Hamburg Thriller Dreierband 1004 - Martin Barkawitz - E-Book

Hamburg Thriller Dreierband 1004 E-Book

Martin Barkawitz

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Kommissarin Stein und der tote Brechmann Kommissar Stein und die tote Frau im Hafen Kommissarin Stein und das Hafengesindel Malte Lottmann war dem Tod geweiht. Der Zollfahnder wusste, dass er verloren hatte. Sein Smartphone war ebenso verschwunden wie seine Dienstwaffe. Außerdem gab es weit und breit keine Menschenseele, die ihm hätte helfen können. Gewiss, es gab Kranführer und Barkassenkapitäne in der Nähe. Aber konnte er einem von ihnen trauen? Lottmanns Gegner ließen überall im Hafen Bestechungsgelder fließen. Man wusste nie, wer von ihnen gekauft war. Diese Leute wurden fürs Wegsehen bezahlt, auch bei einem Mord.

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Martin Barkawitz

Hamburg Thriller Dreierband 1004

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Inhaltsverzeichnis

Hamburg Thriller Dreierband 1004

Copyright

Kommissarin Stein und der tote Brechmann

Kommissarin Stein und die tote Frau im Hafen

Kommissarin Stein und das Hafengesindel: Hamburg Krimi

Hamburg Thriller Dreierband 1004

Martin Barkawitz

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Kommissarin Stein und der tote Brechmann

Kommissar Stein und die tote Frau im Hafen

Kommissarin Stein und das Hafengesindel

Malte Lottmann war dem Tod geweiht.
Der Zollfahnder wusste, dass er verloren hatte. Sein Smartphone war ebenso verschwunden wie seine Dienstwaffe. Außerdem gab es weit und breit keine Menschenseele, die ihm hätte helfen können. Gewiss, es gab Kranführer und Barkassenkapitäne in der Nähe. Aber konnte er einem von ihnen trauen? Lottmanns Gegner ließen überall im Hafen Bestechungsgelder fließen. Man wusste nie, wer von ihnen gekauft war.
Diese Leute wurden fürs Wegsehen bezahlt, auch bei einem Mord.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Kommissarin Stein und der tote Brechmann

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Kommissarin Stein und der tote Brechmann: Hamburg-Krimi
von Martin Barkawitz
1
Die Immobilienmaklerin Monique Stiller ahnte nichts Böses, als sie das Interessenten-Ehepaar Wolter vor dem Prestigebau ihres Unternehmens empfing.
„Willkommen am Waterloohain“, sagte sie. Dabei trug Monique jenes Lächeln zur Schau, mit dem sie in ihrem zweiunddreißigjährigen Leben schon so manchen Mann umgarnt hatte. Mit Pascal Wolter durfte sie allerdings nicht zu offensichtlich flirten, denn seine Ehefrau Sonja schien echte Wadenbeißerqualitäten zu haben. Jedenfalls klammerte diese unscheinbare Person sich so verzweifelt am Arm ihres Langweiler-Gatten fest, als ob Monique ihn andernfalls an sich gerissen hätte.
Nichts lag der Frau mit der Model-Figur ferner. Die Maklerin war nur auf ihre Courtage scharf, nicht etwa auf diesen nichtssagenden Durchschnittstypen. Deshalb machte sie auch nicht den Fehler, sich allzu sehr auf Pascal Wolter zu konzentrieren. In dieser Ehe hatte Sonja die Hosen an, daran bestand für Monique kein Zweifel.
„Ist die Umgebung ruhig?“, fragte Frau Wolter mit einem misstrauischen Unterton, während sie ihre Blicke über die komplett renovierte Jugendstilfassade der Waterloo Residenz schweifen ließ.
„Selbstverständlich. Es handelt sich um eine idyllische Wohnstraße, die aber dennoch zentrumsnah gelegen ist“, plapperte Monique. Der Ton macht die Musik, diese Weisheit hatte sie schon während ihrer dunklen Vergangenheit als St.-Pauli-Bardame erkannt. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Heutzutage verdiente sie ihr Geld auf leichtere und angenehmere Art.
Frau Wolter starrte die mit frischer Farbe versehene Hauswand an, als ob sie mit einem Röntgenblick hindurchsehen könnte. Die Maklerin hingegen redete ununterbrochen weiter, während sie die Haustür aufschloss und das Ehepaar ins zweite Stockwerk führte.
„Alle anderen Wohnungen in diesem repräsentativen Objekt konnten bereits veräußert werden, es handelt sich für Sie also um eine einmalige Gelegenheit, die so schnell gewiss nicht wiederkehren wird. Wie Sie dem Exposé bereits entnehmen konnten, würden Sie in Zukunft auf 120 Quadratmetern einer renovierten Wohnung aus dem 19. Jahrhundert leben.“
Monique hatte die Tür aufgeschlossen und deutete so stolz auf den Parkettfußboden, als ob sie ihn selbst verlegt hätte.
„Beachten Sie bitte auch die hohen Stuckdecken, die von Spezialisten fachgerecht renoviert wurden. Sie ...“
Ein Entsetzensschrei unterbrach die Maklerin. Sie hatte einem der zwei Bäder den Rücken zugedreht. Daher bemerkte sie erst beim Umdrehen den großen Blutfleck unmittelbar vor der Tür.
Pascal Wolter war geschockt. Er war kreidebleich geworden und lehnte sich gegen eine Wand, um nicht zu stürzen. Seine Frau erwies sich als belastbarer. Während Monique ratlos herumstand und Sonjas Mann beinahe kollabiert wäre, stürzte die Kaufinteressentin auf die Badezimmertür zu und riss sie auf. Offenbar war sie wild entschlossen zu helfen.
Doch dafür gab es keine Chance.
Der Mann, der nackt und ausgeblutet an einem Fleischerhaken hing, war schon tot.
2
„Du siehst gut erholt aus, Heike. Wie war es in Barcelona?“
„Katalanisch.“
Dieser kurze Wortwechsel zwischen Hauptkommissarin Heike Stein und ihrem Dienstpartner Ben Wilken fand am Tatort statt. Als die Kriminalistin das luxuriös sanierte Objekt am Waterloohain betrat, sah sie Ben zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder. Heike hatte es in ihrem Urlaub erfolgreich geschafft, zumindest stundenweise nicht an ihn zu denken. Sie kam sich so dumm vor, weil sie sich Hoffnungen auf eine ernsthafte Beziehung mit Ben gemacht hatte.
Aber daraus würde nichts werden.
Heike liebte ihn immer noch, auch wenn er sich momentan für seine Ehefrau Maja entschieden hatte. Es war besser, wenn sie auf Distanz ging. Das war allerdings nicht ganz einfach, wenn man zusammenarbeiten musste. Also konzentrierte sie sich so gut wie möglich auf den neuen Fall.
Heike beachtete Ben nicht weiter, sondern wandte sich an Kommissar Lehmkuhl vom Kriminaldauerdienst.
„Bring mich bitte auf den neuesten Stand, Rudi.“
Der kahlköpfige Kollege nickte und schaute auf seine Notizen.
„Eine Zeugin namens Sonja Wolter hat um 10.11 Uhr den Notruf alarmiert. Sieben Minuten später war eine Streifenwagenbesatzung vor Ort. Wir haben es mit einer noch nicht identifizierten männlichen Leiche zu tun, Fremdeinwirkung ist sehr wahrscheinlich. Ich traf kurz vor elf Uhr ein, zusammen mit der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner. Und ich gehe davon aus, dass ihr von der Sonderkommission Mord den Fall übernehmen werdet.“
„Deshalb hast du uns also gleich dazu gerufen. Okay, dann schauen wir uns den Toten doch mal an.“
Mit diesen Worten ging Heike zusammen mit Lehmkuhl Richtung Bad. Ben trottete schweigend hinter ihnen her. An der offenen Tür mussten sie stehenbleiben, um den eigentlichen Tatort nicht zu kontaminieren. In dem hochmodern ausgestatteten Bad arbeiteten mehrere Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen. Der KDD-Kollege deutete auf einen blutigen Fleischerhaken an der Duschenverkleidung.
„Dieser Haken gehört nicht zur Standardausstattung des Badezimmers, wie man sich denken kann. Wir haben den Leichnam heruntergenommen und in einen Zinksarg gelegt. Der Gerichtsmediziner schaut sich den Körper gerade an.“
Lehmkuhl deutete auf die angelehnte Tür, die zum Nebenzimmer führte.
„Frag doch mal den Doc, ob er schon erste Erkenntnisse für uns hat“, sagte sie zu Ben, ohne ihn anzuschauen.
Ben erwiderte nichts, ging aber gehorsam zu dem Gerichtsmediziner hinüber.
„Habt ihr Krach miteinander?“, fragte Lehmkuhl neugierig.
„Wir sind hier an einem Tatort und nicht bei der Paartherapie“, gab Heike gereizt zurück. „Können wir Suizid ausschließen?“
„Ja, allerdings. Ich glaube nicht, dass man sich selbst die Kehle durchschneiden und sich an einen Fleischerhaken hängen kann. Außerdem müsste dann die Waffe irgendwo zu finden sein.“
„Falls es keinen Komplizen gegeben hat“, schränkte die Kriminalistin ein. „Gibt es schon Erkenntnisse zur Identität des Toten?“
„Negativ, Heike. Der junge Mann ist wild tätowiert, womöglich geben einzelne Symbole über die Zugehörigkeit zu einer Gang Aufschluss. Außerdem werden natürlich seine Fingerabdrücke genommen. Wenn er schon mal straffällig geworden ist, werden wir seinen Namen bald kennen.“
„Ja, das wäre gut. Kann ich mit der Zeugin sprechen?“
„Es gibt insgesamt drei Zeugen, die Immobilienmaklerin sowie zwei Kaufinteressenten. Sie warten in der Küche.“
Denen wird wohl die Lust darauf vergangen sein, diese Wohnung zu erwerben, dachte Heike, während sie Lehmkuhl folgte. Andererseits: Wer es sich leisten konnte, ein solches Objekt zu erwerben, war womöglich ganz besonders abgebrüht. Oder? Die Kriminalistin rief sich selbst innerlich zur Ordnung und fasste den Vorsatz, sich nicht von ihren Klischeevorstellungen leiten zu lassen.
Die Zeugen warteten in der hypermodernen Einbauküche. Bei der Schönheit mit dem Notebook und der Ledermappe handelte es sich wahrscheinlich um die Maklerin. Sie lief unruhig hin und her wie ein Raubtier im Käfig, während zwei andere Personen wie Musterschüler mit gefalteten Händen einträchtig nebeneinander am Küchentisch saßen. Die Kriminalistin schätzte beide auf Anfang vierzig. Der Mann hatte einen grünlichen Teint, während die Frau interessiert ihre Umgebung musterte. Der Anblick der ausgebluteten Leiche schien sie nicht aus der Bahn geworfen zu haben.
Heike zeigte ihren Kripo-Ausweis, stellte sich vor und wandte sich zunächst an die Sitzenden.
„Behalten Sie Platz, bitte. Sie sind ...?“
„Sonja und Pascal Wolter aus Heilbronn“, sagte die Frau. Sonja Wolter wirkte auf Heike gepflegt, aber unauffällig. Dasselbe traf auch auf ihren Mann zu. Die Kriminalistin bat um eine Schilderung der Ereignisse.
„Wir überlegen momentan, uns eine Wohnung in Hamburg zu kaufen, weil mein Mann demnächst von seinem Arbeitgeber hierher versetzt wird. Angesichts der steigenden Immobilienpreise erschien es uns als eine gute Investition für unsere Altersvorsorge. Wir hatten Frau Stiller allerdings gesagt, dass wir nicht an einer Immobilie in einem sozialen Brennpunkt interessiert sind.“
„Ich versichere Ihnen, dass es sich um eine sichere Nachbarschaft handelt“, begann die Maklerin, aber Heike schnitt ihr das Wort ab: „Zu Ihnen komme ich gleich.“
Die Kriminalistin forderte Sonja Wolter mit einer Handbewegung zum Weitersprechen auf.
„Frau Stiller wollte uns durch die Wohnung führen, als mein Mann plötzlich aufschrie. Gleich darauf erblickte auch ich den Blutfleck unmittelbar vor der Badezimmertür. Ich bin von Beruf Unfallchirurgin. Daher weiß ich, dass es bei Verletzten buchstäblich auf jede Sekunde ankommt. Ich riss also die Tür auf. Doch ein Blick auf diesen bedauernswerten Menschen hat mir gereicht. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Er war fast gänzlich ausgeblutet, fast der gesamte Fußboden war mit der Flüssigkeit bedeckt.“
Unwillkürlich blickte Heike auf das Parkett hinunter. Sonja Wolter hatte offenbar das Bad betreten, jedenfalls fanden sich Blutspuren an ihren Schuhen und auf dem Boden. Die Sohlen von ihrem Ehemann sowie der Maklerin waren hingegen sauber. Die beiden hatten sich nicht in das Bad getraut, das zum Schlachthaus geworden war.
„Kannten Sie das Opfer?“, wollte die Kriminalistin wissen.
Die Eheleute schüttelten wie auf ein lautloses Kommando hin beide die Köpfe. Nun öffnete auch Pascal Wolter den Mund.
„Nein, ich habe den Mann noch niemals zuvor gesehen. Wie meine Frau schon sagte, soll ich ab Oktober hier in der Hamburger Zentrale arbeiten. Ich bin Chemiker. - Das hier kommt mir wie ein Alptraum vor.“
Darauf erwiderte Heike nichts. Sie bedankte sich zunächst mit einem Kopfnicken bei den Wolters und wandte sich dann der Maklerin zu.
Monique Stiller war eine bemerkenswert gutaussehende Frau. Sie wirkte sehr nervös.
„War die Wohnung abgeschlossen, als Sie vorhin kamen?“
„Ja, Frau Hauptkommissarin. Und ich kenne den Toten übrigens auch nicht.“
Heike ging zunächst nicht auf diese Aussage ein. Stattdessen fragte sie:
„Wie viele Schlüssel existieren für dieses Objekt?“
„Insgesamt drei, soweit ich weiß. Einen habe ich, ein weiterer müsste beim Eigentümer liegen. Und dann gibt es noch einen Reserveschlüssel, den wir im Büro aufbewahren.“
„Von welchem Büro sprechen wir?“
„Ich bin für Roberts & Sohn tätig. Wir haben unsere Geschäftsräume am Neuen Wall.“
Der Name sagte Heike etwas. Dieses Immobilienunternehmen hatte sich auf die Vermittlung von absoluten Luxusimmobilien spezialisiert. Die Kriminalistin kniff die Augen zusammen und beugte sich leicht vor.
„Irgendwo her kenne ich Sie, Frau Stiller.“
Die Maklerin schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, Sie müssen sich irren.“
„Doch, ich bin mir hundertprozentig sicher. Ich habe Sie nämlich schon einmal verhaftet.“
3
Lara Michel hatte das Wochenende bei ihren Eltern in Quickborn verbracht. Sie kehrte mit der S-Bahn nach Hamburg zurück und schwang sich an der Station Elbgaustraße auf ihr Fahrrad. Tausend Dinge schwirrten ihr durch die Kopf, während sie kräftig in die Pedale trat: Die bevorstehende Zwischenprüfung an der Uni, ihre chaotische Mitbewohnerin, das nächste Konzert der SUBURBAN SLUTS auf St. Pauli - und vor allem natürlich Sven.
Lara hatte sich Hals über Kopf in den stillen Hünen verknallt. Am liebsten hätte sie jede freie Minute mit ihm verbracht, aber so einfach war das nicht. Dieser geheimnisvolle Mann hatte immer alle Hände voll zu tun. Es kam selten vor, dass er einige Stunden am Stück für Lara erübrigen konnte. Diese Zeit genoss sie dann umso mehr. Am Samstag und Sonntag war er gar nicht in Hamburg gewesen. Ein Grund mehr für Lara, mal wieder ihre Eltern in der Provinz zu besuchen. Die Großstadt kam ihr ohne Sven leer und öde vor.
Lara musste lernen, ihm zu vertrauen. Ihr Freund hatte geschworen, dass zwischen ihm und dieser belgischen Zicke nichts laufen würde. Und Lara glaubte ihm, weil sie ihn aufrichig liebte.
Süße, dich hat es aber voll erwischt, sagte sie innerlich grinsend zu sich selbst.
Der schwarze SUV tauchte wie aus dem Nichts auf.
Lara war eine aufmerksame Radfahrerin. Auch wenn sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, strampelte sie auf ihrem Mountainbike nicht achtlos durch die Gegend. Dafür lebte man als Zweirad-Benutzerin in Hamburg einfach zu gefährlich. Und dieses dunkle Dieselmonster wäre normalerweise kein Problem gewesen. Es konnte auf der Parallelspur problemlos an Lara vorbeiziehen.
Stattdessen zog es zu ihr hinüber!
Die junge Frau erschrak fast zu Tode. Nur ihrer eigenen Geistesgegenwart verdankte sie es, dass sie nicht gerammt wurde. Ihre Reaktionsschnelligkeit verhinderte zwar eine Kollision mit dem SUV, doch stattdessen krachte sie mit dem Vorderreifen gegen einen geparkten Ford.
Lara hatte kein Spitzentempo drauf gehabt, trotzdem stieg sie über den Lenker hinweg durch die Luft und landete unsanft auf dem Gehweg.
Ihre Knochen wurden kräftig durchgeschüttelt, außerdem schürfte sie sich die linke Handfäche und das rechte Knie auf. Ansonsten überstand sie den Sturz ohne einen weiteren erkennbaren Schaden.
Nur ihr teures Rad war vermutlich Schrott.
Fluchend rappelte sie sich auf. Der SUV hatte angehalten. Immerhin beging der Kerl keine Fahrerflucht. Lara war trotzdem nicht gut auf ihn zu sprechen.
„Kannst du nicht aufpassen, du Vollpfosten?“, rief sie ihm wütend zu, als er ausstieg. Der Mann trug eine Sonnenbrille und einen Lederblouson. Außerdem schwarze Handschuhe. Und er hielt eine Pistole mit Schalldämpfer in der Rechten. Und er richtete sie auf Lara.
„Ach du Schande!“, stieß sie hervor.
Im nächsten Moment blitzte bereits das Mündungsfeuer auf. Dazu erklang ein Geräusch, das sich wie das Ploppen eines Sektkorkens anhörte. Die Kugel verfehlte das Ziel, schlug in die Windschutzscheibe des Fords.
Lara rannte davon.
Ihre Blicke suchten die Umgebung nach möglicher Hilfe ab. Es war wie verhext. Dieser SUV-Killer hatte sich eine menschenleere Stelle ausgesucht, wie es sie in Metropolen manchmal gibt. Weiter südlich rauschte der Verkehr auf der Elbgaustraße, doch ausgerechnet hier gab es nur Lagerhäuser, Schrottplätze und Industriebrachen. Es konnte doch nicht sein, dass man inmitten von zwei Millionen Menschen keinen Beistand fand!
Lara blickte über die Schulter nach hinten.
Ein Motor heulte auf. Natürlich, ihr Verfolger würde sie in seinem verflixten Geländewagen im Handumdrehen eingeholt haben.
Die junge Frau musste unbedingt Zeit gewinnen, um telefonieren zu können. Sie lief auf ein umzäuntes Grundstück zu, an dessen massivem Metalltor ein Schild mit der Aufschrift ZU VERMIETEN stand.
Lara sprang nach oben, bekam mit beiden Händen die Kante des Zauns zu fassen und zog sich daran hoch. Im nächsten Moment hatte sie das Hindernis überwunden und war auf der anderen Seite gelandet. Auf dem umfriedeten Gelände standen mehrere Flachdachschuppen, die offenbar als Lager oder Werkstätten dienen konnten. Doch momentan schien das ganze Objekt verwaist zu sein.
Während Lara weiter lief, schaute sie sich ängstlich nach dem SUV um. Das Fahrzeug war vor dem Tor zum Stehen gekommen. Offenbar hatte der Fahrer beschlossen, keinen spektakulären Crash zu riskieren und die Einfahrt nicht zu rammen. Das war die gute Nachricht. Die schlechte bestand darin, dass er sich nicht allein im Auto befand. Es gab noch einen Beifahrer, der ebenfalls groß und athletisch wirkte.
Die beiden Kerle waren ausgestiegen und schickten sich ebenfalls an, den Zaun zu überwinden. Die junge Frau zweifelte nicht daran, dass sie es ebenfalls im Handumdrehen schaffen würden.
Was wollen diese Idioten von mir?
Dieser Gedanke schoss ihr nur kurz durch den Kopf, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Flucht. Es musste etwas mit Sven zu tun haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Lara rüttelte an der Klinke einer Metalltür, aber es war natürlich abgeschlossen. Sie war um eine Ecke geeilt und hatte die Verfolger jetzt nicht mehr im Blickfeld. Doch Lara zweifelte nicht daran, dass ihr Vorsprung nur minimal war.
Panik breitete sich in ihrem Inneren aus wie ein blitzartig wucherndes Geschwür. Sie wollte sich lieber gar nicht erst ausmalen, was die Kerle mit ihr anstellen würden. Lara durfte ihnen einfach nicht in die Hände fallen. Sie zog ihre Jeansjacke aus, umwickelte damit ihren Ellenbogen und schlug eine Glasscheibe ein.
Dann langte sie tastend nach dem Fenstergriff, öffnete ihn und glitt ins Innere. Einer Eingebung folgend nahm sie eine der großen Scherben mit. Lara hatte nämlich überhaupt keine Waffe. Ob sie mit einem scharfkantigen Stück Glas gegen Pistolen ankommen konnte, war eine ganz andere Frage. Aber sie war wild entschlossen, sich diesen Dreckskerlen nicht kampflos zu ergeben.
Wieder musste sie an Sven denken, an die vielen Narben auf seinem muskulösen Körper. Er war ein Mann, der das Kämpfen von Kindesbeinen an gewohnt war. Lara als behütetes Kind besorgter Eltern lernte diese Fähigkeit nun auf die harte Tour.
Wäre ich Sven nicht begegnet, dann würde ich jetzt wahrscheinlich im Goethe-Seminar sitzen und an meinem Bleistift kauen.
Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf, während sie sich in dem Halbdunkel so schnell wie möglich vorwärts bewegte. In dem Gebäude stank es nach Urin und Rattenkot. Es gab mannshohe stillgelegte Maschinen, die wie schwarze Dämonenwächter auf Lara zu lauern schienen.
Doch die wirkliche Gefahr befand sich hinter ihr. Sie hörte flüsternde Stimmen, außerdem das Knirschen von Stiefelsohlen auf zerbrochenem Glas. Ihre Verfolger hatten nun ebenfalls das leer stehende Gemäuer betreten. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
Lara versuchte, sich zu orientieren. Es konnte unmöglich nur eine einzige Tür geben. Wenn das hier früher ein Gewerbeobjekt gewesen war, dann musste auch ein Notausgang existieren.
Oder?
Die junge Frau konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil ihr Atem so schnell ging. Sie hörte ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen. Lara begann zu hyperventilieren. Und die Männern kamen näher. Zu zweit konnten sie ihr Opfer erstklassig in die Zange nehmen.
Verzweifelt presste Lara sich gegen eine der Maschinen. Sie fühlte die kalten metallischen Kanten an ihrem Unterarm.
Plötzlich packte sie jemand am Handgelenk. Ein Triumphschrei erklang.
„Ich hab das Biest!“
Doch schon im nächsten Moment ertönte ein schmerzverzerrtes Gurgeln aus seiner Kehle. Lara hatte sich halb um die eigene Achse gedreht und die scharfkantige Scherbe in seinen Hals gerammt.
Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte sie deutlich sehen, wie das Blut aus der Wunde spritzte.
Ob der Mann sterben würde?
Das hatte sie nicht gewollt, ihre Reaktion war reflexartig gewesen. Doch für den anderen Verfolger würde es wohl kaum einen Unterschied machen. Das Adrenalin jagte durch Laras Körper, verlieh ihr zusätzliche Kräfte. Sie stürmte vorwärts, ließ dabei die blutbeschmierte Scherbe fallen.
Schüsse fielen.
Die Kugeln verfehlten sie und jaulten als Querschläger davon. Mit ihrem momentanen Tunnelblick konzentrierte Lara sich ganz auf das, was sich unmittelbar vor ihr befand. Einen Notausgang gab es dort nicht, dafür aber ein anderes Fenster. Die Scheiben waren teilweise durch Pappdeckel ersetzt worden.
Lara beschleunigte noch mehr, setzte zum Sprung an. Sie hielt ihren Unterarm vor ihre Augen, während sie inmitten eines Scherbenregens die Scheibe durchbrach. Aus mehreren kleinen Schnittwunden blutend landete sie auf einer Laderampe aus Beton.
Die junge Frau turnte herunter.
Von ihrem Verfolger war momentan nichts mehr zu sehen. Ob er sich um seinen Freund kümmerte? Lara wusste es nicht. Sie überwand abermals den Zaun, schaute sich suchend um. Irgend jemand musste doch die Schüsse gehört haben! So eine verlassene Gegend konnte es doch mitten in Hamburg und bei Tageslicht gar nicht geben, oder?
Ihr Blick fiel auf den SUV.
Lara hatte einen verzweifelten Einfall.
Sie rannte auf das Fahrzeug zu, riss die Fahrertür auf. Ihre größte Hoffnung erfüllte sich.
Der Zündschlüssel steckte!
Nun sah sie aus der Entfernung, wie ihr zweiter Gegner durch das von ihr zerstörte Fenster kam. Er würde sie schon bald eingeholt haben. Oder er knallte sie aus der Distanz nieder. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass alle Schüsse das Ziel verfehlten.
Lara schwang sich auf den Fahrersitz, rammte die Tür zu, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein.
Sie bog auf die Spreestraße ab und trat das Gaspedal fast bis zum Bodenblech durch. Ein Blick in den Rückspiegel bewies ihr, dass sie den Verfolger einstweilen abgehängt hatte.
Nur allmählich wurden ihre Atemzüge gleichmäßiger. Sie reduzierte das Tempo und fuhr eine Weile herum, bis sie schließlich auf einem Supermarkt-Parkplatz anhielt. Normale Menschen hätten die Polizei alarmiert, aber das kam für Lara nicht in Frage.
Es gab zu viel, das sie vor dem Gesetz verbergen musste.
Sie griff in ihre Jeanstasche und stellte beruhigt fest, dass ihr Smartphone noch heil war. Lara holte Svens Nummer aus dem Schnellwahlspeicher. Beruhigt stellte sie fest, dass das Freizeichen ertönte. Dann kam eine Verbindung zustande.
„Sven?“
Laras Herz schlug bis zum Hals. Ein irres Lachen ertönte.
Es kam ihr so vor, als ob sie in einen schwarzen Abgrund stürzen würde.
Wer immer Svens Handy jetzt hatte, war ganz gewiss nicht ihr Freund.
4
Ben Wilken fühlte sich miserabel, und das lag ganz gewiss nicht am Anblick der ausgebluteten Leiche. Er hatte während seiner Jahre bei der Sonderkommission Mord schon viel schlimmer zugerichtete Verbrechensopfer sehen müssen.
Heike strafte ihn nach wie vor mit Missachtung. Und was noch viel schlimmer war: Er hatte es verdient.
Bens Hoffnung war gewesen, dass seine Dienstpartnerin und ehemalige Geliebte während ihres Urlaubs auf andere Gedanken kommen würde. Doch Heike kam ganz offensichtlich nicht darüber hinweg, dass er zu seiner Frau zurückgekehrt war.
Maja hatte viele Fehler begangen, aber sie war die Mutter seiner Tochter. Und wenn es eine Chance gab, seine Ehe noch einmal zu kitten, dann wollte er sie auch nutzen.
Wenn da bloß nicht seine nach wie vor starken Gefühle für Heike gewesen wären!
„Ein glatter Schnitt.“
Der Hauptkommissar zuckte zusammen, er fühlte sich ertappt. Hatte Ben vielleicht sogar laut nachgedacht? Und wie kam dieser wildfremde Gerichtsmediziner dazu, ihm Ratschläge für sein Privatleben zu erteilen?
„Wie bitte, Herr Doktor?“
„Ich sagte gerade, dass die Kehle des Opfers mit einem einzigen glatten Schnitt durchtrennt wurde.“
Ben räusperte sich verlegen.
„Ah ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie bitte, ich war gerade in Gedanken.“
Der Mediziner nickte verständnisvoll. Er trug eine dicke Hornbrille und hatte die warme und wohltönende Stimme eines Märchenerzählers.
„Kein Problem, Herr Wilken. Wenn Sie meine Meinung zum Tathergang hören wollen: Das Opfer wurde offenbar kalt erwischt und hatte keine Gelegenheit zur Gegenwehr.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie sehen, dass der Körper zahlreiche Narben aufweist - Messerschnitte und Schusswunden, die allerdings ausnahmslos längst verheilt sind. Was mir fehlt, sich frische Hämatome oder andere Kampfspuren.“
Ben musterte den durchtrainierten Leib des Toten. Er wollte sich nun ganz auf den Fall konzentrieren.
„Wäre es nicht auch möglich, dass der Mann betäubt wurde und deshalb keine Gegenwehr möglich war?“
Der Gerichtsmediziner nickte.
„Ja, diese Variante erscheint mir ebenfalls realistisch. Ich muss Sie allerdings um Geduld bitten. Sobald der Leichnam ins Institut transportiert wurde, werde ich eine Blutanalyse veranlassen. Dann wissen wir mehr.“
Ben deutete auf die großen Hände des Opfers.
„Konnten Sie Gewebespuren unter den Fingernägeln finden?“
„Ja, das Material wird ebenfalls umgehend ausgewertet. Die Kriminaltechniker haben bereits die Fingerabdrücke abgenommen. Die Ergebnisse des Datenabgleichs werden Sie wahrscheinlich als Erstes bekommen.“
Der Hauptkommissar wollte sich nicht ausschließlich auf die Arbeit der Spezialisten verlassen. Er nahm sein Smartphone zur Hand und fotografierte die zahlreichen Tattoos des Toten.
„Können Sie eine Gang-Zugehörigkeit feststellen, Herr Wilken?“
„Auf Anhieb nicht, ich muss mir erst unsere einschlägigen Datenbanken genauer ansehen. Wir sind noch nicht so weit wie das FBI, die amerikanischen Kollegen haben die Symbole und Geheimzeichen tausender Banden und Geheimbünde archiviert. Aber bestimmte Zeichen sind inzwischen allgemein bekannt, zum Beispiel Smileys.“
Ben deutete auf die beiden Motive.
„Wofür stehen sie?“, wollte der Mediziner wissen.
„Jeweils für einen Mord, mit dem dieser Mann sich unter Seinesgleichen gebrüstet hat.“
„Ich verstehe. Dann wird der Tote gewiss schon vorbestraft sein.“
„Nur, falls er bereits erwischt wurde“, gab Ben trocken zurück. „Lassen Sie uns den Bericht dann umgehend zukommen?“
„Selbstverständlich, Herr Wilken. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“
Als Ben das Zimmer verließ, wäre er beinahe mit den Kollegen zusammengestoßen, die den Zinksarg ins gerichtsmedizinische Institut schaffen sollten.
Heike war noch in der Küche und sprach mit Zeugen. Sie warf ihm einen genervten Blick zu.
Stör mich jetzt gefälligst nicht!
Das wollte Heike ihm damit signalisieren. Er kannte sie inzwischen so gut wie kaum einen anderen Menschen.
„Ich warte im Auto“, murmelte Ben. Aber da hatte sie ihm bereits den Rücken zugedreht.
Die Aussicht, mit einer derartig kaltschnäuzigen Kollegin weiterhin zusammenarbeiten zu müssen (in die er zu allem Überfluss nach wie vor verliebt war), verbesserte seine Laune nicht gerade.
Ben ließ sich auf den Fahrersitz des Dienst-BMWs fallen. Da wurde er angefunkt und nahm das Mikrofon zur Hand.
„Ja, hier spricht Hauptkommissar Wilken.“
„Peters von der Kriminaltechnik. Die Kollegen am Tatort hatten uns gerade eine Datei mit den Fingerabdrücken des männlichen Leichnams im Fall Waterloohain geschickt. Wir konnten einen Treffer verzeichnen. Es handelt sich um einen gewissen Sven Luck.“
5
Nachdem der Investor sich kurz amüsiert hatte, beendete er das Telefonat. Er schaute versonnen auf den breiten Elbstrom hinab, der sich unterhalb seiner herrschaftlichen Villa am Süllberg befand.
Plötzlich wurde dem Unternehmer bewusst, dass er nicht allein in seinem Arbeitszimmer war. Manchmal konnte man Latour einfach vergessen, weil er sich so still verhielt wie ein Zinnsoldat. Das war eine der Eigenschaften, die der Investor an dem Belgier zu schätzen wusste. Noch wichtiger waren ihm allerdings die bedingungslose Treue und absolute Skrupellosigkeit seines mörderischen Handlangers.
„Das kleine Luder hat noch nicht kapiert, dass ihr muskulöser Liebhaber nicht mehr lebt.“
„Sie haben vollkommen recht“, erwiderte Latour. „Es ist wirklich bedauerlich, dass Lara Michel entkommen konnte. Bitte verzeihen Sie mir. Ich hätte niemals Branko und Leo mit dieser Aufgabe betrauen sollen. Wenigstens Branko wird keine weiteren Fehler begehen.“
„Warum nicht?“
„Lara hat ihn getötet, das hat Leo mir gerade am Telefon gebeichtet. Und der SUV ist auch fort, das Mädchen hat ihn.“
Der Investor wiegelte ab.
„Kein Problem, das Fahrzeug kann nicht zu uns zurückverfolgt werden. Was macht die Handyortung?“
„Sie steht. Momentan hält sich Lara in Bahrenfeld auf, sie ist nach der missglückten Aktion an der Elbgaustraße weitergefahren. Wie lauten Ihre weiteren Anweisungen?“
„Ich will die Kleine hier haben“, bestimmte der Unternehmer. „Ursprünglich dachte ich, dass wir sie einfach töten sollten. Doch ich habe das Mädchen unterschätzt. Immerhin konnte sie Branko umlegen, wer hätte ihr das zugetraut? - Wo ist Leo jetzt?“
„Er hat sich nach eigener Aussage versteckt und wartet auf Anweisungen.“
Der Investor schnaubte verächtlich.
„Wir wissen nicht, wie viel Sven Luck gegenüber Lara ausgeplaudert hat“, stellte der Unternehmer fest. „Darum war es ein Denkfehler, das Mädchen sofort töten zu wollen. Wir können nicht wissen, ob sie noch weitere Personen eingeweiht hat.“
„Diese Information können wir nur von ihr selbst bekommen“, stimmte Latour zu. „Und ich habe meine Methoden, um das Luder zum Reden zu bringen.“
6
Das Lächeln gefror auf Monique Stillers Lippen.
„Ich kann mich an Sie jedenfalls nicht erinnern, Frau Stein.“
„Das mag daran liegen, dass ich damals noch Uniform getragen habe. Aber ich vergesse ein Gesicht nicht so schnell. Es war bei einer Razzia in einer St.-Pauli-Bar, wo Sie ...“
Die Immobilienmaklerin fiel der Hauptkommissarin ins Wort.
„Das gehört nun wirklich nicht hierher!“
Monique Stillers Wangen waren rot angelaufen. Wenn Blicke töten könnten, wäre für die Kriminalistin jede Hilfe zu spät gekommen.
Die Wolters erhoben sich gleichzeitig von ihren Stühlen. Sie verfügten scheinbar über die Fähigkeit, ohne Absprache parallel zu handeln.
„Dürfen wir gehen, Frau Stein?“
„Ja, selbstverständlich. Finden Sie sich bitte nur heute oder morgen auf dem Polizeipräsidium ein, um Ihre Aussagen schriftlich zu Protokoll zu geben.“
Mit diesen Worten überreichte Heike dem Ehepaar ihre Visitenkarte.
„Ich rufe Sie wegen eines neuen Besichtigungstermins an“, rief die Maklerin mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Frau Wolter schüttelte den Kopf.
„Die Sache hat sich für uns erledigt.“
Gleich darauf war Heike mit Monique Stiller allein in der Küche.
„War das wirklich nötig?“, wütete die Maklerin. „Sie können mir doch nicht einfach das Geschäft vermiesen! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“
„Das hier ist keine Tupperparty, sondern eine Morduntersuchung“, feuerte Heike zurück. „Ich weiß nicht, ob Sie sich über Ihre ernste Lage im Klaren sind, Frau Stiller. Sie sind wegen eines Gewaltdelikts vorbestraft und Sie haben uneingeschränkten Zugang zum Tatort. Wollen Sie bei Ihrer Aussage bleiben, dass Sie nicht wissen, wer das Opfer ist?“
Monique Stiller verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
„Ich weiß wirklich nicht, warum Sie diese uralte Geschichte noch einmal aufwärmen müssen! Es ist doch mindestens zehn Jahre her, seit wir uns begegnet sind.“
„Elf Jahre“, stellte die Hauptkommissarin richtig. „Und ich habe noch in lebhafter Erinnerung, wie Sie mir Ihre Fingernägel übers Gesicht gezogen haben. Es war einer meiner ersten Einsätze im Milieu, und meine Kollegen hatten mich vor rabiaten Bardamen gewarnt.“
„Inzwischen führe ich ein anständiges Leben“, behauptete Monique Stiller. „Ich habe den Kiez hinter mir gelassen. Und für meinen Angriff auf Sie bin ich ja damals auch bestraft worden.“
„Zurück zur Gegenwart. - Kann eine andere Person auf Ihren Schlüssel für diese Wohnung zurückgreifen? Ein Freund vielleicht?“
„Nein, ich bin Single. Mein aufreibendes Berufsleben lässt mir keine Zeit für eine Beziehung“, behauptete die Immobilienmaklerin.
Das kommt mir sehr bekannt vor, dachte Heike. Sie sagte: „Wann hatten Sie den letzten Besichtigungstermin vor dem heutigen Tag?“
„Gestern Vormittag. Ich bin die einzige Mitarbeiterin von Roberts & Sohn, die Termine für die Waterloohain Residenz wahrnimmt.“
„Und da haben Sie die Leiche noch nicht entdeckt, nehme ich an.“
Monique Stiller kräuselte ihre Lippen.
„So ist es, Frau Stein. Sie können gern die Interessenten fragen, wenn Sie mir nicht glauben.“
„Das werde ich tun, keine Sorge“, erwiderte Heike und ließ sich Namen und Telefonnummern der anderen Zeugen geben. Sie ging allerdings davon aus, dass die Maklerin zumindest in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt hatte. Hätte die Leiche schon länger an dem Haken gehangen, dann wäre der Körper in einem anderen Stadium des Verfalls gewesen.
Die Kriminalistin nahm noch die aktuellen Daten von Monique Stiller auf.
„Von Ihnen bekomme ich dann ebenfalls eine schriftliche Aussage.“
Mit diesen Worten ließ Heike die Maklerin stehen, nickte den Kollegen von der Spurensicherung zu und ging die Treppe hinunter.
Wie war der Tote in die Wohnung gelangt? Dieser muskulöse Kerl maß ungefähr 1,90 m und brachte schätzungsweise hundert Kilo auf die Waage. Man benötigte gewiss mehrere kräftige Männer, um ihn ins zweite Stockwerk hoch zu schleppen. Hinzu kam die Gefahr, von Zeugen gesehen zu werden.
Ob das spätere Opfer auf seinen eigenen Beinen in die Wohnung spaziert war? Aber was hatte er dort gewollt? Und wer hasste ihn so sehr, dass er zum Messer gegriffen hatte?
Für Heikes Geschmack waren das zu viele ungeklärte Fragen. Sie riss die BMW-Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz neben Ben fallen.
„Ich kenne jetzt den Namen des Toten, Heike.“
„Wie schön für dich.“
Ben atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Und wie lange willst du noch herumzicken?“
„So lange, wie du deine Frau vögelst.“
„Es tut mir leid, die Dinge hätten anders laufen sollen.“
„Ich bedaure nur eine Sache, nämlich jemals mit dir geschlafen zu haben!“, log Heike. Sie kämpfte mit den Tränen, wollte sich aber nichts anmerken lassen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen in dem Dienstwagen der Hamburger Polizei.
„Wenn wir uns so richtig in den Fall hineinknien, dann können wir unsere privaten Probleme vielleicht ausblenden“, sagte Ben schließlich.
„Da die Chefin uns auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet hat, ist das ein richtig guter Vorschlag“, gab Heike zu. „Also, lass uns ins Präsidium fahren und die Vergangenheit des Opfers durchleuchten.“
Ben nickte und ließ den Motor an. Wenig später erreichten sie ihr Fahrtziel. Im Großraumbüro der Sonderkommission Mord fuhr der Hauptkommissar seinen PC hoch und tippte den Namen Sven Luck ein. Heike schaute ihm über die Schulter.
„Der Typ muss ein echter Brechmann gewesen sein“, murmelte sie beim Blick auf sein langes Vorstrafenregister.
„Ja, Körperverletzung und schwere Körperverletzung waren offenbar Lucks bevorzugte Delikte“, stimmte Ben zu. „Und zwischendurch noch räuberische Erpressung, damit es nicht zu langweilig wird.“
Sven Luck war erstmals im Alter von 16 Jahren zu einer Jugendstrafe verurteilt worden. Danach hatte er offenbar nicht mehr auf den Weg der Tugend zurückgefunden. Eine Berufsausbildung als Tischler hatte er abgebrochen. Es folgten Aushilfsjobs als Möbelpacker und Türsteher im St.-Pauli-Milieu. Heike erzählte Ben von ihrer Begegnung mit Monique Stiller und fügte hinzu: „Ich fresse einen Besen, wenn diese aufgebretzelte Maklerin und der tote Brechmann einander nicht gekannt haben. Einmal St. Pauli, immer St. Pauli. Monique mag heutzutage für eine renommierte Immobilienvermittlung am Neuen Wall tätig sein, aber ihre Vergangenheit als Bardame kann sie trotzdem nicht unter den Teppich kehren.“
„Auf jeden Fall könnte sie die Wohnung aufgeschlossen haben“, erwiderte Ben. „Aber mir leuchtet nicht ein, weshalb Monique die Leiche ausgerechnet dort deponiert haben soll. Sie kannte doch ihre Besichtigungstermine.“
Das war ein guter Einwand. Heike ärgerte sich darüber, dass dieser Aspekt ihr nicht selbst aufgefallen war. Sie schnippte mit den Fingern.
„Du hast vollkommen recht. Und übrigens: Aus welchem Grund wurde Luck nackt ausgezogen und an einen Fleischerhaken gehängt? Es hätte doch auch gereicht, ihn einfach so zu töten. Diese Art der Zurschaustellung könnte eine Botschaft sein - und zwar an Monique.“
„Weil der Täter gewusst hat, dass sie heute mit den Kaufinteressenten dort aufkreuzen würde?“, hakte Ben nach.
„Richtig, also muss es auf jeden Fall eine Verbindung zwischen Monique und Luck geben. - Was ist mit Verwandten, Freunden, Saufkumpanen? Irgend jemand wird wissen, woher die beiden sich kennen.“
„Ich habe mir Lucks Tattoos mal genauer angesehen“, berichtete Ben. „Zu einer Gang scheint er nicht gehört zu haben. Aber wenn man den Symbolen glauben kann, hat er zwei Menschenleben auf dem Gewissen.“
„Wegen Mord oder Totschlag wurde er nicht verurteilt“, stellte Heike fest. „Also hat er diese Verbrechen entweder frei erfunden oder sie sind bisher ungesühnt geblieben. Falls das so ist, dann könnte Rache ein überzeugendes Motiv sein. Und Monique hängt in der Sache mit drin, sonst hätte der Täter ihr nicht die ausgeblutete Leiche auf dem Präsentierteller serviert.“
„Ich könnte mich mal in der Strafanstalt bei Lucks ehemaligen Zellenkumpanen umhören“, schlug Ben vor. „Typen wie dieser tote Brechmann prahlen doch für ihr Leben gern mit ihren Schandtaten, jedenfalls bei Ihresgleichen.“
„Andererseits hassen sie uns Polizisten und sind deshalb selten in Plauderlaune, aber einen Versuch ist es allemal wert“, stimmte Heike zu. „Ich hingegen werde die Familie kontaktieren und ansonsten meine alten St.-Pauli-Kontakte reaktivieren.“
„Und dann sind da noch die vielen Menschen, die während der letzten Jahre von Luck zusammengeschlagen wurden“, erinnerte Ben. „Jeder von ihnen hatte gute Gründe, diesen Mann zu hassen und ihm den Tod zu wünschen.“
7
Monique Stiller schaute immer wieder über die Schulter nach hinten, während sie ihren Porsche Cheyenne Richtung Neuer Wall lenkte.
Die Maklercourtage konnte sie vergessen, aber das war nicht so schlimm.
Ihr ging es jetzt ums Überleben.
Wie hatte sie beim Anblick von Svens ausgebluteter Leiche nur so ruhig bleiben können? Vielleicht lag es daran, dass sie unbewusst schon länger mit dem drohenden Unheil gerechnet hatte. Ein Damoklesschwert, das über ihrem Kopf schwebte.
Doch Sven war einer der härtesten und brutalsten Männer, die sie jemals kennengelernt hatte. Und das wollte etwas heißen, denn Monique war im tiefsten St. Pauli aufgewachsen. Sie wollte sich nicht mehr die selbstmitleidigen Lebensgeschichten von Säufern anhören oder sich mit vollgekoksten Nutten oder pflichteifrigen Polizistinnen herumprügeln. Der Luxus war ihre aktuelle Droge, und der Neue Wall war für sie jetzt eine passendere Umgebung als die Reeperbahn.
Und nun würde sie womöglich als Nächste an einem Fleischerhaken enden!
Wie hatte es so weit kommen können?
Monique hatte gelernt, dass Vertrauen Schwäche bedeutet. Und doch blieb ihr keine andere Wahl als ihrem Chef gegenüber auszupacken. Früher oder später würde Knut Roberts sowieso erfahren, dass Sven nicht mehr lebte. Jetzt war vielleicht noch genügend Zeit, um gegenzusteuern.
Die andere Möglichkeit bestand darin, Hamburg zu verlassen.
Doch das kam für Monique nicht ernsthaft in Frage. Sie liebte diese Stadt und wollte nirgendwo anders leben. Außerdem: Wer Sven gekillt hatte, würde auch Monique finden. Selbst dann, wenn sie sich am Ende der Welt in ein Mauseloch verkroch.
Wie durch ein Wunder baute die Maklerin keinen Unfall, als sie den Porsche Cheyenne ins Parkhaus bugsierte. Dann eilte sie zum Büro von Roberts & Sohn, wobei sie ihre Ledermappe an sich presste wie einen kranken Säugling. Immer wieder schaute sie in die Schaufenster der Luxusläden, doch sie konnte keinen Verfolger entdecken.
Trotzdem fühlte Monique sich nicht sicher.
Sie raste die Treppen hoch und kam völlig außer Atem in den repräsentativen Büroräumen an. Die Empfangsdame Andrea Drews hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.
„Frau Stiller, ist Ihnen nicht gut? Sie haben ja völlig die Contenance verloren.“
Ich möchte dich mal sehen, wenn du die ausgeblutete Leiche deines Ex-Liebhabers vor der Nase hast!
Diesen Gedanken sprach Monique natürlich nicht aus. Stattdessen sagte sie: „Ich muss umgehend mit Herrn Roberts Senior sprechen. Es geht um einen äußerst lukrativen Abschluss.“
Dieses Argument zog. Wenn die Maklerin von einem Toten und Lebensgefahr für sie selbst gesprochen hätte, wäre sie vermutlich von Andrea Drews auf einen späteren Termin vertröstet worden. Aber ein Geschäftsabschluss war wichtig, jedenfalls am Neuen Wall, wo die Scheckbücher die heiligen Schriften waren.
Die Empfangsdame telefonierte kurz und schenkte Monique dann ein huldvolles Lächeln.
„Sie können gleich durchgehen, meine Liebe.“
Die Maklerin nickte ihr zu und öffnete wenig später die schwere Kassettentür, hinter der sich das Privatbüro des Firmeninhabers befand. Knut Roberts war ein magerer Herr in den Sechzigern, der mit seinen hellen Augen und seinen dunklen Nadelstreifenanzügen sehr vornehm und vertrauenerweckend wirkte. Der Raum war mit Antiquitäten möbliert. Und obwohl sich Roberts als Immobilienmakler betätigte, bestand die Wanddekoration ausschließlich aus Gemälden von Segelschiffen.
Ein feines Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Stiller. Was haben Sie auf dem Herzen?“
Monique ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie beichtete den verpatzten Termin, erzählte von Sven Lucks Leiche am Fleischerhaken sowie von ihrem Wiedersehen mit Heike Stein.
Der Chef legte die Fingerspitzen seiner manikürten Hände gegeneinander.
„Kann uns diese Polizistin gefährlich werden?“
„Ich glaube nicht, Herr Roberts. Als ich mit ihr aneinander geraten bin, war ich noch Bardame auf St. Pauli. Sie weiß nichts von unseren aktuellen ... Aktivitäten.“
„Und das soll auch so bleiben, nicht wahr?“, fragte Roberts mit einem jovialen Lächeln. Doch gleich darauf wurde er wieder ernst.
„Ich habe mich mit Sven Luck auf Ihre Empfehlung hin eingelassen, Frau Stiller. Ich will nicht leugnen, dass ich enttäuscht bin.“
„Sven hat immer ordentlich gearbeitet“, verteidigte Monique den Toten. „Es war doch nicht abzusehen, dass jemand ihn töten würde.“
„Wirklich nicht? Er hat ein risikoreiches Leben geführt, würde ich meinen.“
Monique nickte und versuchte, das Zittern ihrer Unterlippe in den Griff zu bekommen. Es gelang ihr nicht. Natürlich entging Roberts ihre Unruhe nicht.
„Ich frage mich, wie lange Sie ein Polizeiverhör durchstehen würden, Frau Stiller.“
Die Maklerin rang unwillkürlich die Hände.
„Es geht mir gut“, beteuerte sie.
„Das bezweifle ich.“
Mit diesen Worten holte der kultivierte ältere Herr eine Pistole aus der Schreibtischschublade und richtete die Waffe auf Monique.
8
Lara saß immer noch in dem SUV und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Woher hatten diese beiden Killertypen gewusst, dass sie an der S-Bahn-Station Elbgaustraße auf sie warten mussten?
Hatte Sven ihnen verraten, dass sie über das Wochenende bei ihren Eltern gewesen war? Eine andere Erklärung gab es nicht. Und wer war der Psycho, in dessen Händen sich Svens Smartphone jetzt befand?
Lara spürte, dass ihr die Situation über den Kopf wuchs. Sie brauchte dringend Hilfe, aber nicht von den Bullen. Die würden sie nur einsperren, wenn herauskam, was sie getan hatte. Es musste jemand sein, dem sie vertrauen konnte und der den Mund hielt. Und Lara kannte sogar eine solche Person, nämlich Jannik.
Lara kämpfte einige Momente mit ihrem Stolz, dann startete sie den Motor und fuhr von Bahrenfeld ins Schanzenviertel. Wohlweislich rief sie Jannik vorher nicht an. Sie wollte es vermeiden, von ihm am Telefon abgewimmelt zu werden. Wenn sie ihm Auge in Auge gegenüber stand, würde er sich schon erweichen lassen.
Jedenfalls hoffte sie das.
Die junge Frau hielt sich penibel an die Straßenverkehrsordnung, während sie ihrem Fahrtziel näher kam. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Polizeikontrolle. Genau genommen hatte sie das Auto ja gestohlen.
Nein, Herr Wachtmeister, der Wagen gehört mir nicht. Ich habe ihn einem Killer geklaut, der mich töten wollte.
Lara musste grinsen, als ihr dieser Satz durch den Kopf ging. Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. Wie es Sven wohl ging? Ob diese Dreckskerle ihm etwas getan hatten? Sie hielt ihn immer noch für einen anständigen Mann, obwohl er auf viele Menschen furchteinflößend wirkte. Doch Lara war sicher, seinen guten Kern erkannt zu haben.
Sonst hätte er ihr wohl kaum geholfen, oder?
Sie machte sich wirklich sehr große Sorgen um ihn.
Lara brachte den SUV vor einem mit Graffiti übersäten Haus zum Stehen. Jannik wohnte in einer WG im dritten Stockwerk. Laras Herz klopfte bis zum Hals, während sie an der Tür klingelte.
Nach einer Zeit, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, wurde geöffnet.
„Was willst du denn hier?“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Jannik.“
Laras Ex war ein ganz anderer Typ als Sven. Während ihr aktueller Freund nur aus tätowierter Muskelmasse zu bestehen schien, war Jannik hager und bleich. Zwar wies sein Körper auch einige Tattoos auf, doch sie waren längst nicht so martialisch wie die von Sven. In der Tierwelt wäre Jannik nach Laras Meinung ein friedlicher Pflanzenfresser gewesen, während Sven ein reißendes Raubtier war.
Und trotzdem brauchte sie jetzt die Hilfe dieses Spargeltarzans.
Das durfte Lara ihm allerdings nicht zu offensichtlich aufs Butterbrot schmieren, sonst würde er sie gleich wieder achtkantig rausschmeißen.
Jannik wollte immer noch die beleidigte Leberwurst spielen. Jedenfalls drehte er Lara den Rücken zu und trottete in die geräumige und chaotische WG-Küche. Seine unangemeldete Besucherin folgte ihm. Jannik holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, riss sie auf und trank einen Schluck.
„Ich habe auch Durst.“
„Dann bedien dich, Lara. Du nimmst dir doch sowieso immer, was du willst. Wo ist denn übrigens dein Toyboy? Ich dachte, dich gibt es jetzt nur noch im Doppelpack.“
Lara hatte nicht geschwindelt, ihre Zunge klebte wirklich fast schon am Gaumen. Ihre Kehle war ausgedörrt. Sie checkte die gekühlten Getränkevorräte, aber außer Bier hatte der Kühlschrank nichts zu bieten. Jannik lebte eben in einer Männer-WG. Also nahm sie sich ebenfalls eine Büchse. Das Holsten schmeckte besser als erwartet.
Es war bemerkenswert ruhig in der weiträumigen Wohnung. Lara setzte sich an den Tisch. Die mit Eiffeltürmen bedruckte Wachstuchdecke war klebrig und eklig wie eh und je. Trotzdem ließen diese vertraute Umgebung und das Bier Lara ein wenig ruhiger werden. Und das, obwohl Jannik nach wie vor so abweisend war wie eine Nonne beim Speeddating.
„Wo sind denn deine Mitbewohner?“
Laras Ex zuckte mit den Schultern.
„Was weiß ich. Bei der Arbeit, an der Uni oder in der Hölle. Hast du deinen Sven schon in den Wind geschossen und willst jetzt Torben oder Ramón anbaggern?“
Lara atmete tief durch, bevor sie antwortete.
„Ich weiß selbst, dass ich ziemlich abrupt mit dir Schluss gemacht habe, Jannik. Aber deshalb musst du nicht so gemein zu mir sein.“
„So, findest du? Wenn es dir nicht passt, was ich sage, dann kannst du ja gleich wieder gehen.“
„Nein, das kann ich nicht!“, platzte Lara heraus. Mit ihrer Selbstbeherrschung war es vorbei. „Ich brauche dich, Jannik! Darf ich heute hier übernachten?“
Der schlaksige junge Mann zuckte zusammen. Seine coole Fassade bröckelte. Mit einer solchen Bitte hatte er offenbar nicht gerechnet.
„W-wieso das denn? Hast du Zoff mit deinem Brechmann? Kommt er womöglich hierher?“
Jannik brachte diese Fragen stammelnd hervor. In seinen Augen flackerte Furcht. Lara machte sich keine Illusionen darüber, dass ihr Ex ein Feigling war. Objektiv gesehen hatte er dazu allerdings auch allen Grund, denn bei einer Schlägerei mit Sven würde Jannik garantiert den Kürzeren ziehen.
Laras aktueller Freund konnte ihn unangespitzt in die Erde rammen. Das heißt, falls er jetzt dazu noch in der Lage war. Womöglich lag Sven irgendwo verletzt herum und brauchte ihre Hilfe. Oder noch Schlimmeres. Doch daran wollte Lara jetzt nicht denken, denn sie war immer noch bis über beide Ohren in Sven verliebt.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, Jannik. Sven weiß gar nicht, wo du wohnst. Ich habe dich ihm gegenüber niemals erwähnt.“
„Na, vielen Dank auch!“, stieß ihr Ex gekränkt hervor. „Ich habe deinen tollen Sven einmal von weitem im Mojo Club gesehen, das hat mir gereicht. Dem steht doch die Brutalität ins Gesicht geschrieben.“
Lara wollte zu einer flammenden Verteidigungsrede ansetzen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig bremsen. Jannik würde sich niemals für Sven erwärmen können, weil Lara ihn wegen diesem Mann abserviert hatte.
Sie entschied sich, ihrem Ex die Wahrheit zu sagen. Oder zumindest einen Teil davon.
„Ich glaube, Sven steckt in Schwierigkeiten. Heute haben zwei Typen versucht, mich zu überfahren. Und ich fürchte, dass sie auch Sven in ihrer Gewalt haben.“
Mit einem solchen Geständnis hatte Jannik offensichtlich nicht gerechnet. Sein linkes Augenlid begann nervös zu flattern.
„Echt? Aber du ... dir fehlt nichts, oder?“
Lara schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Bier. Sie würde Jannik ganz gewiss nicht auf die Nase binden, dass sie einen ihrer Verfolger schwer verletzt oder vielleicht sogar getötet hatte. Vor dieser Tatsache verschloss sie selbst die Augen, so gut es ging.
Jannik fuhr fort: „Ähm, ich bin ja kein großer Fan der Polizei, aber bist du schon zu den Bullen gegangen?“
„Ich kann nicht zur Polizei gehen. Du kennst doch meinen Blog, oder?“
„Ja, und der ist eine großartige Sache. Du prangerst Miethaie an und schreibst über leer stehende Häuser, die als Spekulationsobjekte vergammeln. - Glaubst du, dass diese Dreckskerle dich deshalb ummangeln wollten?“
„Keine Ahnung“, gestand Lara. „Aber hast du dich nie gefragt, woher ich meine Informationen über diese Machenschaften habe?“
Jannik hob die Schultern.
„Ich schätze, du bekommst anonyme Tipps.“
„Ja, das auch. Aber ich habe eine sehr verlässliche Informationsquelle, nämlich Sven.“
Jannik quollen fast die Augen aus dem Kopf.
„Echt? Dieser Schlägertyp? Ich hätte ihm niemals zugetraut, dass er so eine soziale Ader hat. Nun verstehe ich, warum er Ärger hat. Der Hamburger Immobilienmarkt ist völlig irre, da kann man schnell reich werden, wenn man keine Skrupel hat. Und woher weiß dein Sven, was da abgeht? Das sind doch Insider-Informationen!“
Mit dieser Schlussfolgerung hatte Lara nicht gerechnet, und ihr Schweigen war beredt genug.
„Dein Freund hängt mit drin!“, rief Jannik vorwurfsvoll. „Dieser Schlägertyp ist die Idealbesetzung, um widerspenstige Mieter einzuschüchtern, die sich gegen eine Luxussanierung sträuben. Ist es nicht so?“
„Sven ist in diese Sache hineingeraten“, verteidigte Lara ihren Freund. „Genau deshalb hat er mir ja die ganzen Infos gesteckt, kapierst du?“
Jannik hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und spielte mit seiner inzwischen leeren Bierdose.
„Ich verstehe vollkommen, meine Liebe“, sagte er mit ironischem Unterton. „Und du kannst nicht die Polizei rufen, weil die Bullen dir eine Menge unangenehmer Fragen über deinen Lover stellen würden. Dann könnte er in den Knast einfahren, vermutlich nicht zum ersten Mal.“
„Du bist widerlich!“, schleuderte Lara ihm entgegen. „Ich bitte dich um Hilfe, und du haust mich einfach nur in die Pfanne.“
Ihr Ex schüttelte den Kopf.
„Nein, ich will dir doch nur die Augen öffnen. Dieser Mann ist nicht gut für dich, Lara. Du verpasst ihm jetzt einen Heiligenschein, weil er deinen Blog mit brisantem Material gefüttert hat. Aber woher willst du wissen, wie viele verzweifelte Mieter er schon zusammengeschlagen hat? Womöglich hat Sven sogar einen oder mehrere von ihnen auf dem Gewissen.“
„Die Eifersucht hat dir das Hirn vernebelt!“, wütete Lara, während sie aufsprang. „Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Ich kehre lieber in meine Bude zurück, auch wenn dort meine Verfolger vielleicht schon auf mich warten!“
Bevor Jannik antworten konnte, klingelte es an der Tür.
Ihr Zorn verwandelte sich schlagartig in Todesangst.
Jannik machte eine beruhigende Handbewegung.
„Das wird bloß Ramón sein, der seinen Schlüssel vergessen hat. Wäre ja nicht das erste Mal.“
Lara blieb in der Küche, während ihr Ex zur Wohnungstür schlurfte und sie öffnete. Im nächsten Moment knallte ein Schuss.
9
Heike brauchte nicht lange, um Sven Lucks Familienverhältnisse zu recherchieren. Sein Vater lebte nicht mehr, die Mutter des Opfers litt an Demenz und wohnte in einem Rostocker Pflegeheim. Luck hatte einen älteren Bruder namens Harry, der aber schon vor zehn Jahren nach Südafrika ausgewandert war.
Die Kriminalistin verständigte Harry Luck von Svens Tod. Im Gegensatz zur Mutter war er in der Lage, die Beerdigung zu organisieren.
„Ich habe geahnt, dass es mit meinem Bruder mal ein böses Ende nehmen würde“, sagte Harry Luck am Telefon. Er wohnte in Johannesburg.
„Wann haben Sie Sven zum letzten Mal gesehen?“
„Das war bei meiner Auswanderung, seitdem bin ich nicht mehr in Deutschland gewesen. Aber mein Bruder war ja damals schon auf die schiefe Bahn geraten. Ich befürchtete, dass er nicht mehr den Weg zurück in ein normales Leben finden würde. Das hat sich ja nun wohl bewahrheitet.“
„Hatten Sie in den letzten Jahren noch Kontakt zu Sven, telefonisch, per Mail oder Skype?“
„Nein, Frau Kommissarin. Für meinen kleinen Bruder bin ich immer ein langweiliger Spießer gewesen. Und ich war ehrlich gesagt auch nicht stolz auf meine kriminelle Verwandtschaft. Ich habe mir hier in Südafrika eine Existenz aufgebaut, bin verheiratet und habe zwei Kinder. Aber nun werde ich wohl für die Beerdigung nach Deutschland kommen müssen.“
Heike versprach, Harry Luck zu informieren, sobald die Leiche von der Gerichtsmedizin freigegeben wurde.
Dann nahm sie einen Dienstwagen aus dem Fuhrpark des Präsidiums und düste nach St. Pauli. Inzwischen dämmerte es bereits. Nach Einbruch der Dunkelheit erwachte das weltweit bekannte Amüsierviertel am Hafen erst so richtig zum Leben. Heike stellte ihr Auto vor der Davidwache ab und schlenderte zur Silbersackstraße hinüber.
Sie war längere Zeit nicht mehr hier gewesen und hoffte, dass die Scharhörn Schwemme noch existierte. Seit St. Pauli zum Kult-Stadtteil geworden war, starben die dreckigen alten Unterwelt-Kneipen immer mehr aus.
Doch in der Scharhörn Schwemme war es laut und voll wie eh und je. Und Moses Holzbein stand hinter der Theke. Er war schon alt gewesen, als Heike noch als Streifenpolizistin gelegentlich nach dem Rechten geschaut hatte. Er richtete den Blick seines Schweinsäuglein auf die blonde Hauptkommissarin, und sein feistes Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Grinsen. Der goldene Schneidezahn blitzte.
„Moin, Heike - welch ein Glanz in meiner Hütte! Einen Lütt un Lütt für dich?“
„Cola, Moses.“
Heike pflanzte sich auf einen der Barhocker, dessen Sitzfläche unendlich oft geflickt und geklebt worden war. Im Dienst konnte sie die beliebte Kombination aus einem kleinen Bier und einem klaren Schnaps natürlich nicht zu sich nehmen, obwohl es das einzig passende Getränk für eine Kneipe wie die Scharhörn Schwemme war. Obwohl Heike über ein gutes Gedächtnis verfügte, hatte sie den bürgerlichen Namen von Moses Holzbein längst vergessen.
In seiner Jugend (die schon ewig lange her sein musste) war der Kneipier zur See gefahren. Er hatte damals als Schiffsjunge angeheuert - eine Position an Bord, die man auch gern als Moses bezeichnete. Und seinen Spitznamen Holzbein verdankte er seiner Unterschenkelprothese, die er seit einem Arbeitsunfall in Valparaiso tragen musste.
Der Wirt goss mit sichtbarem Unbehagen ein Glas mit der koffeinhaltigen Limonade voll und stellte es vor der Kriminalistin auf die schmierige Theke.
Heike hatte mit einem schnellen Rundblick festgestellt, dass links und rechts von ihr vermutlich an die 200 Jahre an Haftstrafen versammelt waren. Doch im Gegensatz zu den alkoholisierten Teenies, die jedes Wochenende den Kiez unsicher machten, vermieden die erfahrenen Berufsganoven unnötigen Ärger mit der Staatsmacht. Die Kerle hatten natürlich sofort kapiert, dass Heike Polizistin war. Also hielten sie Abstand und widmeten sich friedlich ihren Biergläsern.
„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“, dröhnte Moses Holzbein mit seinem tiefen Bass. „Wie geht es dem Papa?“
„Auf Mallorca scheint immer noch die Sonne, aber wegen meinem Vater bin ich heute nicht gekommen. - Kennen Sie diesen Mann?“
Heike legte ein erkennungsdienstliches Foto von Sven Luck auf den Tresen, während sie sprach. Die Aufnahme war bei der letzten Verhaftung des Schlägers entstanden. Damals war sein Vollbart noch kürzer gewesen. Ein Bild der ausgebluteten Leiche wollte die Hauptkommissarin dem Zeugen ersparen, obwohl sie Moses Holzbein für nicht besonders zart besaitet hielt.
Der Kneipier schob seine dicke Unterlippe vor, als er sich über das Foto beugte.
„Ja, den Typen kenne ich. Er heißt Sven oder so. Gelegentlich hat er hier mal ein paar Kurze gekippt, doch nun ist er schon eine Weile von der Bildfläche verschwunden. Ich dachte mir, dass er vielleicht in Santa Fu eingefahren ist.“
„Nein, er befindet sich nicht im Strafvollzug“, erklärte Heike. „Dieser Mann wurde getötet. Was wissen Sie über Sven Luck?“
„Nicht viel“, räumte der Alte ein. „Er gehört nicht zu den Typen, die an der Theke ihre ganze Lebensgeschichte zum Besten geben. Und zwar jeden Abend. Ein paar Dinge habe ich aber doch aufgeschnappt. Er hatte früher was mit Geldeintreiben zu tun, hat für Big Rico Wucherzinsen eingefordert. Und wer nicht zahlen wollte, bekam den Schlagring zu spüren.“
„Big Rico ist aber tot“, wandte Heike ein.
„Eben. Seitdem hat sich Sven als freischaffender Schläger betätigt, soweit ich weiß. Man konnte ihn anheuern, um jemanden aufzumischen oder einer Forderung Nachdruck zu verleihen.“
„Und Sie wissen nicht zufällig, für wen er bevorzugt gearbeitet hat?“
Moses Holzbein beantwortete Heikes Frage mit einem Kopfschütteln.
„Ich hab nur gehört, dass Sven dick im Geschäft ist, Stichwort Luxusimmobilien.“
„Wie meinen Sie das?“