Hass verjährt nicht - Günter von Lonski - E-Book

Hass verjährt nicht E-Book

Günter von Lonski

4,8

Beschreibung

Harald Perkuhn, Immobilienberater, Finanzinvestor und Großprotz: forsche Lebenspartnerin, schwangere Geliebte, teure Autos, Oldtimer-Sammlung. Jetzt liegt er einsam und allein auf seinem Hochsitz im Wald. Tot. Herzinfarkt? Die Großeltern flüchteten 1945 aus Ostpreußen und wurden in Ronnenberg zwangseinquartiert. Im Laufe der Jahre kamen sie zu Geld und Einfluss und verdrängten die alteingesessenen Besitzer. Ein Bild der Nachkriegszeit entsteht: Flucht und Vertreibung, Mangel und Not, Gewinner und Verlierer des Wirtschaftswunders. Bedrückende Parallelen zwischen 1945 und 2015. Rücksichtslosigkeit verdrängt die Menschlichkeit und ein Harry Perkuhn wird nicht der Einzige sein, der beim skrupellosen Ringen um persönlichen Gewinn auf der Strecke bleibt …

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Epilog

Heute – 70 Jahre später

Günter von Lonski

Hass verjährt nicht

 

 

6. Hannover-Krimi mit Marike Kalenberger

 

 

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Das letzte Lied

Tödlicher Wind

Mord auf dem Schützenfest

Bittere Medizin

Eis!

Teufelskralle

Elend!

Alarm im Pfannkuchenhaus (Kinder-Krimi)

Royal Flash

Ich, Zwölf

Gewissenlose Gier

Lange Finger in der Klassenkasse (Kinder-Krimi)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

eISBN 978-3-8271-9791-7

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten von Hannover, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Spezielle Informationen wurden den allgemein zugänglichen Internetquellen entnommen.

 

Über den Autor:

 

Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Literaturpreis der Stadt Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er ist außerdem Autor von bereits fünf erschienenen Weserbergland-Krimis „Das letzte Lied“, „Tödlicher Wind“, „Bittere Medizin“, „Teufelskralle“ und „Gewissenlose Gier“, in denen der akribische Journalist Hubert Wesemann ermittelt – spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie. „Hass verjährt nicht“ ist nach „Mord auf dem Schützenfest“, „Eis!“, „Elend!“, „Royal Flash“ und „Ich, Zwölf“ der sechste Hannover-Krimi aus der Feder von Günter von Lonski.

Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net

EINS

2015

„Wohlauf, Kameraden, auf’s Pferd, auf’s Pferd!“, Polizeiobermeister Martin Matthes beendet das Telefongespräch und nimmt seine Dienstmütze vom Haken.

„Och, nö“, nölt PMAnw Beeke Dettmer, eigentlich Polizeimeisteranwärter und dann auch noch ein -in. „Meine Schuhe sind noch nicht mal trocken von dem Verkehrsunfall auf der B217.“

„Liebe Freunde! Es gab schönere Zeiten als die unsern – das ist nicht zu streiten! Und ein edler Volk hat einst gelebt“, zitiert Matthes wieder Friedrich Schiller. Er zitiert bei jeder Gelegenheit Friedrich Schiller.

Davon werden Dettmers Schuhe auch nicht trocken. Sie zieht ihre Lederhalbschuhe an, verkrampft ein wenig, läuft die ersten Schritte sehr, sehr vorsichtig, muss sich beeilen – Matthes ist schon am Dienstwagen.

„Was ist denn überhaupt los?“, fragt Dettmer, nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gewuchtet hat.

Warum haben die jungen Beamtinnen alle so dicke Hintern?, überlegt Matthes, zu meiner Zeit ... gab es gar keine Frauen im Polizeidienst. Oder nur sehr wenige. Und die waren schlank und ... „In der Nähe vom Annaturm“, sagt er.

Der Annaturm ist – ohne Antennen – ein 28 m hoher Aussichts- und Richtfunkturm auf dem etwa 405 m ü. NHN hohen Bröhn, der höchsten Erhebung des Höhenzugs Deister im Calenberger Bergland, südwestlich von Hannover. Matthes könnte einiges über Turm und Gaststätte berichten, doch wer sollte ihm zuhören?

Dettmer nimmt die Mütze vom Kopf, wirft sie auf den Rücksitz.

„Eine nasse Dienstmütze schlägt man nach außen aus“, Matthes verdreht die Augen, „was hat man euch nur auf der Polizeischule beigebracht?“

„Wie man griesgrämige Kollegen erträgt“, murmelt Dettmer, „wo fahren wir überhaupt hin?“

Pause. Frontscheibenwischer an, aus, an, Heckscheibenwischer an, aus. „Die Jägerallee hoch und dann müssen wir schauen.“

„Wonach?“

„Hab ich nicht so genau verstanden, und das Telefongespräch war plötzlich weg.“

„Ach nee.“

„Wir müssen eben aufpassen, da steht irgendwo ein dunkelgrüner Mazda. Der Anrufer hat Pilze gesammelt.“

„Bei dem Wetter?“

„Pilzsammler sind von außen und innen imprägniert, wie sollten sie sonst ihre Sammelleidenschaft überleben?“

„Ich esse nur Mu-Err-Pilze beim Chinesen“, sagt Dettmer.

„Gesammelt von kurzsichtigen chinesischen Omas oder rachsüchtigen Jungrevolutionären!“

Der Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe.

„Müssen wir da wirklich raus?“ Dettmer schaudert es. „Ich glaub nicht an den Toten und wenn, dann hält er sich bei dem Wetter auch noch bis morgen.“

„Was ist das nur für eine Dienstauf... – da steht der Mazda.“

„Und der Pilzsammler sitzt im Auto, weil’s ihm im Wald zu nass ist.“

„Keine Ausreden, der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, muss wirken und streben und pflanzen und schaffen, erlisten, erraffen ..., Schiller, Die Glocke.“

„Dann muss der Mann eben, ich bin eine Frau.“

„Kultur kann auch Frauen nicht schaden.“

Der Mann im dunkelgrünen Mazda lässt aufs Anklopfen die Seitenscheibe herunter. „Sie haben angerufen?“, fragt Matthes. Eine Qualmwolke strömt aus dem Auto, Matthes muss husten, er hat sich bereits vor Jahren das Rauchen abgewöhnt.

„Ja.“

„Können Sie uns bitte den Fundort der Leiche zeigen?“ Wasser läuft Dettmer in den Jackenkragen.

„Könnte ich, aber nicht bei dem Regen. Immer den Waldweg hinauf, nicht weit und dann auf der rechten Seite.“

„Kommen Sie morgen um zehn ins Polizeikommissariat, da müssen wir ein Protokoll aufnehmen.“

„Um zehn Uhr?“, ereifert sich der Pilzsucher, „Morgens?“

„Da fällt mir ein, der Termin ist belegt, also um acht. Weiterhin Fungi heil!“

„So ist’s recht“, sagt Dettmer, als sie widerwillig losstapfen, „den Chinesen beleidigen und dem Italiener die Pizza aus dem Ofen reißen.“

„Stets ist die Sprache kecker als die Tat.“

„Schiller?“

„Die Piccolomini!“

„Kenn ich nicht, Ihre Pizzeria?“

„Die Piccolomini – von Friedrich Schiller.“

„Lass die Leute reden und hör ihnen nicht zu, die meisten Leute haben ja nichts Besseres zu tun.“

„Goethe?“

„Nee, Die Ärzte!“

„Wehe, du lässt dich krankschreiben!“

Es ist keine kurze, es ist eine bis auf die Haut klatschnassmachende Strecke. Dettmer niest bereits, Matthes lutscht irgendwelche pflanzlichen Pillen gegen Bakterien und Viren.

Sie hätten den Hochstand bestimmt nicht gefunden, wären nicht plötzlich drei oder vier Rabenkrähen streitend aufgeflogen.

Sie müssen über den Graben neben dem Schotterweg springen. Sicher, Matthes könnte Dettmer seine Hand reichen, aber einer Polizeimeisteranwärter-in? Ihr rechter Fuß schafft die Böschung, ihr linker nicht. Den Flüchen nach zu urteilen ist Dettmer bereits Polizeimeister mit Amtszulage.

Sie stapfen über einen schmalen Pfad zu dem windschiefen Hochstand hinüber. Ganz oben auf der Leiter sind zwei Beine in jägergrüner Hose zu sehen.

Matthes wackelt an einzelnen Leitersprossen. „Ich steig schon hinauf“, sagt Dettmer, „sonst stehen wir heute Abend noch hier und spielen Xylophon.“

Sie kommt bis zu den Beinen, Matthes ruft: „Nichts berühren“, und Dettmer will sich in den Innendienst versetzen lassen.

„Was kannst du sehen?“

„Er riecht streng.“

„Wonach?“

„Nach Pisse und ... Exkrementen.“

„Hast ja doch was gelernt auf der Polizeischule.“

„Ich muss gleich kotzen.“

„Untersteh dich!“

„Sein Hintern hängt mir genau im Gesicht und der Rest liegt auf dem Hochstand, der linke Arm unter dem Körper, der rechte über dem Kopf, er hat ein Gewehr in der Hand, in seiner Gesäßtasche steckt ein Portemonnaie.“

„Mitbringen!“

„Gewehr oder Portemonnaie?“

„Beides!“

„Geht nicht, das Gewehr ist verklemmt!“

„Portemonnaie reicht.“

„Wie ekelig.“

„Versuch mal, ihn am Hosenbund zurückzuziehen.“

Dettmer fasst den Kerl nicht an, stöhnt aber unter vorgespielten Anstrengungen. „Er bewegt sich keinen Zentimeter. Mindestens zwei Zentner schwer.“

„Dann komm runter.“

„Ja, Chef, natürlich, Chef, sofort, Chef!“

Als Dettmer wieder auf dem Waldboden steht, schiebt Matthes sie zur Seite. Einsatzfreudig betritt er die erste Sprosse, die zweite, die dritte – er reckt sich nach den Füßen des Toten. „Das ist wirklich etwas viel verlangt ...“ Er bricht seine Bemühungen ab und kehrt zurück zum festen Boden. „Den kriegen wir da nicht runter, ohne alle Spuren zu verwischen.“

„Es könnte ein Herzinfarkt gewesen sein.“

„Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“

„Schiller?“

„Wer sonst?“

„Ernst Messerschmid.“

„Kenn ich nicht.“

„Raumfahrer!“

Matthes überlegt, schaut zum Toten hinauf, wischt sich die Regentropfen aus dem Gesicht. „Wir müssen uns nach Spuren umsehen.“ Er sucht den Trampelpfad und das angrenzende Unterholz ab. Dettmer konzentriert sich auf den Hochstand. Keine Fußabdrücke auf dem Grasboden, Blut wäre längst abgewaschen, abgerissene grüne Knöpfe lassen sich im Grün des Waldes kaum finden. Dafür die halbe Schale eines Vogeleis, ein vollgesogener Tampon, bestimmt nicht von dem Kerl da oben, und ein Einwegfeuerzeug. Gelb.

Dettmer würde lieber morgen weiter Spuren sichern, kann aber nicht einfach so tatenlos herumstehen. Sie bückt sich nach einem Stöckchen und kratzt dann unbeteiligt an der Leiter des Hochstands herum. Plötzlich stutzt sie, schaut sich den rechten Holm genauer an. „Chef.“

Matthes wird aufmerksam. „Was gibt’s?“

„Ich weiß nicht.“

„Dann such weiter.“

Augenblicke später: „Cheeef! Hier sind Spuren! Echte Spuren!“

Mit ausholenden Schritten übersteigt Matthes das Unterholz. Schon beugt er sich über Dettmer, sie tritt irritiert zur Seite.

„Das könnten Biss- und Kratzspuren von einem größeren Tier sein. Oder?“

Matthes schaut, denkt nach, kratzt sich hinter dem linken Ohr, schaut genauer und dreht sich zu Dettmer. „Hatte er einen Ausweis im Portemonnaie?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Schau nach!“

„Ich? – Ach so.“ Dettmer zieht das feuchte Portemonnaie aus ihrer Jackentasche. „Ausweis vorhanden.“

Matthes sucht nach seinem Handy, wählt die Nummer der Polizeidirektion Hannover und lässt sich mit dem K1 verbinden. Er nimmt Dettmer den Ausweis ab. „Ein Todesfall im Deister. Annaturm. Ungewöhnliche Spuren vor Ort. Könnte sich um einen Kriminalfall handeln. Der Mann hieß Harald Perkuhn. Die Koordinaten? Moment.“ Er wendet sich an Dettmer. „Die Koordinaten!“ Dettmer schaltet ihr Handy ein. Es dauert eine Weile, bis sie die Daten abgerufen hat. Matthes meldet sich wieder bei der Kriminalfachinspektion in Hannover und gibt die Daten durch. „Sie übernehmen? Ich stell eine Beamtin an die L401, die Sie einweist.“ Er beendet das Gespräch und steckt das Handy in die Innentasche seiner Dienstjacke.

„Eine Beamtin?“, fragt Dettmer. Ihre Augen senden Todesstrahlen.

„Schon gut, schon gut, der Kowalski in Pattensen muss auch mal an die frische Luft.“

„Gute Entscheidung!“

„Ach, es war nicht meine Wahl. Schiller, Die Jungfrau von Orleans.“

1945

Otto Perkuhn, Erbhofbauer aus Mohmense, führt einen Dorftreck mit 3 Wagen, 1 Schlitten und 9 Pferden. Seine Familie besteht aus ihm, 24 Jahre alt, seiner Frau Elfriede, 23 Jahre alt, seinem Sohn Klaus, 1 1/4 Jahre alt, und seiner 63jährigen Schwiegermutter.

Am 24.01.1945 gegen 18 Uhr verlassen sie das Dorf Mohmense, Kreis Rastenburg ohne Treckbefehl, vor der anrückenden russischen Armee. Es herrscht eisige Kälte, 15 Grad minus, der Schnee liegt über einen Meter hoch. Nachdem sie das Vieh von den Ketten gelassen und die Futterkrippen noch einmal gefüllt haben, steigen sie auf den schwankenden, hoch bepackten Leiterwagen, der gegen Nässe und Kälte mit einem Holzdach verschlossen worden ist, und verlassen den Hof.Der Wagen wird von 2 Pferden gezogen, eins wurde als Mitläufer an den Wagen angebunden.

Die gepflasterten Straßen sind alle mit Flüchtlingstrecks und Militärfahrzeugen verstopft. Sie kommen nur langsam auf vereisten Nebenstrecken voran. Ihr gesamter Treck besteht aus 12 Wagen und braucht für die Strecke bis zum Frischen Haff –Luftlinie ca. 100 Kilometer – fast 6 Wochen. Sie fahren Tag und Nacht, manchmal im Kreis, oft müssen sie den nachrückenden Truppen ausweichen und in Gräben und Felder hineinfahren. Der Schlitten behinderte so sehr, dass sie ihn nach kurzer Zeit in den Graben gekippt haben.

Sie werden von russischer Infanterie und Artillerie beschossen und springen immer wieder vor russischen Tieffliegern in Deckung. Trotzdem erreicht der Treck das Haff ohne Menschenverluste, obwohl die Säuglinge und Klein-kinder weder Milch noch wärmende Speisen bekommen haben. Otto Perkuhns Schwiegermutter füttert den kleinen Perkuhn nach Vogelart mit vorgekautem Essen, so entgeht er der gefürchteten Durchfallerkrankung, da die Lebensmittel bei der Kälte alle gefroren sind. Ab und zu erhalten sie etwas aus einer Feldküche oder können den mitgeführten Sauerteig bei längerem Aufenthalt aufbacken. Es ist Ende Februar, als in der Nähe von Braunsberg das Haff vor ihnen liegt, und damit beginnt der Elendsweg über das Eis. Jetzt gilt die besondere Sorge den Pferden. Haben sich die übermüdeten Tiere bis dahin nach jedem Halt im Treck wieder vom vorgehaltenen Heu und Stroh des vorherfahrenden Wagens zum Weiterziehen antreiben lassen, so fällt der Anreiz nun weg, die Wagen müssen 50 m Abstand halten. Inzwischen hat es etwas getaut, dadurch ist unter der oberen Eisschicht eine verharschte Decke entstanden, in welche die Pferde immer wieder einbrechen.

In nicht enden wollender Kette fahren die Wagen über das Eis, immer wieder vorbei an eingebrochenen Wagen mit Pferden, aber auch Menschenleichen. Dazwischen laufen Fußgänger mit Schlitten, auf denen die Jüngsten und Ältesten sitzen.

Sie fahren meist nachts, da über Tag die Tiefflieger kommen. Sie fliegen so niedrig, dass man die Piloten sehen kann. Viele springen in Panik von den Wagen, die Pferde gehen durch und brechen ins Eis ein. Otto Perkuhn kann seine scheuenden Pferde kaum noch halten, doch es geht gut. Viele Menschen wälzen sich schreiend auf dem Eis, es ist ein grauenvoller Anblick. Viele fahren jetzt rücksichtslos auf das Ufer zu. Noch einmal greifen die Flieger an, dann ist zunächst Ruhe.

Die Verletzten werden geborgen und ans Ufer gebracht. Niemals wird wohl festgestellt werden können, wie viele Menschen den Schreckensweg über das Haff machen mussten und wie vielen es zum Grab wurde.

Nun soll Otto Perkuhn mit seiner Familie über die schmale Nehrung entlang in Richtung Westpreußen fahren. Aber auf diesem Weg hat sich die russische Artillerie bei Tolkemit in Stellung gebracht und sich bestens eingeschossen. Darum entschließen sie sich mit ihren Nachbarn, in der Nacht auf dem Eis entlang der Küste weiterzufahren.

Die Wagen müssen alle hintereinanderfahren, denn abseits des mit Stangen gekennzeichneten Weges hält das Eis nicht mehr.

Nach 3 Tagen erreichen sie endlich bei Stutthof festes Land, am 20. Februar 1945. Tauwetter erschwert nun die Weiterfahrt und der Futtermangel für die Pferde wird zur Katastrophe. Sie mögen die Pferde nicht anhalten, denn sie fürchten, sie würden nicht wieder anziehen. So trecken sie durch den Werder und erreichen eine Stunde vor Brückensprengung die Stadt Dirschau an der Weichsel. Spätere Trecks werden mit Fähren übergesetzt, oft unter russischem Artilleriebeschuss.

Mit 3 Wagen aus dem Dorf geht es weiter Richtung Pommern. Im letzten Dorf vor der pommerschen Grenze ziehen Perkuhns Pferde nicht mehr. Nach mehreren vergeblichen Versuchen kommen sie, sicher auch wegen des Kleinkindes, mit einem pferdebespannten Militärwagen weiter, steigen auf einen Lastwagen um und gelangen schließlich auf einem Sanitätswagen unter häufigem Artilleriebeschuss nach Gotenhafen.

Sie beziehen eine Baracke. In der Nacht wird die Nachbarbaracke von einer Granate zerfetzt. Sie bekommen mit dem Kind eine Schiffskarte und machen sich zu Fuß auf den Weg zu dem angegebenen Hafenbecken. Immer wieder bricht die Schwiegermutter vor Schwäche zusammen, das letzte Stück muss sie zum Schiff kriechen. Es ist ein kleines Vorpostenboot. Hätte Otto Perkuhn geahnt, welche Sicherheit die kleinen Schiffe im Gegensatz zu den großen bedeuten, er wäre bei der Abfahrt nicht so verzweifelt gewesen.

Sie fahren am 15. März 1945 als Geleit für zwei große Passagierschiffe nach Westen. Oft gibt es Torpedoalarm. Als sie es einmal wagen, an Deck zu gehen und rückwärts schauen, werden sie Zeugen, wie eines der großen Schiffe, mit Flüchtlingen beladen, sinkt. Es ist auf eine Mine gelaufen.

Vor Swinemünde erleben sie einen Fliegerangriff auf die Stadt. Als sie sich endlich dem Landungssteg nähern, müde, abgekämpft und verzweifelt, brechen sie vor Freude in unkontrolliertes Schreien aus. Doch sie dürfen nicht an Land, sondern steigen auf ein Küstenfahrzeug um. Über das Stettiner Haff werden sie nach Ueckermünde gebracht. Sie sind der Hölle zunächst entronnen.

Von Ueckermünde sollen Züge nach dem Westen fahren. Alles stürmt zum Bahnhof. Nach vielen Stunden fährt ein Zug ein. Perkuhns drängen sich hinein. Niemand weiß, wohin der Zug fährt.

Eine Nacht sitzen sie hungrig im kalten Zug. Würden ihnen nicht besser ausgestattete Flüchtlinge etwas zu essen gegeben haben, wäre Klaus wohl gestorben.

Über Stralsund geht es nach Bremen und weiter nach Hannover. Dort treffen sie abends um 18 Uhr am 28. März 1945 ein. Es ist ein milder Frühlingstag. Rot-Kreuz-Schwestern stehen bereit, um Alte und Kranke auf Wagen abzutransportieren, so auch Otto Perkuhns Schwiegermutter. Alle anderen werden an verschiedenen Orten in der Stadt untergebracht. Nach zehn Wochen Flucht schlafen sie wohl das erste Mal ohne Angst.

An den folgenden Tagen werden sie auf die Gemeinden des Umlands verteilt. Perkuhns kommen nach Ronnenberg. Es gibt kaum ein Haus in der Gemeinde, in dem nicht auch der letzte Raum belegt wird. Perkuhns beziehen mit 4 Personen 2 Zimmer auf dem Hofgut Rieken. Kein Bad und das Plumpsklo neben dem Misthaufen. Die außerordentlich beengten Wohnverhältnisse, der Mangel an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, die Unterschiede zwischen der schlesischen Mundart und der hannoverschen Sprechweise und vieles andere mehr führen zu manchen Unzuträglichkeiten zwischen den Besitzern des Hofguts und den einquartierten Flüchtlingen. Doch sie leben, sind gesund und werden sich beweisen.

Calenberger Bote, 12. März 1946

ZWEI

2015

„Lass es noch zweimal klingeln“, sagt Urs Obanczek, „oder besser noch dreimal, du könntest gerade auf der Toilette sein und ich in der Kantine.“

„Keiner geht freiwillig in unsere Kantine!“ Marike Kalenberger nimmt den Hörer ab. „Kalenberger, Apparat Obanczek ...“ Dann hört sie dem Anrufer zu, verzieht keine Miene, sagt „Ich werde es ihm ausrichten“, notiert ein paar Zahlen und legt auf.

„Wem wirst du was ausrichten?“

„Dir!“

„Und?“

„Eine Leiche im Deister, unklare Todesursache.“

„Warum hast du meinen Namen genannt?“

„Der Anrufer wollte den Kommissar sprechen.“

„Das ist Rufmord und wird hart bestraft.“

„Also los, an die Arbeit.“

„Es regnet.“

„Im Deister scheint die Sonne, außerdem werden wir erwartet.“

Obanczek steht stöhnend auf, holt seine wetterfeste Jacke aus dem Schrank und fährt den Computer herunter.

Lässig schlendert er zur Tür, dann zwei, drei schnelle Schritte, doch Kalenberger ist schneller und greift sich die Autoschlüssel von der Ablage. „Ganz schön anstrengend, dich zur Vorgesetzten zu haben.“

Rasant parkt Kalenberger den Dienstwagen aus, übersieht fast Horst Zieker, K3 Wirtschaftskriminalität, und biegt auf die Waterloostraße ein, ohne den Blinker zu setzen.

„Schmeiß das Blaulicht an“, sagt Obanczek, „ich will heute pünktlich Feierabend machen.“

„Vergiss es.“

B6, B65, B217.

Kalenberger schweigt und fährt. Gestern Abend mit einem Western im Fernsehen eingeschlafen. Irgend so ein alter Schinken, von dem sie nicht mal den Titel behalten hat. Die Handlung ohne Erinnerungswert. Nur ein Bild ist hängen geblieben. Eine karge Steppenlandschaft, ein kugelförmiges Gespinst aus fingerdicken Zweigen irrt umher, bleibt an einem Dornbusch hängen, reißt sich los, hastet ein Stück knapp über dem Boden und taumelt dahin, ohne Ziel einem unerreichbaren Horizont entgegen.

Obanczek im Hier und Jetzt klammert sich an den Haltegriff über der Tür.

Ronnenberg, Wennigsen, Springe. „Und weiter?“, fragt Kalenberger.

Das Navi ist ausgefallen, hat wohl jemand versucht, NDR 2 drauf zu hören. Obanczek greift nach seinem Handy, gibt die übermittelten Daten ein. „Jägerallee, übernächste rechts.“

Der Regen hat nachgelassen, es nieselt noch ein wenig. Neben dem blauweißen Streifenwagen steht ein junger Polizist. Möglichst unauffällig lässt er seine angerauchte Zigarette verschwinden, als er den ankommenden Wagen sieht.

„Kowalski, Polizeistation Pattensen. Ich soll Ihnen das geben.“ Er reicht Obanczek einen Plastikbeutel mit einer abgegriffenen Geldbörse. „Das Portemonnaie des Toten.“ Obanczek gibt den Beutel an Kalenberger weiter.

„Und wo finden wir ihn?“

„Weiß ich nicht, ist nicht mein Revier. Außerdem muss ich zurück nach Pattensen, wir sind unterbesetzt.“ Kalenberger tritt ganz dicht vor den Polizeibeamten. „Natürlich. Versteh ich. Man ist auch nur Mensch.“ Aber plötzlich verengen sich ihre Augen. Sie zischt wie die Cappuccino-Maschine im K2. „Keinen Zentimeter bewegen Sie sich von der Stelle, bevor wir nicht wissen, wo der Tote zu finden ist.“

„Moment!“ Kowalski zieht sein Handy. Kalenberger dreht sich um und betrachtet die Gegend. Sie muss den armen Menschen nicht weiter verunsichern. Bäume. Kleine Bäume, große Bäume, Gestrüpp und Luft. Viel Luft, frische Luft, gute Luft.

„Ist nicht weit“, Kowalski steckt sein Handy in die Tasche, „nur ein wenig versteckt.“ Er lässt die Türschlösser an seinem Streifenwagen klacken und marschiert los.

„Wir hätten Gummistiefel mitnehmen sollen“, sagt Obanczek.

„Wird schon nicht so schlimm werden und wenn doch, trägst du mich ein Stückchen.“ Der junge Beamte hat bald einen Vorsprung von acht bis zehn Metern. Immer wieder schaut er durch den Baumbestand auf der rechten Seite, plötzlich bleibt er stehen, zeigt in den Wald hinein und sagt: „Da!“ Sofort zeigt sich in seiner Körperhaltung die Tendenz zur Umkehr. Kalenberger sieht ihn an und Kowalski bläst die Backen auf.

Sie stapfen zu dem Hochstand hinüber, und plötzlich sind die Bäume verkappte Duschköpfe, das Gestrüpp schlägt mit nassen Peitschen um sich und die frische Luft ist einfach zu frisch für Großstadtlungen.

Obanczek holt noch einmal aus: „Gummistiefel wären ...“

„Bei jeder Greenpeace-Demonstration bist du ganz vorne dabei und jetzt ist dir das bisschen Natur schon zu viel.“

„Schau dir mal meine Schuhe an!“

„Nein!“

Sie sind am Fuße des Hochstands angekommen. Oben auf der Leiter der große Hintern in einer prall gefüllten Hose.

Obanczek besieht sich die Kratz- und Bissspuren an der Leiter. „Könnten von einem größeren Tier stammen.“

„Von einem Wolf?“

„Das wäre dann was für die Bildzeitung. Wir überlassen die Spurensicherung wohl lieber unserer Kriminaltechnik.“

„Einer muss da rauf!“, sagt Kalenberger.

„Natürlich“, sagt Obanczek, „klar, nur wer?“

Beide schauen Kowalski an. „Ich hab Höhenangst.“

„Gar nicht schlecht.“ Kalenberger wendet sich an Obanczek. „Der könnte gut in unsere Gruppe passen.“

Kowalski wittert Beförderung. „Ich könnte außen an dem Stützkreuz hochsteigen, um wenigstens mal reinzuschauen.“

„Eine professionelle Idee!“ Kalenberger weiß zu motivieren.

Kowalski stapft durch Gras und Unterholz auf die andere Seite des Hochstands.

Ein Windstoß fegt durch den Wald und entlässt die gespeicherten Wassermassen einer mächtigen Buche auf Obanczeks kahlem Schädel. Oder ist es ein Ahorn?

„Warum bekommen wir immer die beschissenen Einsätze?“ mault Obanczek. „Es könnte doch auch mal ein Giftmord in der Markthalle oder ein aufgespießter Museumswärter im Landesmuseum sein.“

„Ich hol die Kriminaltechnik“, sagt Kalenberger und tippt auf ihr Handy.

Obanczek zieht den Ausweis des Toten aus dem Portemonnaie. „Harald Perkuhn, wohnte in Hannover.“

„Dann planen wir einen kleinen Zwischenstopp für unsere Rückfahrt ein.“

„Och, nö. Ich habe einen wirklich dringenden Termin.“

„Ich hätte heute Theaterprobe.“

„Du gehst doch schon seit Monaten nicht mehr hin.“

„Spionierst du mir ...“

„Ich überlege die ganze Zeit, wie er hierhergekommen ist.“ Obanczek zeigt auf die Hosenbeine des Toten.

„Er könnte gelaufen sein?“

„Jäger laufen nur ungern. Am liebsten fahren sie doch mit ihrem SUV-Mercedes bis unter den Hochstand.“

„Dann hätten wir in unmittelbarer Umgebung sein Auto sehen müssen, zumindest in der oberen Jägerallee, na ja, darum kann sich auch der Kriminaldienst kümmern!“

„Sieht übel aus.“ Kowalski hat sich auf der Rückseite des Hochstands hochgehangelt. Sie hätten ihn beinahe vergessen. „Der liegt hier schon seit ein paar Tagen und hält sich am Gewehr fest.“ Kowalski könnte wirklich in ihre Gruppe passen. „Ich komm lieber wieder runter, bevor ich den Kollegen die Spuren verwische.“

Langweilig, so im Nieselregen zu stehen und auf die Ankunft der Kriminaltechnik zu warten. Kowalski rutscht von einem nassen Balken, fällt aus anderthalb Metern Höhe ins Gras.

„Wir lassen ihn doch besser hier“, sagt Kalenberger, „ein Obanczek reicht mir.“

Kowalski rappelt sich auf, tritt zu den beiden Kollegen. „Nun stecken Sie sich schon eine Zigarette an“, sagt Kalenberger. „Auf den Schreck hin macht die Dienstvorschrift eine Ausnahme.“

Kowalski zieht eine Zigarettenpackung aus der Tasche, bietet Kalenberger eine Zigarette an, sie schüttelt den Kopf, hält Obanczek die Packung hin. Obanczek lehnt ab. „Hat sie mir vor Jahren abgewöhnt.“ Er grinst Kalenberger an.

So ein Wald kann ganz schön langweilig sein für Menschen mit Hummeln im Hintern. Da dehnen sich die Minuten schnell zu Stunden.

Kowalskis Handy meldet sich. Er spricht kurz, legt auf. „Bei der Polizeiinspektion ist ein Anruf eingegangen. An der L401 steht ein Audi R8 mit offener Kofferraumklappe, vom Fahrer weit und breit keine Spur.“

„Damit sparen wir uns wohl den Hubschrauber“, sagt Kalenberger. „Sie kommen!“ Mit dem Kopf zeigt sie in Richtung Hauptweg. „Die Kriminaltechnik trifft ein.“ Ein Geländewagen lässt den Schotter auf der Piste spritzen.

„Die wühlen sich wie immer skrupellos durchs Naturschutzgebiet und wir ...“

„Damit ist Ihr Einsatz beendet“, sagt Kalenberger zu Kowalski, „die Einweisung der Kriminaltechnik übernehmen wir.“

Kowalski flucht leise, streicht die Asche der angerauchten Zigarette an einem Baum ab und steckt die Zigarette zurück in die Packung.

Bianca Sonnenberg schaut im Vorübergehen kurz in den schmalen hohen Spiegel. Keine zwanzig mehr, aber auch noch keine fünfzig. Sie hat noch ihre Wirkung, wenn auch der Kreis der Bewunderer überschaubarer geworden ist.

Sie streicht ihre rubinrote Bluse über der weißen Leinenhose glatt. Weiß und Rot, Kontrast und Harmonie, Sekt und Selters.

Sie setzt sich in die Ecke der weißen Ledercouch, greift sich das Tablet von der Lehne. Jetzt ist er schon zwei Nächte nicht nach Hause gekommen, und wenn er dann kommt, wird er sie mit einer billigen Ausrede abspeisen. Wenn er überhaupt eine Erklärung abgibt.

Sie startet das Tablet, ruft ihre E-Mails ab, nur Müll. Alexej ist online.

Alejex, zweiundzwanzig Jahre jünger als sie. Er weiß, was ihr guttut.

 

Alexej: Hallo, ist da draußen jemand, der ein einsames Herz aufmuntern kann?

Alexej: Alle lieben Brad Pitt und wer liebt mich?

Alexej: Nun komm schon, schenk mir ein einziges Wort.

Bianca: Nervensäge!

Alexej: Bist du allein?

Bianca: Er ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen.

Alexej: Also sturmfreie Bude?

Bianca: Untersteh dich!

Alexej: Okay, okay. Darf ich mich wenigstens ins Auto setzen und vor euerm Haus parken?

Bianca: Was soll das denn?

Alexej: Nur, um in deiner Nähe zu sein!

Bianca: Du bist süß. Aber du weißt, dass ich verheiratet bin.

Alexej: Davon habe ich am Donnerstag nicht allzu viel gemerkt.

Bianca: Ich flirte eben gern.

Alexej: War das nicht ein bisschen mehr als flirten?

Bianca: Ich gebe zu, deine blauen Augen haben mich verwirrt.

Alexej: Nur meine Augen?

Bianca: Deine Lippen, deine Hände und ... am Abend bin ich in deinen Armen eingeschlafen.

Alexej: Ich spüre noch deinen Atem, deine Haut ...

Bianca: Ich hab mich im Traum an dich gekuschelt.

Alexej: Danke für dein Foto!

Bianca: Es ist nicht besonders gut.

Alexej: Ich brauche es schon gar nicht mehr anzusehen. Wenn ich die Augen schließe, bist du bei mir! Ich habe Verlangen nach dir und deiner Zärtlichkeit. Ich möchte dein Haar spüren, deine Haut, deinen Mund – ich möchte mehr!

Bianca: Ich schließe die Augen und stelle es mir wunderbar vor. Ich würde dir gerne so viel geben.

Alexej: Dann lass mich in deine Arme fliegen. Jetzt gleich. Darf ich kommen?

Bianca: Komm nicht zu früh! (lacht) Ich weiß einfach nicht, wann Harry wieder aufkreuzt.

Alexej: Wär doch nicht schlecht, wenn dein Alter für immer ...

Bianca: Daran habe ich auch schon gedacht.

Alexej: Bei seiner schlechten Konstitution braucht man sicher nur ein bisschen nachzuhelfen und schon ...

Bianca: Wir kennen uns noch nicht lange genug. Ich weiß einfach nicht, ob ich dir vertrauen kann.

Alexej: Vertrauen ist doch nicht von der Zeit abhängig!

Bianca: Allein an dich denken, macht mich glücklich!

Alexej: Mein Herz gehört dir. Und wenn du willst, auch mehr.

Bianca: Unsere Zeit wird kommen. Es hat geklingelt. Vielleicht ist sie schon da?

„Guten Tag, Kriminalpolizei Hannover, mein Name ist Kalenberger und das ist mein Kollege Obanczek.“

Kalenberger hält ihren Dienstausweis vor das Videoauge der Türsprechanlage. Es dauert einen Moment, bis die Türe geöffnet wird. „Kripo?“, fragt die schlanke Frau in der halb geöffneten Tür.

Kalenberger steckt ihren Ausweis in die Handtasche, Obanczek zieht seinen Bauch ein.

Kalenberger holt den sichergestellten Ausweis aus ihrer Handtasche. „Herr Harald Perkuhn ist unter dieser Adresse gemeldet. Wohnt er hier?“

„Ja.“

„Und wer sind Sie?“

„Bianca Sonnenberg. Ich bin seine Frau ohne Trauschein.“

„Dann müssten wir mit Ihnen sprechen. Können wir bitte reinkommen?“

„Aber natürlich“, sagt Bianca Sonnenberg und gibt die Tür frei. Durchquert den Vorraum des Wohnbereichs, alles weiß, Marmorfußboden, dazu drei antike Statuen auf eigenständigen Sockeln verteilt im Raum.

Abrupt bleibt Bianca Sonnenberg stehen. „Um Gottes willen, ihm wird doch nichts passiert sein?“

„Können wir uns bitte irgendwo setzen?“

Bianca Sonnenberg nickt, steigt die drei Stufen zum eigentlichen Wohnbereich hinauf, viel Silber, weiß, geometrisch gemusterter Teppich, riesiger Esstisch aus alten Holzbohlen, eine Ledersitzgruppe vor den raumhohen Fenstern zur Terrasse mit anschließendem Grün.

Bianca Sonnenberg weist auf die Sitzgruppe.

„Wann haben Sie Herrn Perkuhn zuletzt gesehen?“

„Vorgestern.“ Bianca Sonnenberg bleibt vor der Sitzgruppe stehen. In den Händen knetet sie ein weißes Taschentuch.

„Geht es etwas genauer, bitte?“

„Wir hatten keine Lust, auswärts zu essen, und haben uns Ente vom Chinesen bringen lassen. Danach hat Harry einen Anruf auf seinem Handy erhalten und musste noch mal los. Nun sagen Sie schon, was mit ihm ist.“

„Wann war das ungefähr?“

„So gegen acht, ich habe die Sachen in die Küche gebracht und mir dann die Tagesschau angesehen.“

„Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen oder gesprochen?“

„Nein.“

„Und Sie waren nicht beunruhigt, dass Ihr Mann nicht wieder zurückgekommen ist?“

„Harry hatte gelegentlich, nun ja, überraschende geschäftliche Termine, für die er sich viel Zeit genommen hat?“

„Er war also nicht besonders treu?“, fragt Obanczek.

„Wir hatten Vertrauen zueinander. Was ist denn nun geschehen? Hatte er einen Unfall? Ist er schwer verletzt?“

Kalenberger schaut Obanczek an. Obanczek hüstelt, schluckt. „Harald Perkuhn wurde im Deister auf einem Hochstand entdeckt.“

„Ach, dann war es gar kein geschäftlicher Termin?“

„Er muss schon vor zwei bis drei Tagen gestorben sein.“

„Neiiin!“ Bianca Sonnenberg schreit auf. „Tot? Wie schrecklich. Harald ist tot!“ Sie greift sich an den Kopf und lässt sich in einen der Sessel fallen. „Ich kann es nicht glauben. Er darf nicht tot sein! Woran ist er denn gestorben?“

„So weit sind wir noch nicht mit der gerichtsmedizinischen Untersuchung.“

Bianca Sonnenberg weint und schluchzt auf. Sie drückt sich das Taschentuch vor den Mund, ihre Wimperntusche zerläuft, es kümmert sie nicht. „Hat er sich selbst ...“

„Wohl kaum“, sagt Kalenberger, die Bianca Sonnenberg aufmerksam beobachtet. „Es könnte ein Herzinfarkt gewesen sein.“

„Aber warum dann die Kripo?“ Bianca Sonnenberg ist kaum noch zu verstehen.

„Da waren Spuren“, sagt Obanczek, „die von der Kriminaltechnik noch nicht zugeordnet werden konnten.“

„Oh, Gott, oh, Gott!“ Bianca Sonnenberg verbirgt das Gesicht in ihren Händen, ist kaum noch zu verstehen. „Ich kann doch ohne ihn nicht leben. Was mache ich jetzt nur?“

Obanczek: „Hat sich Ihr Mann in letzter Zeit vielleicht außergewöhnlich verhalten?“

Bianca Sonnenberg reißt die Hände vom Gesicht, springt auf. „Was sind Sie nur für Menschen! Mein Mann ist tot und Sie bedrängen mich mit Ihren unverschämten Fragen.“

„Frau Sonnenberg, es ist wichtig. Je mehr wir über den Toten erfahren können ...“

Bianca Sonnenberg lässt sich wieder auf den Sessel fallen. „Lassen Sie mich jetzt bitte allein. Gehen Sie – bitte!“

Kalenberger gibt Obanczek einen Wink. Sie stehen gleichzeitig auf. „Wollen Sie wirklich allein bleiben? Wir könnten eine psychologische Betreuung organisieren.“

„Danke, nein, gehen Sie ganz einfach. Wenn ich Probleme bekomme, werde ich mich an meine Therapeutin wenden.“ Bianca Sonnenberg schluchzt auf.

„Sie können jederzeit anrufen, wenn Sie Hilfe brauchen oder Ihnen etwas einfallen sollte.“ Obanczek legt eine Visitenkarte vor Bianca Sonnenberg auf den Glastisch.

„Gehen Sie! Gehen Sie!“

Kalenberger nimmt Obanczek am Arm, will ihn mit sich ziehen.

„Vielleicht ...“, flüstert Bianca Sonnenberg. Kalenberger und Obanczek werden sofort aufmerksam. „Vielleicht fragen Sie mal seine Arbeiter in der Biogas-Anlage in Ronnenberg, wann sie Harry zum letzten Mal gesehen haben. Ziehen Sie die Tür einfach ins Schloss!“

Als die Tür mit einem dumpfen Ton zufällt, zählt Bianca bis zehn, dann nochmals bis zehn, steht auf und geht ins Bad. Sie wirft das zerdrückte Taschentuch in den Weidenkorb, wäscht sich das Gesicht.

Sie sieht sich selbst im Spiegel an, holt tief Luft, hält einen Augenblick inne und lächelt sich beim Ausatmen kurz zu.

Sie setzt sich in ihre Kuschelecke auf dem Ledersofa, nimmt das Tablet auf die Knie. „Alexej, bist du noch da?“

DREI