen. Ihre Rän­der sind von den Ge­birgs­bä­chen ge­höhlt, wel­che die Res­te des ste­hen­den Ho­chu­fers fort­ge­spült und den Was­sern ein Bett bis zum Mee­re ge­gra­ben ha­ben, das den Men­schen jetzt als Weg dient. Bis­wei­len klemmt sich ein Dorf in den en­gen Tal­kes­sel, in dem der vol­le See­wind sich fängt.

Ich habe einen gan­zen Som­mer in ei­nem die­ser Küs­ten­ein­schnit­te ver­bracht; ich wohn­te bei ei­nem Bau­ern, des­sen Haus der See zu­ge­kehrt lag, so­dass ich von mei­nem Fens­ter aus zwi­schen den grü­nen Tal­hän­gen ein großes Drei­eck dun­kelblau­en Was­sers er­blick­te, das oft von wei­ßen Se­geln wim­mel­te, die von der Son­ne ge­trof­fen in der Fer­ne vor­über­zo­gen.

Der Weg zum Mee­re lief auf der Soh­le der Schlucht und ver­sank dann plötz­lich zwi­schen zwei senk­rech­ten Mer­gel­wän­den wie ein tie­fein­ge­schnit­te­nes Ge­lei­se, um als­dann auf einen schö­nen Kies­platz zu mün­den, des­sen Stei­ne durch das Jahr­hun­der­te lan­ge Spiel der Wo­gen ku­gel­rund ab­ge­schlif­fen und po­liert wa­ren. Die­se tie­fe Hoh­le hieß der »Schä­fer­sprung«. Die Ge­schich­te, der sie ih­ren Na­men ver­dankt, ist fol­gen­de.

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Frü­her, so sag­te man mir, herrsch­te in die­sem Dor­fe ein jun­ger fa­na­ti­scher und ge­walt­tä­ti­ger Pries­ter. Voll Hass auf alle, die nach den Na­tur­ge­set­zen und nicht nach den Ge­set­zen sei­nes Got­tes leb­ten, war er aus dem Se­mi­nar ge­kom­men. Er war von un­beug­sa­mer Stren­ge ge­gen sich selbst und von un­ver­söhn­li­cher Un­duld­sam­keit ge­gen an­de­re. Ei­nes vor al­lem er­füll­te ihn mit Wut und Ab­scheu: die Lie­be. Hät­te er in Städ­ten, im Scho­ße der raf­fi­nier­ten Kul­tur­mensch­heit ge­lebt, wel­che die bru­ta­len Akte, die uns die Na­tur ge­bie­tet, in den zar­ten Schlei­er des Ge­fühls und der Zärt­lich­keit zu hül­len weiß, hät­te er im Halb­schat­ten der großen, ele­gan­ten Kir­chen­schif­fe im Beicht­stuhl ge­ses­sen und die duf­ten­den Sün­de­rin­nen ge­hört, de­ren Ver­ge­hen sich durch die An­mut ih­res Fal­les und die idea­le Ein­klei­dung der höchst ma­te­ri­el­len Umar­mung zu mil­dern scheint, so wäre jene ra­sen­de Em­pö­rung, jene zü­gel­lo­se Wut viel­leicht nicht über ihn ge­kom­men, wenn er der un­sau­be­ren Umar­mung des Ge­sin­dels im Schlamm ei­nes Stra­ßen­gra­bens oder auf dem Stroh ei­ner Scheu­ne ge­gen­über­stand.

Er hielt sie durch­aus für Vieh, die­se Men­schen, wel­che die Lie­be nicht kann­ten, und sich nach Art der Tie­re ver­ei­nig­ten; er hass­te sie we­gen ih­rer See­len-Roh­heit, we­gen der eklen Be­frie­di­gung ih­rer Lust, we­gen der wi­der­li­chen Freu­de, die sie noch als Grei­se emp­fan­den, wenn sie von die­sen Din­gen spra­chen.

Vi­el­leicht auch ward er selbst wi­der Wil­len von un­ge­still­ten Ge­lüs­ten ge­pei­nigt und durch den Kampf sei­nes keu­schen, aber des­po­ti­schen Geis­tes mit sei­nem wi­der­späns­ti­gen Kör­per dumpf ge­quält.

Denn al­les, was auf das Fleisch Be­zug hat­te, em­pör­te ihn, brach­te ihn au­ßer sich, und sei­ne wil­den Pre­dig­ten vol­ler Dro­hun­gen und wü­ten­der An­spie­lun­gen rie­fen das höh­ni­sche La­chen der Dir­nen und Bur­schen her­vor, die sich durch die Kir­che hin ver­stoh­le­ne Bli­cke zu­war­fen. Und wenn die Päch­ter in ih­rer blau­en Blu­se und die Päch­ters­frau­en in ih­rem schwar­zen Man­tel Sonn­tags aus der Mes­se heim­kehr­ten und auf ihre Hüt­te zu­steu­er­ten, de­ren Schorn­stein lan­ge Sträh­nen bläu­li­chen Rau­ches durch die Luft wob, dann sag­ten sie sich wohl: »Da­rin ver­steht er kei­nen Spaß, der Herr Pfar­rer.«

Ein­mal nun ge­riet er um nichts so au­ßer sich, dass er fast die Be­sin­nung ver­lor. Er woll­te einen Kran­ken be­su­chen. Als er den Pacht­hof be­trat, wo der Kran­ke lag, be­merk­te er einen Hau­fen Kin­der aus dem Hau­se und der Nach­bar­schaft, die um die Hun­de­hüt­te her­um­stan­den. Sie rühr­ten sich nicht und blick­ten mit ge­spann­ter und stum­mer Auf­merk­sam­keit auf et­was, das am Bo­den lag. Der Pries­ter trat nä­her und er­blick­te die Hün­din, die ge­ra­de warf. Sie lag vor ih­rer Hüt­te. Fünf Jun­ge kro­chen be­reits um die Mut­ter her­um, die sie zärt­lich leck­te und ge­ra­de in dem Au­gen­blick, wo der Pfar­rer sei­nen Kopf über die Köp­fe der Kin­der hin­aus­reck­te, noch ein sechs­tes Jun­ges zur Welt brach­te. Da fing der gan­ze Schwarm vor Freu­de an zu schrei­en und in die Hän­de zu klat­schen: »Da kimmt noch eins! Da kimmt noch eins!« Es war dies eine Be­lus­ti­gung für sie, eine ganz na­tür­li­che Be­lus­ti­gung ohne ir­gend­wel­che un­rei­ne Bei­mi­schung. Sie sa­hen die­ser Ge­burt zu, wie sie Äp­fel hät­ten fal­len se­hen. Aber der Mann im schwar­zen Ro­cke er­beb­te vor Ent­rüs­tung und ver­lor völ­lig den Kopf. Er er­hob sei­nen blau­en Re­gen­schirm und schlug da­mit wü­tend auf die Kin­der ein. Da lie­fen sie, was sie lau­fen konn­ten. Dann wand­te sei­ne Wut sich ge­gen die nie­der­ge­kom­me­ne Hün­din. Er schlug bald mit der Rech­ten, bald mit der Lin­ken auf sie los, und als das Tier, das an der Ket­te lag und nicht fort­lau­fen konn­te, sich stöh­nend wehr­te, tram­pel­te er dar­auf her­um und zer­trat es mit sei­nen Fü­ßen – wo­bei noch ein letz­tes Jun­ges zur Welt kam; dann gab er ihm mit dem Ha­cken den Rest. Den blu­ti­gen Kör­per ließ er in­mit­ten der Neu­ge­bo­re­nen lie­gen, die kläg­lich piep­send her­um­taps­ten und be­reits nach den Brüs­ten der Mut­ter such­ten.

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Eine sei­ner Ge­wohn­hei­ten war, lan­ge Aus­flü­ge zu ma­chen; er ging dann mit großen Schrit­ten und wil­der Mie­ne durchs Feld. Ei­nes Abends im Mai nun, als er von ei­nem sol­chen wei­ten Spa­zier­gang zu­rück­kehr­te und das Steilufer ent­lang ging, um das Dorf zu ge­win­nen, über­fiel ihn ein furcht­ba­rer Guß. Kein Haus war in Sicht, über­all nack­te Küs­te, von Wet­ter­strö­men zer­spült.

Das Meer ging hoch und roll­te sei­ne Schaum­käm­me. Gro­ße fin­stre Wol­ken zo­gen vom Ho­ri­zont her­an und ver­dop­pel­ten den Re­gen. Der Wind pfiff und heul­te und leg­te die jun­gen Saa­ten nie­der, schüt­tel­te den trie­fen­den Abbé und press­te sei­nen durch­näss­ten Rock ge­gen sei­ne Bei­ne, er­füll­te sei­ne Ohren mit Sturm­ge­heul und sein Herz mit trun­ke­ner Er­re­gung.

Er riss sich den Hut ab und bot sei­ne Stirn dem Ge­wit­ter preis, wäh­rend er sich all­mäh­lich dem Ab­stieg ins Nie­der­land nä­her­te. Doch da pack­te ihn ein Wind­stoß mit sol­cher Ge­walt, dass er nicht mehr wei­ter kam, und da er plötz­lich eine Schaf­hür­de und da­ne­ben den Schutz­kar­ren ei­nes Schä­fers er­blick­te, lief er dar­auf zu, um Un­ter­schlupf zu fin­den.

Die Hun­de, die der Or­kan peitsch­te, schlu­gen nicht an, als er nah­te, und lie­ßen ihn un­ge­hin­dert an die Hüt­te, eine Art Hun­de­hüt­te auf Rä­dern, wie sie die Schä­fer im Som­mer von Wei­de zu Wei­de mit­schlep­pen.

Über ei­nem Tritt­brett öff­ne­te sich die nied­ri­ge Tür, so­dass man das Stroh dar­in­nen er­ken­nen konn­te. Der Pries­ter woll­te hin­ein­schlüp­fen – als er plötz­lich im Dun­kel des Rau­mes ein Lie­bespär­chen ge­wahr­te. Da klapp­te er den Wet­ter­schirm in jä­her Ent­schlos­sen­heit zu, leg­te den Rie­gel da­vor, spann­te sich zwi­schen die Arme der Schub­kar­re und leg­te sich weit vorn­über­ge­beugt da­vor. Er zog wie ein Pferd und rann­te, un­ter sei­nem feuch­ten Tuch­rock keu­chend, dem jä­hen Steil­fall des tod­brin­gen­den Ab­hangs ent­ge­gen. Das über­rasch­te Lie­bes­paar glaub­te wohl, ein Vor­über­ge­hen­der mach­te sich einen Scherz, und trom­mel­te mit den Fäus­ten ge­gen die Wän­de des Holz­hau­ses.

Als er den Kamm des Ab­falls er­reicht hat­te, ließ er das Wan­der­haus fah­ren, und nun schoss es den schrä­gen Hang hin­un­ter, in im­mer schnel­ler­er Fahrt, in ra­sen­dem Lau­fe da­hin­rol­lend, bald hoch­sprin­gend und stol­pernd, wie ein Tier, und mit den Ar­men auf­schla­gend.

Ein al­ter Bett­ler, der in ei­nem Gra­ben hock­te, sah es über sei­nen Kopf hin­weg sau­sen und hör­te das ent­setz­te Ge­schrei in dem höl­zer­nen Kas­ten.

Plötz­lich prall­te es auf, ver­lor ein Rad, leg­te sich auf die Sei­te und be­gann wie eine Ku­gel bergab zu rol­len, wie ein ent­wur­zel­tes Haus vom Gip­fel ei­nes Ber­ges her­un­ter­rol­len wür­de. Am an­de­ren Ran­de des un­ters­ten Hohl­we­ges sprang es auf und flog in ho­hem Bo­gen auf den Kies, wo es wie ein Ei zer­platz­te.

Dort hob man die Lie­ben­den auf. Sie wa­ren zer­schla­gen und zer­malmt, alle Glie­der ge­bro­chen, aber im­mer noch eng ver­schlun­gen. In ih­rer Angst hat­ten sie die Arme um den Na­cken ge­schla­gen, als wäre es aus Lie­be ge­sche­hen…

Der Pfar­rer er­laub­te nicht, dass ihre Lei­chen in die Kir­che ka­men, auch ver­wei­ger­te er den Se­gen an ih­ren Sär­gen. Und am Sonn­tag bei der Pre­digt sprach er don­nernd vom sechs­ten Ge­bo­te Got­tes des Herrn und droh­te den Lie­ben­den mit rä­chend er­ho­be­nem Arm und ge­heim­nis­vol­ler Mie­ne, in­dem er ih­nen das Bei­spiel der bei­den Un­glück­li­chen vor­hielt, die in ih­rer Sün­de ge­stor­ben wa­ren.

Als er die Kir­che ver­ließ, nah­men zwei Gen­darmen ihn fest. Ein Zoll­wäch­ter, der im Guck­loch ge­le­gen hat­te, hat­te al­les ge­se­hen. Er wur­de mit Zucht­haus be­straft.

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Und der Bau­er, von dem ich die­se Ge­schich­te habe, setz­te ernst hin­zu:

– Ich habe ihn noch ge­kannt, Herr, ich selbst. Er war ein stren­ger Mann und von der Lie­be woll­te er über­haupt nichts wis­sen.

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Aus alten Tagen

Mei­ne lie­be Co­let­te!

Ich weiß nicht, ob du dich ei­nes Ver­ses aus Sain­te-Beu­ve ent­sinnst, den wir zu­sam­men ge­le­sen ha­ben, und der sich mei­nem Ge­dächt­nis fest ein­ge­prägt hat; denn er sagt mir Man­ches, die­ser Vers, und oft hat er mein ar­mes Herz be­ru­higt, be­son­ders in der letz­ten Zeit. Er heißt:

»Im sel­ben Haus ge­bo­ren wer­den, le­ben Und ster­ben…«

Hier bin ich nun ganz al­lein in die­sem Hau­se, in dem ich ge­bo­ren bin, ge­lebt habe und auch zu ster­ben ge­den­ke. Es ist nicht alle Tage hei­ter, aber es ist süß; denn ich bin von Erin­ne­run­gen um­ge­ben.

Mein Sohn Hen­ry ist Ad­vo­kat; er be­sucht mich jähr­lich zwei Mo­na­te. Jean­ne wohnt mit ih­rem Man­ne am an­de­ren Ende Frank­reichs; sie be­su­che ich je­den Herbst. So bin ich denn hier al­lein, ganz al­lein, aber ver­trau­te Ge­gen­stän­de um­ge­ben mich und er­zäh­len mir un­aus­ge­setzt von den Mei­nen, von den To­ten wie von den fer­nen Le­ben­den.

Ich lese nicht mehr viel, aber ich den­ke viel, oder bes­ser, ich träu­me! Frei­lich nicht in mei­ner Art von ehe­dem. Du kennst ja un­se­re aben­teu­er­li­chen Gril­len, un­se­re Plä­ne, die wir schmie­de­ten, als wir zwan­zig Jah­re alt wa­ren, all die glück­li­chen Aus­sich­ten, die sich uns er­öff­ne­ten!

Von al­le­dem ist nichts in Er­fül­lung ge­gan­gen, oder viel­mehr, es ist al­les an­ders ge­kom­men, we­ni­ger süß und poe­tisch, aber doch zu­frie­den­stel­lend, wenn man sein Schick­sal zu neh­men weiß.

Denn weißt du, warum wir Frau­en so oft un­glück­lich sind? Weil man uns in der Ju­gend zu viel an das Glück glau­ben lehr­te. Wir sind nicht mit dem Ge­dan­ken er­zo­gen wor­den, dass der Mensch zu kämp­fen, zu har­ren und zu lei­den hat. Und un­ser Herz bricht beim ers­ten Sto­ße. Mit of­fe­ner Brust er­war­ten wir Strö­me von glück­li­chen Er­eig­nis­sen, und es kom­men im­mer nur halb­wegs gute. Dann wei­nen wir gleich. Das Glück, das wah­re Glück un­se­rer Träu­me habe ich erst ler­nen müs­sen. Es be­steht nicht in ei­nem glück­li­chen Er­eig­nis, denn die sind sehr sel­ten und von kur­z­er Dau­er, son­dern ein­fach im ste­ten Er­war­ten ei­ner Rei­he von gu­ten Din­gen, die nie­mals kom­men. Glück, das ist das glück­li­che War­ten, das ist ein Dunst­kreis von Hoff­nun­gen, also die Il­lu­si­on ohne Ende. Ja, mei­ne Lie­be, es gibt nichts Gu­tes, als die Il­lu­sio­nen, und so alt ich bin, ma­che ich mir noch alle Tage wel­che; nur hat sich ihr Ge­gen­stand ge­än­dert, denn mei­ne Wün­sche sind nicht die­sel­ben ge­blie­ben. Ich sag­te dir schon, dass ich die meis­te Zeit mit Träu­men ver­brin­ge. Was soll ich auch andres tun? Ich habe dazu zwei Ar­ten. Ich will sie dir nen­nen: viel­leicht, dass sie dir nütz­lich sind.

Die ers­te ist sehr ein­fach; sie be­steht dar­in, dass ich mich in einen nied­ri­gen Lehn­stuhl, der mei­nen al­ten Kno­chen weich ge­nug ist, vor mein Ka­min­feu­er set­ze und mei­ne Bli­cke auf Das zu­rück schwei­fen las­se, was da­hin­ter liegt.