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Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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Kommissarin Stein und der tote Brechmann:
Hamburg-Krimi
von Martin Barkawitz
1
Die Immobilienmaklerin Monique Stiller ahnte nichts Böses, als
sie das Interessenten-Ehepaar Wolter vor dem Prestigebau ihres
Unternehmens empfing.
„Willkommen am Waterloohain“, sagte sie. Dabei trug Monique
jenes Lächeln zur Schau, mit dem sie in ihrem
zweiunddreißigjährigen Leben schon so manchen Mann umgarnt hatte.
Mit Pascal Wolter durfte sie allerdings nicht zu offensichtlich
flirten, denn seine Ehefrau Sonja schien echte
Wadenbeißerqualitäten zu haben. Jedenfalls klammerte diese
unscheinbare Person sich so verzweifelt am Arm ihres
Langweiler-Gatten fest, als ob Monique ihn andernfalls an sich
gerissen hätte.
Nichts lag der Frau mit der Model-Figur ferner. Die Maklerin
war nur auf ihre Courtage scharf, nicht etwa auf diesen
nichtssagenden Durchschnittstypen. Deshalb machte sie auch nicht
den Fehler, sich allzu sehr auf Pascal Wolter zu konzentrieren. In
dieser Ehe hatte Sonja die Hosen an, daran bestand für Monique kein
Zweifel.
„Ist die Umgebung ruhig?“, fragte Frau Wolter mit einem
misstrauischen Unterton, während sie ihre Blicke über die komplett
renovierte Jugendstilfassade der Waterloo Residenz schweifen
ließ.
„Selbstverständlich. Es handelt sich um eine idyllische
Wohnstraße, die aber dennoch zentrumsnah gelegen ist“, plapperte
Monique. Der Ton macht die Musik, diese Weisheit hatte sie schon
während ihrer dunklen Vergangenheit als St.-Pauli-Bardame erkannt.
Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Heutzutage verdiente sie
ihr Geld auf leichtere und angenehmere Art.
Frau Wolter starrte die mit frischer Farbe versehene Hauswand
an, als ob sie mit einem Röntgenblick hindurchsehen könnte. Die
Maklerin hingegen redete ununterbrochen weiter, während sie die
Haustür aufschloss und das Ehepaar ins zweite Stockwerk
führte.
„Alle anderen Wohnungen in diesem repräsentativen Objekt
konnten bereits veräußert werden, es handelt sich für Sie also um
eine einmalige Gelegenheit, die so schnell gewiss nicht
wiederkehren wird. Wie Sie dem Exposé bereits entnehmen konnten,
würden Sie in Zukunft auf 120 Quadratmetern einer renovierten
Wohnung aus dem 19. Jahrhundert leben.“
Monique hatte die Tür aufgeschlossen und deutete so stolz auf
den Parkettfußboden, als ob sie ihn selbst verlegt hätte.
„Beachten Sie bitte auch die hohen Stuckdecken, die von
Spezialisten fachgerecht renoviert wurden. Sie ...“
Ein Entsetzensschrei unterbrach die Maklerin. Sie hatte einem
der zwei Bäder den Rücken zugedreht. Daher bemerkte sie erst beim
Umdrehen den großen Blutfleck unmittelbar vor der Tür.
Pascal Wolter war geschockt. Er war kreidebleich geworden und
lehnte sich gegen eine Wand, um nicht zu stürzen. Seine Frau erwies
sich als belastbarer. Während Monique ratlos herumstand und Sonjas
Mann beinahe kollabiert wäre, stürzte die Kaufinteressentin auf die
Badezimmertür zu und riss sie auf. Offenbar war sie wild
entschlossen zu helfen.
Doch dafür gab es keine Chance.
Der Mann, der nackt und ausgeblutet an einem Fleischerhaken
hing, war schon tot.
2
„Du siehst gut erholt aus, Heike. Wie war es in
Barcelona?“
„Katalanisch.“
Dieser kurze Wortwechsel zwischen Hauptkommissarin Heike Stein
und ihrem Dienstpartner Ben Wilken fand am Tatort statt. Als die
Kriminalistin das luxuriös sanierte Objekt am Waterloohain betrat,
sah sie Ben zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder. Heike hatte es
in ihrem Urlaub erfolgreich geschafft, zumindest stundenweise nicht
an ihn zu denken. Sie kam sich so dumm vor, weil sie sich
Hoffnungen auf eine ernsthafte Beziehung mit Ben gemacht
hatte.
Aber daraus würde nichts werden.
Heike liebte ihn immer noch, auch wenn er sich momentan für
seine Ehefrau Maja entschieden hatte. Es war besser, wenn sie auf
Distanz ging. Das war allerdings nicht ganz einfach, wenn man
zusammenarbeiten musste. Also konzentrierte sie sich so gut wie
möglich auf den neuen Fall.
Heike beachtete Ben nicht weiter, sondern wandte sich an
Kommissar Lehmkuhl vom Kriminaldauerdienst.
„Bring mich bitte auf den neuesten Stand, Rudi.“
Der kahlköpfige Kollege nickte und schaute auf seine
Notizen.
„Eine Zeugin namens Sonja Wolter hat um 10.11 Uhr den Notruf
alarmiert. Sieben Minuten später war eine Streifenwagenbesatzung
vor Ort. Wir haben es mit einer noch nicht identifizierten
männlichen Leiche zu tun, Fremdeinwirkung ist sehr wahrscheinlich.
Ich traf kurz vor elf Uhr ein, zusammen mit der Spurensicherung und
dem Gerichtsmediziner. Und ich gehe davon aus, dass ihr von der
Sonderkommission Mord den Fall übernehmen werdet.“
„Deshalb hast du uns also gleich dazu gerufen. Okay, dann
schauen wir uns den Toten doch mal an.“
Mit diesen Worten ging Heike zusammen mit Lehmkuhl Richtung
Bad. Ben trottete schweigend hinter ihnen her. An der offenen Tür
mussten sie stehenbleiben, um den eigentlichen Tatort nicht zu
kontaminieren. In dem hochmodern ausgestatteten Bad arbeiteten
mehrere Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen. Der
KDD-Kollege deutete auf einen blutigen Fleischerhaken an der
Duschenverkleidung.
„Dieser Haken gehört nicht zur Standardausstattung des
Badezimmers, wie man sich denken kann. Wir haben den Leichnam
heruntergenommen und in einen Zinksarg gelegt. Der
Gerichtsmediziner schaut sich den Körper gerade an.“
Lehmkuhl deutete auf die angelehnte Tür, die zum Nebenzimmer
führte.
„Frag doch mal den Doc, ob er schon erste Erkenntnisse für uns
hat“, sagte sie zu Ben, ohne ihn anzuschauen.
Ben erwiderte nichts, ging aber gehorsam zu dem
Gerichtsmediziner hinüber.
„Habt ihr Krach miteinander?“, fragte Lehmkuhl
neugierig.
„Wir sind hier an einem Tatort und nicht bei der
Paartherapie“, gab Heike gereizt zurück. „Können wir Suizid
ausschließen?“
„Ja, allerdings. Ich glaube nicht, dass man sich selbst die
Kehle durchschneiden und sich an einen Fleischerhaken hängen kann.
Außerdem müsste dann die Waffe irgendwo zu finden sein.“
„Falls es keinen Komplizen gegeben hat“, schränkte die
Kriminalistin ein. „Gibt es schon Erkenntnisse zur Identität des
Toten?“
„Negativ, Heike. Der junge Mann ist wild tätowiert, womöglich
geben einzelne Symbole über die Zugehörigkeit zu einer Gang
Aufschluss. Außerdem werden natürlich seine Fingerabdrücke
genommen. Wenn er schon mal straffällig geworden ist, werden wir
seinen Namen bald kennen.“
„Ja, das wäre gut. Kann ich mit der Zeugin sprechen?“
„Es gibt insgesamt drei Zeugen, die Immobilienmaklerin sowie
zwei Kaufinteressenten. Sie warten in der Küche.“
Denen wird wohl die Lust darauf vergangen sein, diese Wohnung
zu erwerben, dachte Heike, während sie Lehmkuhl folgte.
Andererseits: Wer es sich leisten konnte, ein solches Objekt zu
erwerben, war womöglich ganz besonders abgebrüht. Oder? Die
Kriminalistin rief sich selbst innerlich zur Ordnung und fasste den
Vorsatz, sich nicht von ihren Klischeevorstellungen leiten zu
lassen.
Die Zeugen warteten in der hypermodernen Einbauküche. Bei der
Schönheit mit dem Notebook und der Ledermappe handelte es sich
wahrscheinlich um die Maklerin. Sie lief unruhig hin und her wie
ein Raubtier im Käfig, während zwei andere Personen wie
Musterschüler mit gefalteten Händen einträchtig nebeneinander am
Küchentisch saßen. Die Kriminalistin schätzte beide auf Anfang
vierzig. Der Mann hatte einen grünlichen Teint, während die Frau
interessiert ihre Umgebung musterte. Der Anblick der ausgebluteten
Leiche schien sie nicht aus der Bahn geworfen zu haben.
Heike zeigte ihren Kripo-Ausweis, stellte sich vor und wandte
sich zunächst an die Sitzenden.
„Behalten Sie Platz, bitte. Sie sind ...?“
„Sonja und Pascal Wolter aus Heilbronn“, sagte die Frau. Sonja
Wolter wirkte auf Heike gepflegt, aber unauffällig. Dasselbe traf
auch auf ihren Mann zu. Die Kriminalistin bat um eine Schilderung
der Ereignisse.
„Wir überlegen momentan, uns eine Wohnung in Hamburg zu
kaufen, weil mein Mann demnächst von seinem Arbeitgeber hierher
versetzt wird. Angesichts der steigenden Immobilienpreise erschien
es uns als eine gute Investition für unsere Altersvorsorge. Wir
hatten Frau Stiller allerdings gesagt, dass wir nicht an einer
Immobilie in einem sozialen Brennpunkt interessiert sind.“
„Ich versichere Ihnen, dass es sich um eine sichere
Nachbarschaft handelt“, begann die Maklerin, aber Heike schnitt ihr
das Wort ab: „Zu Ihnen komme ich gleich.“
Die Kriminalistin forderte Sonja Wolter mit einer Handbewegung
zum Weitersprechen auf.
„Frau Stiller wollte uns durch die Wohnung führen, als mein
Mann plötzlich aufschrie. Gleich darauf erblickte auch ich den
Blutfleck unmittelbar vor der Badezimmertür. Ich bin von Beruf
Unfallchirurgin. Daher weiß ich, dass es bei Verletzten
buchstäblich auf jede Sekunde ankommt. Ich riss also die Tür auf.
Doch ein Blick auf diesen bedauernswerten Menschen hat mir
gereicht. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Er war fast gänzlich
ausgeblutet, fast der gesamte Fußboden war mit der Flüssigkeit
bedeckt.“
Unwillkürlich blickte Heike auf das Parkett hinunter. Sonja
Wolter hatte offenbar das Bad betreten, jedenfalls fanden sich
Blutspuren an ihren Schuhen und auf dem Boden. Die Sohlen von ihrem
Ehemann sowie der Maklerin waren hingegen sauber. Die beiden hatten
sich nicht in das Bad getraut, das zum Schlachthaus geworden
war.
„Kannten Sie das Opfer?“, wollte die Kriminalistin
wissen.
Die Eheleute schüttelten wie auf ein lautloses Kommando hin
beide die Köpfe. Nun öffnete auch Pascal Wolter den Mund.
„Nein, ich habe den Mann noch niemals zuvor gesehen. Wie meine
Frau schon sagte, soll ich ab Oktober hier in der Hamburger
Zentrale arbeiten. Ich bin Chemiker. - Das hier kommt mir wie ein
Alptraum vor.“
Darauf erwiderte Heike nichts. Sie bedankte sich zunächst mit
einem Kopfnicken bei den Wolters und wandte sich dann der Maklerin
zu.
Monique Stiller war eine bemerkenswert gutaussehende Frau. Sie
wirkte sehr nervös.
„War die Wohnung abgeschlossen, als Sie vorhin kamen?“
„Ja, Frau Hauptkommissarin. Und ich kenne den Toten übrigens
auch nicht.“
Heike ging zunächst nicht auf diese Aussage ein. Stattdessen
fragte sie:
„Wie viele Schlüssel existieren für dieses Objekt?“
„Insgesamt drei, soweit ich weiß. Einen habe ich, ein weiterer
müsste beim Eigentümer liegen. Und dann gibt es noch einen
Reserveschlüssel, den wir im Büro aufbewahren.“
„Von welchem Büro sprechen wir?“
„Ich bin für Roberts & Sohn tätig. Wir haben unsere
Geschäftsräume am Neuen Wall.“
Der Name sagte Heike etwas. Dieses Immobilienunternehmen hatte
sich auf die Vermittlung von absoluten Luxusimmobilien
spezialisiert. Die Kriminalistin kniff die Augen zusammen und
beugte sich leicht vor.
„Irgendwo her kenne ich Sie, Frau Stiller.“
Die Maklerin schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, Sie müssen sich irren.“
„Doch, ich bin mir hundertprozentig sicher. Ich habe Sie
nämlich schon einmal verhaftet.“
3
Lara Michel hatte das Wochenende bei ihren Eltern in Quickborn
verbracht. Sie kehrte mit der S-Bahn nach Hamburg zurück und
schwang sich an der Station Elbgaustraße auf ihr Fahrrad. Tausend
Dinge schwirrten ihr durch die Kopf, während sie kräftig in die
Pedale trat: Die bevorstehende Zwischenprüfung an der Uni, ihre
chaotische Mitbewohnerin, das nächste Konzert der SUBURBAN SLUTS
auf St. Pauli - und vor allem natürlich Sven.
Lara hatte sich Hals über Kopf in den stillen Hünen verknallt.
Am liebsten hätte sie jede freie Minute mit ihm verbracht, aber so
einfach war das nicht. Dieser geheimnisvolle Mann hatte immer alle
Hände voll zu tun. Es kam selten vor, dass er einige Stunden am
Stück für Lara erübrigen konnte. Diese Zeit genoss sie dann umso
mehr. Am Samstag und Sonntag war er gar nicht in Hamburg gewesen.
Ein Grund mehr für Lara, mal wieder ihre Eltern in der Provinz zu
besuchen. Die Großstadt kam ihr ohne Sven leer und öde vor.
Lara musste lernen, ihm zu vertrauen. Ihr Freund hatte
geschworen, dass zwischen ihm und dieser belgischen Zicke nichts
laufen würde. Und Lara glaubte ihm, weil sie ihn aufrichig
liebte.
Süße, dich hat es aber voll erwischt, sagte sie innerlich
grinsend zu sich selbst.
Der schwarze SUV tauchte wie aus dem Nichts auf.
Lara war eine aufmerksame Radfahrerin. Auch wenn sie mit ihren
Gedanken ganz woanders war, strampelte sie auf ihrem Mountainbike
nicht achtlos durch die Gegend. Dafür lebte man als
Zweirad-Benutzerin in Hamburg einfach zu gefährlich. Und dieses
dunkle Dieselmonster wäre normalerweise kein Problem gewesen. Es
konnte auf der Parallelspur problemlos an Lara vorbeiziehen.
Stattdessen zog es zu ihr hinüber!
Die junge Frau erschrak fast zu Tode. Nur ihrer eigenen
Geistesgegenwart verdankte sie es, dass sie nicht gerammt wurde.
Ihre Reaktionsschnelligkeit verhinderte zwar eine Kollision mit
dem SUV, doch stattdessen krachte sie mit dem Vorderreifen gegen
einen geparkten Ford.
Lara hatte kein Spitzentempo drauf gehabt, trotzdem stieg sie
über den Lenker hinweg durch die Luft und landete unsanft auf dem
Gehweg.
Ihre Knochen wurden kräftig durchgeschüttelt, außerdem
schürfte sie sich die linke Handfäche und das rechte Knie auf.
Ansonsten überstand sie den Sturz ohne einen weiteren erkennbaren
Schaden.
Nur ihr teures Rad war vermutlich Schrott.
Fluchend rappelte sie sich auf. Der SUV hatte angehalten.
Immerhin beging der Kerl keine Fahrerflucht. Lara war trotzdem
nicht gut auf ihn zu sprechen.
„Kannst du nicht aufpassen, du Vollpfosten?“, rief sie ihm
wütend zu, als er ausstieg. Der Mann trug eine Sonnenbrille und
einen Lederblouson. Außerdem schwarze Handschuhe. Und er hielt eine
Pistole mit Schalldämpfer in der Rechten. Und er richtete sie auf
Lara.
„Ach du Schande!“, stieß sie hervor.
Im nächsten Moment blitzte bereits das Mündungsfeuer auf. Dazu
erklang ein Geräusch, das sich wie das Ploppen eines Sektkorkens
anhörte. Die Kugel verfehlte das Ziel, schlug in die
Windschutzscheibe des Fords.
Lara rannte davon.
Ihre Blicke suchten die Umgebung nach möglicher Hilfe ab. Es
war wie verhext. Dieser SUV-Killer hatte sich eine menschenleere
Stelle ausgesucht, wie es sie in Metropolen manchmal gibt. Weiter
südlich rauschte der Verkehr auf der Elbgaustraße, doch
ausgerechnet hier gab es nur Lagerhäuser, Schrottplätze und
Industriebrachen. Es konnte doch nicht sein, dass man inmitten von
zwei Millionen Menschen keinen Beistand fand!
Lara blickte über die Schulter nach hinten.
Ein Motor heulte auf. Natürlich, ihr Verfolger würde sie in
seinem verflixten Geländewagen im Handumdrehen eingeholt haben.
Die junge Frau musste unbedingt Zeit gewinnen, um telefonieren
zu können. Sie lief auf ein umzäuntes Grundstück zu, an dessen
massivem Metalltor ein Schild mit der Aufschrift ZU VERMIETEN
stand.
Lara sprang nach oben, bekam mit beiden Händen die Kante des
Zauns zu fassen und zog sich daran hoch. Im nächsten Moment hatte
sie das Hindernis überwunden und war auf der anderen Seite
gelandet. Auf dem umfriedeten Gelände standen mehrere
Flachdachschuppen, die offenbar als Lager oder Werkstätten dienen
konnten. Doch momentan schien das ganze Objekt verwaist zu
sein.
Während Lara weiter lief, schaute sie sich ängstlich nach dem
SUV um. Das Fahrzeug war vor dem Tor zum Stehen gekommen. Offenbar
hatte der Fahrer beschlossen, keinen spektakulären Crash zu
riskieren und die Einfahrt nicht zu rammen. Das war die gute
Nachricht. Die schlechte bestand darin, dass er sich nicht allein
im Auto befand. Es gab noch einen Beifahrer, der ebenfalls groß und
athletisch wirkte.
Die beiden Kerle waren ausgestiegen und schickten sich
ebenfalls an, den Zaun zu überwinden. Die junge Frau zweifelte
nicht daran, dass sie es ebenfalls im Handumdrehen schaffen
würden.
Was wollen diese Idioten von mir?
Dieser Gedanke schoss ihr nur kurz durch den Kopf, dann
konzentrierte sie sich wieder auf ihre Flucht. Es musste etwas mit
Sven zu tun haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Lara
rüttelte an der Klinke einer Metalltür, aber es war natürlich
abgeschlossen. Sie war um eine Ecke geeilt und hatte die Verfolger
jetzt nicht mehr im Blickfeld. Doch Lara zweifelte nicht daran,
dass ihr Vorsprung nur minimal war.
Panik breitete sich in ihrem Inneren aus wie ein blitzartig
wucherndes Geschwür. Sie wollte sich lieber gar nicht erst
ausmalen, was die Kerle mit ihr anstellen würden. Lara durfte ihnen
einfach nicht in die Hände fallen. Sie zog ihre Jeansjacke aus,
umwickelte damit ihren Ellenbogen und schlug eine Glasscheibe
ein.
Dann langte sie tastend nach dem Fenstergriff, öffnete ihn und
glitt ins Innere. Einer Eingebung folgend nahm sie eine der großen
Scherben mit. Lara hatte nämlich überhaupt keine Waffe. Ob sie mit
einem scharfkantigen Stück Glas gegen Pistolen ankommen konnte, war
eine ganz andere Frage. Aber sie war wild entschlossen, sich diesen
Dreckskerlen nicht kampflos zu ergeben.
Wieder musste sie an Sven denken, an die vielen Narben auf
seinem muskulösen Körper. Er war ein Mann, der das Kämpfen von
Kindesbeinen an gewohnt war. Lara als behütetes Kind besorgter
Eltern lernte diese Fähigkeit nun auf die harte Tour.
Wäre ich Sven nicht begegnet, dann würde ich jetzt
wahrscheinlich im Goethe-Seminar sitzen und an meinem Bleistift
kauen.
Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf, während sie sich in
dem Halbdunkel so schnell wie möglich vorwärts bewegte. In dem
Gebäude stank es nach Urin und Rattenkot. Es gab mannshohe
stillgelegte Maschinen, die wie schwarze Dämonenwächter auf Lara zu
lauern schienen.
Doch die wirkliche Gefahr befand sich hinter ihr. Sie hörte
flüsternde Stimmen, außerdem das Knirschen von Stiefelsohlen auf
zerbrochenem Glas. Ihre Verfolger hatten nun ebenfalls das leer
stehende Gemäuer betreten. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
Lara versuchte, sich zu orientieren. Es konnte unmöglich nur
eine einzige Tür geben. Wenn das hier früher ein Gewerbeobjekt
gewesen war, dann musste auch ein Notausgang existieren.
Oder?
Die junge Frau konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil
ihr Atem so schnell ging. Sie hörte ihr eigenes Blut in den Ohren
rauschen. Lara begann zu hyperventilieren. Und die Männern kamen
näher. Zu zweit konnten sie ihr Opfer erstklassig in die Zange
nehmen.
Verzweifelt presste Lara sich gegen eine der Maschinen. Sie
fühlte die kalten metallischen Kanten an ihrem Unterarm.
Plötzlich packte sie jemand am Handgelenk. Ein Triumphschrei
erklang.
„Ich hab das Biest!“
Doch schon im nächsten Moment ertönte ein schmerzverzerrtes
Gurgeln aus seiner Kehle. Lara hatte sich halb um die eigene Achse
gedreht und die scharfkantige Scherbe in seinen Hals gerammt.
Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte sie deutlich
sehen, wie das Blut aus der Wunde spritzte.
Ob der Mann sterben würde?
Das hatte sie nicht gewollt, ihre Reaktion war reflexartig
gewesen. Doch für den anderen Verfolger würde es wohl kaum einen
Unterschied machen. Das Adrenalin jagte durch Laras Körper, verlieh
ihr zusätzliche Kräfte. Sie stürmte vorwärts, ließ dabei die
blutbeschmierte Scherbe fallen.
Schüsse fielen.
Die Kugeln verfehlten sie und jaulten als Querschläger davon.
Mit ihrem momentanen Tunnelblick konzentrierte Lara sich ganz auf
das, was sich unmittelbar vor ihr befand. Einen Notausgang gab es
dort nicht, dafür aber ein anderes Fenster. Die Scheiben waren
teilweise durch Pappdeckel ersetzt worden.
Lara beschleunigte noch mehr, setzte zum Sprung an. Sie hielt
ihren Unterarm vor ihre Augen, während sie inmitten eines
Scherbenregens die Scheibe durchbrach. Aus mehreren kleinen
Schnittwunden blutend landete sie auf einer Laderampe aus
Beton.
Die junge Frau turnte herunter.
Von ihrem Verfolger war momentan nichts mehr zu sehen. Ob er
sich um seinen Freund kümmerte? Lara wusste es nicht. Sie überwand
abermals den Zaun, schaute sich suchend um. Irgend jemand musste
doch die Schüsse gehört haben! So eine verlassene Gegend konnte es
doch mitten in Hamburg und bei Tageslicht gar nicht geben,
oder?
Ihr Blick fiel auf den SUV.
Lara hatte einen verzweifelten Einfall.
Sie rannte auf das Fahrzeug zu, riss die Fahrertür auf. Ihre
größte Hoffnung erfüllte sich.
Der Zündschlüssel steckte!
Nun sah sie aus der Entfernung, wie ihr zweiter Gegner durch
das von ihr zerstörte Fenster kam. Er würde sie schon bald
eingeholt haben. Oder er knallte sie aus der Distanz nieder. Sie
konnte sich nicht darauf verlassen, dass alle Schüsse das Ziel
verfehlten.
Lara schwang sich auf den Fahrersitz, rammte die Tür zu,
startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein.
Sie bog auf die Spreestraße ab und trat das Gaspedal fast bis
zum Bodenblech durch. Ein Blick in den Rückspiegel bewies ihr, dass
sie den Verfolger einstweilen abgehängt hatte.
Nur allmählich wurden ihre Atemzüge gleichmäßiger. Sie
reduzierte das Tempo und fuhr eine Weile herum, bis sie schließlich
auf einem Supermarkt-Parkplatz anhielt. Normale Menschen hätten die
Polizei alarmiert, aber das kam für Lara nicht in Frage.
Es gab zu viel, das sie vor dem Gesetz verbergen musste.
Sie griff in ihre Jeanstasche und stellte beruhigt fest, dass
ihr Smartphone noch heil war. Lara holte Svens Nummer aus dem
Schnellwahlspeicher. Beruhigt stellte sie fest, dass das
Freizeichen ertönte. Dann kam eine Verbindung zustande.
„Sven?“
Laras Herz schlug bis zum Hals. Ein irres Lachen
ertönte.
Es kam ihr so vor, als ob sie in einen schwarzen Abgrund
stürzen würde.
Wer immer Svens Handy jetzt hatte, war ganz gewiss nicht ihr
Freund.
4
Ben Wilken fühlte sich miserabel, und das lag ganz gewiss
nicht am Anblick der ausgebluteten Leiche. Er hatte während seiner
Jahre bei der Sonderkommission Mord schon viel schlimmer
zugerichtete Verbrechensopfer sehen müssen.
Heike strafte ihn nach wie vor mit Missachtung. Und was noch
viel schlimmer war: Er hatte es verdient.
Bens Hoffnung war gewesen, dass seine Dienstpartnerin und
ehemalige Geliebte während ihres Urlaubs auf andere Gedanken kommen
würde. Doch Heike kam ganz offensichtlich nicht darüber hinweg,
dass er zu seiner Frau zurückgekehrt war.
Maja hatte viele Fehler begangen, aber sie war die Mutter
seiner Tochter. Und wenn es eine Chance gab, seine Ehe noch einmal
zu kitten, dann wollte er sie auch nutzen.
Wenn da bloß nicht seine nach wie vor starken Gefühle für
Heike gewesen wären!
„Ein glatter Schnitt.“
Der Hauptkommissar zuckte zusammen, er fühlte sich ertappt.
Hatte Ben vielleicht sogar laut nachgedacht? Und wie kam dieser
wildfremde Gerichtsmediziner dazu, ihm Ratschläge für sein
Privatleben zu erteilen?
„Wie bitte, Herr Doktor?“
„Ich sagte gerade, dass die Kehle des Opfers mit einem
einzigen glatten Schnitt durchtrennt wurde.“
Ben räusperte sich verlegen.
„Ah ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie bitte, ich war
gerade in Gedanken.“
Der Mediziner nickte verständnisvoll. Er trug eine dicke
Hornbrille und hatte die warme und wohltönende Stimme eines
Märchenerzählers.
„Kein Problem, Herr Wilken. Wenn Sie meine Meinung zum
Tathergang hören wollen: Das Opfer wurde offenbar kalt erwischt und
hatte keine Gelegenheit zur Gegenwehr.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie sehen, dass der Körper zahlreiche Narben aufweist -
Messerschnitte und Schusswunden, die allerdings ausnahmslos längst
verheilt sind. Was mir fehlt, sich frische Hämatome oder andere
Kampfspuren.“
Ben musterte den durchtrainierten Leib des Toten. Er wollte
sich nun ganz auf den Fall konzentrieren.
„Wäre es nicht auch möglich, dass der Mann betäubt wurde und
deshalb keine Gegenwehr möglich war?“
Der Gerichtsmediziner nickte.
„Ja, diese Variante erscheint mir ebenfalls realistisch. Ich
muss Sie allerdings um Geduld bitten. Sobald der Leichnam ins
Institut transportiert wurde, werde ich eine Blutanalyse
veranlassen. Dann wissen wir mehr.“
Ben deutete auf die großen Hände des Opfers.
„Konnten Sie Gewebespuren unter den Fingernägeln
finden?“
„Ja, das Material wird ebenfalls umgehend ausgewertet. Die
Kriminaltechniker haben bereits die Fingerabdrücke abgenommen. Die
Ergebnisse des Datenabgleichs werden Sie wahrscheinlich als Erstes
bekommen.“
Der Hauptkommissar wollte sich nicht ausschließlich auf die
Arbeit der Spezialisten verlassen. Er nahm sein Smartphone zur Hand
und fotografierte die zahlreichen Tattoos des Toten.
„Können Sie eine Gang-Zugehörigkeit feststellen, Herr
Wilken?“
„Auf Anhieb nicht, ich muss mir erst unsere einschlägigen
Datenbanken genauer ansehen. Wir sind noch nicht so weit wie das
FBI, die amerikanischen Kollegen haben die Symbole und
Geheimzeichen tausender Banden und Geheimbünde archiviert. Aber
bestimmte Zeichen sind inzwischen allgemein bekannt, zum Beispiel
Smileys.“
Ben deutete auf die beiden Motive.
„Wofür stehen sie?“, wollte der Mediziner wissen.
„Jeweils für einen Mord, mit dem dieser Mann sich unter
Seinesgleichen gebrüstet hat.“
„Ich verstehe. Dann wird der Tote gewiss schon vorbestraft
sein.“
„Nur, falls er bereits erwischt wurde“, gab Ben trocken
zurück. „Lassen Sie uns den Bericht dann umgehend zukommen?“
„Selbstverständlich, Herr Wilken. Ich wünsche noch einen
schönen Tag.“
Als Ben das Zimmer verließ, wäre er beinahe mit den Kollegen
zusammengestoßen, die den Zinksarg ins gerichtsmedizinische
Institut schaffen sollten.
Heike war noch in der Küche und sprach mit Zeugen. Sie warf
ihm einen genervten Blick zu.
Stör mich jetzt gefälligst nicht!
Das wollte Heike ihm damit signalisieren. Er kannte sie
inzwischen so gut wie kaum einen anderen Menschen.
„Ich warte im Auto“, murmelte Ben. Aber da hatte sie ihm
bereits den Rücken zugedreht.
Die Aussicht, mit einer derartig kaltschnäuzigen Kollegin
weiterhin zusammenarbeiten zu müssen (in die er zu allem Überfluss
nach wie vor verliebt war), verbesserte seine Laune nicht
gerade.
Ben ließ sich auf den Fahrersitz des Dienst-BMWs fallen. Da
wurde er angefunkt und nahm das Mikrofon zur Hand.
„Ja, hier spricht Hauptkommissar Wilken.“
„Peters von der Kriminaltechnik. Die Kollegen am Tatort hatten
uns gerade eine Datei mit den Fingerabdrücken des männlichen
Leichnams im Fall Waterloohain geschickt. Wir konnten einen Treffer
verzeichnen. Es handelt sich um einen gewissen Sven Luck.“
5
Nachdem der Investor sich kurz amüsiert hatte, beendete er das
Telefonat. Er schaute versonnen auf den breiten Elbstrom hinab, der
sich unterhalb seiner herrschaftlichen Villa am Süllberg
befand.
Plötzlich wurde dem Unternehmer bewusst, dass er nicht allein
in seinem Arbeitszimmer war. Manchmal konnte man Latour einfach
vergessen, weil er sich so still verhielt wie ein Zinnsoldat. Das
war eine der Eigenschaften, die der Investor an dem Belgier zu
schätzen wusste. Noch wichtiger waren ihm allerdings die
bedingungslose Treue und absolute Skrupellosigkeit seines
mörderischen Handlangers.
„Das kleine Luder hat noch nicht kapiert, dass ihr muskulöser
Liebhaber nicht mehr lebt.“
„Sie haben vollkommen recht“, erwiderte Latour. „Es ist
wirklich bedauerlich, dass Lara Michel entkommen konnte. Bitte
verzeihen Sie mir. Ich hätte niemals Branko und Leo mit dieser
Aufgabe betrauen sollen. Wenigstens Branko wird keine weiteren
Fehler begehen.“
„Warum nicht?“
„Lara hat ihn getötet, das hat Leo mir gerade am Telefon
gebeichtet. Und der SUV ist auch fort, das Mädchen hat ihn.“
Der Investor wiegelte ab.
„Kein Problem, das Fahrzeug kann nicht zu uns zurückverfolgt
werden. Was macht die Handyortung?“
„Sie steht. Momentan hält sich Lara in Bahrenfeld auf, sie ist
nach der missglückten Aktion an der Elbgaustraße weitergefahren.
Wie lauten Ihre weiteren Anweisungen?“
„Ich will die Kleine hier haben“, bestimmte der Unternehmer.
„Ursprünglich dachte ich, dass wir sie einfach töten sollten. Doch
ich habe das Mädchen unterschätzt. Immerhin konnte sie Branko
umlegen, wer hätte ihr das zugetraut? - Wo ist Leo jetzt?“
„Er hat sich nach eigener Aussage versteckt und wartet auf
Anweisungen.“
Der Investor schnaubte verächtlich.
„Wir wissen nicht, wie viel Sven Luck gegenüber Lara
ausgeplaudert hat“, stellte der Unternehmer fest. „Darum war es ein
Denkfehler, das Mädchen sofort töten zu wollen. Wir können nicht
wissen, ob sie noch weitere Personen eingeweiht hat.“
„Diese Information können wir nur von ihr selbst bekommen“,
stimmte Latour zu. „Und ich habe meine Methoden, um das Luder zum
Reden zu bringen.“
6
Das Lächeln gefror auf Monique Stillers Lippen.
„Ich kann mich an Sie jedenfalls nicht erinnern, Frau
Stein.“
„Das mag daran liegen, dass ich damals noch Uniform getragen
habe. Aber ich vergesse ein Gesicht nicht so schnell. Es war bei
einer Razzia in einer St.-Pauli-Bar, wo Sie ...“
Die Immobilienmaklerin fiel der Hauptkommissarin ins
Wort.
„Das gehört nun wirklich nicht hierher!“
Monique Stillers Wangen waren rot angelaufen. Wenn Blicke
töten könnten, wäre für die Kriminalistin jede Hilfe zu spät
gekommen.
Die Wolters erhoben sich gleichzeitig von ihren Stühlen. Sie
verfügten scheinbar über die Fähigkeit, ohne Absprache parallel zu
handeln.
„Dürfen wir gehen, Frau Stein?“
„Ja, selbstverständlich. Finden Sie sich bitte nur heute oder
morgen auf dem Polizeipräsidium ein, um Ihre Aussagen schriftlich
zu Protokoll zu geben.“
Mit diesen Worten überreichte Heike dem Ehepaar ihre
Visitenkarte.
„Ich rufe Sie wegen eines neuen Besichtigungstermins an“, rief
die Maklerin mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Frau Wolter schüttelte
den Kopf.
„Die Sache hat sich für uns erledigt.“
Gleich darauf war Heike mit Monique Stiller allein in der
Küche.
„War das wirklich nötig?“, wütete die Maklerin. „Sie können
mir doch nicht einfach das Geschäft vermiesen! Was glauben Sie
eigentlich, wer Sie sind?“
„Das hier ist keine Tupperparty, sondern eine
Morduntersuchung“, feuerte Heike zurück. „Ich weiß nicht, ob Sie
sich über Ihre ernste Lage im Klaren sind, Frau Stiller. Sie sind
wegen eines Gewaltdelikts vorbestraft und Sie haben
uneingeschränkten Zugang zum Tatort. Wollen Sie bei Ihrer Aussage
bleiben, dass Sie nicht wissen, wer das Opfer ist?“
Monique Stiller verschränkte trotzig die Arme vor der
Brust.
„Ich weiß wirklich nicht, warum Sie diese uralte Geschichte
noch einmal aufwärmen müssen! Es ist doch mindestens zehn Jahre
her, seit wir uns begegnet sind.“
„Elf Jahre“, stellte die Hauptkommissarin richtig. „Und ich
habe noch in lebhafter Erinnerung, wie Sie mir Ihre Fingernägel
übers Gesicht gezogen haben. Es war einer meiner ersten Einsätze im
Milieu, und meine Kollegen hatten mich vor rabiaten Bardamen
gewarnt.“
„Inzwischen führe ich ein anständiges Leben“, behauptete
Monique Stiller. „Ich habe den Kiez hinter mir gelassen. Und für
meinen Angriff auf Sie bin ich ja damals auch bestraft
worden.“
„Zurück zur Gegenwart. - Kann eine andere Person auf Ihren
Schlüssel für diese Wohnung zurückgreifen? Ein Freund
vielleicht?“
„Nein, ich bin Single. Mein aufreibendes Berufsleben lässt mir
keine Zeit für eine Beziehung“, behauptete die
Immobilienmaklerin.
Das kommt mir sehr bekannt vor, dachte Heike. Sie sagte: „Wann
hatten Sie den letzten Besichtigungstermin vor dem heutigen
Tag?“
„Gestern Vormittag. Ich bin die einzige Mitarbeiterin von
Roberts & Sohn, die Termine für die Waterloohain Residenz
wahrnimmt.“
„Und da haben Sie die Leiche noch nicht entdeckt, nehme ich
an.“
Monique Stiller kräuselte ihre Lippen.
„So ist es, Frau Stein. Sie können gern die Interessenten
fragen, wenn Sie mir nicht glauben.“
„Das werde ich tun, keine Sorge“, erwiderte Heike und ließ
sich Namen und Telefonnummern der anderen Zeugen geben. Sie ging
allerdings davon aus, dass die Maklerin zumindest in dieser
Hinsicht die Wahrheit gesagt hatte. Hätte die Leiche schon länger
an dem Haken gehangen, dann wäre der Körper in einem anderen
Stadium des Verfalls gewesen.
Die Kriminalistin nahm noch die aktuellen Daten von Monique
Stiller auf.
„Von Ihnen bekomme ich dann ebenfalls eine schriftliche
Aussage.“
Mit diesen Worten ließ Heike die Maklerin stehen, nickte den
Kollegen von der Spurensicherung zu und ging die Treppe hinunter.
Wie war der Tote in die Wohnung gelangt? Dieser muskulöse Kerl
maß ungefähr 1,90 m und brachte schätzungsweise hundert Kilo auf
die Waage. Man benötigte gewiss mehrere kräftige Männer, um ihn ins
zweite Stockwerk hoch zu schleppen. Hinzu kam die Gefahr, von
Zeugen gesehen zu werden.
Ob das spätere Opfer auf seinen eigenen Beinen in die Wohnung
spaziert war? Aber was hatte er dort gewollt? Und wer hasste ihn so
sehr, dass er zum Messer gegriffen hatte?
Für Heikes Geschmack waren das zu viele ungeklärte Fragen. Sie
riss die BMW-Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz neben Ben
fallen.
„Ich kenne jetzt den Namen des Toten, Heike.“
„Wie schön für dich.“
Ben atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Und wie lange willst du noch herumzicken?“
„So lange, wie du deine Frau vögelst.“
„Es tut mir leid, die Dinge hätten anders laufen
sollen.“
„Ich bedaure nur eine Sache, nämlich jemals mit dir geschlafen
zu haben!“, log Heike. Sie kämpfte mit den Tränen, wollte sich aber
nichts anmerken lassen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen in dem Dienstwagen der
Hamburger Polizei.
„Wenn wir uns so richtig in den Fall hineinknien, dann können
wir unsere privaten Probleme vielleicht ausblenden“, sagte Ben
schließlich.
„Da die Chefin uns auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet
hat, ist das ein richtig guter Vorschlag“, gab Heike zu. „Also,
lass uns ins Präsidium fahren und die Vergangenheit des Opfers
durchleuchten.“
Ben nickte und ließ den Motor an. Wenig später erreichten sie
ihr Fahrtziel. Im Großraumbüro der Sonderkommission Mord fuhr der
Hauptkommissar seinen PC hoch und tippte den Namen Sven Luck ein.
Heike schaute ihm über die Schulter.
„Der Typ muss ein echter Brechmann gewesen sein“, murmelte sie
beim Blick auf sein langes Vorstrafenregister.
„Ja, Körperverletzung und schwere Körperverletzung waren
offenbar Lucks bevorzugte Delikte“, stimmte Ben zu. „Und
zwischendurch noch räuberische Erpressung, damit es nicht zu
langweilig wird.“
Sven Luck war erstmals im Alter von 16 Jahren zu einer
Jugendstrafe verurteilt worden. Danach hatte er offenbar nicht mehr
auf den Weg der Tugend zurückgefunden. Eine Berufsausbildung als
Tischler hatte er abgebrochen. Es folgten Aushilfsjobs als
Möbelpacker und Türsteher im St.-Pauli-Milieu. Heike erzählte Ben
von ihrer Begegnung mit Monique Stiller und fügte hinzu: „Ich
fresse einen Besen, wenn diese aufgebretzelte Maklerin und der tote
Brechmann einander nicht gekannt haben. Einmal St. Pauli, immer St.
Pauli. Monique mag heutzutage für eine renommierte
Immobilienvermittlung am Neuen Wall tätig sein, aber ihre
Vergangenheit als Bardame kann sie trotzdem nicht unter den Teppich
kehren.“
„Auf jeden Fall könnte sie die Wohnung aufgeschlossen haben“,
erwiderte Ben. „Aber mir leuchtet nicht ein, weshalb Monique die
Leiche ausgerechnet dort deponiert haben soll. Sie kannte doch ihre
Besichtigungstermine.“
Das war ein guter Einwand. Heike ärgerte sich darüber, dass
dieser Aspekt ihr nicht selbst aufgefallen war. Sie schnippte mit
den Fingern.
„Du hast vollkommen recht. Und übrigens: Aus welchem Grund
wurde Luck nackt ausgezogen und an einen Fleischerhaken gehängt? Es
hätte doch auch gereicht, ihn einfach so zu töten. Diese Art der
Zurschaustellung könnte eine Botschaft sein - und zwar an
Monique.“
„Weil der Täter gewusst hat, dass sie heute mit den
Kaufinteressenten dort aufkreuzen würde?“, hakte Ben nach.
„Richtig, also muss es auf jeden Fall eine Verbindung zwischen
Monique und Luck geben. - Was ist mit Verwandten, Freunden,
Saufkumpanen? Irgend jemand wird wissen, woher die beiden sich
kennen.“
„Ich habe mir Lucks Tattoos mal genauer angesehen“, berichtete
Ben. „Zu einer Gang scheint er nicht gehört zu haben. Aber wenn man
den Symbolen glauben kann, hat er zwei Menschenleben auf dem
Gewissen.“
„Wegen Mord oder Totschlag wurde er nicht verurteilt“, stellte
Heike fest. „Also hat er diese Verbrechen entweder frei erfunden
oder sie sind bisher ungesühnt geblieben. Falls das so ist, dann
könnte Rache ein überzeugendes Motiv sein. Und Monique hängt in der
Sache mit drin, sonst hätte der Täter ihr nicht die ausgeblutete
Leiche auf dem Präsentierteller serviert.“
„Ich könnte mich mal in der Strafanstalt bei Lucks ehemaligen
Zellenkumpanen umhören“, schlug Ben vor. „Typen wie dieser tote
Brechmann prahlen doch für ihr Leben gern mit ihren Schandtaten,
jedenfalls bei Ihresgleichen.“
„Andererseits hassen sie uns Polizisten und sind deshalb
selten in Plauderlaune, aber einen Versuch ist es allemal wert“,
stimmte Heike zu. „Ich hingegen werde die Familie kontaktieren und
ansonsten meine alten St.-Pauli-Kontakte reaktivieren.“
„Und dann sind da noch die vielen Menschen, die während der
letzten Jahre von Luck zusammengeschlagen wurden“, erinnerte Ben.
„Jeder von ihnen hatte gute Gründe, diesen Mann zu hassen und ihm
den Tod zu wünschen.“
7
Monique Stiller schaute immer wieder über die Schulter nach
hinten, während sie ihren Porsche Cheyenne Richtung Neuer Wall
lenkte.
Die Maklercourtage konnte sie vergessen, aber das war nicht so
schlimm.
Ihr ging es jetzt ums Überleben.
Wie hatte sie beim Anblick von Svens ausgebluteter Leiche nur
so ruhig bleiben können? Vielleicht lag es daran, dass sie
unbewusst schon länger mit dem drohenden Unheil gerechnet hatte.
Ein Damoklesschwert, das über ihrem Kopf schwebte.
Doch Sven war einer der härtesten und brutalsten Männer, die
sie jemals kennengelernt hatte. Und das wollte etwas heißen, denn
Monique war im tiefsten St. Pauli aufgewachsen. Sie wollte sich
nicht mehr die selbstmitleidigen Lebensgeschichten von Säufern
anhören oder sich mit vollgekoksten Nutten oder pflichteifrigen
Polizistinnen herumprügeln. Der Luxus war ihre aktuelle Droge, und
der Neue Wall war für sie jetzt eine passendere Umgebung als die
Reeperbahn.
Und nun würde sie womöglich als Nächste an einem
Fleischerhaken enden!
Wie hatte es so weit kommen können?
Monique hatte gelernt, dass Vertrauen Schwäche bedeutet. Und
doch blieb ihr keine andere Wahl als ihrem Chef gegenüber
auszupacken. Früher oder später würde Knut Roberts sowieso
erfahren, dass Sven nicht mehr lebte. Jetzt war vielleicht noch
genügend Zeit, um gegenzusteuern.
Die andere Möglichkeit bestand darin, Hamburg zu
verlassen.
Doch das kam für Monique nicht ernsthaft in Frage. Sie liebte
diese Stadt und wollte nirgendwo anders leben. Außerdem: Wer Sven
gekillt hatte, würde auch Monique finden. Selbst dann, wenn sie
sich am Ende der Welt in ein Mauseloch verkroch.
Wie durch ein Wunder baute die Maklerin keinen Unfall, als sie
den Porsche Cheyenne ins Parkhaus bugsierte. Dann eilte sie zum
Büro von Roberts & Sohn, wobei sie ihre Ledermappe an sich
presste wie einen kranken Säugling. Immer wieder schaute sie in die
Schaufenster der Luxusläden, doch sie konnte keinen Verfolger
entdecken.
Trotzdem fühlte Monique sich nicht sicher.
Sie raste die Treppen hoch und kam völlig außer Atem in den
repräsentativen Büroräumen an. Die Empfangsdame Andrea Drews hob
ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.
„Frau Stiller, ist Ihnen nicht gut? Sie haben ja völlig die
Contenance verloren.“
Ich möchte dich mal sehen, wenn du die ausgeblutete Leiche
deines Ex-Liebhabers vor der Nase hast!
Diesen Gedanken sprach Monique natürlich nicht aus.
Stattdessen sagte sie: „Ich muss umgehend mit Herrn Roberts Senior
sprechen. Es geht um einen äußerst lukrativen Abschluss.“
Dieses Argument zog. Wenn die Maklerin von einem Toten und
Lebensgefahr für sie selbst gesprochen hätte, wäre sie vermutlich
von Andrea Drews auf einen späteren Termin vertröstet worden. Aber
ein Geschäftsabschluss war wichtig, jedenfalls am Neuen Wall, wo
die Scheckbücher die heiligen Schriften waren.
Die Empfangsdame telefonierte kurz und schenkte Monique dann
ein huldvolles Lächeln.
„Sie können gleich durchgehen, meine Liebe.“
Die Maklerin nickte ihr zu und öffnete wenig später die
schwere Kassettentür, hinter der sich das Privatbüro des
Firmeninhabers befand. Knut Roberts war ein magerer Herr in den
Sechzigern, der mit seinen hellen Augen und seinen dunklen
Nadelstreifenanzügen sehr vornehm und vertrauenerweckend wirkte.
Der Raum war mit Antiquitäten möbliert. Und obwohl sich Roberts als
Immobilienmakler betätigte, bestand die Wanddekoration
ausschließlich aus Gemälden von Segelschiffen.
Ein feines Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Stiller. Was haben Sie auf
dem Herzen?“
Monique ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. Die Worte
sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie beichtete den verpatzten
Termin, erzählte von Sven Lucks Leiche am Fleischerhaken sowie von
ihrem Wiedersehen mit Heike Stein.
Der Chef legte die Fingerspitzen seiner manikürten Hände
gegeneinander.
„Kann uns diese Polizistin gefährlich werden?“
„Ich glaube nicht, Herr Roberts. Als ich mit ihr aneinander
geraten bin, war ich noch Bardame auf St. Pauli. Sie weiß nichts
von unseren aktuellen ... Aktivitäten.“
„Und das soll auch so bleiben, nicht wahr?“, fragte Roberts
mit einem jovialen Lächeln. Doch gleich darauf wurde er wieder
ernst.
„Ich habe mich mit Sven Luck auf Ihre Empfehlung hin
eingelassen, Frau Stiller. Ich will nicht leugnen, dass ich
enttäuscht bin.“
„Sven hat immer ordentlich gearbeitet“, verteidigte Monique
den Toten. „Es war doch nicht abzusehen, dass jemand ihn töten
würde.“
„Wirklich nicht? Er hat ein risikoreiches Leben geführt, würde
ich meinen.“
Monique nickte und versuchte, das Zittern ihrer Unterlippe in
den Griff zu bekommen. Es gelang ihr nicht. Natürlich entging
Roberts ihre Unruhe nicht.
„Ich frage mich, wie lange Sie ein Polizeiverhör durchstehen
würden, Frau Stiller.“
Die Maklerin rang unwillkürlich die Hände.
„Es geht mir gut“, beteuerte sie.
„Das bezweifle ich.“
Mit diesen Worten holte der kultivierte ältere Herr eine
Pistole aus der Schreibtischschublade und richtete die Waffe auf
Monique.
8
Lara saß immer noch in dem SUV und versuchte, einen klaren
Gedanken zu fassen. Woher hatten diese beiden Killertypen gewusst,
dass sie an der S-Bahn-Station Elbgaustraße auf sie warten
mussten?
Hatte Sven ihnen verraten, dass sie über das Wochenende bei
ihren Eltern gewesen war? Eine andere Erklärung gab es nicht. Und
wer war der Psycho, in dessen Händen sich Svens Smartphone jetzt
befand?
Lara spürte, dass ihr die Situation über den Kopf wuchs. Sie
brauchte dringend Hilfe, aber nicht von den Bullen. Die würden sie
nur einsperren, wenn herauskam, was sie getan hatte. Es musste
jemand sein, dem sie vertrauen konnte und der den Mund hielt. Und
Lara kannte sogar eine solche Person, nämlich Jannik.
Lara kämpfte einige Momente mit ihrem Stolz, dann startete sie
den Motor und fuhr von Bahrenfeld ins Schanzenviertel. Wohlweislich
rief sie Jannik vorher nicht an. Sie wollte es vermeiden, von ihm
am Telefon abgewimmelt zu werden. Wenn sie ihm Auge in Auge
gegenüber stand, würde er sich schon erweichen lassen.
Jedenfalls hoffte sie das.
Die junge Frau hielt sich penibel an die
Straßenverkehrsordnung, während sie ihrem Fahrtziel näher kam. Das
Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Polizeikontrolle.
Genau genommen hatte sie das Auto ja gestohlen.
Nein, Herr Wachtmeister, der Wagen gehört mir nicht. Ich habe
ihn einem Killer geklaut, der mich töten wollte.
Lara musste grinsen, als ihr dieser Satz durch den Kopf ging.
Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. Wie es Sven wohl ging?
Ob diese Dreckskerle ihm etwas getan hatten? Sie hielt ihn immer
noch für einen anständigen Mann, obwohl er auf viele Menschen
furchteinflößend wirkte. Doch Lara war sicher, seinen guten Kern
erkannt zu haben.
Sonst hätte er ihr wohl kaum geholfen, oder?
Sie machte sich wirklich sehr große Sorgen um ihn.
Lara brachte den SUV vor einem mit Graffiti übersäten Haus zum
Stehen. Jannik wohnte in einer WG im dritten Stockwerk. Laras Herz
klopfte bis zum Hals, während sie an der Tür klingelte.
Nach einer Zeit, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, wurde
geöffnet.
„Was willst du denn hier?“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Jannik.“
Laras Ex war ein ganz anderer Typ als Sven. Während ihr
aktueller Freund nur aus tätowierter Muskelmasse zu bestehen
schien, war Jannik hager und bleich. Zwar wies sein Körper auch
einige Tattoos auf, doch sie waren längst nicht so martialisch wie
die von Sven. In der Tierwelt wäre Jannik nach Laras Meinung ein
friedlicher Pflanzenfresser gewesen, während Sven ein reißendes
Raubtier war.
Und trotzdem brauchte sie jetzt die Hilfe dieses
Spargeltarzans.
Das durfte Lara ihm allerdings nicht zu offensichtlich aufs
Butterbrot schmieren, sonst würde er sie gleich wieder achtkantig
rausschmeißen.
Jannik wollte immer noch die beleidigte Leberwurst spielen.
Jedenfalls drehte er Lara den Rücken zu und trottete in die
geräumige und chaotische WG-Küche. Seine unangemeldete Besucherin
folgte ihm. Jannik holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank,
riss sie auf und trank einen Schluck.
„Ich habe auch Durst.“
„Dann bedien dich, Lara. Du nimmst dir doch sowieso immer,
was du willst. Wo ist denn übrigens dein Toyboy? Ich dachte, dich
gibt es jetzt nur noch im Doppelpack.“
Lara hatte nicht geschwindelt, ihre Zunge klebte wirklich fast
schon am Gaumen. Ihre Kehle war ausgedörrt. Sie checkte die
gekühlten Getränkevorräte, aber außer Bier hatte der Kühlschrank
nichts zu bieten. Jannik lebte eben in einer Männer-WG. Also nahm
sie sich ebenfalls eine Büchse. Das Holsten schmeckte besser als
erwartet.
Es war bemerkenswert ruhig in der weiträumigen Wohnung. Lara
setzte sich an den Tisch. Die mit Eiffeltürmen bedruckte
Wachstuchdecke war klebrig und eklig wie eh und je. Trotzdem ließen
diese vertraute Umgebung und das Bier Lara ein wenig ruhiger
werden. Und das, obwohl Jannik nach wie vor so abweisend war wie
eine Nonne beim Speeddating.
„Wo sind denn deine Mitbewohner?“
Laras Ex zuckte mit den Schultern.
„Was weiß ich. Bei der Arbeit, an der Uni oder in der Hölle.
Hast du deinen Sven schon in den Wind geschossen und willst jetzt
Torben oder Ramón anbaggern?“
Lara atmete tief durch, bevor sie antwortete.
„Ich weiß selbst, dass ich ziemlich abrupt mit dir Schluss
gemacht habe, Jannik. Aber deshalb musst du nicht so gemein zu mir
sein.“
„So, findest du? Wenn es dir nicht passt, was ich sage, dann
kannst du ja gleich wieder gehen.“
„Nein, das kann ich nicht!“, platzte Lara heraus. Mit ihrer
Selbstbeherrschung war es vorbei. „Ich brauche dich, Jannik! Darf
ich heute hier übernachten?“
Der schlaksige junge Mann zuckte zusammen. Seine coole Fassade
bröckelte. Mit einer solchen Bitte hatte er offenbar nicht
gerechnet.
„W-wieso das denn? Hast du Zoff mit deinem Brechmann? Kommt er
womöglich hierher?“
Jannik brachte diese Fragen stammelnd hervor. In seinen Augen
flackerte Furcht. Lara machte sich keine Illusionen darüber, dass
ihr Ex ein Feigling war. Objektiv gesehen hatte er dazu allerdings
auch allen Grund, denn bei einer Schlägerei mit Sven würde Jannik
garantiert den Kürzeren ziehen.
Laras aktueller Freund konnte ihn unangespitzt in die Erde
rammen. Das heißt, falls er jetzt dazu noch in der Lage war.
Womöglich lag Sven irgendwo verletzt herum und brauchte ihre Hilfe.
Oder noch Schlimmeres. Doch daran wollte Lara jetzt nicht denken,
denn sie war immer noch bis über beide Ohren in Sven
verliebt.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, Jannik. Sven weiß gar nicht, wo du wohnst. Ich habe
dich ihm gegenüber niemals erwähnt.“
„Na, vielen Dank auch!“, stieß ihr Ex gekränkt hervor. „Ich
habe deinen tollen Sven einmal von weitem im Mojo Club gesehen, das
hat mir gereicht. Dem steht doch die Brutalität ins Gesicht
geschrieben.“
Lara wollte zu einer flammenden Verteidigungsrede ansetzen,
konnte sich aber gerade noch rechtzeitig bremsen. Jannik würde sich
niemals für Sven erwärmen können, weil Lara ihn wegen diesem Mann
abserviert hatte.
Sie entschied sich, ihrem Ex die Wahrheit zu sagen. Oder
zumindest einen Teil davon.
„Ich glaube, Sven steckt in Schwierigkeiten. Heute haben zwei
Typen versucht, mich zu überfahren. Und ich fürchte, dass sie auch
Sven in ihrer Gewalt haben.“
Mit einem solchen Geständnis hatte Jannik offensichtlich nicht
gerechnet. Sein linkes Augenlid begann nervös zu flattern.
„Echt? Aber du ... dir fehlt nichts, oder?“
Lara schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Bier. Sie
würde Jannik ganz gewiss nicht auf die Nase binden, dass sie einen
ihrer Verfolger schwer verletzt oder vielleicht sogar getötet
hatte. Vor dieser Tatsache verschloss sie selbst die Augen, so gut
es ging.
Jannik fuhr fort: „Ähm, ich bin ja kein großer Fan der
Polizei, aber bist du schon zu den Bullen gegangen?“
„Ich kann nicht zur Polizei gehen. Du kennst doch meinen Blog,
oder?“
„Ja, und der ist eine großartige Sache. Du prangerst Miethaie
an und schreibst über leer stehende Häuser, die als
Spekulationsobjekte vergammeln. - Glaubst du, dass diese
Dreckskerle dich deshalb ummangeln wollten?“
„Keine Ahnung“, gestand Lara. „Aber hast du dich nie gefragt,
woher ich meine Informationen über diese Machenschaften
habe?“
Jannik hob die Schultern.
„Ich schätze, du bekommst anonyme Tipps.“
„Ja, das auch. Aber ich habe eine sehr verlässliche
Informationsquelle, nämlich Sven.“
Jannik quollen fast die Augen aus dem Kopf.
„Echt? Dieser Schlägertyp? Ich hätte ihm niemals zugetraut,
dass er so eine soziale Ader hat. Nun verstehe ich, warum er Ärger
hat. Der Hamburger Immobilienmarkt ist völlig irre, da kann man
schnell reich werden, wenn man keine Skrupel hat. Und woher weiß
dein Sven, was da abgeht? Das sind doch
Insider-Informationen!“
Mit dieser Schlussfolgerung hatte Lara nicht gerechnet, und
ihr Schweigen war beredt genug.
„Dein Freund hängt mit drin!“, rief Jannik vorwurfsvoll.
„Dieser Schlägertyp ist die Idealbesetzung, um widerspenstige
Mieter einzuschüchtern, die sich gegen eine Luxussanierung
sträuben. Ist es nicht so?“
„Sven ist in diese Sache hineingeraten“, verteidigte Lara
ihren Freund. „Genau deshalb hat er mir ja die ganzen Infos
gesteckt, kapierst du?“
Jannik hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und spielte mit
seiner inzwischen leeren Bierdose.
„Ich verstehe vollkommen, meine Liebe“, sagte er mit
ironischem Unterton. „Und du kannst nicht die Polizei rufen, weil
die Bullen dir eine Menge unangenehmer Fragen über deinen Lover
stellen würden. Dann könnte er in den Knast einfahren, vermutlich
nicht zum ersten Mal.“
„Du bist widerlich!“, schleuderte Lara ihm entgegen. „Ich
bitte dich um Hilfe, und du haust mich einfach nur in die
Pfanne.“
Ihr Ex schüttelte den Kopf.
„Nein, ich will dir doch nur die Augen öffnen. Dieser Mann ist
nicht gut für dich, Lara. Du verpasst ihm jetzt einen
Heiligenschein, weil er deinen Blog mit brisantem Material
gefüttert hat. Aber woher willst du wissen, wie viele verzweifelte
Mieter er schon zusammengeschlagen hat? Womöglich hat Sven sogar
einen oder mehrere von ihnen auf dem Gewissen.“
„Die Eifersucht hat dir das Hirn vernebelt!“, wütete Lara,
während sie aufsprang. „Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Ich
kehre lieber in meine Bude zurück, auch wenn dort meine Verfolger
vielleicht schon auf mich warten!“
Bevor Jannik antworten konnte, klingelte es an der Tür.
Ihr Zorn verwandelte sich schlagartig in Todesangst.
Jannik machte eine beruhigende Handbewegung.
„Das wird bloß Ramón sein, der seinen Schlüssel vergessen hat.
Wäre ja nicht das erste Mal.“
Lara blieb in der Küche, während ihr Ex zur Wohnungstür
schlurfte und sie öffnete. Im nächsten Moment knallte ein
Schuss.
9
Heike brauchte nicht lange, um Sven Lucks Familienverhältnisse
zu recherchieren. Sein Vater lebte nicht mehr, die Mutter des
Opfers litt an Demenz und wohnte in einem Rostocker Pflegeheim.
Luck hatte einen älteren Bruder namens Harry, der aber schon vor
zehn Jahren nach Südafrika ausgewandert war.
Die Kriminalistin verständigte Harry Luck von Svens Tod. Im
Gegensatz zur Mutter war er in der Lage, die Beerdigung zu
organisieren.
„Ich habe geahnt, dass es mit meinem Bruder mal ein böses Ende
nehmen würde“, sagte Harry Luck am Telefon. Er wohnte in
Johannesburg.
„Wann haben Sie Sven zum letzten Mal gesehen?“
„Das war bei meiner Auswanderung, seitdem bin ich nicht mehr
in Deutschland gewesen. Aber mein Bruder war ja damals schon auf
die schiefe Bahn geraten. Ich befürchtete, dass er nicht mehr den
Weg zurück in ein normales Leben finden würde. Das hat sich ja nun
wohl bewahrheitet.“
„Hatten Sie in den letzten Jahren noch Kontakt zu Sven,
telefonisch, per Mail oder Skype?“
„Nein, Frau Kommissarin. Für meinen kleinen Bruder bin ich
immer ein langweiliger Spießer gewesen. Und ich war ehrlich gesagt
auch nicht stolz auf meine kriminelle Verwandtschaft. Ich habe mir
hier in Südafrika eine Existenz aufgebaut, bin verheiratet und habe
zwei Kinder. Aber nun werde ich wohl für die Beerdigung nach
Deutschland kommen müssen.“
Heike versprach, Harry Luck zu informieren, sobald die Leiche
von der Gerichtsmedizin freigegeben wurde.
Dann nahm sie einen Dienstwagen aus dem Fuhrpark des
Präsidiums und düste nach St. Pauli. Inzwischen dämmerte es
bereits. Nach Einbruch der Dunkelheit erwachte das weltweit
bekannte Amüsierviertel am Hafen erst so richtig zum Leben. Heike
stellte ihr Auto vor der Davidwache ab und schlenderte zur
Silbersackstraße hinüber.
Sie war längere Zeit nicht mehr hier gewesen und hoffte, dass
die Scharhörn Schwemme noch existierte. Seit St. Pauli zum
Kult-Stadtteil geworden war, starben die dreckigen alten
Unterwelt-Kneipen immer mehr aus.
Doch in der Scharhörn Schwemme war es laut und voll wie eh und
je. Und Moses Holzbein stand hinter der Theke. Er war schon alt
gewesen, als Heike noch als Streifenpolizistin gelegentlich nach
dem Rechten geschaut hatte. Er richtete den Blick seines
Schweinsäuglein auf die blonde Hauptkommissarin, und sein feistes
Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Grinsen. Der goldene
Schneidezahn blitzte.
„Moin, Heike - welch ein Glanz in meiner Hütte! Einen Lütt un
Lütt für dich?“
„Cola, Moses.“
Heike pflanzte sich auf einen der Barhocker, dessen Sitzfläche
unendlich oft geflickt und geklebt worden war. Im Dienst konnte sie
die beliebte Kombination aus einem kleinen Bier und einem klaren
Schnaps natürlich nicht zu sich nehmen, obwohl es das einzig
passende Getränk für eine Kneipe wie die Scharhörn Schwemme war.
Obwohl Heike über ein gutes Gedächtnis verfügte, hatte sie den
bürgerlichen Namen von Moses Holzbein längst vergessen.
In seiner Jugend (die schon ewig lange her sein musste) war
der Kneipier zur See gefahren. Er hatte damals als Schiffsjunge
angeheuert - eine Position an Bord, die man auch gern als Moses
bezeichnete. Und seinen Spitznamen Holzbein verdankte er seiner
Unterschenkelprothese, die er seit einem Arbeitsunfall in
Valparaiso tragen musste.
Der Wirt goss mit sichtbarem Unbehagen ein Glas mit der
koffeinhaltigen Limonade voll und stellte es vor der Kriminalistin
auf die schmierige Theke.
Heike hatte mit einem schnellen Rundblick festgestellt, dass
links und rechts von ihr vermutlich an die 200 Jahre an Haftstrafen
versammelt waren. Doch im Gegensatz zu den alkoholisierten Teenies,
die jedes Wochenende den Kiez unsicher machten, vermieden die
erfahrenen Berufsganoven unnötigen Ärger mit der Staatsmacht. Die
Kerle hatten natürlich sofort kapiert, dass Heike Polizistin war.
Also hielten sie Abstand und widmeten sich friedlich ihren
Biergläsern.
„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“, dröhnte Moses
Holzbein mit seinem tiefen Bass. „Wie geht es dem Papa?“
„Auf Mallorca scheint immer noch die Sonne, aber wegen meinem
Vater bin ich heute nicht gekommen. - Kennen Sie diesen
Mann?“
Heike legte ein erkennungsdienstliches Foto von Sven Luck auf
den Tresen, während sie sprach. Die Aufnahme war bei der letzten
Verhaftung des Schlägers entstanden. Damals war sein Vollbart noch
kürzer gewesen. Ein Bild der ausgebluteten Leiche wollte die
Hauptkommissarin dem Zeugen ersparen, obwohl sie Moses Holzbein für
nicht besonders zart besaitet hielt.
Der Kneipier schob seine dicke Unterlippe vor, als er sich
über das Foto beugte.
„Ja, den Typen kenne ich. Er heißt Sven oder so. Gelegentlich
hat er hier mal ein paar Kurze gekippt, doch nun ist er schon eine
Weile von der Bildfläche verschwunden. Ich dachte mir, dass er
vielleicht in Santa Fu eingefahren ist.“
„Nein, er befindet sich nicht im Strafvollzug“, erklärte
Heike. „Dieser Mann wurde getötet. Was wissen Sie über Sven
Luck?“
„Nicht viel“, räumte der Alte ein. „Er gehört nicht zu den
Typen, die an der Theke ihre ganze Lebensgeschichte zum Besten
geben. Und zwar jeden Abend. Ein paar Dinge habe ich aber doch
aufgeschnappt. Er hatte früher was mit Geldeintreiben zu tun, hat
für Big Rico Wucherzinsen eingefordert. Und wer nicht zahlen
wollte, bekam den Schlagring zu spüren.“
„Big Rico ist aber tot“, wandte Heike ein.
„Eben. Seitdem hat sich Sven als freischaffender Schläger
betätigt, soweit ich weiß. Man konnte ihn anheuern, um jemanden
aufzumischen oder einer Forderung Nachdruck zu verleihen.“
„Und Sie wissen nicht zufällig, für wen er bevorzugt
gearbeitet hat?“
Moses Holzbein beantwortete Heikes Frage mit einem
Kopfschütteln.
„Ich hab nur gehört, dass Sven dick im Geschäft ist, Stichwort
Luxusimmobilien.“
„Wie meinen Sie das?“