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Als man die alte Dame im Heim vermisste, konnte sich keiner der Bewohner erinnern, wann er sie zuletzt gesehen hatte...
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Seitenzahl: 41
Die ganze Nacht über hatte es geregnet. Die böigen Windstöße hatten die Wassertropfen gegen das hochgeklappte Fenster geschüttelt. Und auf dem gewellten Dach des Lieferanteneingangs waren in unregelmäßigen Abständen die kleinen grünen Äpfel und abgerissenen Zweige nieder gerasselt. Doch all diese Geräusche wirkten durch das Sausen des Windes und sein Schleifen und Summen, wenn er um die Ecken des Hauses oder über den Dachvorsprung blies, eher beruhigend in dieser Nacht. So dass die alte Frau Fittich mehrmals tief einnicken konnte und erst gegen Morgen von ihrem eigenen Schnarchen erwachte.
Ein silbergrauer Himmel schimmerte bereits durch das kahle Fenster. Und vom nächsten Dorf brachte der Wind den Schrei eines Hahnes herüber.
Luise Fittich musste sich erst besinnen, wo sie war. Vor ihr glänzte das weiße Bettende, so dass sie für einige Momente glaubte, sie würde noch im Krankenhaus liegen. Sie wollte schon nach ihrer Nachttischlampe greifen, da fiel ihr wieder ein, dass man sie doch jetzt in diesem Pflegeheim untergebracht hatte. Und dass es hier überhaupt keine Nachttischlampen gab, weil sich die alten Leute daran verbrennen könnten. „Was für ein Unsinn!“, dachte die alte Dame. Sie richtete sich umständlich in ihren Kissen auf und wollte nach der Schwester läuten. Aber sie erinnerte sich, dass die Pflegerin am Abend das Kabel der Glocke herausgezogen hatte. „Wie soll ich denn im Finsteren zur Toilette kommen?“, wollte sie wissen. „Sie müssen doch gar nicht hingehen. Sie bekommen von uns über Nacht ein Windelhöschen an.“ „Ich kann aber nicht einfach in die Hose machen!“, rief Frau Fittich empört. Aber die Nachtschwester hatte gemeint, dass sie das dann eben lernen solle. Sie hätten nicht so viel Personal, um jede Oma einzeln auf den Topf zu setzen.
Die alte Frau tastete jetzt nach ihrem kleinen runden Wecker mit den Leuchtziffern. War es wirklich erst fünf Uhr? Sie suchte ihre Brille, die irgendwo in der Schublade liegen musste. Während sie suchte, fiel ihr auf, dass sie ihre Zimmernachbarin überhaupt nicht mehr stöhnen und husten hörte. Ob man der Kranken diesmal wohl ein stärkeres Mittel gegeben hatte?
Auf einmal erinnerte sich die alte Frau, dass da irgendwann in der Nacht ein Laufen und Trippeln im Gang draußen und dann hier im Zimmer gewesen war! Und dass sie im Schein des Flurlichtes eine Schwester erkannt hatte, die sich über das andere Bett beugte. Gleich darauf kam eine zweite Person und half der ersten das Bett durch die Tür zu schieben. „Es ist nichts!“, raunte eine Stimme, als sich Frau Fittich verschlafen aufsetzen wollte. „Wir bringen nur Frau Becker nach unten, damit Sie in Ruhe schlafen können!“ Gleich war Frau Fittich wieder eingeschlummert. Doch als sie sich jetzt an diese nächtliche Szene erinnerte, fuhr ihr ein jäher Schrecken durch den ganzen Körper. „Warum denn nach unten? Was sollte das bedeuten? War sie vielleicht gestorben?“ Sie erinnerte sie sich an diesen merkwürdigen Blick ihrer Nachbarin, der ihr erst gestern aufgefallen war. Und an die aufgeschwemmten Beine, über die sich eine prall gespannte, rosig glänzende Haut straffte! „Wenn sie mit dem Finger hier hereindrücken, dann bleibt eine ganz tiefe Mulde zurück!“, schnaufte Frau Becker mit ihrer heiseren Stimme. Aber die alte Frau Fittich hatte keine Lust, an ihre aufgedunsenen Beine zu fassen. „Frau Becker?“, rief sie nun in die Dunkelheit hinüber. „Sind sie wieder zurück?“ Und als ihr niemand antwortete, versuchte sie durch das düstere Zimmer zu spähen.
Aber irgendwann muss sie doch wieder eingenickt sein. Denn sie fuhr erschrocken auf, als plötzlich das grelle Deckenlicht erstrahlte und eine muntere Stimme ertönte.
„Guten Morgen!“ Es war die junge türkische Hilfskraft, die mit kräftigem Schwung die Tür aufstieß. Nun ging sie zum Fenster, um die Oberlichte zu schließen. Erst als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie die leere Stelle, auf der gestern noch das zweite Bett gestanden hatte. Nur ein paar graue Staubwolken und die Schleifspuren von den verschmutzten Rädern des Bettes waren noch zu erkennen. Die junge Frau stand einen Moment still da. Ihr kindlich ovales Gesichtchen sah plötzlich grau aus. Aber dann holte das Mädchen doch wieder Luft und räusperte sich. „Frau Becker ist wohl nicht mehr da?“ Sie trat an das Bett von Frau Fittich. „Dann bringe ich Sie jetzt in den Frühstücksraum hinüber! Wollen wir gehen, oder soll ich den Wagen holen?“
„Aber ich bin doch noch nicht einmal gewaschen und muss dringend aufs Klo!“, rief Frau Fittich aus.
„Haben Sie denn keine Windel bekommen?“
„Ich kann nicht in die Hose machen!“ Frau Fittich klopfte sich verzweifelt mit der Hand gegen den Klettverschluss ihres Windelhöschens. „Versteht das denn keiner?“
„Gut, dann gehen wir jetzt zur Toilette!“ Sevil fasste die alte Frau unter ihre Arme und half ihr in den Bademantel hinein. „Sevil! Sevil! Wo bleibst du denn?“, kreischte eine herrische Stimme im Flur. „Schwester Annette, ich komme schon!“