Harzmagie - Jürgen H. Moch - E-Book

Harzmagie E-Book

Jürgen H. Moch

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Beschreibung

Die Ereignisse im Harz haben hohe Wellen geschlagen in der magischen Welt. Nun brechen sie mit voller Wucht über die 16-jährige Werwölfin Elisabeth, die Nekromantin Sabrina und den Hexer Theobald herein. Berauscht von ihren stetig wachsenden Fähigkeiten, fällt es den drei Freunden immer schwerer, ihre Kräfte zu kontrollieren. Der Sog hat sie längst erfasst. Nur wird es ihnen gelingen, ihm wieder zu entkommen? Gerade jetzt steht eine Anhörung vor dem Hohen Rat in Berlin bevor, der sie alle auf den Scheiterhaufen bringen könnte, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Denn die rebellischen Harzer unterlaufen permanent Gesetze, gründen sogar so etwas wie eine eigene Schule. Derweil zieht Borga, die schwarze Hexe, weiterhin im Hintergrund ihre Fäden. Welchen perfiden Plan sie verfolgt, ist unklar, aber sie entsendet ihre Schergen in den Harz, um ihn mit aller Macht umzusetzen.

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Jürgen H. Moch

Eine Fantasyhommage an Deutschlands

mystisches und uraltes Mittelgebirge

Impressum

Harzmagie

Teil II

Sogwirkungen

ISBN 978-3-96901-045-7

ePub Edition

V1.0 (07/2022)

© 2022 by Jürgen H. Moch

Abbildungsnachweise:

Umschlag © Noemi Möhr | [email protected] | moanmei.artstation.com

Porträt des Autors © Tim Blankenburg | www.baumloewe.de

Schriftart ›Badhorse‹ © Angga Mahardika | myfonts.com

Redaktion:

KLEX@EPV

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzmagie.de | harzkrimis.de

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Ein paar Worte vorweg

Prolog

Zu viel – erst recht für einen Menschen

Die große Anhörung

Zeit – doch nicht zum Innehalten

Kurze lange Kinonacht

Ein ganz normales Frühstück

Und was soll das jetzt für ein Bund sein?

Heimkehrer

Eröffnungsfeier

So ist das also

Wintersonnenwende

Die Schattenseite des Soges

Die Flucht

Entschuldigungen

Felix

Überlebende

Ein trauriger Sieg

Konsequenzen

Auch kein Weg

Kainsbar

Brathähnchen

Wieder Schule

Die erste gemeinsame Stunde

Der Sog der Binsenkrauts

Böse alte Gewohnheiten

Halbschlaf

Totenbeschwörung

Ji und Jin

Noch mehr lernen

Neue Trainer

Anno Tobak

Krankenbettgeflüster

Konfrontation um Mitternacht

Borgen und Sorgen

Verschwundener Lehrer

Schweigen wie ein Grab

Schlittenfahrt und Schlitten fahren

Schlittenhunderennen

All-you-can-eat-Schlacht

Kräuterstunde

Harzratssitzung

Wendi

Fliedergrab

An der Pforte zu Helheim

Einforderung von Diensten

Zora Flieder

Noch ein Opfer am Grab

Unerwarteter Anruf

Mehr als fünf Sekunden

Orisanas letzte Weissagung

Totenfeier

Randi – Randolph

Seelenhandel

Dreizehn Verschworene

Burg Falkenstein

Hinterhalt

Ratlosigkeit

Kerker

Rückzieher ausgeschlossen

Kein Wort darüber

Unstillbarer Hunger

Riskanter Anruf

Kerkerspiele – Vorrunde

Höllentrip

Kerkerspiele – Hauptrunde

In den Fängen der Hölle

Tausend und eine Wendi

Urgefühle

Rettung auf den letzten Schrei

Gefühlschaos

Nollwenns Rache

Nekromantin

Nur reden

Falsch abgebogen

Was ist schon Sünde?

Interruptus

Überraschender Weg zurück

Gerichtssitzung

Zeuge der Verteidigung

Auf der anderen Seite

Kaffee, Kuchen und andere Peinlichkeiten

Sohn des Unbekannten

Epilog

Personenverzeichnis

Danksagungen

Über den Autor

Bereits erschienen

Eine kleine Bitte

Ein paar Worte vorweg

An dieser Stelle möchte ich allen Lesern von Harzmagie Blutsbande danken, für das überwältigende Lob und die spürbare Ungeduld auf den Nachfolgeroman. Das Warten hat ein Ende.

Hier ist er!

Sogwirkungen ist die Fortsetzung von Blutsbande und knüpft direkt an die Handlung des ersten Romans an.

Die bekannten Charaktere tauchen wieder auf, aber es gibt eine ganze Reihe neuer Figuren, die ihre eigene Färbung und vor allem Humor mit in die Geschichte bringen. Daher wurde als Nachschlagereferenz am Ende des Buches ein Personenverzeichnis eingefügt.

Denjenigen, die den ersten Band nicht gelesen haben sollten, empfehle ich, das nachzuholen. Die Ereignisse und Anspielungen knüpfen direkt an die Vorgeschichte an und ich konnte nicht an allen Stellen eine ausschweifende Erklärung zufügen, die einem die Lektüre des ersten Bandes ersparen würde. Sonst wäre Harzmagie II noch umfangreicher geworden, als es jetzt schon ist.

Die Protagonisten in meinem Buch sind, ebenso wie die Handlung, frei erfunden. Die Orte sind zum großen Teil authentisch, auch wenn sie manchmal ein wenig glattgefeilt werden mussten.

Ich wünsche ein spannendes Lesevergnügen!

Jürgen H. Moch

Prolog

Die kleine dunkle Gestalt regte sich nicht, als bestünde sie aus Stein. Ihr Blick ging in eine Ferne jenseits des wolkenverhangenen Horizonts. Die eisige Kälte schien ihr nichts anhaben zu können, ebenso wenig der schneidende Wind, der über die Nordsee heranpeitschte und Wellen weit den Strand hinauftrieb, wo sie gierig den Sand vor Wangerooge wegfraßen. Bei diesem Sturm traute sich niemand so dicht ans Wasser, aber das war der Gestalt nur recht so.

Etwas abseits drängten sich zwei frierende Personen und eine sehr große Wölfin gegen das Wetter zusammen.

»Wie lange dauert das denn noch?«, fragte die ältere der beiden, während sie mit den Füßen aufstampfte, um wieder etwas Gefühl in die kalten Glieder zu bekommen.

»Woher soll ich das wissen, Inga? Die Meisterin erklärt ja fast nie etwas. Ich bin der Meinung, dass sie den Menschen nicht hätte schicken dürfen, auch wenn sie ihn zu ihrem Kettenhund gemacht hat. Ich weiß nicht, was sie an dem findet. Es wäre besser gewesen, jemanden mit mehr Fähigkeiten und Wissen zu nehmen«, meckerte die jüngere Frau.

»Pah, hättest du dich als Sterbliche etwa freiwillig auf diese Reise nach Asgard begeben? Sicher nicht. Der Mann ist ein ausgebildeter Soldat und sein Verlust wäre verschmerzbar. Außerdem hat er ein gutes Gespür für Gefahr. Nicht einmal Julchen hat ihn damals im Krankenhaus erwischt.«

Daraufhin knurrte die Wölfin verärgert und fixierte Inga mit ihren dunkelgelben Augen, während sie Reihen messerscharfer Zähne entblößte.

»Du kannst soviel knurren, wie du willst. Ich sage nur, wie es ist.«

»Ich vermute, sie stört sich daran, dass du sie Julchen genannt hast. Sie heißt Giulia und ist immerhin eine Alpha«, warf die Jüngere ein.

»Ex-Alpha, wenn ich mich nicht irre. Hat sich ja von der jungen Göre nach Strich und Faden verhauen lassen. Wenn ihr mich fragt, wäre es besser gewesen, sie hätte diese Elisabeth ohne große Worte gleich in Stücke gerissen, anstatt den Schwanz einzukneifen und wegzurennen.«

Die Wölfin schnappte blitzartig nach Ingas Hand, doch diese hatte das geahnt und sie bereits weggezogen.

Bevor der aufkeimende Streit richtig eskalieren konnte, unterbrach ihn ein Donnergrollen, als sich eine langgezogene Welle weit hinauf auf den Strand schob. Es schien gerade so, als wolle das Meer einen Vorstoß wagen, um die Person zu verschlingen, die sich so weit herangewagt hatte. Das Wasser türmte sich drohend übermannshoch auf.

Die dunkle Gestalt machte jedoch keine Anstalten zurückzuweichen. Auf ein schneidendes Wort von ihr hielt die Welle in ihrer Bewegung inne. Die Person trat näher und berührte vorsichtig die senkrechte Wasseroberfläche mit den Fingerspitzen. Die Worte in alter Sprache, die sie dabei murmelte, wurden vom Wind mitgerissen, doch die Macht tat ihre Wirkung. Die Welle begann in der Mitte in vielen Farben zu schillern. Die Konturen wurden immer klarer und eröffneten einen Blick in eine andere Welt. Dieser Augenblick währte jedoch nur kurz, denn das Bild verschwamm sogleich, als die Gestalt eines Mannes von der anderen Seite hindurchkippte und kraftlos auf den nassen Strand klatschte. Das Flirren erstarb langsam. Die Welle fiel brodelnd in sich zusammen und zog sich ebenso schnell wieder zurück, wie sie gekommen war.

»Hast du es erledigt?«, fragte die kleine Gestalt drängend den völlig erschöpften Mann vor sich, der in sich zusammengekauert dalag und zuckte, als würde Strom durch seinen Körper jagen.

»Ja!«, presste er sichtbar von Schmerzen gequält heraus.

»Man hat dich doch nicht bemerkt, oder?«

Ein mühsames, aber entschiedenes Kopfschütteln war die Antwort.

»Hast du mit ihm sprechen können?«, wollte sie wissen. Er konnte nur noch schwach nicken. Mit letzter Kraft streckte er seine Hand aus und reichte ihr ein kleines Bündel. Dann wurde er ohnmächtig.

Ohne ihn zu beachten, öffnete die Gestalt es hastig. Die anderen drei traten näher und beugten sich vor, um besser sehen zu können. Es kam ein runenverzierter Bronzearmreif zum Vorschein, den sie wie einen kostbaren Schatz mit beiden Händen umfasste, ganz dicht an ihren Mund hob und küsste. Mit einem zufrieden klingenden Grunzen schob sie den Reif auf ihren rechten Arm, wo er kurz aufglühte. Sie strich andächtig über die Runen, bis das letzte Glühen verblasste. Erst danach drehte sich die Gestalt mit einem siegessicheren Blick ganz zu den anderen um.

»Das war der nächste Schritt. Mein Krieger hat seine Pflicht getan und muss jetzt ruhen. Die Reise durch 1Jormungands Ebene hat ihn völlig erschöpft. Nehmt ihn mit.«

Mit vereinten Kräften luden sie den Bewusstlosen auf die Wölfin und verschwanden mit ihm ungesehen in den Dünen.

1 Jurmungand, die weltumspannende Midgardschlange, zählt zu den drei Weltfeinden der germanischen Mythologie, die alle Abkömmlinge von Loki und der Riesin Angrboda sind.

Zu viel – erst recht für einen Menschen

»Alles hat sich seit dem Sommer verändert – einfach alles«, seufzte Elisabeth schweren Herzens, als sie dem schlanken Mann nachblickte, den sie fast sechzehn Jahre lang für ihren Vater gehalten hatte. Eine einsame Träne verließ ihr Auge und lief ihr langsam über die Wange. Michael Wollner stieg in seinen Dienstwagen der TU Clausthal und fuhr ab, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Irgendwo tief in sich konnte sie ihn verstehen, denn er unterschied sich vom Rest der Familie.

Sabrina, ihre beste Freundin, trat neben sie und berührte sie sanft am Arm.

»Das klingt jetzt hart, aber glaube mir, es ist so das Beste. Es war einfach zu viel für ihn.«

»Ich hatte so gehofft, dass er genauso cool reagiert wie deine Mutter, Brina. Die ist immerhin auch völlig unmagisch«, schniefte Elisabeth.

»Ja, ich bin echt stolz auf sie. Vielleicht hat es sie abgehärtet, all die Jahre meine Fantasy-Sucht und meinen Gothic-Tick ertragen zu müssen. Irgendwie war ich schon immer schräg drauf. Wenn ich ehrlich bin, hat es sich lange vorher angekündigt, dass in mir mehr schlummert. Hast du früher etwa niemals vermutet, etwas ganz Besonderes zu sein?«

»Nein! Bis Ende Juli diesen Jahres habe ich noch geglaubt, dass ich ein ganz normales Mädchen in Hannover mit einem Haus, Eltern und einer nervigen, etwas jüngeren Schwester wäre. Das Einzige, was mich damals belastet hat, war mein angebliches Nervenleiden, weswegen ich ständig diese Medizin nehmen musste. Das hat mich zur Außenseiterin gemacht. Ansonsten verlief mein Leben völlig gewöhnlich.«

»Es ist schon sonderbar, dass du nicht vorher Verdacht geschöpft hast. Also hat sich wirklich erst alles an diesem denkwürdigen Zeugnistag geändert? Das muss übrigens genau der Tag gewesen sein, als ich den Geist von Sophie das erste Mal gesehen habe. Schon merkwürdig, dieser Zufall. Damals habe ich erst gar nicht geschnallt, was los ist«, erinnerte sich Sabrina.

»Im Grunde stimmt das, was du sagst. Jedenfalls haben sich danach die Ereignisse überschlagen. Ich weiß noch gut, dass ich wegen meiner schlechten Noten nicht nach Hause wollte. Stattdessen bin ich in die Eilenriede gelaufen und dort auf meinen Lieblingsbaum geklettert. Da habe ich zufällig ein vertrauliches Gespräch zwischen Mama und unserer Ärztin Frau Dr. Borga belauscht. Ich hatte deswegen lange ein schlechtes Gewissen, weil ich es Mama nicht gesagt habe.«

»Mach dir doch keine Vorwürfe. Geändert hätte das nichts. Es wäre alles genauso gekommen, wie es passiert ist. Nur hättest du noch weniger Ahnung gehabt. Meiner Meinung nach muss das schon länger vorbereitet worden sein. Immerhin seid ihr Wollners tags darauf Hals über Kopf in den Harz gezogen. Glaubst du etwa, das wäre wirklich aus heiterem Himmel gekommen?«

Elisabeth zuckte mit den Schultern. »Ach, ich weiß es nicht. Kann schon sein. Ich konnte nur soviel verstehen, dass wir vor etwas flohen. Erst im Harz zeigte sich, was sich in Wirklichkeit dahinter verbarg.«

Sabrina grinste plötzlich. »Sei doch froh. Du leidest gar nicht an einer Nervenkrankheit. Du bist eine obercoole Werwölfin, geboren von einer Hexe. Also wenn ich entscheiden dürfte, würde ich auch die Sache mit dem Fell wählen.«

»Hexengeborene Werwölfin! Weißt du eigentlich, wie schräg sich das immer noch anhört? Das macht mich selbst unter den Magischen zu einer verbotenen Exotin. Meine Mutter hatte nicht ohne Grund ihre Macht verpfändet, um mich geheim zu halten. Sie hat eines der kapitalsten Gesetze der Hexenwelt gebrochen, indem sie mich mit meinem leiblichen Vater gezeugt hat. Er ist immerhin ein mächtiger Werwolf. Darauf steht die Todesstrafe.«

Sabrina zuckte nur mit den Schultern und lümmelte sich jetzt in den großen Knautschsessel, der in einer Zimmerecke stand.

»Na und? Ich bin eine Nekromantin. Damit bin ich gleich dreimal verboten. Und Theobald kann auch zaubern. Den hätte seine Mutter sofort bei der Geburt ersäufen müssen. Wir sind alle besonders und wir sind Harzer.«

»Ach, der Harz. Mit all der natürlichen Magie hier musste es ja passieren, dass ich mich verwandle. Das hat Borga sicher vorher gewusst. Wenn ihr nicht gewesen wärt, dann wäre ich garantiert durchgedreht. Was macht Theobald eigentlich noch unten?«

»Ich nehme an, deine und seine Mutter quetschen ihn nochmal wegen unseres Ritualbundes aus. Ich glaube, es wurmt Anna gewaltig, dass wir sogar die alten Götter auf uns aufmerksam gemacht haben. Aber im Grunde war es das Beste, was uns passieren konnte.«

»Wieso? Wir haben die ganze Magiewelt wachgerüttelt. Was soll daran gut sein?«, wunderte sich Elisabeth.

»Überlege doch mal. Wenn wir nur drei ganz normale Magische wären, dann hätte der Rat vermutlich keine Skrupel, uns nach der Anhörung, die uns noch bevorsteht, zu verbrennen. Meinst du ernsthaft, dass sie sich trauen, drei Auserwählte der Götter zu rösten? Allein schon, weil ich damals neben meiner eigenen Seele noch die Seele der mächtigen Nekromantin Sophie in mir getragen habe, der ich meine jetzige Begabung verdanke, müssen sie mich anerkennen. Sophie hat noch diese Ausnahmegenehmigung von Kaiser Wilhelm. Ich bin ein Teil von ihr, also muss die auch für mich gelten.«

»Das mag bei dir schon so hinkommen. Bei Theobald und mir liegt der Fall anders. Als ein in Magie begabter Sohn einer Hexe hat er keine Überlebensberechtigung. Mama und Anna wollen sich irgendetwas ausdenken, nur habe ich keine Ahnung, wie sie das dem Rat erklären wollen. Im Grunde wiegt die Vergangenheit bei mir noch schwerer. Es gibt doch diese dämliche Prophezeiung vom Ende der Zeit, wenn eine Hexe mit einem Werwolf, na ja … «

»Oh, richtig. Sag mal, du hast mir nie erzählt, ob sie es in Tiergestalt, als Menschen oder in verschiedenen Formen miteinander getrieben haben. Komm, sag schon, wie versaut, denkst du, war es?« Sabrina beugte sich dazu vor und starrte Elisabeth intensiv an. Doch damit war sie zu weit gegangen.

»Brina, musst du immer so unanständig sein? Ist doch ganz egal, wie sie es gemacht haben, oder?«

Als Sabrina noch dazu übertrieben zu hecheln begann, griff sich Elisabeth ein Kissen und warf es ihrer Freundin an den Kopf. Genau in diesem Moment ging die Tür auf und Theobald, ihr gemeinsamer Freund, trat ins Zimmer.

»Was ist hier denn los? Darf ich mitlachen?«, fragte er irritiert.

»Wir erörtern gerade diverse Paarungsmöglichkeiten zwischen magischen Spezies«, prustete Sabrina heraus, doch Theobald winkte ab.

»Hört bloß auf. Emilia und meine Mama haben wieder begonnen, sich hochzustacheln, wer die coolere Hexe von beiden ist. Das geht mir so was von auf die Nerven. Und jetzt albert ihr hier auch noch herum wie die Kleinkinder. Da ist selbst Oskar aus deinem Rudel vernünftiger.«

»Autsch! Das hat gesessen, Theo«, kicherte Sabrina.

»Apropos Albert. Wie geht es deinem Halbbruder?«, erkundigte Theobald sich bei Elisabeth.

»Er hat viel zu tun, seitdem er Alpha der Hasselfelder Wölfe ist. Ich muss mich ja auch um mein eigenes Rudel kümmern. Wir nennen uns übrigens jetzt offiziell die Clausthaler. Genauso wie Papa, der immer noch die Kaiserwölfe leitet, haben wir jede Menge Verantwortung.«

Theobald nickte zustimmend, dann seufzte er.

»Ich weiß, seit der großen Schlacht an der Einhornhöhle verhalten sich alle irgendwie anders, geradeso als ob das erst der Anfang gewesen wäre. Nur wovon? Ich werde das jedenfalls nicht vergessen, wie du ins Kaiserrudel aufgenommen werden solltest. Alberts Mutter, Giulia, muss dich wirklich gehasst haben oder vielmehr tut sie das sicher immer noch. Ist ganz schön nach hinten losgegangen, als sie erst deine Schwester Klara entführt, verwandelt und dann gegen dich in den Kampf geschickt hat. Ausgehungert, wie sie war, muss sie eine gefährliche Gegnerin gewesen sein. Wie hast du Klara eigentlich unterworfen? Das hast du nie erzählt.«

Elisabeth seufzte. »Mit purer Alphamacht. Ich bin eine natürliche Werwölfin. Damit habe ich Klara in mein Rudel gezogen. Das nervt sie ganz schön, könnt ihr mir glauben.«

Sabrina setzte sich auf. »Oh man, ich hätte so gerne gesehen, wie du gleich darauf Giulia herausgefordert hast.«

»Dazu ist es erst gar nicht gekommen, weil in dem Moment die Jägerinnen des Rates aus Berlin aufgetaucht sind und uns verhaftet haben.«

Theobald schnaubte. »Das waren doch Abtrünnige. Ich glaube, genauso wie Giulia sind die aber nur Rädchen in einem viel größeren Komplott. Der Kopf des Ganzen muss die Hexe Borga sein – genau die Borga, die jahrelang für dich den Trank gebraut hat, der die Verwandlung hat unterdrücken sollen.«

»Aber was ist der Plan dahinter?«, fragte Sabrina.

»Wir wissen nur, was ich auf meinem Astralausflug belauscht habe. Es ging darum, die Auserwählte der Götter zu finden, zu opfern und sich deren Macht anzueignen.«

»Aber sie haben ihre Rechnung ohne uns und vor allem ohne unsere Mütter gemacht«, erinnerte sich Sabrina. »Deine Mutter hat sich ihre Hexenkräfte zwar auf schamlose Weise zurückgeholt, doch so haben sie und Anna in höchster Not eingreifen können und die ausbrechende Schlacht gewendet.«

Elisabeth nickte mit zusammengepressten Lippen. Dann bestätigte sie: »Ja, und sie haben beide wie Furien gekämpft. Und trotzdem gab es massenhaft Tote, obwohl es ohne sie noch mehr geworden wären. Sogar du, Brina, verdankst ihnen dein Leben.«

Jetzt legte sich ein Schatten über Sabrinas Gesicht. Andächtig fuhr sie sich mit dem Finger über ihre lange rosa Narbe, die sie quer über dem Hals trug.

»Ja, das stimmt wohl. Nachdem ich in der Nekromantie stark genug geworden war, hat Sophie meinen Körper übernommen und sich selbst aus dem Grab geholt, indem sie mich geopfert hat. Sie hat das die ganze Zeit vorbereitet und ich bin ihr voll in die Falle getappt. Nachts suchen mich oft Albträume davon heim. Eure Mütter haben mich wirklich in letzter Sekunde mit dem Katzenopfer zurückgeholt. Ich stand schon fast an Hels Pforte.«

»Wo ist eigentlich unsere große Hilfe, der Ururenkel von Freya?«, erkundigte sich Theobald.

»Du meinst Ragnar? Ihm sind die letzten Ereignisse zu Kopf gestiegen. Er rennt überall herum und prahlt, was für ein toller Hecht er ist. Und wenn er das mal nicht macht, dann sabbert er Elle hinterher«, feixte Sabrina.

Ein drohendes Knurren entfuhr Elisabeth, woraufhin ihre Freundin sogleich in Deckung ging. Da erscholl ein Ruf von unten. Theobalds Mutter wollte abfahren.

»Ich muss gehen. Mama wird sich ausruhen wollen, nachdem sie Michael Wollner die Erinnerungen an die Magie genommen hat. War selbst für sie ein schönes Stückchen Arbeit, ihm einzupflanzen, dass er euch nur ganz normal verlassen wollte.«

»Es ging nicht anders, ich weiß«, seufzte Elisabeth. »Als wir versucht haben, ihn vorsichtig in alles einzuweihen, ist er schlichtweg durchgedreht, wollte uns nicht mehr sehen und bezeichnete uns nur noch als Monster. Mama hat gesagt, dass mit dem Wechsel nach Clausthal ihre Ehe sowieso einen gewaltigen Knacks bekommen hat. Klara ist zwar seine leibliche Tochter, leidet aber erstaunlicherweise kaum darunter, dass er geht. Sie stürzt sich voll in ihre Werwolfausbildung. Papa ist ihr Leitwolf und es scheint super zu laufen.«

»Wohnt Lilly noch als Au-pair bei euch oder ist sie schon mit Mike zusammengezogen?«, erkundigte sich Sabrina.

»Sie reden davon, irgendwann zusammenzuziehen und vielleicht zu heiraten, aber noch wohnt sie im Gästezimmer. Ach, wir dürfen nun offiziell hier in der Neuen Mühle bleiben. Theos Mama hat da was an der Univerwaltung gedreht. Übrigens nennen wir uns ab heute nach dem Mädchennamen meiner Mutter. Ich heiße jetzt nicht mehr Wollner, sondern Schneeblume«, erklärte Elisabeth.

»Wow! Dann seid ihr die drei Schneeblumen. So einen schönen Namen hätte ich auch gerne«, kommentierte Sabrina.

»Du kannst ja Theo heiraten, dann heißt du wie er: Binsenkraut«, revanchierte sich Elisabeth für die Sticheleien von Sabrina.

»So weit kommt das noch …«, warf die Angesprochene sofort ein.

»Theobald Leif Binsenkraut! Komm sofort herunter!«, dröhnte es plötzlich magisch verstärkt durchs Haus und ließ alle drei zusammenfahren.

»Das war der zweite Gong«, sagte Sabrina und erhob sich. »Ich gehe mal gleich mit, dann muss meine Mama mich nicht auch noch abholen. Bis zur Anhörung, Elle.«

Sie drückten sich, dann gingen ihre Freunde.

Ein paar Minuten später fuhr der Wagen der Binsenkrauts ab. Elisabeth seufzte schwer und ging in Wolfsgestalt laufen. Das half gut, den Kopf freizubekommen und die Dinge zu verarbeiten. Immerhin drohte noch die Anhörung vor dem Hohen Rat in Berlin, der über die Einhaltung der Magiegesetze wachte, die in den letzten Wochen reichlich gebeugt worden waren, um sich vorsichtig auszudrücken. Seit Tagen wuselten deswegen schon Ermittlerinnen des Rates überall im Harz herum und befragten jeden Beteiligten der letzten Ereignisse.

Die große Anhörung

Der Rat in Berlin ließ mit seiner Reaktion auf die Ereignisse noch zwei Wochen auf sich warten, doch nun war der große Tag gekommen. Sie fuhren alle mit einem mulmigen Gefühl an einem eiskalten Dezembertag in einem angemieteten Bus nach Berlin.

Vorgeladen waren die drei Schneeblumen, Emilia mit ihren Töchtern Elisabeth und Klara, zudem alle Alphas der Harzrudel, sowie Elisabeths ganzes Rudel, eine Abordnung der Zwerge, unter ihnen Friedjoff Flötzer und Geosine Schramm, ihre Klassenlehrerin, Ragnar Asegard, Sabrina Wilhelmine Schubert, Anna und Theobald Binsenkraut sowie Annas Mutter Philidea, die Elisabeth bislang noch nicht kannte.

Jedoch brauchte sie gar nicht lange überlegen, wer die elegante Frau sein mochte, die erst kurz vor Berlin zugestiegen war. Sie sah Anna so ähnlich, dass sie fast als ihre Schwester hätte durchgehen können, wenn sich da nicht doch die eine oder andere Falte mehr auf dem charismatischen Gesicht gezeigt hätte. Auch ihr Geschmack, was Kleidung anging, konnte kaum ähnlicher sein. Beide trugen aufreizende, bunte Kleider, die ihre Mutter verharmlosend als freizügig bezeichnete. Sie strahlten eine Attraktivität aus, die auf Männer stark wirkte. Philidea Binsenkraut grüßte fröhlich in die Runde, dann wandte sie sich ihrer Tochter und ihrem Enkel zu, die gleich vorne saßen. Der Platz neben Anna war noch frei. Neben Theobald saß Klara, die jedoch tief und fest schlief. Heinrich Wolfsherr hatte sie die ganze letzte Nacht mit Training gequält, damit ihre innere Wölfin müde genug war, um sich nicht gleich zu zeigen.

»Die Götter seien mit euch, Annifrieda und Theobald! Es ist schön, euch wiederzusehen und dazu noch an einem so herrlichen Tag.«

»Hallo Oma!«, antwortete Theobald, doch seine Mutter packte sie sofort bei der Hand und zog sie grob auf den Sitz neben sich. Dann sprach sie so leise, dass ein Mensch es nicht hätte hören können. Elisabeth in der Reihe dahinter hingegen verstand mit ihren Wolfsohren jedes Wort.

»Mutter, wie oft soll ich dir das noch sagen? Du sollst mich nicht so nennen. Die anderen kennen mich nur als Anna und dabei bleibt es«, fauchte die Tochter.

»Ach, ich verstehe einfach nicht, warum du nur diesen wunderschönen Namen so gewöhnlich abkürzt. Immerhin gibt es Annas wie Sand am Meer«, gab Philidea in einem mütterlichen Ton zurück, der wirklich jede Tochter auf die Palme gebracht hätte.

»Weil das überhaupt nicht zu mir passt.«

»Papperlapapp, du bist eine außergewöhnliche Hexe und das verlangt nach einem außergewöhnlichen Namen. Wir sind immerhin die Binsenkrauts. Mir ist jedoch zu Ohren gekommen, dass du von einer ehemaligen Schülerin ernsthafte Konkurrenz bekommen hast. Wo sitzt diese Emilia Schneeblume? Ich muss mich unbedingt mit ihr über ihren Familienstammbaum unterhalten.«

Dabei wollte sich Philidea strecken und in die hinteren Sitzreihen spähen, aber Anna riss sie zurück.

»Lass das, du kannst mich später noch blamieren.«

»Das hast du ja schon selbst ausführlich geschafft. Die Kinder haben dich lange an der Nase herumgeführt. Und dann lässt du dich auch noch von einem Liebestrank umhauen. Du hast dich selbst zu anfällig dafür gemacht mit deinem abstinenten Lebenswandel in den letzten Jahren. Ich habe dir immer gesagt, dass eine Binsenkraut regelmäßigen Sex braucht, um ausgeglichen zu sein. Du weißt doch noch, von wem wir abstammen, oder?«

»Mutter!«, flehte Anna. »Hier im Bus sind haufenweise Werwölfe. Sprich um der Götter Willen leiser. Das weiß nicht einmal Theobald. Woher hast du von der Sache mit dem Trank erfahren?«

»Oh, das war kinderleicht. Die Jägerinnen, die sie zu mir zur Befragung geschickt haben, hatten alle bisherigen Untersuchungsberichte gelesen.«

»Du hast doch nicht etwa ihre Gehirne durchstöbert, oder doch?«

»Aber natürlich habe ich das. Ich muss sagen, dass sie es mir richtig leicht gemacht haben, diese jungen Dinger. Danach habe ich hier und da noch eine Kleinigkeit in der Darstellung verbessert, bevor ich sie weggeschickt habe. Das hättest du auch machen können, aber du musstest dich ja wie früher an die Vorschriften halten, jetzt wo ich gerade die Hoffnung hatte, dass die echte Binsenkraut aus dir herausbricht.«

»Ach, darum geht es dir. Ich soll genauso lasterhaft werden wie du!«

»Lasterhaft? Du verleugnest immer noch deine wahre Natur. Du hast die besten Veranlagungen. Und Gedächtniszauber hast du ja auch reichlich geübt, wie ich mitbekommen habe. Aber es gab da in dem Verstand der Jägerinnen noch Lücken. Ich würde mich gerne jetzt mal mit dieser Emilia …«

»Unterstehe dich, in Emilias Geist herumzufuhrwerken, oder ich vergesse, dass ich deine Tochter bin.«

»Oh, so kämpferisch? Ich hatte schon die Befürchtung, dass du nach Lylly keine weitere Freundin finden würdest. Steht sie auch auf …?«

Doch Elisabeth konnte nicht mehr verstehen, auf was Anna oder besser Annifrieda Binsenkraut und Lylly gestanden hatten, weil sich in diesem Moment Heinrich Wolfsherr erhob und laut zu allen sprach.

»Bitte mal herhören! Wir sind gleich da. Denkt daran, dass es heute nicht nur um ein paar Nebenereignisse einiger weniger geht, sondern vor allem um die Freiheit des Harzes. Wir sind frei und stolz darauf. Haltet zusammen, dann können sie uns nichts anhaben.«

Vielstimmige Rufe setzten ein und Oskar heulte sogar. Kurz darauf fuhr der Bus bereits auf den Parkplatz vor dem Ratsgebäude. Alle erhoben sich und stiegen hinter dem Alpha des Kaiserrudels aus. Elisabeth fand keine Gelegenheit, Sabrina über das gerade belauschte Gespräch zu informieren. Als sie die letzten Stufen aus dem Bus sprang, landete sie direkt vor Philidea, die dort alleine stand. Anna hatte Theobald noch einmal beiseitegenommen und sprach eindringlich mit ihm.

»Hallo Frau Binsenkraut, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Elisabeth.«

Sie streckte der älteren Frau die Hand hin. Diese deutete nur ein freundliches Nicken an.

»Sehr erfreut, aber das mit dem Hände geben lassen wir besser. Ich weiß, wie stark so ein Werwolfhändedruck ist, und du siehst richtig kräftig aus. Wie groß bist du? Über 1,85 Meter schätze ich. Dein Nachname ist Schneeblume, nicht wahr? Wir müssen uns unbedingt einmal zusammen mit deiner Mutter zum Tee treffen, um darüber zu plaudern. Sie ist das doch da hinten, oder?«

In der Tat stieg Emilia gerade mit Klara an der Hand über die hintere Tür aus. Diese jammerte theatralisch, weil sie nicht mehr weiterschlafen durfte. Sie schien immer noch sehr müde zu sein.

»Du siehst deiner Mutter wirklich sehr ähnlich. Und das daneben ist wohl deine Schwester. Eindeutig auch eine Schneeblume wie du. Aber die Größe hast du wohl von deinem unheimlich attraktiven Vater«. Philidea zwinkerte ihr zu.

»Für das Kompliment danke ich Ihnen. Aber hüten Sie sich, in meinen Verstand einzudringen. Ich mag so etwas nicht«, gab Elisabeth höflich, aber bestimmt zurück.

Philidea machte einen Schmollmund. »Och, wo das doch so einen Spaß macht. Du hast wohl gelauscht, aber das ist bei diesen Ohren sicher unvermeidbar. Wie dem auch sei, du darfst mich Philidea nennen.«

Sie brach ab, denn Anna und Theobald gesellten sich hinzu. Ihr Freund sah irgendwie in sich gekehrt aus. Jetzt hätte Elisabeth einiges dafür gegeben, genauso in Gehirne eindringen zu können, wie es die Binsenkrauts wohl vermochten.

Eine Schar Jägerinnen erschien und geleitete alle ins Gebäude. Von außen machte das Ratsgebäude nicht viel her. Es sah mit seinem verwitterten hellen Sandstein und der schnörkellosen Fassade eher gewöhnlich, ja geradezu unauffällig aus. Aber drinnen staunten kurz darauf alle, die noch nie hier gewesen waren, über den Prunk und Reichtum. Fast lebensechte Skulpturen und üppige Wandteppiche gab es entlang der Wände zu sehen. Sie stellten mythologische und phantastische Personen und Szenen dar.

Insgesamt drei Dutzend Jägerinnen in ihren schwarzen Dienstuniformen flankierten sie in einer lockeren Formation, sodass klar wurde, dass man sie hier im Auge behielt.

In einer großen Halle mit Glasdach vor dem eigentlichen Ratssaal mussten sie halten. Die Jägerinnen postierten sich an den Türen und Ausgängen. Klara hielt sich eingeschüchtert an der Hand ihrer Mutter fest, aber auch Elisabeths Freunde sahen nervös aus. Sa-brina tuschelte gerade leise mit Theobald.

Elisabeth wollte nicht stören und sah sich um. Da fiel ihr Blick auf eine besondere Reihe von Statuen an der Seite. Die meisten stellten das germanische Pantheon dar. Sie trat näher und schritt die Skulpturen ab. Vor Wodan blieb sie stehen. Er war nicht in seiner klassischen Form mit seinen Raben, Hugin und Munin, und den Wölfen, Geri und Freki, sondern mit seinem Speer Gungnir dargestellt. Als sie die Hand ausstrecken wollte, um die Statue zu berühren, ertönte ein Krächzen über ihrem Kopf. Das kam von einem Raben, der direkt unter dem Dach auf einem Sims saß und zu ihr herunterschaute. Als sie ihn erspähte, breitete er die Flügel aus und kam heruntergesegelt. Er landete nur ein paar Meter entfernt auf einem Blumenkübel, in dem ein üppiger Ficus wuchs, und begutachtete von dort aus Elisabeth. Sie trat näher und schaute in die wachsamen Augen, denn sie bekam da so eine Ahnung, wer der Rabe sein musste.

»Ich habe mich noch nicht bedankt, dass du mich immer wieder vor Gefahren gewarnt hast. Also, Danke!«, flüsterte sie.

Der Vogel legte den Kopf schief, als ob er lauschte. Dann verhielt er sich noch merkwürdiger als sowieso schon und schüttelte den Kopf. Als er gleich wieder aufflog und Richtung Kuppel verschwand, blickte ihm Elisabeth erstaunt nach. Sie sah sich um, doch niemand schien diese kleine Szene beachtet zu haben. Alle hatten sich in Grüppchen zusammengestellt und unterhielten sich. Nur Anna Binsenkraut stand ganz alleine vor einer der anderen Figuren. Elisabeth überlegte kurz, dann ging sie hinüber. Freyas Statue war wunderschön und zeigte sie in ihrer Rolle als Führerin der Walküren.

»Wieso hat Freya ausgerechnet uns beide erwählt?«, fragte sie unvermittelt und stellte sich neben Anna.

Diese blickte weiter auf die Göttin und strich sich über das Gesicht, als wenn sie sich eine Träne wegwischte.

»Sie ist in all dem, was sie tut, sehr weise. Alles folgt einem Plan, der größer ist, als wir verstehen können. Ich kann nicht leugnen, dass ich zuerst dir und den anderen gegenüber sehr misstrauisch war, Elisabeth. All das hat sich jetzt verändert. Und ich glaube, ich fange an, euch alle wirklich zu mögen«, gestand Anna ein.

»So geht es mir irgendwie auch. Ich glaube, ich mag Sie inzwischen auch sehr, Annifrieda!«, antwortete Elisabeth.

Blitzschnell drehte sich Anna zu ihr um und funkelte sie erbost von der Seite an. Doch dann erkannte diese, wie Elisabeth breit grinste. Ihre Wut verebbte genauso schnell, wie sie gekommen war. Dann mussten beide plötzlich lachen und konnten gar nicht mehr aufhören. Das Lachen schallte laut von den Wänden wider. Alle anderen hoben die Köpfe und blickten verwundert auf die beiden Frauen, wie sie an Freyas Statue lehnten und sich bogen vor Lachen.

»Ich bitte dich, Elisabeth, behalte den Namen für dich«, japste Anna schließlich, als sie wieder Luft bekam.

»Geht klar. Sie wissen sicher, dass ich Ihr Gespräch eher zwangsweise mitgehört habe?«

»Natürlich! Und meine Mutter, die hinterlistige Vettel, hat es darauf angelegt. Sie ist intrigant, auf Klatsch versessen und liebt es, Leute zu manipulieren. Hüte dich vor ihr!«, warnte Anna.

»Ich kann irgendwie verstehen, dass Ihnen das früher auf den Keks gegangen ist. Wäre es mir auch, aber meine Mama ist glücklicherweise seit Kurzem richtig cool. Ich glaube, Sie sind eine genauso coole Mutter«, sagte Elisabeth.

Anna lächelte über das unerwartete Kompliment. »Ich danke dir. Das hat noch keiner zu mir gesagt, nicht einmal Theobald. Lass das mit dem Sie ab heute. Nenne mich einfach nur Anna.«

Dann trat sie unvermittelt vor, nahm Elisabeth in den Arm und drückte sie fest an ihre Brust. Elisabeth war sich bewusst, dass alle ihnen zusahen, als sie Anna ebenfalls umarmte.

»Wow!«, sagte Theobald zu Sabrina, die mit ihm und Ragnar gut zwanzig Meter entfernt stand. »Elle schafft sie alle. Sie hat sogar meine Mutter geknackt.«

»Du hast recht! Vor welcher Statue stehen sie denn da?«, fragte Sabrina.

»Freya natürlich!«, antwortete Ragnar. »Und ich wette, Ururoma hat da ihre Finger im Spiel.«

Als Elisabeth zu den anderen zurückging, machte sie plötzlich ein verwundertes Gesicht, drehte den Kopf und fasste sich an die Schulter.

»Ich glaub es ja nicht«, stammelte Ragnar und starrte plötzlich, als hätte er einen Geist gesehen.

»Was hat sie denn?«, fragte Theobald.

»Na, sieh doch selbst. Es ist gerade ein Rabe auf ihrer Schulter gelandet.«

»Was denn für ein Rabe? Ich kann keinen erkennen!«, widersprach Sabrina, stutzte dann und wechselte auf den magischen Blick. Auch sie keuchte auf, als sie die Aura in Form eines Vogels auf Elisabeths Schulter ausmachen konnte. Dieser erhob sich genau in diesem Moment wieder und flog zurück in die Kuppel.

Elisabeth steuerte daraufhin schnurstracks auf ihre Freunde zu und sah Ragnar ernst an: »Was heißt bitte ›Frōdja ena furhtō!‹ ?«

Er starrte fassungslos zurück: »Das hat er gesagt?«

Sie nickte.

Sabrina schaute ihre Freundin prüfend an. »Wann hattest du vor, uns mitzuteilen, dass du von einem Geisterraben Besuch bekommst und er mit dir redet?«

Elisabeth wirkte etwas perplex: »Na ja, ich hatte euch ja schon mal erzählt, dass ich ab und zu Raben sehe, aber das war das erste Mal, dass er etwas gesagt hat. Wieso kannst du ihn sehen? Das konnte bislang noch niemand außer mir.«

»Ich schätze, weil ich auch eine Auserwählte bin und weil ich den magischen Blick beherrsche, du Blitzmerkerin«, kam es etwas verärgert zurück.

»Du bist doch nicht eifersüchtig, oder?«

»Schon ein bisschen, immerhin haben sie Hel in der Reihe vergessen, obwohl sie mit Helheim eine bedeutende Ebene führt. Aber sag mal, der Rabe hat wirklich mit dir gesprochen?«

»Tja, sieht wohl so aus!«, bestätigte Elisabeth. Damit wandte sie sich an Ragnar, der immer noch sehr ernst dreinblickte: »Der Satz, den der Rabe mir gesagt hat, war so was wie Nordisch oder Germanisch, richtig?«

Ragnar wollte schon antworten, doch Theobald fiel ihm ins Wort. Er beherrschte auch etwas Germanisch.

»Das ist zwar etwas verworren, gerade so, als wenn der Rabe mehrere Mundarten durcheinander spricht, aber es bedeutet soviel wie: Lehre jene das Fürchten!«

Elisabeth starrte zuerst Theobald an, dann Ragnar, der nur noch nicken konnte. Daraufhin blickte sie auf und schaute nach dem Raben, doch sie konnte ihn nirgends mehr entdecken. Merkwürdig!

Genau in diesem Moment wurde die Tür zum Saal schwungvoll geöffnet und eine Hexe mit strengem Haardutt und einem teuren Hosenanzug betrat die Vorhalle. Ihre hohen Absätze klackten laut auf dem Steinboden, als sie herüberstelzte und mitten unter die Harzer trat.

»Wenn ich Sie alle zu mir herbitten dürfte«, rief sie laut. Ihre Stimme war gebieterisch und ließ vermuten, dass sie es gewohnt war, Anweisungen zu erteilen.

Sie begrüßte Anna Binsenkraut mit einer kurzen förmlichen Umarmung, dann hob sie eine Kugel, die sie in der Hand trug, hoch und ließ sie auf etwa drei Meter Höhe schweben. Es breitete sich von ihr ein milchig-weißes Feld aus, das sich über allen zusammengetretenen Harzern schloss.

Sie begann kurz darauf ohne Umschweife: »Sie befinden sich gerade in einer nicht ausspähbaren Kugel. Kein Wort und Bild von hier drinnen dringt jetzt nach außen. Ich bin Dr. Margaretha Urs von Cochem. Für diese heutige Anhörung bin ich Ihr Rechtsbeistand auf besonderen Wunsch von Anna Binsenkraut hier. Halten Sie während Ihrer einzelnen Befragungen mit mir immer lockeren Augenkontakt. Sie werden so erkennen können, ob Sie auf die jeweiligen Fragen antworten sollten oder nicht. Ich habe alle Akten eingesehen und werde Sie nach Kräften verteidigen. Leider wurde mir nicht mehr Zeit zugestanden, aber während der Anhörung haben Sie jederzeit das Recht, sich kurz mit mir zu beraten. Ich werde Ihnen auch Fragen stellen dürfen, wenn der Rat die Befragung beendet hat. Mir antworten Sie bitte immer. Bitte beachten Sie, dass auf dem Befragungsstuhl ein Wahrheitszauber liegt. Sie werden nicht lügen können, aber Sie können Dinge verschweigen und Aussagen verweigern. Machen Sie immer dann davon Gebrauch, wenn die Fragen nicht auf den Kernpunkt dieser Anhörung zielen. Das ist die Wahrung der Tarnung der magischen Welt sowie die Einhaltung der Magiegesetze. Sie werden gemäß den Regeln einzeln hereingebeten. Dazu werden Sie namentlich aufgerufen. Nach Ihrer Befragung verbleiben Sie im Saal, setzen sich aber auf einen der Plätze für Zuhörer. Haben Sie alles verstanden? Gibt es noch Fragen?«

»Ja!«, meldete sich Emilia zu Wort. »Was ist mit Minderjährigen, wie mit meinen Töchtern und den anderen Jugendlichen?«

»Nach Paragraph siebzehn des neuen Ratsgesetzes von 1352 greift das Erwachsenenrecht ab einem Alter von fünfzehn Jahren. Nur Ihre jüngere Tochter ist hier also ausgenommen. Sie wird nur in Ihrem Beisein befragt und darf jede Aussage verweigern, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.«

Jemand drängelte sich plötzlich nach vorne.

»Dürfen wir eigene Zeugen einberufen?«, fragte Ragnar.

»Ja, Sie dürfen Fürsprecher einladen, aber sie müssen hier und heute noch persönlich erscheinen«, antwortete Margaretha etwas erstaunt ob seiner gezielten Frage.

»Gut, dann bitte ich darum, als Letzter aufgerufen zu werden. Können Sie das arrangieren?«, wollte Ragnar wissen.

»Ja, das sollte gehen. Wen wollen Sie aufrufen?«

»Das möchte ich noch nicht sagen«, antwortete er ausweichend. Margaretha hob eine Augenbraue, aber es kam keine weitere Erklärung von Ragnar.

»Nun gut, bei Ihnen ist es eh unerheblich, denke ich«, schloss Margaretha und ließ die Kugel wieder in ihrer Tasche verschwinden. »Ich gehe jetzt wieder hinein. Sie dürfen hier draußen Platz nehmen.«

Dabei wies sie auf die Bänke, die entlang der Wände standen. Ragnar verdrückte sich daraufhin eilig auf die Toilette. Etwas irritiert setzte Elisabeth sich zu ihrer Mutter und Klara auf eine Bank. Der Rest ihres Rudels nahm gleich die Bank daneben. Klara wirkte nervös, beruhigte sich aber, als Elisabeth ihre Hand nahm und mit ruhiger Stimme auf sie einsprach.

»Du bist in so kurzer Zeit richtig erwachsen geworden«, bemerkte Emilia dazu und lächelte ihre älteste Tochter an.

»Es blieb mir keine andere Wahl, Mama«, antwortete Elisabeth, doch sie erwiderte den Blick nicht, sondern beobachtete, wie der Rabe wieder auftauchte und sich in einiger Entfernung auf dem Boden niederließ. Dabei fiel auf, dass Sabrina ihn ebenfalls entdeckt hatte und auch nicht aus den Augen ließ. Elisabeth tat so, als habe sie ihn nicht bemerkt und zwang sich, woandershin zu sehen.

Nach und nach wurden die Wartenden aufgerufen. Zuerst kamen die Zwerge dran, gefolgt von den Erwachsenen, Elisabeths Rudel, danach ihre Freunde. Schließlich kam ihre Mutter wieder heraus, um Klara zu holen. Emilia wirkte nervös, ihr Lächeln aufgesetzt. Elisabeth konnte ihre Anspannung deutlich riechen.

Als sie mit Klara wieder in den Raum gegangen war, blieben nur noch Elisabeth und Ragnar übrig, der sich, seit er von der Toilette zurückgekehrt war, ganz abseits gehalten hatte. Stunden waren vergangen und die Wölfin in ihr wurde immer unruhiger. Ragnar schlenderte schließlich zu ihr herüber und setzte sich direkt neben sie. Eine ganze Weile schwiegen sie. Sie merkte, dass ihn etwas stark beschäftigte, während er sich sehr aufmerksam umsah, bevor er sie ansprach.

»Hör nicht auf ihn! Versprich mir das!«, sagte er eindringlich und blickte sie fest an.

»Auf wen?«

»Auf den Raben natürlich. Ich habe da so ein mieses Gefühl.«

Elisabeth sah ihn prüfend an. »Wieso? Er hat mich immer vor Gefahren gewarnt.«

»Vielleicht! Doch kommt dir das nicht auch merkwürdig vor, dass er ausgerechnet heute hier ist und dich jetzt sogar anspricht?«

»Schon irgendwie, aber er spricht mir aus der Seele. Ich habe wegen des Rates eine Stinkwut. Wo waren die denn, als wir sie gebraucht haben? Wir sind alle herbeizitiert worden, aber wofür eigentlich? Ich komme mir so alleingelassen vor.«

»Du bist doch nicht alleine!«, sagte Ragnar sanft.

Elisabeth schnaubte leicht und schwieg.

»Du, Elle?«, fing er nochmal an.

»Was ist?«, fragte sie etwas gereizt, während sie jetzt auf die Tür starrte, hinter der vor einer Weile Klara mit Emilia verschwunden war.

»Ich meine das ernst. Es ist vielleicht der falsche Zeitpunkt. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich total gerne mag. Ich meine, es klingt vielleicht jetzt komisch …«

»Ja, das tut es schon irgendwie. Du kennst mich eigentlich doch kaum«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ja und nein. Ich habe das Gefühl, dass ich dich schon ewig kenne. Ich meine, also du und ich …«, stammelte er zusammen.

Elisabeth drehte sich zu ihm um und sah, dass er immer stärker rot anlief. Sein Blick wirkte flehend, aber das sah irgendwie süß aus bei einem Typen, der bereits die meisten erwachsenen Männer an Größe und Schulterbreite übertraf.

»Willst du etwa jetzt in diesem Moment fragen, ob du mit mir gehen kannst?«, fragte sie ihn direkt.

»Du hast recht, das ist der falsche Zeitpunkt. Ich bin so ein Idiot«, gab er kleinlaut zurück und blickte zu Boden.

»Vielleicht ein wenig«, neckte sie ihn. »Gibt es in Walhalla keine netten Mädchen?«

Er sah wieder auf und runzelte die Stirn, als wenn er angestrengt nachdachte. »Schon, aber die sind alle so eingebildet, weil sie entweder im Kampf gestorben sind oder von den Göttern abstammen.«

»So wie du etwa?«, bohrte sie weiter.

»Ich bin wirklich ein Idiot, was?«, seufzte er und ließ die Schultern hängen.

Elisabeth konnte plötzlich nicht anders, sie musste lachen. Ragnars Gesicht spiegelte Verwirrung und Nervosität wieder. Sie wollte ihm schon sagen, dass sie ihn vielleicht ein klein wenig mochte, doch dazu kam es nicht mehr, denn in diesem Augenblick ging wieder die Tür auf und eine Jägerin rief Elisabeths Namen.

Jäh wurde ihr wieder bewusst, warum sie sich wirklich hier befand und dass es alles andere als ein romantisches Treffen war. Ein mulmiges Gefühl bemächtigte sich ihrer. Sie musste jetzt vor den Rat treten. Was hatten die anderen bereits erzählt? Was würde man sie fragen?

Sie erhob sich zögerlich und ging die ersten Schritte. Kurz darauf blieb sie stehen. Ragnar war eine treue Seele und hatte etwas anderes verdient als nur ihr Lachen. Sie musste das klarstellen, auch wenn ihr gerade keine Worte dazu einfielen. Dann fasste sie den Entschluss, es ihm mitzuteilen, dass sie ebenfalls Gefühle für ihn entwickelte. Sie drehte sich um und lief zu ihm zurück. Er blickte sie erstaunt an, weil er sicher geglaubt haben musste, dass sie ihn vorhin ausgelacht hatte. Sie überrumpelte ihn mit einem heißen Kuss direkt auf den Mund. Er riss die Augen noch weiter auf, erwiderte aber ihren Kuss, doch dann entzog sie sich ihm. »Später!«, hauchte sie ihm zu.

Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, ließ sie ihn so sitzen und ging erhobenen Hauptes zur Saaltür, wo die Jägerin inzwischen ungeduldig wartete. Als Elisabeth die Tür passierte, spürte sie einen Luftzug und bemerkte den Raben, wie er mit hineinflog.

Der Ratssaal erstrahlte noch prunkvoller als alle anderen Räume, aber die Spannung darin wurde, kaum dass sie eingetreten war, fast greifbar. Elisabeth ging hinter der Jägerin auf einen hohen Holzstuhl zu, der in der Mitte stand. Alle anderen saßen bereits in den ersten Reihen auf den Zuschauerrängen. Klara drückte sich verstört an ihre Mutter, auch Anna sah angespannt aus. Albert machte ihr ein Zeichen, dass er nicht mit ihr in Kontakt treten konnte. Vermutlich wurde die Gedankenrede, die sie sonst mit ihm und ihrem Rudel halten konnte, hier geblockt. Sie nickte kaum merklich, als sie vor dem Stuhl anhielt.

Insgesamt neun Ratsmitglieder saßen auf prunkvollen Stühlen hinter einem etwa zehn Meter langen Tisch aus dunklem Holz an der einen Seite des Raumes. Zur Linken des Stuhls des Vorsitzenden saßen vier Hexen, zur Rechten vier Druiden. Alle schienen das Rentenalter weit überschritten zu haben und waren vermutlich noch viel älter. Den Vorsitz führte, einem kleinen Namensschild auf dem Tisch zufolge, Ulfred Paderitz, ein so runzliger Druide, dass Elisabeth ihn zuerst für tot hielt. Die anderen Schilder konnte Elisabeth trotz ihrer guten Augen nicht lesen. Im Gegensatz zu den restlichen Ratsmitgliedern, die Elisabeth mit ihren Blicken zu durchbohren schienen, wirkte Ulfred komplett weggetreten. Doch dann bemerkte sie, dass er sich leicht bewegte. Schräg hinter ihm stand ein junger Druide, der starr geradeaus blickte.

Elisabeth stellte sich vor den Stuhl, zu dem sie geführt worden war. Als keiner etwas sagte, setzte sie sich unaufgefordert hin. Der Rabe flog hoch zur Saaldecke und hockte sich dort auf einen Balken. Margaretha stand auf und trat seitlich zwischen den Ratstisch und den Stuhl, dass Elisabeth sie gut sehen konnte.

»Nun denn! Dann können wir ja endlich weitermachen«, eröffnete eine der Ratshexen und richtete das Wort damit an Elisabeth. »Name und Alter?«

An einem Nebentisch, den Elisabeth zuvor nicht bemerkt hatte, wurde von einer jungen Hexe eifrig mitgeschrieben. Margaretha bedeutete ihr, dass sie antworten solle.

»Elisabeth Woll… Elisabeth Schneeblume. Ich werde in zwei Wochen sechzehn Jahre alt!«, antwortete sie.

»Halten Sie fest, dass die Befragte hiermit unter das Erwachsenenrecht fällt«, wies die Hexe gebieterisch die Schreiberin an. »Was sind Sie?«, fragte sie weiter.

»Noch Schülerin«, antwortete Elisabeth.

An dem säuerlichen Gesichtsausdruck der Hexe konnte sie sehen, dass dies nicht die Antwort war, die diese erwartet hatte. Irgendwo konnte sie jemanden kichern hören und sie hätte schwören können, dass es sich um Oskar handelte. Margaretha blickte sie warnend an.

»Ihre Art in der magischen Welt, junge Dame!«, klärte die Hexe sie in genervtem Tonfall auf.

»Oh, ich bin eine Werwölfin, aber das wissen Sie doch schon längst, oder?«, antwortete Elisabeth.

»Wir stellen hier die Fragen«, fuhr ein Druide dazwischen, von dem Elisabeth in diesem Augenblick wusste, dass sie ihn nicht mochte.

»Was uns unweigerlich zu Ihrer Verwandlung führt«, fuhr die Hexe fort. »Wann, wie, wo und von wem wurden Sie gebissen?«

Elisabeth sah das warnende Gesicht von Margaretha. Sie wollte schon die Antwort verweigern, wozu sie vor der Halle ermahnt worden war, aber da zeigte sich der Rabe wieder, der sich auf einem Balken direkt hinter dem Rat postiert hatte. Er blickte Elisabeth direkt an und nickte deutlich, fast wie ein Mensch. Es war erst nur ein leichtes Prickeln, dann brandete ein wildes, rebellisches Gefühl in Elisabeth auf, schoss durch ihre Adern und steigerte ihren Trotz gegen den Rat. Sie antwortete plötzlich ganz automatisch.

»Ich wurde nicht gebissen. Ich bin so geboren.«

Ein Raunen ging durch die Zuschauer und Elisabeth konnte deutlich den entsetzten Blick ihrer Mutter und aller anderen auf sich spüren. Die Ratsmitglieder steckten die Köpfe zusammen. Offenbar wussten sie das noch nicht.

»Wie bitte?«, fragte die Hexe laut. Margaretha riss die Augen weit auf und deutete ein Kopfschütteln an.

Elisabeth sprach jetzt lauter, so wie man zu einem alten schwerhörigen Menschen spricht: »Ich sagte, dass ich bereits als Werwölfin geboren wurde.«

»Ich verbitte mir diesen provokanten Ton!«, fauchte die Hexe zurück. »Notieren Sie das«, wies sie die Schreiberin an.

Ein Druide übernahm. »Ihnen ist klar, was Sie da sagen, oder? Ihre Mutter ist eine Hexe und hat hierzu die Aussage verweigert, genauso wie alle anderen. Sie behaupten also, dass Sie eine geborene Werwölfin sind und Ihre Mutter eine Hexe ist?«, fragte er weiter.

»Ja, und ich bin stolz darauf!«, entgegnete Elisabeth und blickte erst gar nicht mehr auf Margaretha, die sich hilfesuchend nach Anna umsah und langsam der Verzweiflung nahe war. Stattdessen suchte Elisabeth den Blick des Raben, der sie immer mehr in seinen Bann zog. Erneut setzte Getuschel ein.

»Wer ist Ihr Vater?«, fragte die Hexe weiter.

»Einspruch! Nicht relevant!«, rief Margaretha dazwischen, aber Elisabeth ignorierte sie.

»Der Alpha des Kaiserrudels, Heinrich Wolfsherr!«

Erneut erklang Stöhnen auf den Bänken. Die Ratsmitglieder steckten wieder die Köpfe zusammen. Margaretha holte ein Taschentuch heraus und tat so, als wenn sie sich schnäuzte. Dabei versuchte sie durch verdeckte Handzeichen, Elisabeth zum Schweigen zu bringen.

»Wie ist es dazu gekommen?«, fragte nun die Hexe weiter.

»Soll das hier eine Fragestunde in Sexualkunde werden? Sie haben miteinander geschlafen, gebumst, gevögelt, wenn Sie wissen, was das ist«, warf Elisabeth bissig zurück. So langsam ging ihr die Hexe richtig auf die Nerven.

Die versteinerte Miene der Ratshexe hielt lange. Sie musste sich erst einmal sammeln, denn sie hatte ihren Faden verloren. Margaretha war rot angelaufen und schnaufte heftig durch. Irgendwo prustete jemand hinter vorgehaltener Hand und bekam kaum noch Luft. Eindeutig Oskar! Aber jetzt konnte man auch andere belustigte Stimmen vernehmen.

»Wenn Sie sich nicht beherrschen können, Herr Hahn, dann lasse ich Sie aus dem Saal entfernen!«, donnerte die Hexe, als sie ihren Faden wiederfand. »Wir wissen, wie die Fortpflanzung funktioniert. Dafür brauchen wir keine Belehrung und schon gar nicht von Ihnen!«, wandte sie sich wieder an Elisabeth. »Verfügen Sie über sonstige magische Fähigkeiten?«, fragte sie weiter.

Elisabeth sah zu dem Raben. Er legte den Kopf schief.

»Keine Ahnung!«

»Wie bitte? Sie sind eine Hexe?«

»Nein, so meine ich das nicht! Ich weiß es halt nicht.«

»Eine gesunde Tochter einer Hexe hat immer magische Fähigkeiten.«

»Nein, sonst hätte meine Schwester auch welche, und sie ist ein ganz normaler Mensch gewesen, bis sie zur Werwölfin wurde.«

»Ihre Schwester ist also nicht so geboren, wie sie ist?«

»Doch, sie war schon immer ein bisschen nervig, aber zur Werwölfin ist sie erst später geworden, als sie eine andere Werwölfin gebissen hat.«

Die Hexe schien ob der Antwort erst einmal irritiert, zumal mehr als nur einer diesmal zu kichern begann.

»Ruhe im Saal!«, donnerte einer der Druiden und griff nach dem Hammer, der eigentlich für den Ratsvorsitzenden reserviert war, und klopfte damit energisch auf den Tisch.

»Wie kann das sein? Zwei Töchter, eine davon als Werwölfin geboren, und keine sonstigen magischen Fähigkeiten?«

Margaretha startete einen letzten Versuch, Elisabeth zu bedeuten zu schweigen. Der Rabe nickte weiter.

»Weil Borga, die schwarze Hexe, meiner Mutter die Macht genommen hat und sie eine ganz gewöhnliche Frau war, als ich geboren wurde. Deswegen!«

Stille setzte ein, als alle neun Ratsmitglieder Elisabeth anstarrten, selbst der Uralte in der Mitte. Margaretha warf die Hände in die Luft und ging mit klackernden Absätzen zurück zu ihrem Stuhl, wo sie sich hinsetzte. Sie gab auf.

Die Hexe holte Luft, um weiterzusprechen, aber Elisabeth unterbrach sie und sprang auf, bevor diese weiterfragen konnte. Sie kochte vor Wut und ihre Augen begannen, dunkelrot zu leuchten.

»Hören Sie, ich habe keine Ahnung, warum Sie mir all diese Fragen über mich stellen. Ich bin, was ich bin. Mich und meine Familie und ganz besonders meine Mutter trifft keine Schuld, da sie von Borga gezwungen und ihrer Macht beraubt wurde. Wir haben die Tarnung der magischen Gemeinde nicht verletzt. Borga ist immer noch da draußen, zusammen mit Giulia, der ehemaligen Alpha, dieser Nekromantin Inga und weiteren abtrünnigen Jägerinnen. Außerdem ist Sophie Steiger wieder aus dem Grab gestiegen und wird sich sicher dafür rächen wollen, dass man sie hinterrücks mit Gift umgebracht hat wegen ihres Sonderstatus’. Sie haben wirklich größere Probleme, als uns hier zu verhören. Sie sollten da draußen sein und die wirklich Bösen jagen.«

Die Hexe, inzwischen hochrot am Kopf, wollte sie wieder unterbrechen, aber nun wurde Elisabeth noch lauter.

»Ich bin noch nicht fertig!«, donnerte sie. »Sie sollten sich ein Beispiel nehmen an Anna Binsenkraut. Rausgeworfen haben Sie sie und dabei war sie die Einzige, die Borga fast erwischt hätte. Sie hat uns geholfen und uns beigestanden, als wir alle eigentlich Ihre Hilfe gebraucht hätten. Wo waren Sie denn, als Giulia Zwietracht unter den Rudeln säte, dass sie sich untereinander an die Kehle gingen und Inga ihre Untoten auf uns jagte? Jägerinnen waren da, aber das waren die Abtrünnigen unter Zora, und nur Anna und meine Mutter haben verhindert, dass sie ein Massaker anrichten konnten. Wir alle hier zusammen, die vor Ihnen sitzen, haben den Kampf gegen das Böse entschieden und gewonnen. Sie sollten uns verdammt nochmal danken, anstatt uns vorzuführen.«

Applaus und Jubelrufe brachen auf den Zuhörerrängen aus. Es wurde sehr laut und der Druide klopfte wild mit dem Hammer auf dem Tisch herum, bis wieder halbwegs Ruhe eintrat.

Eine der anderen Hexen war aufgesprungen, ganz offensichtlich eine Jägerin, zumindest trug sie die Uniform.

»Du bist ganz schön dreist für dein Alter, Mädchen!«

»Nach eurem Recht bin ich bereits eine Frau. Ich bin eine freie Alpha und die Auserwählte von Wodan und Freya.«

Wie zur Bestätigung kam der Rabe krächzend vom Dachgebälk herab geflogen, drehte einen Kreis um Elisabeth, um dann wieder im Halbschatten unter dem First zu landen. Die Verwunderung und das Aufraunen aller im Raum zeigte Elisabeth, dass der Vogel sich offenbar entschieden hatte, für alle sichtbar zu werden. Einige sahen sich um, wo der Rabe plötzlich hergekommen war, ob ein Fenster offen stand oder es irgendwo ein Loch gäbe.

Viele Ratshexen und Druiden waren aufgesprungen, genauso wie die Zuhörer. Die Jägerinnen bemühten sich, wieder Ordnung zu schaffen. Plötzlich waren Sabrina und Theobald da und bauten sich neben Elisabeth auf.

Sie riefen: »Und wir sind die Auserwählten von Hel und Jörd. Wenn Sie sich mit Elisabeth anlegen wollen, dann legen Sie sich auch mit uns an.«

»Ruhe im Saal!«, donnerte der Druide mit dem Hammer und drosch auf den Tisch ein, doch es dauerte eine ganze Weile, bis sich alle wieder halbwegs beruhigt hatten.

Eine der anderen Hexen, die bislang noch gar nichts gesagt hatte, meldete sich zu Wort und trat vor. Sie hatte auf den magischen Blick gewechselt, wie man an den komplett weißen Augen erkennen konnte.

»Diese junge Werwölfin hat in der Tat eine äußerst prägnante Aura. Wurde schon einmal bei ihr ein Magiestärketest durchgeführt?«

»Die Stärke der Aura meiner Mandantin ist von keiner Relevanz für die Anhörung«, warf Margaretha in dem verzweifelten Versuch ein, wieder die Rolle der Verteidigerin einzunehmen.

»Oh doch, das ist sie. Gemäß Paragraph vierhundertundsiebzehn der Anhörungsverordnung darf das Gremium die jeweilige Stärke jedes und jeder Verdächtigen feststellen«, entgegnete einer der Druiden.

»Aber meine Mandantin wird hier nicht als Verdächtige befragt, sondern sie ist immer noch eine Zeugin«, erwiderte Margaretha bestimmt.

»Das hat sich ja wohl gerade geändert. Grundsätzlich sind alle zu Anhörungen vorgeladenen Personen verdächtig«, warf die erste Hexe ein, die immer noch stand.

»Und warum haben Sie dann nicht vorhin von den anderen beiden Jugendlichen bei der Befragung auch gleich deren Stärke gemessen?«

»Es liegt in unserem Ermessensspielraum, aber wir danken für den Hinweis und werden das gegebenenfalls noch nachholen«, erwiderte der Druide und winkte bereits einer jungen, schwarzhaarigen Frau in einem Laborkittel, die mit einem kleinen Koffer herübereilte.

»Ich protestiere auf das Schärfste und verlange die Darlegung der Gründe für dieses Vorgehen«, ließ Margaretha nicht locker.

»Ich mache es«, warf Elisabeth in die Sprechpause ein.

»Es wird schon nicht weh tun und ehrlich gesagt, bin ich auch neugierig, wie die das messen wollen.«

»Da haben Sie es, Margaretha. Selbst Ihre Mandantin stimmt dafür. Treten Sie beiseite und lassen Sie die Expertin ihren Test machen.«

Mit einer Miene, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte, trat Margaretha widerwillig zwei Schritte zurück und blickte sich hilfesuchend zu den Zuschauerreihen um. Sabrina und Theobald blieben an Elisabeths Seite. Elisabeth warf ihnen einen kurzen Blick zu, dann an ihnen vorbei zu den Bänken. Ihre Mutter hockte dort kreidebleich und hielt die Lippen zusammengepresst.

»Wenn ihr beide bitte zurücktreten würdet. Das Messgerät ist sehr empfindlich. Ihr würdet die Messung stören«, erklärte die Frau in dem Kittel freundlich. Dann wandte sie sich an Elisabeth: »Ich bin Tanja Uhle und werde jetzt einen magischen Stärketest mit dir machen.«

»Und Sie stören das nicht?«, fragte Theobald spitzfindig.

»Nein, ich bin eine sogenannte Blanke. Das heißt, dass ich absolut kein magisches Potenzial habe und durch Magie nicht beeinflussbar bin.«

Sie lächelte etwas schüchtern, stellte den Koffer auf dem Boden ab und holte eine Art Glaszylinder mit zwei Griffen an der Seite hervor. Theobald und Sabrina zogen sich nun wirklich etwas zurück, reckten aber die Köpfe, um sehen zu können, was sich jetzt tat. Elisabeth konnte das magische Feld, welches das Gerät umgab, riechen und die Haare an ihren Armen stellten sich auf.

»Was ist das?«, fragte sie Tanja Uhle.

»Das ist ganz harmlos. Es ist ein magischer Stärkemesser. Er kann das Potenzial, was du im Stande bist zu erzeugen, sichtbar machen, wenn du beide Griffe hältst.«

»Wie soll das funktionieren? Ich bin eine Werwölfin«, fragte Elisabeth verwirrt.

»Der Stärkemesser schließt mit dir selbst einen sogenannten energetischen Kreis. Deine innere Kraft wird durch ihn hindurch und wieder zurückgeleitet und bringt die Substanz in seinem Inneren zum Leuchten«, erklärte Tanja leise.

Sie sah nicht viel älter aus als die drei Jugendlichen, aber Elisabeth wusste, dass das täuschen konnte. Übernatürliche wurden oft deutlich älter als Menschen. Tanja entnahm dem Koffer noch ein weiteres Gerät.

»Mit dem hier werde ich die Lichtstärke in ganz gewöhnlichen Lumen messen und dann wissen wir, wie stark die Magie in dir ist. Als Werwölfin hast du eine natürliche Kraft, die rot leuchten wird.«

Elisabeth wurde jetzt doch misstrauisch. »Was ist denn so normal?«

»Oh, im Allgemeinen messen wir so zwischen 1000 und 4200 Lumen. Werwölfe liegen so bei 1800 bis 3500 Lumen. Besonders starke Hexen sollen auch mal bis 5000 Lumen gehen. So, nun steh bitte auf und nimm den Stärkemesser an den Griffen. Bleib ganz ruhig stehen. Du kannst die Augen schließen, wenn es dir hilft. Es wird ziemlich hell. Sperr dich nicht gegen den Sog. Während der Messung wirst du nicht loslassen können, aber das ist normal.«

Elisabeth zögerte einen Moment, weil sie wusste, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Neugier und Furcht vor dem, was jetzt gleich passieren würde, rangen in ihr miteinander. Nach einem letzten Blick auf den Raben packte sie schließlich das Gerät bei den Griffen. Es fühlte sich schwerer an, als es aussah. Zunächst passierte gar nichts. Doch dann spürte sie einen leichten, unangenehmen Sog in ihren Händen und merkte, wie ihre Wölfin erwachte und gar nicht zufrieden wirkte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf den Sog und versuchte, ihm entgegen Tanjas Ratschlag zu widerstehen. Es gelang ihr, den Abfluss von Energie einzudämmen, indem sie sich vorstellte, wie sie als Goldy – ein Spitzname, den Albert ihrer Wolfsseite gegeben hatte – an der einen Seite zog und als Elisabeth an der anderen, doch dadurch wurde der Sog nur stärker. Elisabeth hielt verbissen dagegen, während sie langsam durch ihre geschlossenen Augenlider ein Leuchten bemerkte, das immer intensiver wurde. Der Sog wandelte sich allmählich zu einem Strudel und die Wölfin in ihr bäumte sich dagegen auf. Ein Knurren entfuhr Elisabeths Lippen, als sie weiterhin dagegen ankämpfte, mitgezogen zu werden. Sie konnte einige der Anwesenden aufgeregt flüstern hören, als es heller und heller wurde.

»Wie viel?«, fragte eine Stimme.

»Wir sind schon bei 3000 Lumen – schnell steigend«, rief Tanja Uhle aus, während sie ununterbrochen die Lichtstärke maß. Eine Tür klappte deutlich, als jemand den Saal betrat und ein merkwürdiger Schauer über Elisabeths Rücken jagte, doch sonst war ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Sog gerichtet, der in ihrem Inneren tobte. Elisabeth spürte plötzlich die Verbindungen mit ihrem Rudel, wie sie sich alle öffneten.

»5000, weiter steigend, 6000, 7000, 7500!«, hörte Elisabeth Tanja inzwischen aufgeregt rufen.

Dann spürte sie den Bund zu Sabrina und Theobald, fühlte auch die Energie, die sie mit ihnen teilte. Das Gerät in ihren Händen begann, leicht zu vibrieren. Das Leuchten wurde so stark, dass Elisabeth die Augen ganz zukniff und ihren Kopf auf die Seite drehen musste. Ihr Gesicht wurde von dem Licht warm.

»8500, 9000, …«

Sie sah Freya und Wodan vor ihrem geistigen Auge, wie sie sie angesehen und mit ihr gesprochen hatten. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihnen ganz nahe zu sein.

»10000, 10500, es geht gleich über die geeichte Skala!«

Und plötzlich spürte Elisabeth da noch eine immense Kraftquelle, mit der sie in Verbindung stand. Sie befand sich aber nicht hier, sondern ruhte weit entfernt von ihr. Ein ständiger grüner Strom von Energie floss dahin, doch der Sog war nun zu einem Orkan geworden und zog selbst daran, bestrebt, die Fließrichtung umzudrehen, während das Gerät laut zu brummen begann.

»Wir sind über die 12000, ich kann jetzt nur noch schätzen«, schrie Tanja gegen das Brummen an, das sich nun zu einem Kreischen steigerte. Elisabeth biss die Zähne aufeinander und kämpfte immer noch gegen das Gerät an.

Mit einem lauten Knacken sprang der Glaszylinder und der Sog endete abrupt. Etwas von der Flüssigkeit aus dem Inneren tropfte auf den Boden und verdampfte. Es roch beißend nach Ozon, sodass beide husten mussten. Fassungslos starrte Tanja Elisabeth an, dann nahm sie ihr eilig das Gerät ab und begutachtete es.

»Wie viel?«, fragte Elisabeth keuchend, die vor lauter Anstrengung sogar ins Schwitzen geraten war.

»Ich kann, wie gesagt, nur schätzen. Es muss so zwischen 15000 und 16000 Lumen gelegen haben, war aber noch lange nicht das Ende. So einen hohen Wert habe ich noch nie gemessen. Das kenne ich nur vom Hörensagen. Es gibt da aber eine Geschichte von einer Hexe, die bei ihrer Aufnahmeprüfung als Jägerin einen ähnlich hohen Wert gehabt haben soll, und das war Anna Binsenkraut.«

Zeit – doch nicht zum Innehalten

Elisabeth blickte unwillkürlich auf und da bemerkte sie es endlich. Fast niemand um sie herum bewegte sich mehr.

Theobald und Sabrina schienen nicht betroffen, genauso wie Tanja und sie selbst. Aber der Rest des Saales war komplett erstarrt. Theobald zupfte Elisabeth am Ärmel. Auf den Zuschauerrängen waren alle in teilweise grotesken Bewegungen eingefroren. Das heißt, alle bis auf eine einzige weitere Person: Anna Binsenkraut.