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Gute Laune garantiert: der Auftakt der fantastischen Krimiserie mit dem ungleichen Ermittlungsduo Ariane und Andreas: Achtsamkeit und Mord im Harz. Ein durchbrochenes Geländer, eine seltsam verdrehte Leiche am Abhang. Dabei wollte Ariane an ihrem ersten Arbeitstag in Düsterode im Harz nur eine frauenfeindliche Kritzelei beseitigen, schließlich gehört auch das zu ihren Aufgaben als Sensitivity-Managerin des Tourismus-Verbands. Als Polizeihauptmeister Andreas mit seinem Hund Frau Krause am Tatort ankommt, sind zwei Dinge schnell klar: Ariane und Andreas sind wie Feuer und Wasser, Stadt und Land, Tofu und Bratwurst, Bier und Kombucha. Und statt den Harz diverser und wertschätzender für alle zu machen, hat Ariane es mit ganz neuen Herausforderungen zu tun – denn irgendjemand sorgt dafür, dass Menschen sterben. Der Tote im Wald wird jedenfalls nicht der letzte sein. Von wegen «Glück auf» im Harz. Andreas und Ariane ermitteln. Und Frau Krause auch. Harz, herzlich, humorvoll!
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Seitenzahl: 465
Alexandra Kui • Peter Godazgar
Kriminalroman
Mord und Achtsamkeit im Harz
Ein durchbrochenes Geländer, eine seltsam verdrehte Leiche am Abhang. Dabei wollte Ariane an ihrem ersten Arbeitstag in Düsterode nur eine frauenfeindliche Kritzelei beseitigen, schließlich gehört auch das zu ihren Aufgaben beim Tourismusverband, wo sie für das Thema Diversity zuständig ist. Als Polizeihauptmeister Andreas mit seiner Hündin Frau Krause am Tatort ankommt, sind zwei Dinge schnell klar: Ariane und Andreas sind wie Feuer und Wasser, Stadt und Land, Tofu und Bratwurst. Und statt den Harz vielfältiger und wertschätzender für alle zu machen, hat Ariane es mit ganz neuen Herausforderungen zu tun: Irgendjemand sorgt dafür, dass Menschen sterben. Der Tote im Wald wird jedenfalls nicht der letzte sein. Von wegen «Glück Auf» im Harz.
Andreas und Ariane ermitteln.
Und Frau Krause auch.
«Lustig und skurril: eine kriminalistische Achterbahnfahrt mit einem tollen Ermittlerduo.» Carsten Henn
«Diese Mischung aus Gemütlichkeit, Witz und Tiefgründigkeit hat mich komplett umgehauen.» Romy Fölck
Alexandra Kui, geboren 1973, lebt in Buxtehude, ihrer Heimatstadt. Nach dem Abitur arbeitete sie zunächst für Tageszeitungen, unter anderem als Volontärin für die Goslarsche Zeitung. Seit vielen Jahren schreibt sie Romane wie den für das ZDF verfilmten Krimi «Blaufeuer» oder «Die Welt ist eine Scheibe». Die besten Ideen hat sie beim Singen – oder beim Wandern, gern mit Hund im Harz, wo sie nie den Stempelpass vergisst und die Goldene Wandernadel längst ergattert hat.
Peter Godazgar, geboren 1967, aufgewachsen in Hückelhoven, lebt in Halle (Saale). Nach Studium, Volontariat, Besuch der Henri-Nannen-Schule und vielen Jahren als Tageszeitungs-Redakteur arbeitet er nun als stellvertretender Pressesprecher der Saalestadt. Nebenher schreibt er Romane und Short Storys, von denen drei für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi nominiert wurden. Längst hätte er die Harzer Wandernadel in Gold verdient, aber leider vergisst er bei seinen Touren jedes Mal den Stempelpass.
Über den Weg gelaufen sind sich Kui und Godazgar nicht im Gebirge, sondern in den Nordseedünen beim Krimifestival «Tatort Töwerland». Nach dem ersten nasskalten Strandkorbgespräch war klar: Diese Komplizenschaft hat Zukunft. Heute morden sie zu zweit.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Susann Rehlein
Covergestaltung bürosüd, München
Coverabbildung www.buerosued.de
ISBN 978-3-644-01786-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für unsere Frauen
Heute früh habe ich mein Testament gemacht. Draußen war es noch dunkel.
Ich denke jetzt oft, dass die Dinge schlecht stehen. Schlecht für uns, schlecht für den Rest der Welt, der mir egal ist, gut für einige wenige. Nachts liege ich wach und lausche dem Wind auf den Gipfeln und den Stimmen meiner inneren Dämonen. So laut, wie sie reden, kann ein Testament nicht schaden.
Ganz langsam wird es hell. Ich ziehe mir die Laufsachen an und renne los. Zum Grauen Berg, der sich in tiefen Nebel hüllt. Vor langer Zeit soll es hier fast immer neblig gewesen sein, daher der Name. Als wir Kinder waren, lag im Frühjahr noch Schnee.
Ich nehme den steilen Weg nach oben. Das Laufen fällt mir leicht, meine Schritte klingen dumpf auf dem weichen Boden. Es duftet nach Moos und Laub, Schneeglöckchen blühen.
Wenn jemand sein Testament verfasst, will er dann sterben?
Ich weiß ehrlich nicht, was ich will, als ich den Aussichtspunkt erreiche, meine Schritte sind wie ferngesteuert, einer folgt auf den anderen, immer weiter Richtung Abgrund. Um das Panorama kann es ja kaum gehen, nicht bei dem Nebel.
Deswegen ist es auch so verblüffend, dass da vorn am Geländer schon einer steht, jemand, den ich kenne. Sein Umriss schält sich vertraut, nein, verhasst aus dem diesigen Grau.
Heiko, der Arsch.
Was zum Teufel hat der hier zu suchen?
Die Silhouette eines Menschen kann verräterisch sein. Mir verrät sie, dass da jemand steht, dessen Testament auch schon auf den Vollstrecker wartet.
Suizidale in der Warteschlange.
Heiko, wenn du wirklich sterben willst, dann mach hinne!
Ich balle die Hand zur Faust. Presse sie gegen meinen Mund, damit ich nicht schreie, während ich warte, dass es passiert.
Die Spannung wird unerträglich. Ich kann nicht länger hinsehen, schaue in den Himmel, wo der Nebel sich langsam lichtet. Darüber ist der Morgen klar, die letzten Sterne blitzen. Da oben, wo Leute mit Testament landen, wenn sie Glück haben, ist nichts. Kein Gott, keine Liebe. Nichts.
Als ich mich schließlich zwinge, wieder in Heikos Richtung zu schauen, ist die Entscheidung schon gefallen. Ich merke es sofort, seine ganze Haltung hat sich verändert, wirkt plötzlich heiter. Das macht mich wütend, denn es ist klar, dass er nicht springen wird.
Stattdessen zückt er doch tatsächlich sein Handy, sogar einen Selfie-Stick hat er dabei. Typisch. Eitel war der Kerl schon immer.
Eine neue Nebelschwade taucht das, was dann passiert, in mystisches Licht.
Heiko nimmt eine bescheuerte Pose ein, lehnt sich ans Geländer, das instabil ist und gefährlich schwankt. Von Gleichgewicht kann da schon keine Rede mehr sein, es braucht nur noch ein fröhliches «Glück Auf» und einen Stein, der in Heikos Richtung fliegt, um das Taumeln in einen Absturz zu verwandeln.
Der Aufprall klingt unschön.
Zu Hause zerreiße ich mein Testament, denn ich brauche es nicht mehr, ich weiß, ich will leben. Die Hölle sind immer die anderen.
Bei Gelegenheit – und plötzlich ahne ich, dass es reichlich davon gibt, man muss sie nur erkennen – werde ich mein Himmelreich auf Erden von ihnen befreien.
Die nächste Nacht schlafe ich gut.
Morgens beim Bäcker ist die Schlange noch länger als sonst, es wird getuschelt, weil es am Berg einen Toten gibt.
Als nach mir ein Paar den Laden betritt, bleibt mir der Atem weg. Es sind Kerstin und ihr Mann.
Es sind Kerstin und Heiko!
Die Soko Elbufer rechnet mit dem Schlimmsten: Nachdem in den vergangenen neun Monaten bereits zwei Schülerinnen gewaltsam zu Tode gekommen sind, geht die Polizei im Fall der vermissten Gymnasiastin Jana B. von einem weiteren Verbrechen aus. Suchtrupps durchkämmen Parks und Uferflächen der Elbe …
Aus der Magdeburger Volksstimme
«Du musst da nicht hin», sagt Katja. Woodward bellt, und der Schaffner pfeift. «Noch kannst du aussteigen.»
Ariane zögert. Rein praktisch betrachtet stimmt das natürlich. Solange die Zugtüren geöffnet sind, trennt sie nur ein Schritt von ihrem lieb gewonnenen Alltag mit Frau und Hund in Hamburg-Eimsbüttel. Drei Zimmer, Altbau, unsaniert. Allein der Stuck: zum Schwärmen schön. Im Winter blöderweise feuchtkalt und schwer zu heizen.
«Wir brauchen Geld», sagt Ariane.
«Wir können meine Eltern fragen», erwidert Katja und begeht damit den entscheidenden taktischen Fehler.
Denn vor Arianes innerem Auge taucht das Bild des Ritterguts von Holten auf, Katjas Elternhaus, und sie weiß, dass sie diese Reise in den Harz antreten wird. Antreten muss. Ihre Schwiegereltern sind großzügige Leute, die sie oft und gern unterstützen, aber irgendwann muss auch mal Schluss sein. Diese Abhängigkeit tut weder ihrer Ehe gut noch Arianes Selbstbewusstsein.
Das sagt sie Katja allerdings nicht direkt, sie sagt: «Erinnerst du dich an den Bungee-Sprung, den ich auf unserer Hochzeitsreise unbedingt machen wollte? Wie frustriert ich war, weil ich im letzten Moment gekniffen habe?»
«Klar, du warst wochenlang unerträglich danach.»
«Eben. Und jetzt gerade stehe ich wieder auf dieser Plattform. Das Seil hängt schon an meinen Füßen. Siehst du es?»
«Nein.»
Typisch Katja. Für Metaphern hat sie in etwa so viel übrig wie für Männer und Mettbrötchen. Männer außer Papi, versteht sich. Okay, das war gemein. Ariane ist eben traurig.
Sie fragt sich, warum die Türen nicht endlich schließen und der leidigen Debatte ein Ende setzen. Ariane hasst Abschiede. Der Schaffner hat doch längst gepfiffen, diese Pfeife. Worauf wartet der noch?
«Ich liebe dich», sagt sie.
«Dann bleib hier. Du willst doch nicht ernsthaft in ein Kaff ziehen, das Düsterode heißt. Sorge, Elend und Grauen gibt es da in der Nähe übrigens auch, kein Witz.»
«Ich hab Google Maps auch studiert, Katja.»
Endlich: Ein warnender Piepton, von Katjas wütender Stimme mühelos übertönt: «Der Unterschied zum Bungee-Jumping ist, dass, wenn du jetzt springst, unten nicht ich auf dich warte, sondern der Arsch der Welt.»
Die Tür gleitet mit einem melancholischen Seufzer zu und schließt sich unwiderruflich. Katja und Woodie bleiben draußen zurück.
Das war’s also. Sie gehen allen Ernstes im Streit auseinander, und wie so oft behält Katja das letzte Wort. Eine echte von Holten eben, wohingegen Ariane, geborene Höft, seit fünf Jahren verheiratete Höft von Holten, sich das Rechthaben immer wieder neu erkämpfen muss.
Besser, sie fängt sofort damit an. Ihr neuer Job als Sensitivity Managerin im größten Harzer Tourismusverband verzeiht keine Schwäche, davon ist sie überzeugt. Wer antritt, um gegen Klischees und Diskriminierungen in Sprache und Alltagskultur zu kämpfen, muss mit Gegenwind rechnen. Es ist ihre erste feste Stelle seit dem Volontariat, und das mit fast fünfundvierzig. Ein Glücksfall. Eine echte Chance. Ariane will das gut machen.
Sie hat vor, die Oberharzer Provinz mit ihren düsteren Ortsnamen im Sturm zu erobern, um dann in einem Jahr wie Phönix aus der Asche nach Hamburg zurückzukehren.
Der Zug rollt an.
Ariane ist gesprungen.
«Echt jetzt, Finn?»
Andreas Anton starrt den Jungen an, der vor ihm steht. Mit der geballten Kraft von knapp zwei Metern uniformierter Autorität fixiert der Polizist, der offiziell den Titel Regionalbereichsbeamter trägt, den anderthalb Köpfe kleineren Kerl. Hier, im engen Zeitungskiosk des Bahnhofs von Düsterode kommt Andreas’ massige Figur noch mal so gut zur Geltung. Denkt Andreas.
Finn ist damit nicht zu beeindrucken. Er guckt auf den Boden, die Arme verschränkt.
«Drei Snickers?», fragt Andreas.
Finn stiert hartnäckig weiter nach unten, null Bewegung.
Andreas hält Finn die ausgestreckte Handfläche entgegen, auf der die Schokoriegel liegen. «Finn? Hallo?»
Finn hebt den Kopf und blitzt Andreas an, bleibt aber stumm. Andreas staunt, wie viel Wut, wie viel Verachtung in dreizehn Jahre alten Augen liegen können.
Andreas runzelt die Stirn. «Kannste mir mal verraten, wieso du mich jetzt so sauer anguckst?»
Finn Engel verharrt gleichermaßen tapfer wie bockig in seiner Rolle als großer Schweiger. Warum auch nicht? Andreas Anton mag hier und jetzt die staatliche Exekutive repräsentieren und den starken Max markieren. Aber das nützt nichts, Andreas kann Finn nämlich gar nichts. Paragraf 19 Strafgesetzbuch: «Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.» Andreas weiß das, Finn weiß es auch.
«Drei Snickers, was kosten die?»
Weil Finn weiter schweigt, antwortet Hannah: «Drei sechzig.» Die Kiosk-Chefin, die Finn beim Klauen erwischt hat, steht mit zusammengezogenen Augenbrauen da, die Hände in die Hüften gestemmt.
«Drei sechzig», wiederholt Andreas und schaut durch den Laden. Ein paar Kunden streifen durch die Regalreihen mit den Zeitschriften, Süßwaren und Getränken, ein Mann steht mit halb offenem Mund und drei Metern Abstand da und glotzt auf die Szene, die sich ihm bietet.
«Ihr Zug fährt gleich los», sagt Andreas.
Der Gaffer trollt sich wortlos.
Andreas wendet sich wieder Finn zu: «Wieso bist du eigentlich nicht in der Schule?»
«Freistunde», sagt Finn.
«Freistunde», wiederholt Andreas und legt maximalen Sarkasmus in das Wort. «So, so, dann ist es bestimmt okay, wenn ich mal in der Schule anrufe und frage, ob das stimmt, ja?»
Finn schweigt.
«Du hast ab sofort Hausverbot», sagt Hannah.
«O nein», sagt Finn knochentrocken. «Mein Leben bricht zusammen. Wie soll es jetzt bloß weitergehen? Es hat alles keinen Sinn mehr.»
Andreas muss grinsen, hat sich aber nach einer Sekunde wieder unter Kontrolle.
«Du kleines Arschloch», sagt Hannah.
Finn guckt zu Andreas hoch. «Darf die das?»
«Übertreib’s nicht, Finn», sagt Andreas und drückt Hannah die Schokoriegel in die Hand. «Okay, dann bring ich das Engelchen mal nach Hause.»
«Muss das sein?», murrt Finn.
«Nein, ich könnt’s auch lassen», sagt Andreas. «Aber wenn ich dich bringe, muss ich mir wenigstens keine Sorgen machen, dass du heute noch mal Scheiße baust. Sondern erst morgen.»
Sie treten aus dem Laden. Andreas packt Finn an der Jacke, bleibt einen Moment stehen und schaut sich das Durcheinander an, das gerade auf dem Bahnsteig herrscht. Zwei Züge sind nahezu gleichzeitig angekommen, und die Passagiere hasten zu jeweils anderen Zügen oder streben zum Ausgang: die Einheimischen im selbstsicheren Stechschritt derjenigen, die ihr Ziel kennen und allen anderen zu verstehen geben, dass sie gerade total im Weg stehen; und die bestens aufgelegten Touristen, die sich auf einen Wandertag freuen und vermutlich schon den einen oder anderen Schierker Feuerstein intus haben.
«Was’n jetzt?», mault Finn und versucht vergeblich, seine Jacke aus Andreas’ Griff zu lösen.
Als sie im Dienstwagen, einem Landrover Freelander, sitzen, sagt Andreas: «Finn, Mann! Ich hab’s dir schon ein paar Mal gesagt. Wenn du vierzehn bist, war’s das. Dann kann ich es nicht mehr bei einem Du-du-du belassen.»
Finn starrt geradeaus und schweigt.
Na gut, denkt Andreas, schweigen wir halt. Muss eh meine Kräfte sammeln für die Begegnung mit der Mutter des kleinen Engels.
Da sagt Finn: «Ich hatte Hunger.»
Das Herz klopft, die Lok stampft. Als das Stampfen sich verlangsamt, beschleunigt Arianes Herzschlag, und dann fährt der Zug auch schon in den Bahnhof von Düsterode ein, stilecht pfeifend, wie es sich gehört. Ein altmodischer Schriftzug, ein lang gestrecktes Holzhaus in Grün, dahinter turmhohe Tannen in derselben Farbe. Gleis 2 liest Ariane und springt von ihrem Sitz auf, weil das gerade alle machen.
«Muss das sein?», herrscht die Schaffnerin ausgerechnet Ariane an, als wären die vielen anderen Reisenden ringsum nicht ebenso undiszipliniert. «Bloß keine Hektik, hier wird niemand zurückgelassen.»
«Das haben Sie jetzt aber schön gesagt», entfährt es Ariane.
Die Schaffnerin guckt irritiert. «Häh?»
«Niemand wird zurückgelassen. Das ist doch ein toller Gedanke.»
«Na, wenn Sie meinen.» Die Schaffnerin rollt die Augen. «Hey, Sie da vorn, hinsetzen! Abwarten, bis Sie an der Reihe sind.» Die Schaffnerin wirft Ariane einen letzten halb feindseligen, halb mitleidigen Blick zu, bevor sie ihre kirschrote Schirmmütze richtet und sich kopfschüttelnd abwendet, um für Ordnung im Abteil zu sorgen.
Ariane kennt das schon, Freundlichkeit wird gern mit Beschränktheit verwechselt und ruft oft ungeahnte Aggressionen hervor: Die wurzeln in einer Art Misstrauen, sie wolle den Leuten nur einen fiesen Streich spielen. Ariane ist dennoch entschlossen, ihre neue Aufgabe ohne Schaum vorm Mund anzutreten, denn sie will ja sensibilisieren, nicht erziehen. Und Sensitivity, davon ist sie überzeugt, sollte keine Einbahnstraße sein. Auch wenn es manchmal schwerfällt, andere zu verstehen, die nicht so denken und fühlen wie man selbst.
Wie schwer, das wird ihr einmal mehr bewusst, als das Gedränge und Geschubse auch im Freien kein Ende nimmt. Der Bahnsteig ist überfüllt mit erlebnishungrigen Menschen in fröhlich-bunter Freizeitbekleidung, die von zwei Schmalspurbahnen zeitgleich abgeladen wurden. Anscheinend wollen die aus der einen jeweils in die andere Bahn, sodass es zu einem kuriosen Stellungskampf kommt, Ariane mittendrin. Da niemand außer ihr so viel Gepäck dabeihat und nur sie den Bahnhof Richtung Ortsmitte Düsterode verlassen will, hat sie das Nachsehen. Sie ist so eingezwängt, dass sie Angst bekommt und beim Anblick des Schriftzugs «Polizei» auf einem breiten Rücken erwägt, um Hilfe zu rufen, doch der Beamte ist zu weit weg und bewegt sich leider auch noch in die falsche Richtung. Verdammt. Schließlich schiebt Ariane sich aus eigener Kraft aus dem Gewimmel. Selbst ist die Frau.
Eine kurze, schweigsame Taxifahrt später hat Ariane lustigerweise das genau entgegengesetzte Problem: Jetzt sind es nicht zu viele, sondern zu wenige Menschen um sie herum, genauer gesagt: überhaupt keine mehr. Obwohl Ariane ihre Ankunftszeit per Mail durchgegeben hat, ist in der Düsteroder Zweigstelle von Harz-Touristik niemand vor Ort, um sie in Empfang zu nehmen.
Ratlos steht Ariane in einem leeren Büroraum. Sechs aufgeräumte Schreibtische, dunkle Bildschirme, in einer Ecke blinken Drucker und ein Faxgerät vor sich hin. Fax – allen Ernstes!
«Hallo, sind Sie die Neue?»
Ariane wirbelt herum.
Die Räumlichkeiten, die sich im ersten Stock eines Fachwerkhauses gleich am Marktplatz befinden, sind verwinkelt. Einzelne Bereiche sind durch offenes Gebälk voneinander getrennt. Sie muss eine Weile suchen, bis sie am anderen Ende des Raums im Halbdunkel den Mann entdeckt, zu dem die Stimme gehört.
«Hier ist ja doch jemand», ruft sie erfreut.
«Nicht wirklich. Ich bin nur der Hausmeister. Kommen Sie mal mit.»
«Guten Tag, ich bin …»
«Weiß schon!»
Der Mann verschwindet hinter einer Tür, Dielen knarzen unter schweren Schritten und Ariane bleibt nichts anderes übrig, als den Geräuschen zu folgen.
Dann endlich steht sie vor ihrem neuen Büro. Nicht nur dessen Abgelegenheit am Ende eines Korridors, sondern auch das Türschild irritiert.
«Was soll das denn heißen: HvD?», fragt sie, und der Hausmeister kichert. Wirklich, dieser Schrank von einem Mann – Wacken-T-Shirt, Stiernacken, Stahlbizeps mit Totenkopftattoo – kichert wie ein Schulmädchen. Unwillkürlich kichert Ariane mit. Das bringt ihn zum Schweigen.
«Wofür steht HvD?» Sie deutet mit dem Finger auf die rätselhafte Buchstabenkombination gleich unter ihrem Namen.
Irgendetwas daran macht sie misstrauisch, obwohl es durchaus ein erhebendes Gefühl ist, nach Jahren als mäßig gebuchte Freiberuflerin überhaupt ein eigenes Büro mit einem Plexiglastürschild vorzufinden. Und ihr Name ist sogar korrekt geschrieben: Ariane Höft von Holten. Toll. Wenn nur diese drei Buchstaben nicht wären, in Verbindung mit dem irritierenden Schulmädchenkichern des Hausmeisters, der sie konsequent ignoriert, während er sich vergeblich mit der verschlossenen Bürotür abmüht.
Doch Ariane lässt nicht locker. «Hallo, ich hab Sie was gefragt.»
«Hab ich gehört. Aber das fragen Sie am besten den Chef», sagt der Hausmeister.
«Okay, und wo ist der Chef?»
«Termine.»
«Und alle anderen, die hier arbeiten?»
Der Mann schnauft. «Hören Sie, ich bin hier nur der Hausmeister, nicht das Empfangskomitee und auch nicht die Auskunft. Ich soll Ihnen die Tür aufsperren und fertig.»
«Dann tun Sie das doch endlich!»
«Klemmt.»
Ariane deutet mit einem Nicken auf seine Schulter. «Vielleicht mit Gewalt?», schlägt sie vor, und nach kurzem Zögern wirft sich der Hausmeister tatsächlich mit voller Wucht und sichtlichem Vergnügen gegen die Furnierholztür, womit er sie nicht nur öffnet, sondern auch gleich komplett aus den Angeln reißt.
Nicht ohne Stolz begutachtet er den Schaden, was Ariane immerhin die Chance gibt, den ersten Schock über den Anblick ihres «Büros» unbemerkt zu verdauen. Ja, es gibt einen Schreibtisch und einen Computer, aber ansonsten handelt es sich eindeutig um eine Abstellkammer – einen langen Schlauch ohne Tageslicht, vollgestopft mit Bergen von Krimskrams, wie er sich eben in einer Fremdenverkehrszentrale über Jahre so angesammelt haben muss: alte Plakatwände, Werbebanner und anderes Reklamematerial, von der Kugelschreiberschachtel bis hin zum überlebensgroßen Pappaufsteller der berühmten Brockenhexe, dazu zerkratzte Stehtische, Stapel von Plastikstühlen und vieles mehr.
«Es gibt nicht mal ein Fenster», sagt Ariane schwach.
«Sie können ja die Tür offen lassen», witzelt der Hausmeister und geht.
Ariane sieht ihm nach, wie er gemächlich den langen Flur entlangschreitet, jeder Schritt eine klare Botschaft: Das hier ist sein Revier, und sie ist der Eindringling, bestenfalls geduldet, keinesfalls willkommen. Wäre er ein Rüde, hätte er wahrscheinlich noch sein Bein an ihrem demolierten Türpfosten gehoben.
Als hätte er ihre Blicke auf seinem Rücken gespürt, dreht der Hausmeister sich plötzlich um, ein Grinsen im Gesicht.
«Hexe vom Dienst», ruft er.
«Wie bitte?»
«HvD heißt Hexe vom Dienst.»
Andreas Anton und Finn Engel laufen schweigend auf einen vierstöckigen DDR-Plattenbau zu, der die Aussicht auf den sattgrünen Waldhang stört; Andreas geht vorneweg, Finn schlurft anderthalb Meter hinter dem Polizisten her, mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Andreas wüsste nicht zu sagen, wie oft er den Jungen schon nach Hause chauffiert hat – nicht nur tagsüber, wenn Finn die Schule geschwänzt hat, sondern manchmal auch mitten in der Nacht.
Melina Engel nimmt ihren Sohn wie immer ohne größere Gefühlsregung in Empfang. «Was macht der denn hier? Wieso ist der nicht in der Schule?»
Die schmale Frau steht im Türrahmen ihrer Wohnung in der zweiten Etage, bekleidet mit einer verwaschenen, ehemals petrolfarbenen Jogginghose und einem kurzärmeligen Sport-Shirt mit weitem Ausschnitt, Kapuze und der Aufschrift Beauty grows everywhere. Um den Hals trägt sie zwei Ketten mit bunten Anhängern, einem Herzen und einem … Schmetterling?
«Finn wurde beim Klauen erwischt.»
«Beim Klauen?»
«Ja.» Andreas schweigt, um Melina Engel die Gelegenheit zu geben nachzufragen. Beim Klauen erwischt? Wo denn? Was denn? Aber sie schweigt.
Finn drängt sich an seiner Mutter vorbei und verschwindet in der Wohnung. Sekunden später knallt eine Tür.
Melina Engel dreht den Kopf und schreit: «Finn!» Sie schüttelt genervt den Kopf, dann wendet sie sich wieder Andreas zu.
«Frau Engel», sagt Andreas. «Das geht so nicht. Sie müssen mit Finn reden. Wenn er vierzehn ist …»
«Wieso ist er nicht in der Schule?», unterbricht sie ihn. «Wieso lassen die ihn denn einfach gehen?»
«Wie? Was meinen …»
«Was soll ich denn von hier aus machen, wenn er aus der Schule abhaut? Das krieg ich doch gar nicht mit. Da müssen doch die Lehrer drauf achten. Wie kann das sein, dass er einfach verschwinden kann? Was ist denn das für eine Scheißschule?»
«Es ist halt eine Schule. Und kein Gefängnis», sagt Andreas.
«Was ist denn, wenn Finn was passiert?»
«Wie?»
«Wenn ihm unterwegs was passiert. Wenn er von irgendeinem Idioten angefahren wird. Was ist denn dann?»
Andreas schwirrt der Kopf angesichts dieser kompletten Verdrehung von Verantwortlichkeiten. Er holt Luft. «Frau Engel, Sie müssen als Mutter darauf einwirken …» Er spricht nicht weiter. Darauf einwirken, genau, Andreas! Genau so überzeugst du Melina Engel.
Melina schraubt sich weiter hoch: «Und überhaupt! Wieso bringen Sie ihn zu mir und nicht in die Schule?»
Komplett sinnlos, dieses Gespräch, denkt er. Ich scheitere schon daran, Melina das Problem verständlich zu machen. Andreas starrt auf die drei englischen Wörter auf dem T-Shirt. Beauty grows everywhere. Tatsächlich findet Andreas, dass Melina Engel ein ausgesprochen hübsches Gesicht hat, geradezu klassisch: große Augen, schmale Nase, volle Lippen.
Er murmelt nur noch eine Verabschiedung und geht.
«Hey!», ruft Melina.
Andreas bleibt auf der halben Treppe stehen und dreht sich um.
Melina Engel funkelt ihn wütend an. «Muss ich ihn denn jetzt wieder in die Schule schicken? Muss er da heute noch mal hin?»
«Machen Sie ihm was zu essen», sagt er und geht.
Andreas fährt aufs Revier und versucht auf der kurzen Strecke, seinen Frust wegzuatmen. Etwas besser wird seine Laune aber erst, als er das Büro betritt: Frau Krause war keine zwei Stunden allein, aber die Schafpudeldame empfängt ihn mit hundetypischer Begeisterung: Hurra! Du bist wieder da! Endlich! Ich dachte, wir sehen uns nie wieder! ICH! FLIPPE! AUS!
Andreas hockt sich hin, um das Tier ausgiebig zu kraulen, und genießt die positive Wirkung, die das auf ihn selbst hat.
Nachdem Frau Krause sich beruhigt und wieder auf ihrer Decke niedergelassen hat, macht Andreas ein paar Yogaübungen. Die Begegnung mit seinem Vierbeiner hat ihm zum Runterkommen noch nicht ganz gereicht. Er beginnt ganz klassisch mit dem Berg, macht weiter mit dem Stuhl, dem Hund und dem Baum.
In Gedanken hört er immer noch Finns Mutter durch den Flur rufen. Jetzt steht er auf dem linken Bein, sein rechtes Knie ist gebeugt, und mit der rechten Hand umfasst er das Fußgelenk. Er streckt das angewinkelte Bein nach hinten und den linken Arm waagerecht nach vorn, wobei er die Handfläche senkrecht hält. Für die Entschlusskraft, wie es in der Übungsbeschreibung heißt.
Als Andreas den Tänzer vor sechs Jahren zum ersten Mal in Angriff genommen hat, geriet er bereits beim Griff ans Fußgelenk ins Wanken und stürzte über das Tischchen neben dem Fernsehsessel. Mit ihm stürzte damals eine halb volle Flasche Hasseröder Pils. Anders als sonst gab Andreas nicht sofort wieder auf, sondern hängte sich richtig rein. Er merkte schlicht, wie gut ihm das tat. Yoga, Meditation … kurz davor hätte er sich noch bestenfalls lustig gemacht über jeden, der ihm mit so einem Vorschlag gekommen wäre.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum es bis heute sein Geheimnis ist. Nun steht er also im Raum, sicher und stolz, mit winzigen, ausbalancierenden Bewegungen. Frau Krause hat sich inzwischen auf ihrer Decke eingerollt und schläft.
Die Tür zu seinem Büro hat er abgeschlossen. Zwar ist es mehr als unwahrscheinlich, dass jemand einfach so hereinkommt an einem Montagmittag, aber man kann nie wissen. Sein Kollege Klaus fällt aus, der hat sich am Vortag krankgemeldet – Rücken –, doch auch sonst soll ihn niemand so erwischen, obwohl derjenige mit Sicherheit einigermaßen staunen würde. Man sieht Andreas seine bemerkenswerte Beweglichkeit nämlich nicht an, weder auf den ersten noch auf den zweiten und auch nicht auf den fünften Blick.
Seine 124 Kilo hingegen sieht man Andreas sehr gut an.
Langsam löst er die Hand vom Knöchel, senkt den Fuß, kommt in einer fließenden Bewegung in die Ausgangsposition zurück und wiederholt die Figur mit der anderen Körperhälfte. Den nun vorgereckten rechten Arm hebt er diesmal höher, die Handfläche hält er flach nach vorn, was die Schulter stärker fordert.
Aber was ist das? Die Gardine ist offen! Jeder kann ihn sehen.
Andreas kämpft gegen den Reflex an, sofort zum Fenster zu stürzen. Er atmet weiter ruhig ein und aus und hält die Position. Ohne Hektik beendet er die Übung, geht dann erst zum Fenster und zieht die Gardine zu.
Er begibt sich wieder in die Figur, doch kaum hat er sie eingenommen, klingelt das Telefon.
Andreas seufzt und nimmt den Anruf entgegen.
Am Nachmittag hat sich Ariane nicht nur mit ihrem gehässigen neuen Spitznamen arrangiert, sie hat ihn regelrecht angenommen, wild entschlossen, eine Kampfansage daraus zu machen.
Hexe vom Dienst, warum eigentlich nicht? Die obligatorische rote Mähne dazu hat sie, wie um das Klischee zu adeln, ja schon mitgebracht, alles Natur wohlgemerkt, nicht gefärbt. Vielleicht sollte sie das Türschild um ein Foto von sich ergänzen, sie könnte sich sogar Visitenkarten drucken lassen, mit der Bezeichnung HvD drauf, damit alle sofort wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ab sofort wird zurückgekichert!
Während sie sich ihren kämpferischen Gedanken hingibt, steigt Ariane im Düsteroder Nachbarort Grauen einen Berg hinauf, um die Wanderschilder eines Aussichtspunkts zu kontrollieren. Damit folgt sie ihrer allerersten Dienstanweisung. Ihr neuer Chef, Büroleiter Mario Köhler, hat sich Ariane zwar noch immer nicht persönlich vorgestellt, ihr aber immerhin eine Mail der Naturerlebnisgruppe Mindful Moments aus Hannover weitergeleitet. Die Gruppe, die sich nach eigenem Bekunden auf achtsames Waldbaden spezialisiert hat, klagt darin über sexistische Entgleisungen der übelsten Sorte, und das ausgerechnet an einem ihrer wichtigsten Trost-Orte. Untröstlich wie sie nun waren, hatten die Waldbadenden leider vergessen, ihren Ausführungen ein Foto beizufügen, also soll sich Ariane selbst ein Bild machen, befiehlt Mario Köhler in barschen Worten. Nach der langen Anreise und dem feindseligen Empfang ist der Ausflug dennoch eine willkommene Gelegenheit, frische Luft zu schnappen. So dachte Ariane zumindest anfangs.
Inzwischen fragt sie sich, ob es sich bei dem Auftrag um eine weitere Schikane handelt. Die Wanderung ist viel anstrengender als gedacht – und sie nicht in Topform.
Es ist, als hätte sich alles gegen sie verschworen. Erst der hämische Hausmeister, dann die Abstellkammer, selbst der deprimierende Name dieses Kaffs hier, das sie mit einer Dreckschleuder von Dienstwagen-Oldtimer ohne Navi erst umständlich suchen musste, nachdem Hausmeister Wilfried ihr die Schlüssel überreicht und dann kichernd zugeschaut hat, wie sie umständlich ausparkte. Nichts ist so, wie Ariane es sich in ihren geheimen Träumen vom Harzer Landleben erhofft hat: idyllisch, zugewandt, ein kleines Stück heile Welt. Okay, das war echt naiv.
Aber anfangs hatte ja auch alles so vielversprechend gewirkt. Das Vorstellungsgespräch in der Zentrale von Harz-Touristik in Goslar war überaus angenehm gewesen. Die leitende Geschäftsführerin Jeanette Hackenberg hatte erfolgreich den Eindruck erweckt, sich auf der Höhe der Zeit zu befinden. Was Ariane nicht versteht: Warum hat der Vorstand von Harz-Touristik sie dann in die Nebenstelle nach Düsterode verbannt, wo ganz offensichtlich irgendwelche harten Harzer Kerle wie Hausmeister Wilfried und dieser unfreundliche Mario Köhler dafür sorgen wollen, dass sie gleich wieder abreist? Lauter alte Säcke wahrscheinlich, denen die Vorstellung, mit einer Sensitivity Managerin zusammenzuarbeiten, vor Angst das Testosteron in den Adern gefrieren lässt.
Mal ehrlich: Was ist eigentlich so verdammt unzumutbar daran, sich gelegentlich zu fragen, ob die eigene Art zu sprechen und zu handeln andere Leute verletzt oder ihnen sogar das Herz bricht? Und genau darum geht es ja bei ihrem Job und beim Thema Sensitivity: Mitgefühl schärfen. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie das rüberbringen kann, ist sie fast schon am Ziel.
Apropos: Ob es noch weit ist? Ariane keucht. Dieser verfluchte Aufstieg hat es so dermaßen in sich. Sicher, der Harz ist nicht mit den Alpen zu vergleichen. Bewaldete Hügel mit sichtbaren Klimaschäden, ein typisches Mittelgebirge eben. Doch so richtig mittel findet sie die Grauener Steigung nun nicht. Inmitten eines dichten grünen Wirrwarrs aus Fichten und Laubbäumen verbergen sich schroffe Klippen wie hinterrücks gezückte Messer und ein steiniger Wanderweg, der so steil bergan führt, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Eigentlich schade, dass sie Katja nicht hat überreden können, im Vorfeld ein paar gemeinsame Tage hier zu verbringen, dann wäre sie besser auf das hier vorbereitet gewesen.
Keuchend wischt sie sich mit dem Ärmel ihres verwaschenen Fairtrade-Shirts den Schweiß von der Stirn. Sie muss aufhören, sich etwas vorzumachen: Dass sie keineswegs so sportlich ist, wie sie aussieht und wie sie gern vorgibt zu sein. Damit zieht Katja sie gern auf. Ariane weiß, ihre drahtige Figur ist eher auf gnädige Gene zurückzuführen als auf Training, denn das findet nur sehr selten statt. Genau genommen ist sie von Natur aus eine typische Couch-Potato, das rächt sich jetzt. Und ein stechender Fersenschmerz links deutet darauf hin, dass Chucks nicht unbedingt das optimale Schuhwerk sind, um es mit freiliegenden Wurzeln, Geröll und Steigungen aufzunehmen. Hätte sie sich denken können. Jetzt muss sie da durch.
Wenigstens ist das Wetter herrlich, ein perfekter Frühlingstag, nicht zu warm, nicht zu kalt, am Himmel Schönwetterwolken wie von Kindern gemalt.
Ariane kämpft sich bergan, und irgendwann ist sie zwar nicht oben, aber immerhin hat sie ihr Ziel erreicht, den in der E-Mail erwähnten Aussichtspunkt am Federberg. Dort gibt es in Sachen Sexismus tatsächlich eine Beanstandung zu machen.
Sie erkennt das Wanderschild, um das es geht, sofort: Jemand hat die Warnung Steiler Anstieg mit einem Edding redigiert. Steiler Zahn steht da jetzt, daneben hat der zeichnerisch nicht unbegabte Witzbold die Karikatur einer dümmlich dreinblickenden Frau mit sehr großen Brüsten hinterlassen.
Ariane kann nicht anders: Sie muss lachen, laut lachen. Dafür hat sie sich nun also den ganzen Weg hier raufgeschleppt? Ist doch wahr: Manchmal ist das ganze Leben ein Witz. Und diese kleine fiese Zeichnung ist zwar schlecht, aber dafür ziemlich gut gemacht.
Wie alt mag jemand sein, der heute noch die Formulierung «steiler Zahn» benutzt? Sechzig? Siebzig? Hundertzehn?
Ein weißer alter Mann mit einem schwarzen Edding im Rucksack und Pubertätsfantasien im Kopf.
Das Schild kann so nicht bleiben, das ist klar, da haben sich die achtsamen Waldbadenden völlig zu Recht bei Harz-Touristik beschwert.
Als Ariane versucht, die Schmiererei mit einem Taschentuch und etwas Spucke zu eliminieren, wofür sie sich auf einer armdicken Wurzel auf die Zehenspitzen stellt, verliert sie das Gleichgewicht und strauchelt. Dass sie sich auf einem Plateau hoch über dem Grauen Tal befindet, macht die Sache nicht besser, denn sie taumelt geradewegs auf den Abgrund zu. Erst in letzter Sekunde findet sie Halt an einem Ast.
«Was ist das denn hier für eine verfickte Ossi-Scheiße?», schreit sie geschockt und schämt sich sofort dafür. «Gehört da nicht ein Geländer hin?»
Kaum ausgesprochen, sieht sie es. An mehreren Stellen durchgebrochen und absturzgefährdet, so wie sie selbst kurz zuvor.
«Das geht ja gar nicht», murmelt Ariane. «Da kann ja sonst was passieren.»
Oder ist vielleicht schon was passiert?
Arianes Herz beginnt zu rasen. Eine düstere Vorahnung peinigt sie, als sie sich Schritt für Schritt vortastet, um einen Blick ins Tal zu werfen.
Felsen, Baumwipfel und etwas Rotes, eine Jacke.
Eine Jacke, die zu einem leblosen Körper gehört, die Gliedmaßen seltsam verdreht.
Da unten liegt ein Mensch.
Ariane greift nach ihrem Handy und wählt den Notruf.
«Revierstation Düsterode, Polizeihauptmeister Anton, guten Tag.»
«Endlich. Sie müssen mir jetzt zuhören. Ich werde hier von einem zum anderen vertröstet. Ich möchte einen Leichenfund melden.»
Andreas verspürt ein unangenehmes Ziehen in der Magengrube. «Eine Leiche», sagt er tonlos. «Sind Sie sicher?»
«Ja. Das habe ich der Frau auch schon gesagt, ich wusste die ganze Zeit, dass der Mann tot ist, dafür hätte ich nicht erst da runterklettern müssen und mir fast den Hals brechen, das hat man von oben schon gesehen, aber die wollte ja nicht zuhören, keiner hört mir zu, der Mann ist tot, daran besteht überhaupt nicht der geringste Zweifel, die Augen sind offen, der Hinterkopf ist Matsch, bitte entschuldigen Sie meine Wortwahl. Die Frau sagt, sie ist nicht zuständig …»
Andreas kratzt sich am Hinterkopf. «Welche Frau und welcher Mann?»
«Die Frau von Eins-eins-zwei – und der Mann, woher soll ich das wissen? Der ist ja tot, den kenne ich nicht, deswegen war sie ja nicht zuständig, sondern Eins-eins-null, aber da gibt es eine Störung und man muss die Polizei über Amt anrufen, das sind Sie, also hören Sie mir jetzt bitte endlich zu. BITTE.»
«Gut. Ich höre Ihnen zu. Wo befindet sich der Fundort der Leiche?»
Die Anruferin stöhnt. «Bitte kommen Sie her. Ich bin hier ganz allein.»
«Brauchen Sie einen Arzt?»
«Nein. Der Mann ist ja tot!»
Andreas seufzt. «Ich meinte, für Sie.»
«Nein, nicht nötig. Ich will nur, dass Sie herkommen.»
«Dann müssen Sie sich jetzt bitte beruhigen und mir sagen, wo Sie sind.»
«Ich bin ganz ruhig! Wenn ich noch ruhiger werde, kann ich mich gleich neben den Mann hier legen.»
«Wo genau liegt der denn?»
Andreas kann hören, wie die Anruferin am anderen Ende der Leitung tief durchatmet.
«Unter dem Aussichtspunkt am Federberg in Grauen. Wenn Sie mir Ihre Handynummer verraten, kann ich meinen Standort mit Ihnen teilen», sagt sie.
«Gut, danke. So gefallen Sie mir schon besser. Ich bin unterwegs.»
Nachdem Andreas den Hörer aufgelegt hat, bleibt er noch einen Moment sitzen. Was war denn das für eine Diplom-Hektologin? Aber gut, auf eine Leiche zu stoßen, kann einen natürlich schon mal ein bisschen aus der Fassung bringen.
Sein Handy vibriert. Die Anruferin hat ihren Standort geschickt. Oje, mit dem Auto würde er da nicht richtig rankommen. Na ja, zumindest Frau Krause würde sich über den Ausflug freuen. Andreas tippt eine Nachricht: Werde wohl eine knappe Stunde brauchen, um bei Ihnen zu sein. Gruß PHM Anton.
Mit einem Ruck stemmt er sich aus dem Bürostuhl. Der Schafpudel reagiert sofort und springt ebenfalls hoch. «Na, Mensch, Frau Krause, dann schauen wir uns das mal an, was?»
Als Andreas im Auto sitzt und das Handy in die Halterung klemmt, sieht er, dass eine weitere Nachricht angekommen ist. Beeilen Sie sich bitte, AHvH.
AHvH, was soll das denn heißen? Eine Namensabkürzung ja wohl kaum. Irgendwas mit Harz? Hilfe vom Harz? Unfug.
Andreas schaukelt mit dem Landrover durch den Wald, bis es nicht mehr geht, dann marschiert er zu Fuß weiter. Frau Krause läuft vorneweg und macht immer wieder einen Abstecher ins Unterholz. Vögel zwitschern. Nur einmal kommt ihm ein älteres Ehepaar entgegen, das seinen Gruß stirnrunzelnd erwidert. Streifendienst im Wald?, denken die beiden vermutlich.
Alle paar Minuten vergleicht Andreas den Standort der Anruferin mit seinem eigenen. Als die beiden Punkte fast übereinanderliegen, bleibt er stehen und ruft: «Hallo! Hier spricht die Polizei! Ist hier die Frau, die angerufen hat?» Er muss lachen. Total bescheuert, dass er sich nicht den Namen der Frau hat geben lassen. «Hallo! Anton hier!»
Eine weibliche Stimme antwortet: «Hallo! Hallo, Anton! Hier bin ich.»
Ah, okay, sie wird direkt am Aussichtspunkt sein. Und tatsächlich steht sie auf dem kleinen Plateau. Eine schlanke Frau in Jeans und blauem Shirt. Als Andreas näher kommt, registriert er die Turnschuhe an den Füßen der Frau. Mit Turnschuhen auf den Berg – immer eine gute Idee. Das gibt schon mal einen Minuspunkt.
Frau Krause tänzelt interessiert auf die Anruferin zu. Andreas nimmt zur Kenntnis, dass die Frau nicht, wie so viele andere es tun, aufgeregt loskreischt, er solle «das Vieh» an die Leine nehmen. Das gibt auf jeden Fall einen Pluspunkt.
Er ruft: «Frau Krause, hierher!» Und sagt zu der Frau: «Die macht nichts. Ist nur verspielt.»
«Frau Krause?» Die Frau streichelt den Hund, und Andreas erkennt sofort, dass sie das nicht zum ersten Mal macht. Noch ein Pluspunkt. «Ich nehme an, wir haben telefoniert?»
«Ja. Da unten.»
«Was?»
«Da unten liegt die Leiche.»
Andreas tritt an das umgerissene Geländer. «Oha. Und Sie waren schon unten?»
«Musste ich ja. Die dämli…, die Frau am Notruf hat mir ja nicht geglaubt.»
«Darf ich Sie erst mal nach Ihrem Namen fragen?»
«Höft von Holten.»
«Höftfen …?»
«… von Holten, Ariane Höft von Holten.»
Ah! AHvH! Bei Andreas fällt der Groschen. Eine Adlige, denkt er. Wobei, ist das immer noch so, dass man automatisch adlig ist, wenn man ein von im Namen trägt?
«Gut, Frau … Holz … Holt … Höft …»
«Gerne auch Ariane», sagt sie.
«Ariane. Na, dann schauen wir uns den Toten mal an, was?»
«Das machen Sie mal schön alleine. Ich habe mir den Toten schon ganz genau angeschaut. Ich klettere da nicht noch mal runter.» Genervt. Schnippisch. Minuspunkt.
Andreas mustert Ariane. Sie ist nicht unattraktiv, denkt er. Tolle Figur. Das Gesicht weniger ebenmäßig als das von Melina Engel, die Augenbrauen leicht asymmetrisch. Vom Alter her schwer einzuschätzen. «Okay, dann warten Sie bitte hier.»
«Wofür brauchen Sie mich denn noch? Ich würde eigentlich ganz gerne wieder gehen.»
«Dauert nicht lange. Bitte.» Er sieht sich um: «Welchen Weg haben Sie nach unten genommen?»
«Bin einfach gesprungen.» Sie grinst nicht. Dann gestikuliert sie vage. «Ich bin den Weg ein Stück runter und irgendwie rein.»
Andreas nickt und spaziert los, Frau Krause bleibt bei der Adligen stehen und lässt sich von ihr streicheln.
Als er den Toten erreicht, denkt er, kein Wunder, dass Arielle Holt von Dingens das nicht kaltgelassen hat. Besonders der Hinterkopf ist wirklich kein schöner Anblick.
Andreas schaut die Klippe hinauf. Keine Frage, ein Sturz von da oben kann nicht glimpflich enden. Er stellt sich vor, wie der Unbekannte den Halt verloren hat. Die Folge war bestimmt zehn Meter freier Fall, schätzt Andreas.
Er ruft die Bergwacht in Düsterode an. Dann macht er mit dem Handy ein paar Fotos von der Leiche und der Umgebung.
«Hallo? Was machen Sie denn?»
Er legt den Kopf in den Nacken und sieht den Kopf der Adligen, daneben Frau Krause, die zweimal bellt.
«Ich komme wieder hoch!», ruft er. «Frau Krause, bleib fein da.»
Er sieht sich noch ein bisschen um, sucht einen Rucksack oder irgendwas anderes, das der Tote bei sich geführt haben könnte, findet tatsächlich einen Edding. Hatte die Adlige nicht so was erwähnt? Langsam stakst er durchs Unterholz. Sein Blick fällt auf einen Ast, er beugt sich vor, ein extrem gerade gewachsener Ast ist das. Nein, Moment, das ist gar kein Ast, sondern eine dünne Stange. Er fischt Plastikhandschuhe aus der Tasche und streift sie über, dann hebt er die Stange hoch und betrachtet sie.
«Das ist doch so ’n …», murmelt er. «So ’n … Ding. Wo man das Handy dranklemmen kann. So ’ne Vollpfostenantenne. Wie heißt das offiziell?»
Das Handy fehlt. Andreas sucht eine Weile, bis wieder die Stimme der Adligen ertönt.
«Haaallooo!»
«Ich komme ja!», ruft er und macht sich auf den Rückweg.
Als er wieder am Aussichtspunkt ankommt, wirft die Turnschuhträgerin mit dem unaussprechlichen Namen gerade einen Stock, dem Frau Krause begeistert hinterherhechtet.
«Schönes Tier», sagt sie.
«Ja, finde ich auch.»
«Was ist das für eine Rasse?»
«Ein Schafpudel.»
«Aha. Kenn’ ich gar nicht.»
«Alte ostdeutsche Hütehundrasse.»
«Und der Tote?»
Andreas ist kurz irritiert über den plötzlichen Themenwechsel. «Ja … Also, Sie haben recht. Der ist tot.»
Sie deutet auf die Vollpfostenantenne. «Haben Sie den Selfie-Stick da unten gefunden?»
Selfie-Stick, genau. Er nickt. «Aber leider nicht das dazugehörige Handy.»
Sie runzelt die Stirn. «Und nun?»
«Ich habe die Bergwacht gerufen. Die werden die Leich…» Er hebt den Zeigefinger: «Pscht! Hören Sie!»
«Was denn?» Sie blickt sich ängstlich um.
«Eine Ringdrossel.»
«Wie bitte?»
«Eine Ringdrossel. Ziemlich selten … Da! Schon wieder!»
Sie atmet tief ein und aus. Sieht sie etwa genervt aus? «Okay, schön. Und was meinen Sie?»
«Was meinen Sie mit ‹was meinen Sie›?»
«War es ein Unfall?»
Andreas lauscht noch einen Moment, dann sagt er: «Tja, sieht so aus. Die Verletzungen deuten jedenfalls darauf hin. Dass Wanderer im Harz verunglücken, kommt nicht so selten vor. Mit dem Tod endet das aber glücklicherweise nur in den allerwenigsten Fällen.» Er überlegt. «Das Geländer ist schon eine Weile kaputt.» Er hebt den Selfie-Stick. «Er wollte sich knipsen, hat das Gleichgewicht verloren, und dann …» Er macht mit dem Daumen eine schnelle Abwärtsbewegung. «Waren Sie mal in England?»
«Was?» Sie schüttelt ungeduldig den Kopf. «Wieso?»
«Oder in Irland? Kennen Sie die Steilufer dort? Da finden Sie alles, nur keine Geländer. Höchstens ein Warnschild. Der Deutsche braucht ein Geländer, sonst latscht er immer weiter.»
«Hm. Aber wenn’s schon mal da ist, das Geländer, könnte man es auch reparieren.»
Frau Krause hat sich hingelegt, den Stock zwischen ihre Pfoten geklemmt und kaut engagiert darauf herum.
«Haben Sie auch einen Hund?», fragt Andreas.
«Ja.»
«Merkt man. Und was für einen?»
«Einen Doodle.»
«Doodle? Kenne ich nur als Suchmaschine.»
«Was?»
«Scherz, ’tschuldigung. Doodle – Google.»
«Ach so.» Sie lächelt nicht.
Sie stehen unschlüssig da.
«Hören Sie, ich würde dann jetzt wirklich gerne wieder gehen.»
«Ja, natürlich, aber ich bräuchte bitte noch Ihre Kontaktdaten.» Er zückt einen Block und einen Stift. «Also, ähm, Arielle … und wie weiter?»
«Ariane!»
«’tschuldigung. Ariane … Und weiter?»
«Höft. Von. Holten. Drei Wörter.»
«Höft. Ganz normal, ja?»
Sie seufzt und buchstabiert Höft. «Dann von. Wie von und zu. Dann Holten.» Sie spricht mit ihm wie mit einem begriffsstutzigen Schüler. Andreas nimmt sich fest vor, den Namen auf die Kette zu kriegen.
«Und Sie heißen Anton? Und weiter?»
«Andreas.»
«Anton Andreas?»
«Nein, umgekehrt. Anton ist der Nachname, Andreas der Vorname. Andreas Anton.»
«Okay, Herr Anton. Dann würde ich mich mal an den Abstieg machen, wenn Sie nichts dagegen haben.»
«Klar.» Er zögert. «Brauchen Sie, ähm, Hilfe?»
«Nee, ich finde den Weg schon.»
«Ich dachte eher mental oder so. Ist ja jetzt kein schönes Erlebnis für Sie gewesen.»
«Da haben Sie allerdings recht. Danke, aber ich komme schon zurecht. Auf Wiedersehen.»
Sie setzt sich in Bewegung, Frau Krause folgt ihr ein paar Schritte, dann bleibt sie stehen.
Andreas macht ein schnalzendes Geräusch und sagt leise: «Komm her, Frau Krause, die gehört nicht zur Herde. Wir warten hier noch auf die Bergwacht.»
Er setzt sich auf eine Bank und schaut in die Landschaft, die er liebt, aber er kann die Aussicht schon länger nicht mehr uneingeschränkt genießen, denn die Landschaft hat sich verändert. Der Blick auf die vielen grauen klimageschädigten Baumgerippe, die zwischen dem Grün emporragen, deprimiert Andreas. Frau Krause gesellt sich zu ihm, springt ebenfalls auf die Bank.
Andreas krault den Hund hinterm Ohr. «Na, Frau Krause, die hat dir gefallen, die Anneliese Hoch von Wichtig, was?»
Ihm fällt ein, dass er … Anneliese? Amelie? Er blickt in seinen Notizblock, ah, nein, Ariane, ihm fällt ein, dass er Ariane gar nicht gefragt hat, was sie hier oben eigentlich gemacht hat.
«Ariane Höft von Holten», murmelt er und wiederholt den Namen ein paarmal in einem betont vornehmen Tonfall.
Er stutzt, als sein Blick auf ein Wanderschild fällt. Er steht auf und geht hin. Was steht da? Steiler Zahn? Was für ein Kindskopf war denn hier am Werk? Er denkt an den Stift. Womöglich der Tote.
Eine Weile starrt er mit leerem Kopf auf die Atombusen-Kritzelei, dann geht er zurück zur Bank, setzt sich hin und schließt die Augen für eine Kurzmeditation. Eine Leiche sieht man schließlich nicht alle Tage, er ist ja nicht bei der Mordkommission, und genau das gefällt ihm am Job des Regionalbereichsbeamten: Die völlige Abwesenheit von Leichen. Bis heute hat das auch geklappt.
Andreas konzentriert sich auf seinen Atem, atmet tief ein, atmet tief aus, atmet tief ein, atmet tief aus. Dann lenkt er seine Konzentration auf den Gehörsinn: Er nimmt den leichten Luftzug wahr, das leise Rascheln von Blättern, das Gezwitscher der Vögel. Er horcht auf und muss lächeln, als sich die Ringdrossel wieder meldet.
Bergab ist auch nicht besser. Ariane bekommt leichter Luft in die Lungen, das schon, aber dafür geht jeder Schritt auf die Knie, und sie muss noch vorsichtiger sein, um nicht auszurutschen. Ihren Füßen gibt das den Rest, besonders dem linken. Die Chucks scheuern und haben zu wenig Profil. Hinfallen will sie unter keinen Umständen, das wollte sie beim Aufstieg schon nicht, und jetzt will sie es noch weniger, nachdem sie gesehen hat, wie das enden kann.
Falls der Tote wirklich nur so gefallen ist.
Ariane hat so ihre Zweifel, ob Polizeihauptmeister Anton wirklich die Kompetenz besitzt, das vollumfänglich zu beurteilen. Nicht, dass sie ihrerseits die Kompetenz besäße, die Kompetenz eines Polizeihauptmeisters vollumfänglich zu beurteilen. Aber sie stellt Beobachtungen an. Zum Beispiel die, dass Herr Anton mindestens genauso viel Zeit damit verbracht hat, sich ihren Namen zu merken, wie den Fundort – oder Tatort? – zu inspizieren. Sollte das zügige Aufnehmen von Personalien nicht eigentlich zu den Basisfertigkeiten in seinem Metier gehören? Und sollten, nachdem das uniformierte Dickerchen sich nun mit eigenen Augen davon überzeugt hat, dass da tatsächlich eine Leiche am Fuß des Felsens liegt, nicht eigentlich die echten Profis anrücken, Leute in weißen Overalls, die zur Spurensicherung gehören oder so? Wo bleibt die Kripo?
Stattdessen war von der Bergwacht die Rede, und genau die kommt Ariane jetzt entgegen, ein Mann und eine Frau in rot-blauen Uniformen, ausgestattet mit Helmen, Seilen und einer Trage.
Ariane, von Schmerzen durchdrungen, hält sie auf. «Können Sie mir bitte helfen?»
«Das ist leider gerade schlecht. Wir müssen zu einem dringenden Einsatz», sagt die Frau. Sie ist jung, könnte fast noch eine Schülerin sein, und wirkt im Gegensatz zu ihrem deutlich älteren Mitstreiter äußerst angespannt.
«Das weiß ich, es geht um eine Leiche. Ich habe sie gefunden. Da die aber wahrscheinlich noch etwas länger tot sein wird, könnten Sie mir ja trotzdem schnell ein Pflaster für meinen Fuß geben, oder? Es müsste aber ein sehr großes Pflaster sein, vielleicht sogar ein richtiger Verband. Sie haben da doch bestimmt Verbandszeug in Ihrem Rucksack?»
Der Mann rollt die Augen. «Sie wissen schon, dass wir als Bergwacht dafür eigentlich nicht zuständig sind? Verbandszeug für leichte Schürfwunden gehört in jedes Wandergepäck.»
«Sehe ich aus, als hätte ich irgendeine Art von Wandergepäck dabei? Ich wandere nämlich gar nicht», erwidert sie verzweifelt, und als sie merkt, dass das zickiger rüberkam, als beabsichtigt, fügt sie erklärend hinzu. «Ich bin hier nur so reingeraten.»
Ihr bleibt nicht verborgen, dass die beiden daraufhin Blicke austauschen, die bestenfalls als süffisant durchgehen. Wahrscheinlich ist sogar aufrichtige Verachtung im Spiel. Immerhin erbarmt sich die Frau, ihren nicht besonders handlichen Rucksack von den Schultern zu heben und ein Pflaster hervorzukramen, worauf Ariane sich erst höflich bedankt und dann um ein zweites bittet. Als Ersatz.
Der Mann verdreht die Augen. «Sonst noch was?»
«Wunddesinfektion vielleicht?»
Sie bekommt ein weiteres Pflaster und ein Desinfektionstuch in die Hand gedrückt.
«Das ist ganz lieb von Ihnen, vielen, vielen Dank. Sie beide sind meine Rettung.» Ariane lächelt auf eine leicht unterwürfige Weise, mit geneigtem Kopf. Manipulativ, aber wirkungsvoll. Katja nennt es den Lady-Di-Trick.
Der Mann lächelt zurück. «Gern geschehen», sagt er versöhnlich, obwohl es ja die Frau war, die Ariane die Sachen überreicht hat. «Beim nächsten Mal denken Sie aber an vernünftige Ausrüstung, wenn Sie in die Berge gehen, und damit meine ich auch …»
«Meine Turnschuhe, ich weiß. Ich gelobe Besserung.»
«Na sehen Sie. Geht doch.» Der Mann hört jetzt gar nicht mehr auf zu lächeln, und Ariane fühlt sich ein bisschen mies, weil sie ein jahrhundertealtes Muster, das sie ablehnt, gnadenlos ausnutzt. Ganz dem guten alten Beschützerinstinkt verfallen, bietet der Bergretter Ariane nun sogar noch Wasser zum Trinken an, was ihr die Gelegenheit gibt, ihren Durst zu stillen und einen kleinen Plausch über Unglücksfälle in den Harzer Bergen zu halten, um die Aussage von Andreas Anton zu verifizieren.
«Klar, Tote gibt es hier jedes Jahr», bestätigt der Mann von der Bergwacht. «So im niedrigen zweistelligen Bereich. Meistens trifft es Wanderer und Kletterer, neuerdings auch immer öfter die Jungs mit ihren Mountainbikes.»
«Und Mädchen.»
«Was?»
«Es fahren doch sicherlich auch Mädchen, also Frauen, hier mit Mountainbikes durch die Gegend.»
Der Mann zuckt mit den Schultern. «Mag sein. Ist aber eigentlich kein Frauensport.»
Jetzt sind es Ariane und die Frau von der Bergwacht, die sich süffisante Blicke zuwerfen.
«Können wir dann, Dani?», fragt sie. «Ich als Frau möchte diesen Männerjob gern so schnell wie möglich hinter mich bringen.»
«Ja natürlich, verstehe ich. Tja, wir müssen. Oder soll ich Ihren Fuß noch schnell versorgen?»
«Das bekomme ich schon allein hin. Danke vielmals. Polizeihauptmeister Anton wartet oben bestimmt schon sehnsüchtig auf Sie.»
«Ach? Andreas!», frohlockt die Frau von der Bergwacht. «Super!»
Weg sind sie. Ariane sieht ihnen nach. Ist er also beliebt, der Herr Anton, die hilfsbereite Bergwächterin kam ja bei seiner Erwähnung aus dem Strahlen gar nicht mehr raus. Ein Freund und Helfer alter Schule, der Greise über die Straße führt und abends nach Dienstschluss für Familie und Nachbarn den Grill anschmeißt, um in geselliger Runde lustige Anekdoten aus dem Polizeialltag zum Besten zu geben. Der gemütliche Dicke, ein Typ zum Pferdestehlen.
Ariane – stopp! Merkste selber, ruft sie sich in Gedanken zur Ordnung. Zugegeben, bei Dicken kommt sie an ihre Grenzen, das war gerade Body-Shaming der plattesten Sorte. So leicht es ihr fällt, auf People of Color oder Angehörige der LGBTQ+ Community Rücksicht zu nehmen, so sehr gehen bei Übergewichtigen die Klischees mit ihr durch. Wenn sie ehrlich ist, hält sie sie meistens spontan mindestens für willensschwach und unsportlich – dabei ist Herr Anton vorhin eigentlich recht behände den Abgrund am Federberg runter- und wieder raufgeklettert.
Seufzend kümmert sich Ariane um ihren verletzten Fuß, bemüht, so wenig wie möglich hinzuschauen, denn eigentlich kann sie kein Blut sehen. Außer beim Steak. Das genießt sie – zum Unmut von Katja, die vegan lebt – am liebsten medium rare.
Verdammt, seit sie sich Andreas Anton am heimischen Grill vorgestellt hat, muss sie die ganze Zeit an Fleisch denken, gegrillt, gebraten, roh, egal, Hauptsache, viel. Ariane kommt beim besten Willen nicht davon los. Auch wenn es großer Mist ist, für die Tiere, fürs Klima, für die Darmflora und für Katjas Laune.
Toll, jetzt hat sie so richtig Hunger, ihre letzte Mahlzeit, hundertfünfzigprozentig fleischlos, hat sie im Speisewagen zu sich genommen, ein Apfel-Zimt-Porridge. Das ist fast neun Stunden her. Was soll’s, sie braucht jetzt einfach tierisches Protein. Mit flauem Magen setzt sie den Abstieg fort. Der Weg kommt ihr endlos vor.
Zurück im Tal macht sie sich auf die Suche nach einer Einkehr, doch die gestaltet sich schwierig. Grauen besteht nur aus einem riesigen Parkplatz für Wanderer und einer hübschen roten Holzkirche, um die sich eine kleine Ansammlung von Fachwerkhäusern gruppiert. Restaurants gibt es keine, ein kleines Hotel, das ein wenig außerhalb auf einer Anhöhe liegt, hat anscheinend schon vor Jahren dichtgemacht und rottet mit vernagelten Fenstern vor sich hin.
Immerhin hat unweit des Parkplatzes ein Kiosk namens Harzer Hexentrio geöffnet, der stilecht in einer Art Knusperhäuschen untergebracht ist, aus Holz, nicht aus Keksen, versteht sich. Klingt passabel für eine inzwischen gar nicht mehr so kämpferisch aufgelegte HvD. Schwestern im Geiste womöglich?
Das Innere des Ladens präsentiert sich genauso rustikal, wie Ariane erwartet hat, im Angebot ein schräges Sammelsurium aus Andenken und Alltagsbedarf. Was zu essen gibt es auch. Hinterm Verkaufstresen sind nur zwei der drei versprochenen Hexen am Start, unauffällige Frauen mittleren Alters mit ungeschminkten Gesichtern und praktischen Kurzhaarfrisuren. Patent versorgt die eine Ariane mit Bockwurst und Brot, während die andere ihr Kaffee einschenkt. Abgesehen davon ignorieren beide mit Hingabe ihre einzige Kundin, kein Lächeln, kein Small Talk. In einem Hundekörbchen neben der Tür döst eine schwarz-weiß gefleckte Katze, daneben steht ein kleiner Napf mit der Aufschrift Hexe 3. Ach so, da haben wir ja die dritte im Bunde, denkt Ariane. Witzig. Konsequenterweise nimmt auch die Katze keine Notiz von ihr.
«Ruhe», sagt eine der Frauen überflüssigerweise, als im leise dahinplärrenden Radio die Regionalnachrichten beginnen. Sie dreht den Ton lauter.
Direkt nach der Begrüßung vermeldet die Sprecherin mit tiefem Ernst, dass eine offenbar seit Tagen vermisste Schülerin in der Landeshauptstadt Magdeburg ermordet aufgefunden wurde. Beide Frauen stöhnen auf, wirken aber nicht überrascht.
«Schrecklich», sagt Hexe eins. «Die armen Eltern.»
Hexe zwei nickt betroffen: «Schlimm, ganz schlimm … Übrigens, Elke, sag mal. Was ist denn jetzt mit deiner Sandra?»
«Na ja, die lebt noch», sagt Hexe eins, sichtlich konsterniert über den abrupten Themenwechsel. «Und wie. Lässt sich scheiden.»
«O Gott. Nein, wie furchtbar. Du Ärmste, dir bleibt auch nichts erspart. Was ist bloß los mit der Welt? Alles aus den Fugen. Alles. Das fängt ja schon beim Wetter an. Ich hab das vorhin mal ausgependelt. Du, ich sag dir, der Sommer wird ganz übel. Total verregnet. Dann können wir auch gleich dichtmachen, wenn keiner mehr kommt. Schon wieder ein Jahr ohne Umsatz, wie soll das gehen?»
«Ach, Renate, jetzt mal doch nicht gleich wieder den Teufel an die Wand. Warum sollte denn keiner kommen? Die Leute machen doch immer noch am liebsten Urlaub in Deutschland, erst recht, wenn alles immer teurer wird. Und wieso verregnet? Dein Pendel in allen Ehren, aber ich weiß ja nicht, es ist doch eher viel zu trocken. Wenn wir da mal keine Waldbrände kriegen.»
«Sag ich ja. Die ganze Welt ist aus den Fugen! Alles wird immer schlimmer! Überall Krieg und Chaos und Mord und Totschlag.»
Ariane denkt wieder an die Leiche am Berg, den zerschmetterten Hinterkopf, sagt aber nichts.
«Kann ich noch ein Mettbrötchen zum Mitnehmen haben?», fragt sie stattdessen.
«Mit oder ohne Zwiebeln?», fragt Hexe zwei, also Renate.
«Mit.»
«Na, dann wird Ihr Liebster aber heute Abend wenig Freude an einem Gutenachtkuss haben.»
«Es könnte sich natürlich auch – wie in meinem Fall – um eine Liebste handeln», erwidert Ariane freundlich. «Keine Sorge, die ist in Hamburg geblieben.»
Anders als Katja trägt Ariane ihre Queerness zwar nicht ständig wie ein Banner vor sich her, aber manchmal, wenn Leute automatisch davon ausgehen, dass eine Beziehung heterosexueller Natur sein muss, verspürt sie schon den Wunsch, Flagge zu zeigen. Außerdem, und da kickt wieder ihr Job als Sensitivity Managerin ein, gibt es ja auch noch Paare, die sich überhaupt nicht mehr küssen, nicht zu vergessen Alleinstehende, freiwillig oder unfreiwillig, die mit so einer leichthin gesagten Zwiebel-Kuss-Bemerkung ebenfalls nicht abgeholt werden.
«Mein Sohn lebt auch in Hamburg», sagt Hexe eins, also Elke. Anders als ihre Kollegin Renate, die eindeutig schmollt, wirkt sie plötzlich aufgeschlossener. «Er ist auch …» Sie lässt den Satz eine Weile in der Luft hängen, als würde er sich so von selbst erklären, wobei sie Ariane zum ersten Mal direkt ansieht. Ein warmherziger Blick.
«Ja … also, er mag auch gern Zwiebeln, mein Sohn.»
«Die sind ja auch lecker.» Ariane lächelt Elke verschwörerisch an.
Zurück hinterm Steuer ihres Dienstkombis denkt Ariane daran, wie schön es ist, wenn die eigene Offenheit auch das Gegenüber offen werden lässt. Es war ja klar, dass Elke etwas völlig anderes über ihren Sohn sagen wollte. Etwas Wichtiges. Wahrscheinlich ist er schwul. Und wahrscheinlich ist das nichts, worüber sie gern mit Renate, die Ariane in Gedanken ab sofort die böse Hexe nennt, sprechen würde. Denn die findet ja schon eine Scheidung ähnlich schlimm wie einen Mädchenmord.