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Willkommen auf Rügen, wo die Kurgäste verschwinden …
Ex-Polizistin Lilo Gondorf vermietet in Groß Zicker Ferienbungalows – und das mit großem Erfolg. Schließlich kann sie seit Jahren die Höchstwertung – Fünf Seesterne, verliehen von der Kurverwaltung Rügen – halten. Doch dann wird Lilos Gast Werner Koch, ein pensionierter Notar, bei einer Wanderung um den Bodden entführt. Die einzige Zeugin: seine blinde Ehefrau. Das macht Lilo ganz schön zu schaffen – und weckt in ihr die Sehnsucht nach dem alten Beruf. Und da die Polizei, unter anderem Lilos Tochter Verena von der Kripo Stralsund, auf der Stelle tritt, muss Lilo wohl oder übel selbst ermitteln. Gemeinsam mit ihrem Nachbarn Oskar kommt sie dem entführten Notar auf die Spur – und einem handfesten Verbrechen ……
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Seitenzahl: 384
Ex-Polizistin Lilo Gondorf vermietet in Groß Zicker Ferienbungalows – und das mit großem Erfolg. Schließlich kann sie seit Jahren die Höchstwertung – fünf Seesterne, verliehen von der Kurverwaltung Rügen – halten. Doch dann wird Lilos Gast Werner Koch, ein pensionierter Notar, bei einer Wanderung um den Bodden entführt. Die einzige Zeugin: seine blinde Ehefrau. Das macht Lilo ganz schön zu schaffen – und weckt in ihr die Sehnsucht nach dem alten Beruf. Und da die Polizei, unter anderem Lilos Tochter Verena von der Kripo Stralsund, auf der Stelle tritt, muss Lilo wohl oder übel selbst ermitteln. Gemeinsam mit ihrem Nachbarn Oskar kommt sie dem entführten Notar auf die Spur – und einem handfesten Verbrechen …
NADJA QUINT wurde 1959 in Ostwestfalen geboren und ist im Hauptberuf Fachärztin für Psychosomatische Medizin– ihre Kinder schämen sich noch heute dafür, wenn sie den Beruf der Mutter irgendwo angeben müssen. Dabei hilft ihr das Wissen um die Psyche des Menschen ganz ungemein, wenn sie sich ihrer liebsten Nebentätigkeit widmet: Kriminalromane schreiben. Nach mehreren historischen Krimis hat sie nun mit der Krimireihe um Lilo Gondorf, die ermittelnde Pensionswirtin aus Rügen, einen Grund gefunden, ganz oft auf die beliebte Ferieninsel zu reisen – natürlich ausschließlich zu Recherchezwecken.
NADJA Quint
HALBE MIETE
Ein Fall für Lilo Gondorf
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1. Auflage
Originalausgabe Mai 2015
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2015 by Nadja Quint
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: © Shutterstock/Madlen/Molodec/Krasowit/Jenny Sturm
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
MP · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-15853-8V002www.btb-verlag.de
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Doch manchen stürzte schonDie Hoffnung auf Gewinn in sein Verderben.
Sophokles
Der Weg
In Gager, einem kleinen Ort im Südosten der Insel Rügen, ging ein älteres Ehepaar auf das Naturschutzgebiet zu. Noch hielten die letzten Häuser des Dorfes mit ihren zum Bodden gelegenen Gärten die Böen ab. Erst als die Wanderer die offenen Wiesenflächen erreichten, traf sie von der Seite ein harter Wind und hinterließ ein stechendes Gefühl auf ihren Wangen. Das Gehen wurde mühsamer, doch das Atmen fiel leicht. Die Luft war gesättigt vom Regen der frühen Morgenstunden.
Der Mann drehte sich um. »Hier bleibt es erst mal flach, das Land fällt zum Wasser hin sanft ab. Bis zur Steilküste sind es noch ein paar Kilometer.«
Die Frau nickte. »Da weht es bestimmt noch stärker.«
»Möchtest du lieber umkehren?«, fragte er fürsorglich.
»Nein, ist doch schön hier. Hauptsache, es regnet nicht mehr.«
Seit dem dritten Lebensjahr war die Frau blind, man hatte ihr die von Krebs befallenen Augäpfel entfernt. So hatte sie gelernt, ihre übrigen Sinne zu nutzen. Auch in fremder Umgebung fand sie sich gut zurecht. Zusammen mit ihrem Mann war sie vor ein paar Jahren in Rente gegangen, seitdem wanderten die beiden leidenschaftlich gern. An diesem Vormittag wollten sie die Zickerschen Berge umrunden, eine der schönsten Wanderstrecken auf der Insel. Die Frau folgte ihrem Mann auf zwei Metern, für sie der günstigste Abstand. Sie orientierte sich am Geräusch seiner Schritte, und er konnte sie rechtzeitig vor Unebenheiten warnen.
Der Weg verlief in südwestlicher Richtung. Je näher sie dem Ende des Höfts kamen, umso stärker wurden die Böen. Der Himmel blieb die meiste Zeit bedeckt, manchmal brach für einige Minuten die Sonne durch. Seit knapp zwei Stunden waren sie nun unterwegs. Bis zum Ausgangspunkt der Wanderung, ihrem Ferienbungalow in Groß Zicker, würden sie noch einmal so lange brauchen.
An einer Gruppe von Sträuchern, die den Blick auf den Bodden verdeckten, drehte der Mann sich wieder um. »Alles in Ordnung?«
Im Gehen zog die Frau die Kordel am Jackenkragen fester. »Ja sicher.«
»Na, dann weiter«, meinte er zufrieden.
Am Bodden schmeckte die Luft nach Regenwasser und frischem Grün. Die nasse Sandschicht auf dem Weg wurde dicker, die Sohlen der Wanderschuhe sanken tiefer ein, das Laufen strengte an. Vor der nächsten Wegbiegung blieb der Mann schweigend stehen. Die Frau ging auf ihn zu und schmiegte sich an seine Seite, er strich ihr durchs Haar, sie vergrub das Gesicht an seinem Hals. Dies war ihr Ritual. Mit dem Kinn berührte die Frau den Rucksack, darin trug der Mann ihren zusammenschiebbaren Blindenstab. Nur zur Vorsicht nahmen sie ihn mit, bislang hatten sie ihn nicht gebraucht.
Sie richtete ihren Kopf wieder auf. »Erzählst du mir was?«, fragte sie herausfordernd.
Er lächelte. »Was möchtest du denn wissen?«
»Irgendwas hübsches Geografisches.«
Wie vor jedem Urlaub hatte er sich ausführlich über die Besonderheiten der Landschaft belesen. Dass seine Frau sich manchmal darüber lustig machte, nahm er ihr nicht übel.
»Gut, dann ein bisschen Erdkunde für dich: Ursprünglich waren die Zickerschen Berge bewaldet. Nach der Abholzung blieben hohe Wiesenhügel zurück, und weil es hier relativ wenig regnet, bildete sich eine Trockenrasenlandschaft. In heißen Sommern erreicht das Innere des Bodens bis zu siebzig Grad Celsius. So was findet man in Europa nur selten, darum hat die UNESCO das zum Biosphärenreservat erklärt.«
Sie nickte begeistert. »Dann mach doch mal bei den Wiesen weiter. Welche Pflanzen erkennst du denn so?«
Er lachte, denn von Botanik verstand sie mehr als er. »Also: Links ist Weißklee, rechts gelber Löwenzahn und in der Mitte irgendwas, das erinnert an Kornblumen. Aber nicht blau, sondern rosa.«
»Das sind Flockenblumen«, entgegnete die Frau milde.
»Na gut, dann eben Flockenblumen. Und wenn der Wind durch das Gras geht, sieht es aus, als hätte die Wiese silberne Streifen.«
»Sehr schön. So viel dazu.« Die Frau löste sich aus der Umarmung und wandte sich zur Seeseite. »Und jetzt erzählst du mir was über das Gewässer hier.«
Er folgte ihrer Drehung, sein Arm lag immer noch auf ihrer Hüfte. »Wir stehen an der Bucht zwischen den Zickerschen Bergen und dem Reddevitzer Höft.«
»Sind Boote drauf?«
»Nicht viele. Wahrscheinlich wegen der starken Windstöße, das ist nur was für geübte Segler.«
»Aha«, sagte die Frau zufrieden. Sie zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Dann weiter zur nächsten Attraktion.«
Die beiden setzten sich in Bewegung, wieder ließ die Frau ihren Mann zwei Meter vorgehen.
»Es riecht nach Schafen«, rief sie ihm nach einer Weile zu.
Er wandte sich um. »Stimmt. Die berühmten Pommerschen Rauwollschafe. So zwanzig, dreißig Stück. Und alle noch in dicker Wolle nach dem kalten Frühjahr.«
»Mit Schäfer und schwarzem Hütehund? So wie im Bilderbuch?«
»Nein«, sagte er heiter. »Ganz ohne Aufpasser. Die kennen sich ja aus hier. Und jetzt machen sie uns den Weg frei.«
»Wie aufmerksam.« Die Frau lächelte.
Sie gingen weiter. Ein paar hundert Meter, nachdem sie die Schafherde passiert hatten, begegneten ihnen zwei Männer, ebenfalls Wanderer. Freundlich grüßend zog man aneinander vorbei, die Männer rochen nach kaltem Zigarettenrauch. Dann blieb das Ehepaar allein mit sich und der Natur. Sie näherten sich dem Ende der Landzunge, die Böen wurden stärker.
»Moment mal bitte.« Die Frau blieb stehen und zog sich die Kapuze über den grauen Haarknoten.
»Die Sandklippen hier sind schon höher, so an die zehn Meter, darum pfeift der Wind so«, erklärte der Mann. »Aber gleich kommen wir durch einen kleinen Wald, da wird es bestimmt angenehmer.«
»Alles kein Problem!« Lächelnd setzte sie sich wieder in Bewegung.
Ihr Mann behielt recht. Sobald sie den Wald erreichten, wurde es windstill. Das Geräusch der schlagenden Wellen drang zwischen den Bäumen hindurch, die den Weg von den Klippen trennten.
»Wir sind kurz vor der Außenspitze des Höfts.« Wieder drehte der Mann sich um. »Aber vorher kommt noch eine Lichtung, da ruhen wir uns ein bisschen aus.«
»Können wir machen.« Die Frau atmete angestrengt, während sie weiterging.
Hinter dem Wald frischte der Wind auf, Böe folgte auf Böe. Mit einer Hand bedeckte die Frau ihre rechte Wange. »Wie hoch sind die Klippen hier?«
»Etwa fünfzehn Meter.« Er blieb stehen. »Wir können noch ein Stück näher ran, wenn du möchtest.«
»Gern.«
Sie ging auf ihn zu, er nahm sie fest in den Arm und führte sie ein paar Schritte nach vorn. »Direkt vor uns ist die Hagensche Wieck und dahinter das Reddevitzer Höft.«
»Ist die Sicht gut?«
»Nein, alles ziemlich diesig.«
Sie hielt ihr Gesicht in den Wind und atmete tief. »Gibt es einen Strand an den Klippen?«
»Ja, wenn auch nur einen schmalen Streifen, aber von hier aus kommt man nicht dorthin. Nachher kommt eine Stelle, an der ein Weg nach unten führt, zu einem kleinen Sandstrand namens Nonnenloch. Da können wir ja mal hingehen, wenn das Wetter besser ist.«
»Machen wir.« Sie küsste ihn auf die Wange.
Die beiden standen einen halben Meter vor der Kante, ein Windstoß traf sie von der Seite. Der Mann zog seine Frau fester an sich, sie barg ihr Gesicht an seinem Hals.
Sobald die Böe abflaute, hob sie den Kopf in Richtung Meer und sog die Luft ein. »Ich finde es ganz wunderbar hier.«
»Schön. Dann hat sich der Weg ja gelohnt.«
Sein Arm glitt an ihrem Rücken herunter. Jetzt umschlang er ihre Hüfte.
Der nächste Windstoß kam von vorn. Zitternd hielt die Frau sich an ihrem Mann fest. »Mir ist kalt.«
Sie spürte, wie er den Kopf wand.
»Da drüben ist eine Bank.« Er fasste ihre Hand und wies ihr die Richtung. »Ungefähr zwanzig Meter von hier. Geh doch schon mal hin, ich komme gleich nach.«
»Danke!« Sie löste sich aus der Umarmung und zählte die Schritte mit, die sie zur Bank brauchte, es waren zweiunddreißig. Auch hier spürte sie noch den rauen Wind und zog die Kapuzenkordel fester. Er würde gleich kommen, hatte ihr Mann gesagt. Sie wartete, die Minuten verstrichen.
»Alles in Ordnung?«, rief sie in seine Richtung. Er antwortete nicht. »Werner?«
Da hörte sie seinen Schrei. Sie sprang auf. Zweiunddreißig Schritte von der Bank bis zu den Sandklippen. Sie ging erst schnell, dann langsamer. Die Böen wurden stärker. Sie setzte Fuß vor Fuß. »Werner!«
Dreißig Schritte war sie gegangen, sie blieb stehen. Für einen Moment ließ der Wind nach. Unterhalb der Abbruchkante hörte sie Äste knacken. Wieder setzte sie einen Fuß vor – und zog ihn sofort zurück. Sie stand am Klippenrand.
Die Nachricht
Lieselotte Gondorf kniff das linke Auge zu und visierte ihr Ziel an. Ihr Zeigefinger umschlang den Abzug, jetzt lag alle Konzentration im äußeren Fingerglied. Hier entschied sich, ob der Schuss gelang. Noch einmal fixierte sie die Mitte der runden Scheibe, dann drückte sie ab.
Der Sprühstoß traf ins Zentrum. Lilo zog ein Tuch aus ihrer Kitteltasche und verteilte den Glasreiniger über den Badezimmerspiegel. Dabei rümpfte sie die Nase, der Salmiak ärgerte ihr feines Organ. Und noch etwas störte sie: Die letzten Gäste hatten reichlich Zahnpastaspritzer hinterlassen. Lilo ließ den Spiegel quietschen und strahlte sich selbst entgegen, es ging gut voran mit der Reinigung vom Boddenhüsken, dem größeren ihrer beiden Ferienbungalows. Sie öffnete das Badezimmerfenster. Von hier aus konnte sie längs über ihr Grundstück schauen, hin zum Mövennest, dem kleineren Bungalow, und weiter bis zu ihrem eigenen Wohnhaus. Rasen, Bäume und Sträucher leuchteten im Grün des Frühsommers.
Beide Holzhäuser, die Lilo vermietete, hatten Terrassen mit Blick auf den Bodden, und im hinteren Teil des Gartens gab es einen kleinen Spielplatz. Die Kurverwaltung verlieh für diese Ferienanlage jedes Jahr fünf Seesterne – die Höchstwertung. Fünf Seesterne, das bedeutete: großzügige Räumlichkeiten, komfortable Ausstattung, stilsicheres Ambiente. Bisher war es Lilo gelungen, die Bestnote zu verteidigen. Doch dafür musste sie auch einiges tun. Die Anlage in Schuss zu halten, kostete jede Menge Zeit und Anstrengung, und Lilo verabscheute schon die Arbeit im eigenen Haushalt. Doch ihr blieb keine Wahl. Angestellte waren zu teuer, und in ihren früheren Beruf konnte sie nicht mehr einsteigen, dafür galt sie längst als zu alt.
Also bewältigte sie bei jedem Gästewechsel die Reinigung von Boddenhüsken oder Mövennest ohne fremde Hilfe – und fluchte vor sich hin. Wobei sie durchaus noch eine Steigerung des Grauens kannte. Mehr als das Wischen, Waschen und Putzen in den Häusern hasste sie die Arbeit um die Häuser herum. Das Mähen der großen Rasenfläche, das Zupfen und Rupfen an Bäumen und Beeten. Aber auch dem konnte sie nicht entrinnen. Ein gepflegter Garten gehörte nun mal dazu. Falls Lilos Gäste sich über braune Blätter, Unkräuter oder ähnliche Urlaubsmängel beschweren sollten, würde die Strafe der Kurverwaltung auf dem Fuße folgen: der Abzug von mindestens einem Seestern. So weit durfte Lilo es nicht kommen lassen.
Während sie am Badezimmerfenster stand, schaute sie in den Himmel. Das Wetter sollte heute unbeständig bleiben, doch für die nächsten Tage war Sonne angesagt. Sie beendete ihre kurze Pause und rückte der Dusche zu Leibe, anschließend wischte sie die Böden. Mit dem Gefühl, Großes geleistet zu haben, schloss sie das Holzhaus ab und trat auf die Terrasse. In dem Moment kam zwischen den rasch ziehenden Wolken die Sonne hervor, sofort fühlte Lilo sich entschädigt für alles Ungemach. Mönchgut hieß dieser Teil Rügens. Vor mehr als fünfzehn Jahren war Lilo zum ersten Mal hier gewesen und hatte sich verliebt in die Halbinsel mit ihren sanften Übergängen zwischen Land und Meer – so fließend und vielgestaltig, als würden Wiesen und Wasser sich mit langen Fransen auf immer neue Weise ineinander verweben. Hier bleibe ich!, hatte Lilo damals beschlossen. Noch heute freute sie sich jedes Mal darüber, wenn auch ihre Gäste sich für die Gegend begeistern konnten.
Sie hätte gern länger verweilt und der Landschaft beim Schönsein zugeschaut, doch in ihrer eigenen Wohnung war Arbeit liegen geblieben. Nicht mal den Frühstückstisch hatte sie abgeräumt. Also dann. Voll Vorfreude auf eine frische Tasse Kaffee ging sie durch den Garten. Die vermoosten Stellen im Rasen waren schon wieder gewachsen. Seufzend nahm sie den Blick von der Grünfläche und schaute zur Straße. Auf dem Gästeparkplatz neben Lilos Haus stand ein schwarzer Mercedes mit Berliner Kennzeichen. Er gehörte dem Ehepaar Koch, seit gestern wohnten die beiden im Mövennest. Sehr angenehme Leute, fand Lilo, und dabei so eindrucksvoll. Nach der Begrüßung hatte sie ihnen den Bungalow gezeigt und gestaunt: Obwohl Frau Koch blind war, konnte sie sich mühelos orientieren. Zusammen mit ihrem Mann wolle sie wandern, erzählte sie, gleich am nächsten Tag sollte es losgehen. Natürlich hätte Lilo gern neugierig nachgehakt. Doch sie verkniff sich die Frage, wie die blinde Frau Koch denn in fremder Umgebung wandere und ob ihr Mann sie die ganze Zeit an der Hand führen müsse. Im Umgang mit Gästen bemühte Lilo sich um höfliche Zurückhaltung.
Der nächste Tag – das war heute. Schon am frühen Morgen hatte sie die Kochs im Garten getroffen. Trotz der unbeständigen Witterung machten sie sich auf zur Tour um die Zickerschen Berge. Sie liefen bei jedem Wetter, hatten sie betont, wenn es nicht gerade in Strömen regne.
»Ich bewundere Sie«, hatte Lilo gesagt und ihnen fröhlich hinterhergewunken.
Jetzt sah sie auf die Uhr. Eine gute Stunde würden die Kochs noch unterwegs sein bei dem strammen Programm, das sie sich vorgenommen hatten. Friedlich stand der Mercedes auf dem Gästeparkplatz. Ein älteres Modell, so viel konnte Lilo erkennen, aber sehr gepflegt. Dabei interessierte sie sich kaum für Autos – jedenfalls nicht für die Technik. Irgendwelche Details an der Karosserie oder am Motor konnten sie nicht begeistern. Trotzdem überkam sie der Wunsch, den fremden Wagen näher zu betrachten. Diese Art von Neugier kannte Lilo von sich. Und sie gab ihr gern nach, denn sie war der festen Überzeugung, dass nichts so viel über Menschen aussagte, wie der Innenraum ihrer Autos. Sie wollte verstehen, was das für Leute waren, die zwar nicht unter ihrem Dach, aber immerhin auf ihrem Grundstück wohnten. Lilo war also nicht neugierig im eigentlichen Sinne, sondern einfach nur vorsichtig. Und da die Gäste-Autos sowieso für jedermann sichtbar auf dem Parkplatz standen, fiel Lilo kein Grund ein, warum sie nicht ausgiebig hineinschauen sollte. Schließlich schadete sie niemandem.
Auch heute erlaubte sie sich die kleine Indiskretion und stattete dem Koch’schen Mercedes einen Besuch ab. Durch das Fenster der Fahrertür inspizierte sie den vorderen Teil des Innenraums. Die C-Klasse-Limousine verfügte über eine manuelle Schaltung, elfenbeinfarbene Ledersitze und eine Klimaanlage. Ungewöhnlich war das alles nicht. Ob Lilo das nun eher beruhigend oder enttäuschend finden sollte, hätte sie selbst nicht sagen können. Sie umrundete den Wagen und schaute durch die übrigen Fenster, konnte aber auch dort nichts Spannendes entdecken. Im Gegenteil. Wenn es etwas gab, worin sich dieser Mercedes von anderen Gäste-Autos deutlich abhob, dann höchstens die Ordnung. Alles war sauber, nichts lag herum, keine Jacke, keine Straßenkarte – gar nichts. So wie der Wagen hier stand, hätte er auch in einem gediegenen Autohaus auf Käufer warten können. Lilo entschied: Es handelte sich um eine gepflegte, ältere Luxuslimousine, die wunderbar zu ihren Besitzern passte. Mehr ließ sich nicht sagen, und das enttäuschte sie dann doch etwas. Sie wandte sich ab und wollte schon ins Haus gehen, da näherte sich aus Richtung Ortseingang ein japanischer Kleinwagen. Lilo stutzte. Den türkisgrünen Honda kannte sie gut. Darin war es weit weniger aufgeräumt als in der Koch’schen Limousine. Aber warum kam Verena zu Besuch? Um diese Uhrzeit?
Grüßend hob Lilo die Hand und erwartete, dass ihre Tochter auf den freien Stellplatz einbog. Doch heute parkte Verena am Straßenrand. Auch das war seltsam. Lilo ging auf den Honda zu und schaute ins Fenster. In diesem Moment legte Verena mit ernster Miene den Zeigefinger an die Lippen. Was war los? Sollte niemand wissen, dass Verena hier war statt auf ihrer Arbeitsstelle? Machte sie etwa blau? Verena hielt demonstrativ ihre Aktentasche ins Autofenster, und endlich begriff Lilo: Dieser Besuch war dienstlich! Kriminalkommissarin Verena Gondorf kam aus Stralsund, um auf Rügen zu ermitteln. Es gab auf der Insel zwar eine Außenstelle der Stralsunder Kripo, aber dort waren nur wenige Beamten tätig. Bei größeren Fällen mussten auch die Kollegen vom Festland ran.
Lilo unterdrückte ihren Schrecken. Zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, legte sie ebenfalls den Zeigefinger an die Lippen.
Verena stieg aus. Hätten Nachbarn die Szene beobachtet, wäre ihnen nichts aufgefallen. Mutter und Tochter begrüßten sich in gewohnter Herzlichkeit.
»Möchtest du Kaffee?«,
»Danke, Mama. Gern«, sagte Verena laut und deutlich, dann schweifte ihr Blick über den Vorgarten. »Schön, diese roten Petunien.«
»Ja«, entgegnete Lilo nicht weniger laut. »Die sind aus dem Baumarkt in Sellin. Gar nicht teuer, aber machen sich prima.«
»Wunderbar!«
Sie gingen ins Haus, Lilo schloss die Tür hinter sich und sah ihre Tochter besorgt an.
»Es ist nicht wegen dir, Mama«, erklärte Verena sofort. »Ich komme wegen Elisabeth und Werner Koch aus Berlin. Die wohnen doch hier, oder?«
Dass Verena wegen der Kochs kam, war keine Nachricht, die Lilo beruhigen konnte. »Ja«, sagte sie so sachlich wie möglich. »Seit gestern wohnen die im Mövennest.«
Verena ging voraus in die Küche, stellte sich ans Fenster und schaute durch die Gardine auf den Parkplatz.
»Und dieser schwarze Mercedes gehört denen?«
»Richtig.«
Verena lächelte. »Ein wirklich schönes Auto. Wie ich dich kenne, hast du dir den doch bestimmt schon näher angeguckt, Mama?«
Gern hätte Lilo eine flapsige Antwort gegeben, doch die Situation erschien ihr zu ernst. »Ja, gerade eben. Und ich sage dir gleich: Mir ist nichts aufgefallen, absolut nichts. Ein gepflegter Wagen von ordentlichen Leuten.« Sie stutzte. »Ist was nicht in Ordnung damit? Ist der etwa geklaut?«
»Nein, Mama. Das hat alles seine Richtigkeit. Werner Koch ist seit elf Jahren im Kfz-Brief eingetragen, als Erstbesitzer.« Verena wandte sich zur Tür.
»Du gehst schon wieder?«
»Ja sicher. Ich bin erst mal mit reingekommen, um dich zu befragen, denn so was mache ich nicht auf der Straße. Du sagst, dir ist am Mercedes nichts aufgefallen. Das nehme ich zu Protokoll, und jetzt muss ich wieder raus und den Wagen versiegeln. Bis gleich.«
Lilo blickte ihrer Tochter hinterher. Wäre sie selbst auch so vorgegangen? Damals, vor fünfunddreißig Jahren, als sie bei der Kripo in Bielefeld gearbeitet hatte? Wahrscheinlich lief früher alles ruhiger ab, überlegte Lilo. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, sie wollte die damalige Zeit nicht verklären. Trotzdem ärgerte es sie, wie Verena sich benahm: Frau Kriminalkommissarin kam angerauscht, stellte Fragen, ging mit in die Küche, lief gleich wieder raus und ließ ihre Mutter im Unklaren darüber, was eigentlich los war. Seufzend schaute Lilo aus dem Fenster. Verena umrundete den Mercedes und klebte Polizeisiegel über sämtliche Öffnungen: Türen, Fenster, Kofferraum, Tanköffnung, Stahlschiebedach. Lilo nickte. Das hatte sie damals genauso gemacht, daran hatte sich in all der Zeit also nichts geändert.
Vor elf Jahren, kurz vor Verenas Abitur, hatten die beiden nächtelang diskutiert. Dass Verena in die Fußstapfen ihrer Mutter treten wollte, entfachte in Lilo gemischte Gefühle. Sie schwärmte nicht von ihrem alten Beruf, genauso wenig wie sie bedauerte, dass sie ihn nach nur einem Jahr wieder aufgab, um sich ihrer Familie zu widmen.
Verena entschied sich schließlich doch für den gehobenen Dienst bei der Polizei – wie ein Vierteljahrhundert zuvor ihre Mutter. Inzwischen war längst klar: Verena hatte richtiggelegen mit ihrer Berufswahl. Sie bewies Gespür im Umgang mit Menschen und konnte glasklar denken. Die Belastungen im Dienst verkraftete sie gut. Trotzdem hatte Lilo manchmal Angst um ihre Tochter. Aber das gehörte wohl dazu. Obwohl Lilo früher selbst bei der Kripo gewesen war. Oder gerade deshalb.
Draußen steckte Verena die Rolle mit den Siegeln in ihre Aktentasche zurück. Lilo blickte zu den gegenüberliegenden Häusern hinüber, die Vorgärten waren menschenleer, aber vielleicht stand der eine oder andere Nachbar hinter der Gardine und linste. Und wenn schon, dachte Lilo. Bald würden sowieso alle Bescheid wissen über die Ereignisse hier. Wobei Lilo ja selbst noch nicht klar war, was eigentlich vor sich ging. Nun gut. Sie würde es wohl gleich erfahren.
Verena kam in die Küche. »So. Jetzt darf unser Abschleppdienst ran.«
Diesmal begriff Lilo auf Anhieb, worum es ging. »Den Wagen untersucht ihr in Stralsund?«
»Klar, in Bergen haben wir doch nicht die Möglichkeiten. Unsere Spusi ist übrigens schon unterwegs.«
»Wollen die in den Bungalow?«, Lilo nahm die volle Kanne aus der Kaffeemaschine.
»Ja sicher. Wir müssen alles von den Kochs untersuchen.«
»Darf ich denn jetzt wissen, was eigentlich passiert ist?«
»Lass uns das im Wohnzimmer bereden, Mama. Da habe ich das Mövennest besser im Blick.«
Mit einer Kopfbewegung wies Lilo zum Flur. »Dann geh schon mal rüber. Sonst heißt es noch, deine dumme neugierige Mutter hat dich von der Arbeit abgelenkt.«
Verena ging ins Wohnzimmer. Ihr Handy klingelte, sie schloss die Tür hinter sich.
*
Mit einem Tablett betrat Lilo das Wohnzimmer. Verena saß auf der Couch, den Blick zum Garten gerichtet. Vor ihr lag ein Diktiergerät. Während sie ihrer Mutter beim Tischdecken half, schaute sie immer wieder zu den Bungalows.
»Die Kollegen von der Spusi haben eben noch mal angerufen, die sind ungefähr in einer halben Stunde da. Ich habe gesagt, sie brauchen nicht bei dir zu klingeln, sondern können gleich zum Mövennest durchgehen. Ich komme dann mit dem Schlüssel.«
»Natürlich«, Lilo ließ sich in einen Sessel sinken. »Und jetzt erzählst du mir endlich ein paar Einzelheiten?«
»Nicht ganz. Erst mal erzählst du uns was.«
»Aha? Es ist also kein Problem, dass du als meine Tochter hier ermittelst?«
»Nein, Mama. Du bist schließlich eine ehemalige Kollegin.«
»Tatsächlich? Eben hast du mich das ja nicht gerade spüren lassen.«
»Glaub mir: Wenn wir dich nicht als Kollegin sähen, müssten wir deutlich anders vorgehen. Können wir also?«
»Wir können.«
Verena schaltete das Diktiergerät an und wandte sich Lilo zu. »Du bist vermutlich die letzte Person, mit der die Kochs vor ihrer Wanderung geredet haben. Welchen Eindruck hattest du? Wenn du dir vorstellst, dass den Kochs bei der Wanderung etwas zustößt, irgendwas Schlimmes, was ist dann dein erster Gedanke?«
»Dass Frau Koch von der Klippe gestürzt sein könnte«, sagte Lilo laut und deutlich. »Frau Koch ist schließlich blind. Da kann ein solcher Sturz durchaus passieren, nicht wahr?«
»Du wusstest also, dass die Kochs zu den Klippen gegangen waren?«
»Ja, ich habe sie heute Morgen getroffen, ziemlich früh, so gegen acht Uhr. Da wollten sie den großen Rundweg laufen. Wir haben noch übers Wetter gesprochen.«
»Und wie war die Stimmung zwischen den beiden?«
»Richtig gut. Sie haben sich auf die Wanderung gefreut. Es war ja ziemlich windig, aber das machte ihnen nichts aus. Sie laufen gern direkt nach dem Frühstück, haben sie gesagt. Hauptsache, es regnet nicht in Strömen.«
»Seit wann weißt du, dass Frau Koch blind ist?«
»Erst seit ihrer Ankunft gestern gegen elf Uhr dreißig. Vorher kannte ich das Ehepaar Koch ja nicht, und bei der Buchung haben sie mich nicht darüber informiert. Dass Frau Koch blind ist, ist mir nicht sofort aufgefallen. Sie stieg ganz normal aus dem Auto und trug eine große Sonnenbrille. Ab und zu schien ja wirklich die Sonne, darum habe ich mir nichts dabei gedacht. Als sie auf mich zuging, habe ich bemerkt, dass sie nicht gut sehen kann. Ich musste sie nicht danach fragen, sie hat dann ganz offen erzählt, dass sie völlig blind ist. Wegen Krebs wurden ihr schon als Kind beide Augäpfel entfernt. Wenn man nah vor ihr steht, kann man durch ihre Sonnenbrille erkennen, dass die Augenlider tief eingefallen sind.«
Verena nickte. »Und wie war sonst dein Eindruck von dem Paar?«
»Es sind angenehme Leute. Seriös, gut situiert, aber nicht arrogant. Und sehr korrekt. Sie haben vorher angerufen und gefragt, ob sie schon ab elf Uhr kommen dürften. Für mich war das kein Problem, den Bungalow hatte ich ja schon vorbereitet. Herr Koch ist dann mittags noch nach Gager gefahren und hat die Kurtaxe bezahlt.«
Verena nahm den nächsten Keks, offenbar brauchte sie Nervennahrung. »Und heute Morgen war alles harmonisch zwischen den beiden. Also keine Spur von Streit?«
»Bestimmt nicht.«
»Kannst du dir vorstellen, dass die beiden sich gestritten haben? Oder sogar handgreiflich geworden sind?«
Ungläubig verzog Lilo den Mund. »Meinst du damit, die beiden könnten sich geschlagen haben?«
»So was kommt vor.«
»Aber bei denen doch nicht. Die sind so lieb miteinander umgegangen. Freundlich und rücksichtsvoll.«
»Und dass die Harmonie vielleicht nur vorgegaukelt war? Dass es unterschwellig Spannungen gab, aber die wollten sie nicht zeigen?«
»Nein, alles wirkte echt, da bin ich mir sicher.«
»Danke.« Verena schaltete das Diktiergerät ab. »So viel zum offiziellen Teil.«
»Dann darf ich jetzt endlich wissen, was passiert ist?«
»Darfst du«, Verena seufzte laut. »Und du sagst mir auch gleich, was du davon hältst. Die Sache ist nämlich reichlich seltsam: Herr Koch ist verschwunden. Und Frau Koch glaubt, jemand hat ihn von der Klippe runtergezogen und entführt.«
»Was?!« Lilo starrte ihre Tochter an.
»Ja, es klingt eigenartig. Aber Frau Koch hat es uns genau so geschildert. Und weitere Zeugen haben wir nicht. Jedenfalls noch nicht.« Verena nahm sich den nächsten Keks und blickte wieder zum Mövennest.
»Erfahre ich noch ein paar Einzelheiten?«
»Sicher. Frau Koch stand mit ihrem Mann ziemlich nah am Klippenrand, und er hat ihr was über die Landschaft erzählt. Nach einigen Minuten wurde es ihr zu kalt. Sie ist von der Stelle weggegangen und hat sich auf eine Bank am Weg gesetzt, ungefähr zwanzig Meter entfernt. Ihr Mann ist an der Sandklippe stehen geblieben, weil er den Ausblick noch genießen wollte. Dann hat er plötzlich laut geschrien, und es hat sich angehört, als würden unterhalb der Klippenkante die Sträucher knacken und Zweige abbrechen.«
»Aber wie kann das denn zusammenpassen?«, ereiferte Lilo sich. »Selbst wenn er da runtergerutscht sein sollte, könnte das doch ein schlichter Unfall sein. Wieso glaubt sie denn, dass jemand ihren Mann entführt hat?«
»Genau das ist der Punkt, Mama. Wir haben das auch nicht gleich verstanden. Frau Koch meint, jemand hat unterhalb des Randes gewartet und ihren Mann runtergezogen. Als er schrie, ist sie aufgesprungen und in seine Richtung gegangen, aber weil sie keinen Blindenstab bei sich hatte, musste sie höllisch aufpassen. Also hat sie sich Schritt für Schritt zur Kante getastet und dabei nach ihrem Mann gerufen. Er hat nicht geantwortet, aber sie hat außer dem Knacken in den Sträuchern noch mehr gehört: Schleifende Geräusche, so als würde man etwas über den Boden ziehen, aber dann auch rutschenden Sand. Die Klippen sind an der Stelle ja nicht ganz steil, und es gibt genügend Sträucher, an denen man sich hoch- und runterhangeln kann, wenn man einigermaßen sportlich ist. Falls Werner Koch wirklich so nah an der Kante gestanden hat, dürfte es kein allzu großes Problem gewesen sein, ihn von unten an den Beinen zu greifen und runterzuziehen.«
Lilo blies Luft aus den Wangen. »Ich kann das immer noch nicht glauben. Aber wenn es tatsächlich so war, dann müsste es am Abhang doch irgendwelche Spuren geben.«
»Ja klar. Deswegen sind die Kollegen vor Ort. Natürlich haben wir überlegt, ob Herr Koch einfach runtergerutscht ist und dann vom Meer fortgerissen wurde. Aber da unten gibt es einen Steinstreifen, auf dem er gelandet sein müsste. Das Wasser ist flach, mit wenig Strömung. Eher unwahrscheinlich, dass ein erwachsener Mann von dort einfach so weggespült wird.«
»Das spräche dann tatsächlich für eine Entführung?«
»Ja. Frau Koch meint, den Geräuschen nach könnten es zwei Personen gewesen sein, die ihren Mann runtergezogen haben. Das scheint plausibel, weil einer allein so was kaum schafft. Der Abhang ist ja einigermaßen steil, da muss man sich mit einer Hand irgendwo festhalten.«
»Tut mir leid.« Lilo schüttelte den Kopf. »Für mich klingt das immer noch reichlich abstrus.«
»Finden wir ja auch, aber bisher haben wir nur diese Angaben. Als Frau Koch dann die Geräusche hörte, holte sie ihr Handy raus. So ein spezielles Gerät für Blinde, wo eine Stimme ansagt, welche Ziffer man wählt. Sie hat den Notruf gedrückt, aber da hinten am Höft gibt es keinen Netzempfang. Und dann hat sie ein Motorboot gehört, direkt unterhalb der Klippen. Das Motorengeräusch war erst laut und dann immer leiser. Darum glaubt sie, dass ihr Mann mit diesem Boot entführt worden ist. Jedenfalls: Als sie so ohne Handy-Empfang da oben stand, war sie völlig hilflos. Sie konnte einfach nur warten. Zum Glück kam eine Viertelstunde später eine Familie vorbei, auch Wanderer. Die bekamen mit ihren Handys auch kein Netz, darum ist der Vater in Richtung Groß Zicker gelaufen, bis er endlich Empfang hatte. Zum Glück hat er die Wache in Sellin erreicht. Die Kollegen sind dann zusammen mit einem Notarzt zur Klippe gefahren und haben Frau Koch abgeholt.«
Lilo nickte nur. Sie versuchte, sich den Ablauf vorzustellen, und schwieg.
Verena sah ihre Mutter eindringlich an. »Ich wundere mich überhaupt, dass du von diesen ganzen Einsätzen nichts mitgekriegt hast. Notarzt und Streifenwagen, die sind doch vor deiner Tür langgefahren.«
Lilo zuckte die Achseln. »Ich habe den ganzen Morgen das Boddenhüsken geputzt. Da habe ich irgendwelche Sirenen gehört, aber ich konnte doch nicht ahnen, dass so eine Sache dahintersteckt.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Wo ist Frau Koch denn eigentlich jetzt?«
»Bei uns in Stralsund. Zum Glück hat sie die Sache relativ gut verkraftet. Sie wollte gleich auf die Inspektion mitkommen. Auf dem Weg dahin haben die Kollegen uns Frau Kochs Aussage schon mal telefonisch durchgegeben. Als wir erfahren haben, dass die Kochs hier bei dir wohnen, hat mein Chef mich losgeschickt.«
»Und von Herrn Koch gibt es noch keine Spur?«
»Nein. Natürlich suchen wir die Klippen gründlich ab. Aber bisher sieht es so aus, dass die Sache mit dem Motorboot stimmen könnte.«
Lilo fühlte sich überrollt von den Ereignissen. Vorhin beim Putzen hatte sie noch Ruhe gehabt, aber alles Weitere ging ihr erheblich zu schnell. »Ich muss mich mal ein paar Minuten konzentrieren. Vielleicht fällt mir dann was ein.«
»Kein Problem. Lass dich nicht stören.«
»Gut.« Lilo ließ sich tiefer in den Sessel sinken und schloss die Augen. Welch ein verrückter Vormittag. Ihre Tochter saß ihr gegenüber. Eine junge Frau in Jeans und Bluse, die noch vor zehn Jahren hier gewohnt hatte. Doch sie kam nicht zum Kaffeeplausch, sondern als ermittelnde Kommissarin. Sie befragte ihre eigene Mutter und tischte dabei eine unglaubliche Geschichte auf. Ein Feriengast war verschwunden – aus welchen Gründen auch immer. So etwas hatte es hier noch nie gegeben. Sie schlug die Augen wieder auf. »Ich fasse das mal zusammen.«
»Bitte schön«, Verena schenkte ihrer Mutter einen kurzen Blick, dann schaute sie wieder zum Mövennest hinüber.
»Also: Zwei Leute haben Herrn Koch vom Rand der Klippen nach unten gezogen und in einem Motorboot entführt. Das ist Frau Kochs Version. Und du willst wissen, wie ich sie einschätze. Demnach überlegt ihr, ob sie sich die Geschichte möglicherweise ausgedacht hat. Ob die Kochs also selbst hinter der Sache stecken, oder auch nur einer von den beiden. Frau Koch könnte zum Beispiel die Entführung ihres Mannes in Auftrag gegeben haben.«
»Entweder so. Oder andersherum: Herr Koch hat seine eigene Entführung inszeniert. Das Problem ist: Uns fehlen Zeugen. Bis früh um sechs hat es geregnet, und danach war es trocken, aber immer noch windig. Also kein ideales Wetter für lange Spaziergänge. Frau Koch sagt, auf dem ganzen Weg von Gager bis zur Steilküste sind ihnen nur zwei Wanderer begegnet. Ältere Männer und Raucher, das konnte sie riechen und an den Stimmen erkennen. Nach denen suchen wir jetzt.«
Lilo goss Kaffee nach. »Als Zeugen oder auch als mögliche Täter?«
»Zunächst als Zeugen. Dass ältere Raucher eine derartig sportliche Tat begehen, ist eher unwahrscheinlich.«
»Aber sie könnten trotzdem was damit zu tun haben?«
»Natürlich.« Verena nahm den nächsten Keks. »Die Befragung von Frau Koch ist ja längst nicht abgeschlossen. Vielleicht finden wir noch andere Hinweise.«
»Bleibt sie denn heute Nacht in Stralsund?«
»Kommt drauf an, wie es ihr geht. Die Kollegen lassen noch einen Psychiater kommen, der ihren Zustand beurteilt. Wenn sie hierher zurückkann und das auch möchte, bringen wir sie natürlich. Aber ich schätze, wir bieten ihr ein Hotel an. Dann können wir sie morgen oder übermorgen weiter befragen.«
»Ist sie denn auch gefährdet?«
»Eigentlich nicht. Wenn die Täter es auch auf Frau Koch abgesehen hätten, hätten die sie gleich mit entführen können. Dann hätte man Herrn Koch auch nicht so kompliziert die Klippe runterziehen müssen, sondern hätte beide direkt auf dem Wanderweg kidnappen können.«
»Also wartet ihr darauf, dass sich die Entführer bei Frau Koch melden?«
»Jedenfalls sind die Telefonanschlüsse auf unsere Dienststelle geschaltet, und um das Haus in Berlin kümmert sich die Kripo vor Ort.«
Lilo nickte. »Für eure Spusi-Aktion muss ich aber nicht hier in der Wohnung bleiben, oder?«
»Warum? Wo willst du denn hin?«
»Nur kurz nach nebenan«, Lilo stand auf und begann, das benutzte Geschirr aufs Tablett zu räumen. »Oskar sollte doch wohl Bescheid wissen, wenn gleich deine Kollegen durch den Garten toben.«
»Geh ruhig rüber. Spätestens wenn der Abschleppdienst den Mercedes mitnimmt, wissen sowieso alle Nachbarn, dass die Kochs bei dir gewohnt haben.«
»Und was erzählt ihr der Presse?«
»Wir geben zunächst mal nur raus, dass Werner Koch vermisst wird. Einzelheiten über eine mögliche Entführung halten wir noch zurück. Aber meinetwegen kannst du Oskar erzählen, was wir besprochen haben. Er ist ja wohl verlässlich.«
»Klar«, versicherte Lilo und wechselte das Thema. »Was ist eigentlich mit deinem Mittagessen? Soll ich uns schnell ein paar Nudeln kochen?«
»Danke, Mama. Ich bin erst mal satt von den Keksen, und Christoph kocht heute Abend.«
Bevor sie Christoph kennengelernt hatte, war Verena lange Single gewesen. Lilo mochte den neuen Freund. »Gut, dass du den hast.«
»Und er mich.« Verena lächelte. »Gib mir gerade noch den Schlüssel vom Mövennest.«
»Natürlich.« Lilo nahm den Schlüssel aus einer Schublade und reichte ihn Verena.
»Danke, Mama, dann bis nachher. Ich denke mal: ein, zwei Stunden, länger braucht die Spusi nicht. Es sei denn, wir finden was Auffälliges. In jedem Fall gucke ich noch mal bei dir rein. Grüß Oskar schön.«
»Mach ich.«
Durch die Terrassentür verließen sie das Haus. Verena ging links am Haus vorbei zur Straße, Lilo bog nach rechts ab.
Der Nachbar
Dr. Oskar Zillmann war Lilos Nachbar zur Linken, genauer gesagt: nach Osten hin. Lange hatte er in Rostock und der Inselhauptstadt Bergen als Internist gearbeitet. Nach der Scheidung von seiner zweiten Frau und dem Tod seiner Eltern zog es ihn in sein Heimatdorf zurück. Er zahlte die Geschwister aus und wohnte fortan allein in seinem Elternhaus. Hier frönte er einem genussreichen Leben als Vollzeit-Rentner und Bier-Gourmet. Seit zwölf Jahren bestand nun die Nachbarschaft von Lilo und Oskar. In die Ligusterhecke zwischen ihren Grundstücken hatten sie ein Tor einsetzen lassen. Er übernahm die Heckenpflege, dafür war sie ihm ewig dankbar.
Bevor sie an diesem Mittag das Heckentor aufschob, sah sie in den Himmel. Im Nordosten war die Wolkendecke aufgerissen. Weit hinten, wo der Bodden ans Stralsunder Festland grenzte, zeigten sich breite Streifen von Blau. Eigentlich hätte es ein schöner Tag werden können, dachte Lilo. Wäre da nicht diese schlimme Nachricht.
Oskars Terrassentür führte direkt in die Küche. Schon durch die Glasscheibe konnte Lilo erkennen, dass er Bierkelche polierte. Dieser Tätigkeit ging er gern und oft nach, denn fast so wichtig wie das Bier selbst waren für ihn die richtigen Trinkgefäße. Er besaß sie in allen Formen und Arten. Wenn er per Internet einen seltenen Gerstensaft bestellte, enthielt die Lieferung meist schon die passenden Gläser. Auch auf die Einweihung des Heckentors hatten sie mit einer besonderen Sorte angestoßen, einem obergärigen Bier einer Privatbrauerei aus Kansas. Vor allem kleine Braumanufakturen hatten es Oskar angetan, er achtete auf Qualität. Manchmal drohte er damit, bald auch sein eigenes Bier herzustellen. Bisher hatte er allerdings noch keinen Braukessel im Keller installiert, worüber Lilo erleichtert war. Sie fürchtete schwere Explosionen.