Hausboottage - Anne Youngson - E-Book

Hausboottage E-Book

Anne Youngson

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Beschreibung

Drei Frauen, ein Hausboot– und ein unvergesslicher Sommer Eve hat ihrer Karriere den Rücken gekehrt, Sally ihrem Mann und den zwei erwachsenen Kindern – nun begegnen die beiden zufällig Anastasia, die auf eine möglicherweise lebensverändernde medizinische Diagnose wartet und nicht weiß, wie sie ihr Hausboot nach Chester bringen soll. Kurzerhand beschließen Sally und Eve, für die Zeit, die Anastasia an Land bleiben muss, gemeinsam durch die Kanäle Englands zu reisen, und ein unvergessliches Abenteuer beginnt. Am Ende des Sommers werden sie nicht mehr dieselben sein.

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Seitenzahl: 438

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem TitelThree Women and a Boat bei Doubleday, London

© 2020 by Anne Youngson

Deutsche Erstausgabe

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von FAVORITBUERO, München

Coverabbildung von plataa, BooHoo, arigato / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749903542

www.harpercollins.de

Widmung

Für Mary, die beste Schwester von allen

1

Die Number One

Am Treidelpfad eines Kanals in der Nähe von London und nicht weit von der Küste lag ein blau angestrichenes Kanalboot. Number One stand in roten Lettern am Bug. Die regennassen und verwitterten Leinen waren fest an dem schiefen Haken eines grob gehämmerten Eisenklotzes vertäut. Aber es lag im Wasser. Sowohl die Türen vorne und hinten als auch die Fenster waren fest verschlossen. Ein Oberlicht stand einen Spaltbreit offen und ließ frische Luft in den Innenraum. Pfützen an Deck und auf dem Bootsdach zeugten davon, dass es vor Kurzem geregnet hatte, aber jetzt war es trocken.

Zwei Frauen gingen einander auf dem Treidelpfad entgegen. Eine war groß und füllig oder anders gesagt: Die Hälfte der Frauen ihrer Altersgruppe – sie war jenseits der fünfzig – war schlanker und kleiner als sie, aber viel größer und fülliger als die anderen war sie auch nicht. Sie hatte einen orangefarbenen Einkaufsbeutel bei sich und trug silbern glänzende Sneaker. Auf einem Treidelpfad hätte jede andere Frau so etwas tragen können, aber zu ihrem schwarzen Wollrock und der maßgeschneiderten Bluse bildeten Beutel und Sneaker einen merkwürdigen Kontrast. Ihre Haare waren mit einem beinahe farblosen Schal zurückgebunden, der einmal lila gewesen sein mochte.

Die Frau, die ihr entgegenkam, war kleiner und schlanker. Die Farbe ihres Regenschirms wurde oft als Fuchsia bezeichnet, obwohl Fuchsien alle möglichen Farben haben können. Da sie seinen Schutz momentan nicht brauchte, hielt sie ihn zur Seite, aber er war noch aufgespannt, als fürchtete sie, es würde zu lange dauern, ihn erneut aufzuspannen, falls es plötzlich wieder zu regnen beginnen sollte. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert, und ihre Kleidung schien so gewählt zu sein, dass sie damit nicht auffiel. Sollte das ihre Absicht gewesen sein, hatte sie ihr Ziel erreicht.

Als sich die beiden dem vertäuten Boot näherten, steckte die Sonne einen Lichtfinger aus den Wolken, und plötzlich wurde es ein herrlicher Tag, zumindest auf dem Treidelpfad. In dem Moment, als die Frauen einander nahe genug kamen, um sich zuzunicken oder lächelnd zu grüßen, falls sie dergleichen angemessen gefunden hätten – was unwahrscheinlich ist, da sie sich vollkommen fremd waren –, in diesem Moment also begann das Kanalboot zu kreischen. Es kreischte wie eine Mezzosopranistin, die mitten in ihrer Arie entdeckte, dass ihr Gatte im Zuschauerraum seine Sitznachbarin begrapschte, während sie selbst auf der Bühne von einem unvorsichtigen Komparsen mit einem Speer von hinten durchbohrt wurde. Beide Frauen blieben stehen.

Was sie jetzt noch in den Händen hielt, waren die Scherben einer über dreißigjährigen Karriere. Sie versetzte ihrem strategischen Fünfjahresplan einen Tritt, zog die Tür auf und ließ sie hinter sich zufallen. Sie besaß nur noch Kleinkram, den sie früher kaum beachtet hatte. Alle Arbeitsutensilien, die definitiv ihr gehörten, hatte sie eingesammelt: Bücher, Stifte, persönliche Unterlagen, die niemand als Eigentum der Rambusch Corporation reklamieren konnte, und sie in einen von der Geschäftsleitung leihweise zur Verfügung gestellten Pappkarton gelegt. Clive als Repräsentant der Personalabteilung (ein Witz, denn weder »Repräsentant« noch »Personalabteilung« verdienten diesen Namen) hatte das Packen überwacht, indem er vor sich hin brummte wie ein eingeschalteter Staubsauger (dem er übrigens ähnelte), der darauf wartete, alles zu schlucken, was nicht hierhergehörte und sich in Reichweite seines Schlauchs befand. Das war am Vortag gewesen, dem vorletzten ihres Arbeitsverhältnisses. Jetzt, am letzten, stand sie mit Dingen im Flur, die so zufällig zusammengewürfelt und vertraut waren, dass sie praktisch unsichtbar gewesen waren. Der Plastikfrosch, der an ihrem Bildschirm geklemmt hatte; die Postkarte mit dem Foto eines Hauses in New York von ihrer Pinnwand; der Kalender einer ausländischen Hilfsorganisation, von dem noch sechs Monatsblätter mit Fotos verhungernder Kinder übrig waren; ein Kaffeebecher mit dem Bild eines Igels auf einer Scheuerbürste; ein Brieföffner mit Bambusgriff, der angeknabbert aussah; ein lila Schal, der so lange an den Griff eines Aktenschranks geknotet gewesen war, dass die dem Licht ausgesetzten Partien ausgeblichen waren und man seine ursprünglich satte Farbe nur noch erkennen konnte, wo der Knoten gesessen hatte; das gerahmte Foto einer Übung zur Teambildung, auf der alle Teilnehmer mit Schutzhelmen unter einer Klippe standen und triumphierend ihre Kletterseile in die Luft hielten, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob das Foto vor oder nach der Kletterpartie gemacht worden war. Beinahe hätte sie es in den Papierkorb geworfen, in dem sich schon allerlei Glückwunschkarten befanden, aber als sie es genauer anschaute und sah, dass man niemanden auf dem Foto identifizieren konnte (man erkannte nur, dass sie das einzige weibliche Teammitglied war), benutzte sie es als Tablett für den Rest ihrer wertlosen Hinterlassenschaften und legte es als Letztes in den Karton.

Der Schließmechanismus der Tür zischte, dann fiel die Tür zu. Das Namensschild – Eve Warburton: Planungsbüro – schwang ihr entgegen und kam Zentimeter vor ihrer Nase zum Stillstand. Hätte sie eine Hand frei gehabt, hätte sie es vielleicht auf irgendeine Weise verschandelt, aber unter den gegebenen Umständen beugte sie sich einfach nur vor und drückte ihm einen Kuss auf.

»Mach’s gut, Eve Warburton: Planungsbüro«, flüsterte sie. »Schön, dich kennengelernt zu haben.«

Auf dem Weg zum Fahrstuhl fiel zuerst der Schal aus dem überfüllten Karton, dann der Frosch und der Brieföffner. Sie sammelte alles wieder ein, und in der Eingangshalle bat sie die Rezeptionistin um eine Plastiktüte. Die Rezeptionistin schaute in ein Kabuff hinter ihrem Schreibtisch. Eve stellte ihren Karton auf den Empfangstresen und betrachtete das umherschwappende Öl in einer Installation, mit der Besucher von der technischen Genialität und handwerklichen Qualität der Rambusch Corporation und ihrer Pumpen, Kolben und Ventile beeindruckt werden sollten. Ihr Blick fiel auf das Plastikschild mit der Aufschrift:

Konstruktion aus Produktionsteilen

Sie holte den Brieföffner aus dem Karton und hebelte es ab. Ein letztes Souvenir. Sie steckte es in das Bündchen ihres Rocks.

Die Rezeptionistin kam mit einer Plastiktüte der nahen Sandwichbar zurück.

»Was anderes habe ich nicht gefunden.«

»Passt schon«, sagte Eve. Das geklaute Schild wollte immer wieder aus ihrem Rock rutschen und hinderte sie daran, sich normal zu bewegen, als sie ihr Sammelsurium in die Tüte umlud. Die Rezeptionistin hielt ihre Ungeschicklichkeit für ein Zeichen von Aufgewühltheit und nahm ihr die Arbeit ab.

»Es tut mir leid, dass Sie uns verlassen«, sagte sie.

»Es war Zeit, etwas Neues anzufangen.«

»Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl für Sie ist, mit lauter Männern in der Chefetage zu arbeiten. Ich meine, Sie hatten ja keinen, mit dem Sie mal tratschen konnten und so.«

»Ihre feminine Seite ist nicht besonders ausgeprägt, da haben Sie recht«, sagte Eve.

»Ich weiß!« Die Rezeptionistin kam mit der Plastiktüte um ihren Tresen herum. Eve fürchtete schon, sie wollte sie umarmen, um sie über den Sturz aus dem Männerhimmel des vierten Stocks ins bloße Frausein hinwegzutrösten.

»Glücklicherweise befinde ich mich auf der maskulinen Seite des femininen Spektrums«, sagte sie.

Sie verließ das Gebäude und ging in die Richtung, wo sie ihren Wagen geparkt zu haben glaubte. Dort stand er tatsächlich, aber als sie in ihre Tasche griff, um den Schlüssel herauszuholen, fiel ihr ein, dass er ihr nicht mehr gehörte. Firmeneigentum. Sie musste ein Taxi bestellen, den Bus nehmen oder zu Fuß gehen. Da sie nicht beabsichtigte, das Gebäude je wieder zu betreten, konnte sie kein Taxi bestellen, denn die Nummer befand sich in dem Firmenhandy, das sie zurückgegeben hatte. Es regnete, aber sie wollte nicht länger vor der großen Glasscheibe herumstehen, durch die die Rezeptionistin sie sehen konnte, also ging sie weiter. Ihre Stöckelabsätze waren kurz, aber vom Rambusch-Gebäude bis zum Ende des Industriegeländes war es darauf ein weiter Weg. Zudem ging es zur ersten Bushaltestelle der Hauptstraße bergan. Das geklaute Schild aus der Empfangshalle behinderte sie beim Gehen, also zog sie es aus ihrem Rockbund und war drauf und dran, es über die nahe Hecke zu werfen, aber dann steckte sie es in die Plastiktüte. Schwere Regentropfen fielen auf ihre perfekt frisierten Haare und in den Ausschnitt ihrer Bluse, in ihre Augen und ihren Mund. Sie holte den ausgeblichenen Schal aus der Tüte und band ihn sich um den Kopf. Sie kam sich wie eine Obdachlose vor und hoffte, sie sähe auch so aus. Es könnte ihr neues Betätigungsfeld werden.

An der Haltestelle lehnte sie sich ans Wartehäuschen, um ihre Füße zu entlasten. Im Bus löste sie dann einen Fahrschein in die Stadt. Dort angekommen, ging sie in eine Buchhandlung und kaufte eine großformatige Karte, in der auch die kleinen Wege und Gassen der Gegend erfasst waren. Die brauchte sie, um nach Hause zu kommen, ohne die Straßen zu benutzen, durch die sie normalerweise fuhr. Im Schuhgeschäft daneben kaufte sie sich ein Paar Sneaker, das ihr in einem stabilen, grell orangefarbenen Beutel ausgehändigt wurde, groß genug, um ihren Krimskrams aus dem Büro, die Stöckelschuhe und das Schild hineinzutun. Laut Karte führte der schnellste Weg nach Hause über den Treidelpfad entlang des Kanals. Als sie losging, hörte es gerade auf zu regnen.

Eine Frau etwa gleichen Alters kam ihr entgegen. Zwischen ihnen lag ein offenbar herrenloses dunkelblaues Kanalboot. Sein Name stand in roten Buchstaben auf dem Bug: Number One.

Auf dem Weg zum Friseur begann es zu regnen, und das hatte Sally nicht kommen sehen. Raindrops are falling on my head, dachte sie, obwohl das Lied ganz und gar nicht zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passte.

»Ach, du liebe Zeit!«, sagte die Friseurin, als Sally die Fußmatte volltropfte. »Du bist wohl nicht richtig ausgerüstet.«

Sally kannte Lynne seit über zwanzig Jahren. Zwanzig Jahre lang hatten sich ihre Blicke im Spiegel getroffen. In dieser Zeit hatten sie über alles Mögliche gesprochen. Informationen über Kinder, Urlaub, Küchengeräte und Klempner ausgetauscht. Sich ihre Ansichten über Seifenopern, Eis- und Kaugummisorten sowie die Zeitumstellung im Frühling und Herbst mitgeteilt. Sie hatten über erneuerbare Energie gesprochen, den Zinssatz, den Nahen Osten und Handys. Sie erschrak jedes Mal, wenn sie aus dem Frisierstuhl aufstand, nachdem sie ihren Hinterkopf in einem kleinen Spiegel betrachtet hatte, die Haarschnipsel von ihren Schultern gefegt worden waren und Lynne ihr den Frisierumhang schwungvoll abgenommen hatte. Es konnte doch nicht wahr sein, dass sie größer war als Lynne! Wie konnte jemand, der über eine halbe Stunde lang den Frisierspiegel so mitfühlend und weltgewandt ausgefüllt hatte, im richtigen Leben so pummelig und unscheinbar sein? Nur zu Friseurbesuchen kam Sally in diesen Teil der Stadt und hatte Lynne noch nie auf der Straße getroffen. Manchmal fragte sie sich, ob sie sie überhaupt erkennen würde, sollte sie ihr plötzlich in der Schlange vor der Medikamentenausgabe bei Boots begegnen. Dennoch betrachtete sie Lynne als ihre Freundin, und zwar seit dem Tag, als sie Lynne gebeten hatte, sie nicht Mrs. Allsop, sondern Sally zu nennen, was Lynne nur recht war.

Dieses Mal hatte sie ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Wenn Lynnes Gesicht im Spiegel ihrer Geschichte einen Rahmen gab, würde sie es aussprechen können, und wenn sie es aussprach, würde es Gültigkeit bekommen.

Lynne kämmte Sally die nassen Haare und brachte das sonst so flusige Durcheinander glatt und elegant in Form.

»Nur ein bisschen nachschneiden?«, fragte sie wie üblich.

»Ich hatte an Strähnchen gedacht«, sagte Sally. »Nicht gleich heute. Nächstes Mal vielleicht.«

Lynne sagte, das sei ein ziemliches Gefummel. »Ich weiß auch gar nicht, welche Farbe infrage käme. Deine Haare sind so hell und dünn, da ist es schwer, eine Farbe mit genug Kontrast zu finden, ohne dass du gleich wie ein bunter Hund aussiehst.«

»Pink«, sagte Sally. »Oder Türkis.«

»Genau. Und das willst du ja nicht. Vielleicht ein nussiges Braun, wenn es denn unbedingt sein muss.«

»Aber ich will Pink oder Türkis. Ich bin mir nur noch nicht sicher, welches von beidem.«

»Also wirklich«, sagte Lynne. »Was soll das denn?«

»Ein Neuanfang«, sagte Sally. »Noch mal durchstarten. In mein neues Leben als Single.« Schere und Kamm verharrten reglos in der Luft. Lynne starrte in den Spiegel. »Gestern Abend habe ich meinem Mann gesagt, dass es aus ist. Es gibt keinen Grund, so weiterzumachen wie bisher.«

»Tut mir leid«, flüsterte Lynne. »Willst du darüber reden, oder ist es zu schmerzhaft?«

»Mir tut es überhaupt nicht leid, und es macht mir nichts aus, darüber zu reden, aber was mich wirklich interessiert, ist die Zukunft.«

»Das muss aber hart sein, nach fünfundzwanzig Jahren. Ich meine, du hast nicht unglücklich gewirkt. Vielleicht habe ich dich die ganze Zeit falsch verstanden, aber ich dachte immer, ihr steht euch sehr nahe. Hat er …? Ich meine, du weißt schon … Männer sind nun mal …«

»Duncan hat sich nichts zuschulden kommen lassen«, sagte Sally.

Lynne rührte sich immer noch nicht.

»Aber gefühlsmäßig muss es doch schwierig sein.«

»Das Einzige, was ich fühle, ist Erleichterung«, sagte Sally. »Und das ist überhaupt nicht schwierig.«

»Aber warum?«, fragte Lynne. »Es muss doch einen Grund geben.«

»Ich habe mich gelangweilt.«

Lynne brachte Schere und Kamm wieder ins Spiel, ziemlich ruppig, und ihr Gesicht wurde ganz rot. Sally hatte beinahe das Gefühl, dass sie sauer war, dabei wusste sie gar nicht, wie Lynne aussah, wenn sie sauer war, denn bislang hatten sie keinen Dissens gehabt. Aber Sally spürte, dass Lynne sie nicht wegen ihres Selbstbewusstseins bewunderte, sondern lieber jemanden vor sich gehabt hätte, der Mitleid brauchte, als Opfer oder schuldgebeugter Verursacher des Schlamassels. Das hatte Sally nicht kommen sehen, und sie versuchte sich vorzustellen, was bei Lynne angekommen war. Sie verließ ihren Mann, er hatte ihr nichts Böses getan, sie nicht hintergangen, und trotzdem fühlte sie sich nicht schuldig.

»Du scheinst etwas dagegen zu haben«, sagte sie.

Lynne presste die Lippen zusammen, schaute stur auf Sallys Kopf und schnitt in einer Geschwindigkeit an ihren Haaren herum, als sei das nur in einem sehr engen Zeitfenster möglich.

»Stimmt. Aber ich weiß ja auch nichts über eure Ehe. Ich weiß nur, dass es nicht einfach ist, eine Ehe zu führen, und dass alle Beteiligten daran arbeiten müssen, statt einfach aufzugeben und abzuhauen, als wäre nie etwas gewesen.«

»Andererseits«, erwiderte Sally, »kann es schwerer sein, den Alltag zu ertragen, als sich einem Trauma zu stellen.«

»Wenn du meinst.«

»Ich glaube, ich nehme mir ein Jahr Auszeit«, sagte Sally. »Zwölf Monate, in denen ich etwas unternehme, was ich normalerweise nie tun würde und womöglich nie wieder tun werde.«

»Was denn?«

»Weiß ich noch nicht. Aber es wird sich schon was ergeben.«

Es regnete immer noch, als sie den Friseursalon verließ. Im Laden an der Ecke kaufte sie einen Taschenschirm in genau dem Pinkton, den sie sich für ihre Strähnchen vorstellte. Die würde sie sich woanders machen lassen. War es nicht sowieso wichtig, von jetzt an ihre gewohnten Pfade zu verlassen? Wie sonst sollte sie dahinterkommen, welche Haken und Ösen sie festhielten wie die Fahne an einem Fahnenmast, die umherflattern, aber sich nicht fortbewegen konnte, geschweige denn losfliegen?

Der Schirm war nicht so einfach zu handhaben, wie die Werbung versprach, schützte ihre Haare aber vor dem Regen. Sie waren so elastisch und hatten so viel Volumen, wie nur Lynne es immer hinbekam. Als sie die Kanalbrücke überquerte, hörte es auf zu regnen, und Sally folgte dem Impuls, zum Treidelpfad hinunterzugehen. Auch er führte fast bis zu ihr nach Hause, aber sie benutzte ihn nur selten. Er war matschig, es gab keine Geschäfte; die Menschen, die in den am Ufer festgemachten Booten wohnten, hatten mehr unerzogene Hunde als andere Familien, kultivierten merkwürdige Pflanzen, gingen barfuß und fuhren auf verrosteten Fahrrädern herum. Aber gerade weil sie hier so selten entlangging, tat sie es heute. Außerdem war der Weg etwas länger, sodass sie etwas später nach Hause kommen würde. Ihrem Mann hatte sie gesagt, dass sie ihn verlassen wollte, um etwas Ruhe zu finden und nachdenken zu können. Aber die Ruhe, die dieser Ankündigung folgte, war kaum auszuhalten. Und sie wusste auch nicht, wohin sie eigentlich gehen wollte.

Also machte sie den Umweg über den Treidelpfad, ging langsam und schwang den nun nutzlosen pinkfarbenen Schirm an der Schlaufe. Eine etwa gleichaltrige Frau kam ihr entgegen. Zwischen ihnen lag ein dunkelblaues Kanalboot, das offenbar nicht mehr bewohnt war. Number One stand in roten Lettern am Bug.

Eve Warburton und Sally Allsop blieben auf dem Treidelpfad stehen, als ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Sie schauten auf das Boot, bis der Lärm abebbte, dann schauten sie einander an.

»War das ein Mensch?«, fragte Sally.

Eve sagte, das hoffe sie nicht. »Aber was immer es war, es wäre wohl nicht richtig, es zu ignorieren.«

Sally ging auf die Number One zu und bückte sich, um in ein Fenster zu schauen. Der Lärm fing wieder an, dazu mischte sich ein Geräusch, als würde etwas Schweres gegen eine Glasscheibe geschleudert. Sie schreckte zurück, verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Hintern auf dem abgetretenen nassen Gras des Treidelpfads. Eve sprang zur Seite, um nicht selber hinzufallen, verfing sich aber in dem pinken Schirm und fiel dann doch. Wieder ebbte der Lärm ab, als beide nebeneinander auf dem Boden saßen und auf das Boot starrten.

»Das ist ein Hund«, sagte Sally.

»Sind Sie sicher? Kann es nicht ein Kind gewesen sein?«

»Nur wenn die neuerdings mit schwarz-weißem Fell und Hängeohren gezüchtet werden.«

»Puh! Da bin ich aber froh. Mit Hunden komme ich zurecht. Kinder sind mir ein Horror.« Eve stand auf und betrachtete das Oberlicht auf dem Bootsdach. »Sie müssen da einsteigen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, sagte sie. »Dafür bin ich zu dick.«

Sally rührte sich nicht.

»Tut mir leid, aber ich kenne mich nur mit Kindern aus«, sagte sie. »Für mich sind Hunde ein Horror. Auf keinen Fall stecke ich die Beine in einen Raum, in dem ein Hund haust – ein tollwütiger womöglich.«

Eve stemmte die Hände in die Hüften.

»Was soll das heißen?« Sally rappelte sich auf. »Dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn Sie keine Kinder mögen, aber wenn ich sage, dass ich keine Hunde mag, haben Sie das Recht, mich so anzuschauen, wie Sie mich gerade anschauen?«

»So schaue ich Sie doch gar nicht an. Eigentlich schaue ich Sie überhaupt nicht an. Ich denke bloß nach.«

Der Lärm begann erneut, schwoll an und signalisierte allergrößte Not. Dann wurde es wieder still. Aber immer noch warf sich der Hund ans Fenster. Die Frauen traten einen Schritt zurück und sahen den menschenleeren Treidelpfad hinauf und hinunter. Nur über die Brücke fuhren ein paar Autos.

»Wir können nichts tun«, sagte Eve.

»Außer weggehen«, sagte Sally.

Aber sie setzte sich nicht in Bewegung, sondern blieb stehen und schaute zu, wie Eve auf das Bootsheck kletterte und das ganze Boot sachte zum Schaukeln brachte. Dann inspizierte Eve Schloss und Riegel der massiven schmalen Tür, hinter der der Bootsführer am Ruder stehen würde, wenn das Boot in Fahrt wäre. Eve bewegte sich in Richtung des offenen Bugs, der durch ein strammes Segeltuch mit eingehakten Ösen geschützt war. Sie löste eine Öse nach der anderen von den Haken, und als Sally begriff, wie lange sie brauchen würde, kam sie an Bord, um Eve zu helfen. Als sie eine Seite gelöst hatten und das Segeltuch zurückschlugen, ging Sally wieder an Land und Eve an die Tür, durch die es in die Wohnräume des Boots ging. Diese Tür hatte Glasfenster, wie eine billige Version der Türen eines Gewächshauses auf einem herrschaftlichen Anwesen. Der Hund jaulte wieder los und klang jetzt noch verzweifelter und fordernder. Eve griff nach einem schweren Metallwerkzeug, das auf einer der Bänke vor dem Wohnbereich lag, und schlug ein Glasfenster ein. Dann wurde es geradezu unheimlich still.

»Was ist passiert?«, fragte Sally vom Treidelpfad her.

»Ich greife hinein, um den Hund … Oh! Schnell! Fang ihn ein!«

Sekunden später lag sie mit abgewinkelten Armen und Beinen vor der Tür, während Sally wieder im nassen Gras des Treidelpfads landete und ein Häufchen schwarz-weißen Fells mit Hängeohren bereits an der Brücke vorbeigerannt war und, immer noch auf dem Treidelpfad, an Tempo zulegte.

»Mist«, sagte Eve.

Sally lag auf dem Rücken und fing an zu lachen.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass es nicht lustig ist, aber als ich heute Morgen aufgewacht bin, habe ich beschlossen, mich und andere nicht mehr zu langweilen und alles anders zu machen als sonst. Und guck, was passiert ist! Ich habe etwas erlebt, was ich noch nie erlebt habe. Weil ich spontan war.«

»Ich bin auch noch nie in ein Boot eingebrochen und habe noch nie einen verrückten Hund befreit«, sagte Eve. »Aber es passt zu dem beschissenen Tag, den ich heute habe. Du dagegen scheinst in Allem nur das Gute zu sehen.«

»Eigentlich nicht. Aber heute ist mir alles Neue willkommen. Alles, was anders ist.«

»Ich habe nichts gegen etwas Neues, aber ich möchte selbst entscheiden, ob ich etwas anders mache oder nicht. Wenn man jemand anderem diese Entscheidung überlässt, ist es nicht so einfach, das Gute in etwas Neuem zu sehen.«

Eve lag immer noch vor der Tür, an eine Gasflasche gedrückt und die Füße in einem Stapel Klappstühle verheddert. Auch ihr orangefarbener Beutel lag auf dem Boden, und das Schild Konstruktion aus Produktionsteilen war herausgefallen.

Sally beugte sich über den Bootsrand und reichte Eve die Hände, um ihr aufzuhelfen. Dann fragte sie, was das Schild zu bedeuten habe.

»Nichts. Gar nichts. Das ist ja der Witz. Konstruieren bedeutet das Gleiche wie produzieren. Was ausgedrückt werden soll, ist, dass es sich nicht um Prototypen oder Modelle, sondern in der serienmäßigen Produktion verwendete Teile handelt, obwohl natürlich auch Prototypen und Modelle produziert werden. Tut mir leid. Ich bin sauer und kleinlich. Viel wichtiger ist, was wir jetzt unternehmen. Was meinst du?«

Sie saßen auf einer der Bänke vor der Bugtür und erörterten ihre Möglichkeiten: abhauen wie der Hund oder abhauen und einen Abschiedsbrief hinterlassen; ob es wichtig war, überhaupt etwas zu unternehmen, wie etwa dem Hund zu folgen oder seinen Besitzer zu suchen. Dann bemerkten sie ein rhythmisches Geräusch, das sich auf sie zuzubewegen schien. Von unter dem Segeltuch konnten sie eine Person sehen, die ihnen auf dem Treidelpfad entgegenkam. Eine Person wie ein Ausrufezeichen: groß, dünn, schwarz und beinahe bedrohlich. Das Geräusch kam von Gummistiefeln und einem Lederrucksack, der in gleichmäßigen Abständen an einen Allwettermantel klatschte, dazu eine Art Pfeifen, das jeden Atemzug der schwarz gekleideten Person begleitete.

Sie kletterten aus dem Boot und warteten darauf, dass dieser Vorbote der Hölle an ihnen vorbeiginge. Das tat er aber nicht. Aus der Nähe entpuppte sich die Figur als eine Frau, wenn auch eine ziemlich ungewöhnliche. Sie stellte den Rucksack ab und schaute von einer zur anderen. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Orangenmarmelade und war so stark von Falten und Runzeln durchzogen, dass man sich nicht vorstellen konnte, wie die Frau ein Kosmetikprodukt – das sie wahrscheinlich im Leben nicht benutzen würde – auf ihrer zerklüfteten Gesichtslandschaft verteilen sollte. Ihre Lippen waren dünn und sahen aus wie eine weitere horizontale Falte, bis sie sie öffnete, um etwas zu sagen.

»Sie sind auf meinem Boot«, sagte sie. »Das sollten Sie mir erklären.« Ihre Stimme klang wie die Audioversion ihres Gesichts.

»Ich fürchte, ich habe die Tür aufgebrochen und den Hund rausgelassen«, sagte Eve.

»Was hätten wir sonst tun sollen?«, fragte Sally. »Er hat fürchterlich gejault.«

Die Bootsbesitzerin öffnete den Mund etwas weiter und entblößte ihre schiefen Zähne. Sie fuhr mit ihrer grauen, rauen Zunge darüber und nickte.

»Die meisten, die meinen, der Hund jault, weil es ihm nicht gut geht, melden mich beim Tierschutzverband oder der Kanalverwaltung oder der Umweltbehörde oder der Polizei oder was ihnen sonst einfällt, um mir Ärger zu machen. Es gibt ihnen das Gefühl, eine gute Tat zu vollbringen, ohne sich selbst um das Problem kümmern zu müssen. Eure Reaktion ist mir lieber. Dem Hund geht es nicht gut, also verschafft ihr euch Zugang und kümmert euch. Das gefällt mir. Euch war der Hund wichtiger als das Gesetz. Auch das gefällt mir.«

»Wir dachten, er würde sterben«, sagte Sally.

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Er wollte nur angeben. Die Einzige, die hier stirbt, bin ich.«

Sie hob ihren Rucksack auf, betrat das Bootsheck und öffnete die Tür.

»Ich gebe Ihnen Geld, damit Sie die Fensterscheibe ersetzen können«, sagte Eve.

»Das lohnt sich nicht. Reparaturen an einem Boot wie diesem sind teurer, als Sie sich vorstellen können. Alles ist so klein, dass man meinen sollte, es ist billiger als große Reparaturen. Aber das stimmt nicht. Ich werde einfach eine Holzplatte vor das Fenster nageln, bis mir eine Scheibe in der richtigen Größe über den Weg läuft.«

»Wir können reinkommen und die Scherben zusammenfegen«, bot Sally an.

»Ja, könnt ihr. Und einen Tee mit mir trinken. Das wäre schön. Ihr gefallt mir.«

Die Inneneinrichtung war spärlich, sauber und funktional. Von der Hecktür führten Stufen in die Küche hinunter; dort gab es einen Herd, Geschirrschränke, einen Tisch und zwei Sitzbänke, eine Plastikschüssel für den Abwasch in einem Spülbecken und einen Wasserkessel auf einer Herdplatte. Keine Deko, kein Schnickschnack. Die holzgetäfelten Wände waren leer, außer einer Landkarte und einem Bücherregal, an dem eine Taschenlampe, eine Trillerpfeife, eine Hundeleine und ein kleiner Erste-Hilfe-Kasten hingen. Die alte Frau holte Kehrschaufel, Handbesen und einen Eimer aus einem Schrank. Zusammen brachten Eve und Sally die Sachen durch die folgenden Räume zum Bug, weil sich beide für den Schaden, den sie angerichtet hatten, verantwortlich fühlten und vielleicht auch, weil keine von ihnen gern mit der Bootsbesitzerin allein in der Küche geblieben wäre.

Im zweiten Raum stand ein Holzgestell von der Größe eines Betts oder einer Couch an der Wand, aber kein Polster, keine Matratze lud zum Sitzen oder Liegen ein; darunter befanden sich Aufbewahrungskisten. Es gab drei Bücherregale. Zwischen diesem und dem nächsten Raum befanden sich ein Waschbecken und eine Kabine mit einer geschlossenen Tür. Im vorderen Raum stand ein Stockbett mit groben Decken auf den Matratzen, fest eingeschlagen; diese Decken waren das einzig Weiche im ganzen Boot. Sally und Eve fegten die Scherben vom sonst sauberen Fußboden und gingen in die Küche zurück, wo die alte Frau ihnen Kehrblech, Besen und Eimer samt Inhalt abnahm und alles hinter einer Schranktür verschwinden ließ.

»Ich heiße Anastasia«, sagte sie, drei weiße Becher und drei Teebeutel in der Hand, und forderte Sally und Eve auf, sich auf eine der Bänke zu setzen. Der Kessel begann heiser zu pfeifen.

»Und der Hund?«, fragte Sally.

»Er heißt Noah, und bevor ihr fragt: Er hat nichts gegen das Boot, sondern gegen die Geräusche, die ich in letzter Zeit andauernd mache.«

»Nein«, sagte Sally. »Ich meine: Sollten wir uns nicht Sorgen machen, wo er jetzt ist? Ihn suchen oder vermisst melden?«

»Jetzt passt mal auf.« Anastasia goss kochendes Wasser in die drei Becher. »Um ihn braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ihm wird nichts passieren. Viel eher wird er mich bis ans Ende meiner Tage nerven, vielleicht noch länger. Er kommt zurück. Im Leben gibt es nicht viele Gewissheiten, aber dass Noah wiederkommt, ist eine.«

»Ach so«, sagte Sally. »Ich heiße übrigens Sally.«

»Eve«, sagte Eve.

»Sally«, sagte Anastasia. »Und Eve und Anastasia. S und E und A. Das ergibt SEA. Aber was soll das? Wir bräuchten noch ein Y, dann wäre für uns alles EASY. Habt ihr eine Freundin namens Yolanda, die ihr mitbringen könntet?«

»Mein zweiter Vorname ist Yasmin«, sagte Sally.

»Perfekt. Dann sind wir ja tatsächlich EASY.«

Der Tee war so stark, dass Sally und Eve nur kleine Schlucke nahmen, um sich das Tannin in erträglichen Dosen zu verabreichen. Anastasia trank ihren Tee wie ein Glas Bier, mit großen Schlucken und voller Genuss.

»Übrigens«, sagte sie und stellte ihren leeren Becher ab. »Vielleicht sterbe ich gar nicht. Vielleicht ist das Sterben nicht unvermeidbar. Es gibt eine Chance, einfach wegzumachen, was mich krank macht, sodass ich erst später sterbe, an etwas anderem. Aber es ist schwierig, es zu versuchen, und ich weiß nicht recht, wie ich es anstellen soll. Vielleicht ist es also einfacher, es passieren zu lassen und an dem zu sterben, worunter ich jetzt leide.«

»Und was ist das?«, fragte Eve.

»Das wissen sie nicht so genau, oder vielleicht wissen sie es und wollen es mir nicht sagen, solange sie nicht alles aus jedem Winkel gescannt und Gewebeproben entnommen und alles Mögliche von mir abgekratzt, ausgequetscht und abgeschnitten haben. Das ist das Problem. Um nicht zu sterben, muss ich mich zu einem Arzttermin nach dem anderen schleppen, diese und jene Prozedur über mich ergehen lassen, mich diesem und jenem Eingriff unterziehen, Korsetts und Schienen tragen und Folgebehandlungen durchstehen. Und um das alles tun zu können, muss ich hierbleiben.«

»Dann müssen Sie eben hierbleiben. Wenigstens bis die Diagnose feststeht und Sie entscheiden können, was geht und was nicht«, sagte Sally.

»Das kann ich nicht«, sagte Anastasia. »Ich kann es mir nicht leisten. Wenn ich bleibe, muss ich eine Liegegebühr bezahlen, falls ich einen festen Liegeplatz finde, oder von einem zum anderen Liegeplatz schippern, dabei habe ich nicht mal genug Geld für einen, und wer weiß, wann eine invasive Operation nach der anderen Strahlenbehandlung mich zu sehr schwächt, um die nächste durchzustehen. Außerdem muss ich mich um das Boot kümmern. Alle möglichen Papiere beibringen, um meine Kanallizenz zu erneuern. Der Motor muss gewartet werden, und der Rumpf braucht einen neuen Anstrich. Das alles kann ich mir nicht leisten. Ich kenne jemanden von der Werft in Chester, der umsonst für mich arbeiten würde, aber das Ganze müsste bis zur zweiten Augustwoche erledigt sein. Von hier bis Chester brauche ich mindestens vier Wochen, und zwar ohne Pause und nur wenn ich sofort losfahre. So sieht’s aus. Wenn ich am Leben bleiben will, muss ich hierbleiben. Wenn ich mein gewohntes Leben weiterführen will, muss ich nach Chester.«

»Es muss doch einen Ausweg geben«, sagte Eve.

»Ja, natürlich. Ich bräuchte jemanden, der die nächsten drei, vier Monate nichts Besseres zu tun plus ein Haus hat, in dem ich wohnen könnte, während er mit dem Boot nach Chester und zurück fährt.«

»Und so jemanden kennen Sie nicht?«, fragte Eve.

»Jemanden mit Haus und Zeit? Wie sollte ich?«

»Also ich habe die nächsten vier Monate nichts Besseres vor«, sagte Sally. »Aber in meinem Haus wohnt schon jemand.«

»Allein könnten Sie das sowieso nicht schaffen«, sagte Anastasia. »Ich schon, aber Sie nicht.«

Ein leises Geräusch war vom Heck her zu hören, ein Klopfen oder Kratzen. Anastasia setzte sich auf und drehte den Kopf. Es war der Hund, der sich so leise wie möglich an Bord schlich.

Als er in die Küche kam, konnten Sally und Eve ihn zum ersten Mal richtig sehen: ein mittelgroßer Beinaheterrier, raues, weißliches Fell mit schwarzen Flecken, lange Beine, ein fassartiger Körper, Schlappohren, sehr wache braune Augen und ein schwarzer Fellwirbel auf der Stirn, der einem Fragezeichen bemerkenswert ähnelte.

»Ja?«, sagte Anastasia. Der Hund ließ sich nieder, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und hob erst eine Augenbraue und ein Ohr, dann die anderen beiden. »Du weißt, was ich davon halte.« Der Hund schien zu bestätigen, dass er genau wusste, was sie davon hielt, indem er einmal blinzelte. Trotzdem fuhr sie ihn in einem Ton an, dass Eve zusammenzuckte und Sally, die ohnehin schon auf der Bank herumrutschte, beinahe aufsprang. »Es ist wirklich eine Schande mit dir. Warum jemand, der auch nur das Geringste von Hunden versteht, nicht gleich erkannt hat, dass du eine einzige Katastrophe bist und dir nicht einen Spaten über den Kopf gehauen hat, KANNICHNICHTVERSTEHEN. Eines Tages werde ich es selber tun. Eines Tages, wart’s nur ab.«

Nach einem Moment angespannter Stille rollte Noah sich auf die Seite und schlief ein. Von beinahe demselben Moment an wurde das Gespräch der Frauen von seinem Schnarchen untermalt.

»Ich habe eine Wohnung, in der ich allein lebe«, sagte Eve. »Und ehrlich gesagt wüsste ich nicht, was mich davon abhalten sollte, die nächsten vier Monate über Englands Kanäle zu schippern.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr keine Ahnung vom Bootfahren habt?«, fragte Anastasia. »War eine von euch überhaupt schon mal auf einem Kanalboot, bevor ihr die Number One attackiert habt?«

»Ich nicht«, sagte Eve.

»Ich auch nicht«, sagte Sally.

»Aber ich soll sie euch anvertrauen?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Sally.

»Moment mal«, sagte Eve. »Lassen Sie mich das klarkriegen. Haben Sie nicht vor einer Minute gesagt, dass Sie die Hilfe brauchen, und jetzt tun Sie so, als täten Sie uns einen Gefallen?«

Anastasia saugte an ihrer Unterlippe und knöpfte langsam den Allwettermantel auf, den sie immer noch anhatte.

»Zusammen könnt ihr es vielleicht schaffen, wenn ich euch eine Einweisung gebe. Aber seid ihr so gut miteinander befreundet, dass ihr es vier Monate unter einem Dach aushaltet?«

»Wir sind überhaupt nicht miteinander befreundet«, sagte Sally.

»Wir sind uns zum ersten Mal begegnet, als wir den Hund retten wollten«, sagte Eve.

»Ist vielleicht besser so«, sagte Anastasia. »Dann seid ihr womöglich schon kurz vor Chester, wenn ihr feststellt, wie wenig ihr einander mögt.«

Es folgte eine längere Pause. Dann lächelte Anastasia, obwohl das in ihrem ernsten, zerfurchten Gesicht nicht gleich zu erkennen war.

»Ich weiß nicht …«, sagte Eve.

»Was soll eigentlich mit dem Hund werden?«, fragte Sally.

»Den nehmt ihr mit.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Eve. »Wir sind uns vor fünf Minuten zum ersten Mal begegnet, und Sie kennen uns überhaupt nicht. Wollen Sie sich nicht erst vergewissern, mit wem Sie es zu tun haben? Dass wir keine Alkoholikerinnen oder Drogendealer oder so was sind?«

»Sagen wir mal so«, sagte Anastasia. »Die meisten, die ich in der Bootsszene kenne, sind Alkoholiker, Drogendealer oder schlichtweg Nichtsnutze. Aber es sind gute Bootsführer. Natürlich habe ich daran gedacht, einen von ihnen zu bitten, die Number One nach Chester zu bringen, während ich hier in Uxbridge in seiner oder ihrer Wohnung wohne. Jetzt taucht ihr beide hier plötzlich auf, wildfremde Menschen, die nichts von Booten verstehen. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass ihr irgendeinen Dreck am Stecken habt. Also habe ich die Wahl zwischen einem gestandenen Bootsführer, dessen Charakter mir zuwider ist, und zwei Landratten, an deren Charakter ich nichts auszusetzen habe. Und diese Wahl hatte ich heute Morgen noch nicht.«

»Ein unerwartetes Geschenk«, sagte Sally.

Eve sah sie von der Seite an. »Willst du das wirklich tun?«

»Keine Ahnung. Aber wenn, dann auf keinen Fall allein.«

Anastasia und Sally sahen Eve an. Noah hörte auf zu schnarchen, hob den Kopf ein paar Zentimeter und sah sie ebenfalls an.

»Wir könnten darüber nachdenken«, sagte Eve. »Einen Plan machen. Die Einzelheiten ausarbeiten.«

»Das könnten wir«, stimmte Sally zu. »Darüber nachdenken, meine ich.«

Anastasias Lächeln verwandelte sich zu etwas ähnlich Erschreckendem wie Noahs Gebell vor einer Stunde, aber es sollte wohl ein Lachen sein.

»Langsam«, sagte sie. »Immer mit der Ruhe.«

Eve fiel nichts ein, worüber sie nachdenken könnte. In fünfhundert Metern machte der Kanal eine Biegung, bis dahin waren es zehn Minuten. Fünfhundert Meter beziehungsweise zehn Minuten, in denen nichts nach Aufmerksamkeit schrie. Keine Veränderung bei den Bäumen links und rechts der Kanalufer; keine Gefahrenstelle, an der sie hätte beweisen müssen, dass sie fähig war, das Boot nach rechts zu bewegen, indem sie das Ruder nach links drückte; keine Zukunftspläne. Am Morgen war sie auf dem harten Brett aufgewacht, das in dem mittleren Raum als Bett diente. Ihr erster Gedanke war, dass sie am Vorabend nicht darüber nachgedacht hatte, was sie anziehen sollte. Das beunruhigte sie, bis sie richtig wach und ihr klar wurde, dass es vollkommen egal war. Sie besaß ohnehin kaum etwas, was für dieses Unternehmen passend gewesen wäre, außerdem spielte es hier keine Rolle, wie sie gekleidet war. Auch sonst gab es nichts, was ihr Sorgen machen musste. Das allerdings war beunruhigend.

Als Sally mit zwei Bechern Kaffee in den Raum kam, dachte sie, sie könne sich Sorgen darüber machen, wie lange es dauern würde, bis ihr diese fremde Frau auf die Nerven ginge. Welchen Mix an Gewohnheiten, Meinungen, Eigenarten und Charakterfehlern gab es bei ihr zu entdecken – Dinge, die es ihr früher oder später unmöglich gemacht hatten, die Menschen in ihrer Umgebung zu ertragen? Bis jetzt hatte sie noch nichts Negatives bemerkt, sodass es keinen Sinn hatte, weiter darüber nachzudenken.

Zehn Tage waren vergangen, seit sie Sally und Anastasia zum ersten Mal begegnet war. Heute begann die Fahrt. Rückblickend wusste sie, dass die Entscheidung dafür in den wenigen Minuten fiel, als sie zum ersten Mal auf der Number One gewesen war. Aber sie war eine Planerin und verachtete Menschen, die sich in Unternehmungen stürzten, ohne alles erst sorgfältig zu überdenken, Vor- und Nachteile abzuwägen, einzelne Schritte festzulegen und sich gegen die wahrscheinlichsten Missgeschicke zu wappnen. Die Möglichkeit, von ihrer Wohnung in ein Boot umzuziehen, war ein Geschenk gewesen, und zwar genau das, was sie gebraucht hatte – die Chance, sich zu lösen, alle anderen Zukunftspläne ruhen zu lassen, nicht weiter über die Vergangenheit nachzudenken und sich nachts den Schlaf davon rauben zu lassen. Doch diese Chance zu ergreifen, ohne weiter darüber nachzudenken, war ihr nicht möglich gewesen.

Entlang des Treidelpfads war sie nach Hause gegangen und hatte den Matsch von den Sneakern gewaschen. Dann war sie den Beutel durchgegangen, den sie aus dem Büro mitgebracht hatte, und hatte den Frosch, den verblassten Schal, den schmutzigen Becher und den kaputten Brieföffner weggeworfen. Dann hatte sie die restlichen beiden Dinge betrachtet, das gerahmte Foto von der Teambildungsübung und das gestohlene Schild über die Produktionsteile. Dann warf sie auch Letzteres weg, denn sein wirrer Text symbolisierte für sie die wirren Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, und die augenscheinliche Logik, die zu einem vernünftigen Schluss zu führen schien, obwohl sie sich lediglich im Kreis bewegte und am Ende zum Ausgangspunkt zurückführte. Das Foto hob sie auf, als Sinnbild für die Uniformität der Gemeinschaft, die sie verlassen hatte, und als optimistische Erinnerung daran, dass sie dort nicht mehr hingehörte und es eigentlich auch nie getan hatte.

Als ihr das klar geworden war, klappte sie ihren Laptop auf und erstellte den Easy-Plan, um herauszufinden, ob das Ganze eine Schnapsidee war oder nicht. Sie definierte Meilensteine des gewagten Unternehmens und dachte über jeden einzelnen nach: Wie schwierig würde es sein, wie schwerwiegend waren die Konsequenzen, wenn etwas nicht oder nicht gut genug gelang? Als sie spät abends damit fertig war, die Straße vor ihrem offenen Fenster still geworden war und sie sich das letzte Glas eines chilenischen Merlots eingeschenkt hatte, betrachtete sie die Ergebnisse, und ihr wurde klar, dass nichts sie davon abhalten konnte, zu dem Plan zu stehen. Nichts würde sie unversucht lassen, um ihn zu realisieren. Dieser Moment war das Highlight der folgenden zehn Tage.

Am nächsten Morgen brachte sie den Plan zu dem vereinbarten Treffen auf der Number One mit und legte Kopien davon vor Anastasia und Sally auf den Küchentisch. Anastasia nahm ihn in die Hand, verzog mehrfach den Mund, summte vor sich hin und legte ihn dann wieder auf den Tisch.

»So weit, so gut«, sagte sie.

Sally schaute auf ihre Kopie wie auf den Aufgabenzettel einer Klassenarbeit. Nach einer Weile sah sie wieder auf.

»Heißt das, wir machen es?«, fragte sie.

»Das heißt, dass ich keinen Grund sehe, es nicht zu tun«, sagte Eve. »Was ist mit dir?«

»Ich brauche noch etwas Zeit«, sagte Sally.

Als sie am Vortag von Bord gegangen waren, hatte Eve Sallys »Wir schaffen das«-Attitüde mit Skepsis betrachtet. Jetzt fürchtete sie das Gegenteil: dass Sally eine von denen sein könnte, die kalte Füße bekamen, nachdem ein Plan geschmiedet und von allen Beteiligten für gut befunden worden war, und nicht zum Mitmachen zu bewegen war. Sallys Reaktion machte ihr aber auch klar, wie sehr sie sich selbst wünschte, den Plan in die Tat umzusetzen.

Was möglich zu sein schien, als sie mit diesen zwei ungewöhnlichen Frauen auf der Number One zusammensaß, kam Sally später, als sie ihre Haustür im Beech Grove 42 aufschloss, wie Spinnerei vor, schlimmer noch: wie ein Witz, etwas vollkommen Lächerliches. Der bloße Gedanke daran, wie sie die richtigen Worte dafür finden sollte, was sie zu tun beabsichtigte und wie sie sich ihre Zukunft vorstellte (erträumte), war ihr zu viel. In ihrem Haus hatte sich nichts verändert. Die Einrichtung, der typische Geruch, die kleinen Schönheitsfehler an Wänden und Böden, der Winkel, in dem die Sonnenstrahlen durchs Küchenfenster auf den gefliesten Fußboden fielen – alles machte sich mit seiner Vertrautheit und Beständigkeit über sie lustig.

Aber sie hatte das Unvorstellbare bereits ausgesprochen, als sie mit Duncan am Küchentisch gesessen und ihm erklärt hatte, dass sie so nicht weitermachen und alle Welt glauben lassen könne, sie sei gern, was man in ihr sah: Ehefrau, Mutter, Schulbegleiterin, Bewohnerin von Beech Grove 42. Während sie sprach, hatte Duncan ihren Blick gemieden, vielmehr hatte er auf die Zeitschrift geschaut, die zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Eine Fernsehzeitung für die nächste Woche, auf dem Cover eine dieser Frauen mit perfekt zurechtgemachten Gesichtern und Namen, die mit K begannen – Katie, Keira oder Kylie. Ein Brotkrümel war mittags beim Sandwichmachen auf das Foto gefallen und lag jetzt auf den Schneidezähnen der K-Frau. Es sah aus, als hätte eine gelbliche Kruste aus Krankheitsgründen oder wegen mangelnder Hygiene ihre perlweißen Kauwerkzeuge entstellt. Sally hob eine Hand, um den Krümel wegzuwischen, weil es nicht fair wäre, die K-Frau so aussehen zu lassen, aber mitten in der Bewegung hielt sie inne, um nicht den Eindruck zu erwecken, ihr sei ein blöder kleiner Krümel wichtiger als ein Gespräch, das immerhin das Leben ihres Gatten zerstörte.

Duncan war jemand, der nonstop redete, ihr jeden Gedanken im selben Moment mitteilte, wenn er ihm durch den Kopf schoss, und jetzt hatte sie einen Redeschwall erwartet. Stattdessen sagte er nur: »Darüber muss ich erst mal nachdenken«, und ging aus der Küche. Erst später merkte sie, dass er sogar aus dem Haus gegangen war. Mitten in der Nacht hörte sie ihn zurückkommen und in das Zimmer gehen, das früher einmal ihrem Sohn gehört hatte. Seither hatte er – als er am Morgen zur Arbeit gegangen war – nichts weiter gesagt als: »Du weißt, dass ich dich liebe.« Das war alles. Den ganzen Tag lang, als sie bei der Friseurin war, Anastasia und Eve kennenlernte, den Plan für die Number One ins Auge fasste und nach Hause ging, hatte sie Freiheit geschnuppert. Aber als sie den neuen pinkfarbenen Regenschirm zu den anderen in den Ständer stellte, flüsterte ihr das Haus zu: Hast du wirklich geglaubt, dass es so einfach sein würde? Hast du gedacht, du kämst hier raus?

Der Abend verging. Keiner sagte etwas. Ein unnatürliches, bedrückendes Schweigen begleitete das Abendessen, das Sally zubereitet hatte. Macht nichts, dachte Sally, es hat ja keine Eile. Vielleicht würde sich Eve dagegen entscheiden. Allein der Gedanke war eine bittere Enttäuschung.

Dann ging sie wieder zur Number One, und Eve präsentierte ein Papier, das alles ganz real machte. Allerdings verstand Sally den Plan nicht – alles Unsinn, zu kompliziert, zu viele Einzelheiten über Dinge, die ganz einfach sein würden, wenn sie erst einmal losgefahren waren. Hauptsache, alle könnten sich darauf einigen. Und am Ende war sogar das ganz einfach. Zu Duncan sagte sie: »Ich habe zwei Frauen kennengelernt, die mich gebeten haben, ihnen bei der Überführung eines Kanalboots nach Chester zu helfen.«

»Und? Machst du das?«

»Ich glaube schon.«

»Das musst du selber wissen.« Er fischte die letzten Kuchenkrümel von seinem Teller und leckte sich die Finger ab. »Aber es klingt gut. Du solltest es tun.«

Einerseits war sie erleichtert, dass er entgegen ihrer Erwartung nicht widersprach, alles ganz genau besprechen oder die Pros und Kontras abwägen wollte. Andererseits misstraute sie dem Frieden, denn so einfach konnte es doch nicht sein! Er hatte sie nicht ernst genommen, als sie sagte, ihre Ehe sei am Ende, sondern glaubte, sie brauche nur »eine kurze Auszeit«, werde schnell wieder zur Besinnung kommen, und dann wäre das Problem gelöst.

»Ich gebe dir Zeit, dich neu zu orientieren«, sagte sie, als sie das Geschirr abräumte. »Zu überlegen, was du tun willst. Mit dem Haus und so.«

»Es gibt einiges zu tun, das stimmt«, sagte er. »Viel zu überlegen.«

Am nächsten Tag ging sie wieder zur Number One und erklärte ihre Bereitschaft, Eves Easy-Plan zu folgen.

Alle hatten Verschiedenes zu erledigen und gingen ihrer Wege.

Eve hatte stets dafür gesorgt, dass sie sich ausgelastet fühlte. Die sicherste Methode war, immer nach vorne zu schauen und die nächste Veränderung zu planen. Theoretisch hätte es ihr jetzt also leichtfallen müssen. Für ein paar Monate auf Reisen zu sein war sie gewohnt. Aber bislang hatten die Veränderungen immer in einem Rahmen stattgefunden, den sie verstand. Erst jetzt, in dem Moment, in dem sich alles ändern würde – ihr Wohnort, ihr Alltag, die Gesellschaft, in der sie sich bewegte –, erkannte sie die Grenzen ihrer bisherigen Entscheidungsfreudigkeit: Nichts, was sie früher getan hatte, hatte sie je gezwungen, Neuland zu betreten und alles Vertraute hinter sich zu lassen.

Dieses Muster war in ihrer Kindheit angelegt worden. Als einziges Kind reiselustiger Eltern hatte sie ständig zwischen Internat, der Familie ihrer Mutter in den ländlichen Midlands, Dubai, Hongkong oder wo immer ihr Vater, ein Bauingenieur, der im Brückenbau tätig war, gependelt. Überall war es anders gewesen. Ihre Schule war eine vornehme Einrichtung mit harten Böden und Trennwänden, abwechselnd leise und dann wieder voller Lärm. Wo immer ihre Eltern wohnten, war es heiß, farbenfroh und – weil sie sich nirgendwo lange genug aufhielt – undurchschaubar. Ihre Großmutter und die restliche Familie ihrer Mutter verbrachten viel Zeit in der Natur, in grünen Landschaften, die in Eves Erinnerung andauernd kalt und nass waren, aber die Häuser, in denen sie wohnten, waren Inseln der Geborgenheit. Eve passte gut an all diese Orte. Sie wusste, wo sie stand. Auch wenn sie manchmal das Gefühl hatte, nirgends richtig dazuzugehören.

So war es auch an der Universität und dann bei Rambusch gewesen. Sie fand, dass sie als eine der wenigen Frauen recht gut in beide Institutionen – sie hatte Maschinenbau studiert – passte, und als sie die Karriereleiter bei Rambusch erklomm, von der Entwicklungsingenieurin zur Projektmanagerin bis zum Mitglied der Firmenleitung, hatte sie sich sogar zum ersten Mal richtig zugehörig gefühlt. Bis sie feststellte, dass sie es nicht war. Ihre Karriere hatte sie wie ihre Kindheit verbracht: stets auf dem Sprung, von einer Fertigungsstätte zur nächsten, von einem Büro ins andere, von einem Projekt zum nächsten. Sie hatte immer gewusst, dass sie in einem Monat, einem Jahr, zwei Jahren woanders sein und etwas anderes tun würde, das jedoch stets im Rahmen von Rambusch. Auch ihre Beziehungen folgten diesem Muster. Niemals hatte sie etwas Dauerhaftes erwartet oder ersehnt. Bei jedem Mann, mit dem sie gerade zusammen war, fragte sie sich schon, wer der nächste sein oder ob sich eine Singlephase anschließen würde (wogegen sie nicht das Geringste einzuwenden hatte).

Andauernd traf sie Entscheidungen – welche Rolle sie akzeptieren, wann sie eine Beziehung anfangen oder beenden sollte –, aber immer kannte sie die Grenzen, die Bedingungen. Jetzt gab es keine Grenzen, und das bedeutete unendliche Möglichkeiten bei gleichzeitiger Abwesenheit von Sicherheiten. Das war beunruhigend. Sie wollte aber nicht beunruhigt sein. Als sie in ihrer Wohnung stand und sich fragte, was sie als Nächstes tun sollte, fiel ihr Blick auf den Papierkorb, in den sie das Schild aus der Empfangshalle von Rambusch geworfen hatte. Auch sie selbst bestand aus Produktionsteilen, die ganze Zeit schon, während sie sich einbildete, sie hätte sich ihr Leben selbst ausgesucht. Dabei besaß sie genauso viel freien Willen wie das Hydrauliköl, von dem das Ausstellungsstück in der Empfangshalle in Bewegung gehalten wurde, immer im Kreis herum, weiter und weiter, in einer sinn- und zweckfreien Schleife.

Jetzt ist aber nicht die Zeit zu schwächeln, ermahnte sie sich. Sie würde tun, was sie immer tat und beherrschte: praktische Lösungen für reale Probleme suchen. Sie ging durch die Wohnung und überlegte, was sie mitnehmen, was sie hierlassen und was sie wegwerfen sollte. Dann schaute sie ihre Kontakte durch, wem sie es erzählen würde, wem nicht, welchen sie behalten und welchen sie löschen sollte. In beiden Fällen war die erste Kategorie die kleinere.

Sally musste an ihrer Schule dafür sorgen, dass sie für den Rest des Trimesters freigestellt würde. Wie immer ging sie zu Fuß. Ihr ganzes Leben bestand aus solchen Wiederholungen. Sie war ein Opfer der Routine, aber kaum hatte sie unterwegs diesen Gedanken gefasst, verwarf sie das Wort »Opfer«. Falls sie tatsächlich gefangen war, hatte sie es geschehen lassen. Sie konnte sich befreien, denn sie war kein Opfer; sie hatte die Kontrolle über ihr Leben.

Sie glaubte nicht, dass die Freistellung ein Problem sein würde – abgesehen vom Verdienstausfall natürlich. Die Schule musste an allen Ecken und Enden sparen, und der Schüler, um den Sally sich besonders kümmerte, lag für längere Zeit im Krankenhaus. Sie würde ihn vermissen, die Art, wie sein Hinterkopf die Rollstuhllehne berührte, wenn er sich zu ihr umschaute; sein Lächeln, das die anderen in der Klasse vielleicht nicht als Lächeln erkannten, das ihr aber zeigte, dass er glücklich war, obwohl er keine Kontrolle über seine Bewegungen besaß und nicht in Worte fassen konnte, was er dachte. Noch mehr hätte sie ihn allerdings vermisst, bliebe sie bis zum Ende des Trimesters an der Schule, wenn Geplapper und Lärm von Kindern, die zu ihrem Glück nicht mit einer Behinderung geboren worden waren, seine Abwesenheit nicht vergessen, sondern umso spürbarer machten. Auch die anderen Kinder würde sie vermissen, aber die brauchten sie nicht. Genauso wenig wie ihre eigenen Kinder.

Ihre Tochter und ihr Sohn hatten auf Sallys Entscheidung, ihren Vater zu verlassen, genauso reagiert, wie sie es sich ausgemalt hatte, wobei Amy all die Dinge sagte, die Sally eigentlich von Duncan erwartet hatte. Und sich dabei in Gefühle verstrickte, die sie in erster Linie ausdrückte, indem sie an markante Ereignisse des Familienlebens erinnerte (»Damals warst du doch glücklich, oder etwa nicht?«) und Sally mit anderen Müttern verglich, die sich solche Eskapaden nicht leisteten (»Ich meine, von ihr hätte ich das eher erwartet!«). Dahinter steckte die Frage, auf die Sally für sich selbst noch keine befriedigende Antwort hatte: Warum?

Der stille Mark hatte wenig gesagt, aber traurig dreingeschaut. Sie war drauf und dran, sich bei ihm zu entschuldigen, und konnte sich gerade noch bremsen. Sie hatte keine Ahnung, was ihn so traurig machte und warum er es nicht in Worte fassen konnte. Obwohl er ihr viel ähnlicher war als Amy, war er das größere Mysterium für sie.

Die Gespräche mit Duncan blieben gespenstisch kurz und ungewöhnlich sachlich. Wann welche Rechnungen fällig waren, an welchen Postämtern Sally auf der Fahrt vorbeikommen würde und ihre Post abholen konnte. Ohne Argumente dagegen vorzubringen oder große Analysen anzustellen, hatte er akzeptiert, dass seine Frau diese Reise machen würde. Was er außer der Reise noch alles akzeptiert hatte, war ihr unklar.

Als sie bei der Schule ankam, musste sie feststellen, dass die Schulleiterin über ihren Freistellungswunsch enttäuscht und verärgert war – oder zumindest so tat. Das überraschte sie. Sie blieb ruhig und richtete den Blick auf eine Tintenfischzeichnung an der Wand, ein pinkfarbenes Tier mit gelben Punkten. Hinter dem Kopf der Frau, die der Kopf der Schule war, wie Sally dachte. Über diesen Gedanken freute sie sich wie ein kleines Kind. Was die Frau sagte, war für Sally nur Geräusch. Nichts und niemand konnte sie aufhalten.

Offenbar hatte Anastasia angefangen, Dinge auszusortieren. Obwohl sich nach Sallys und Eves Eindruck im Boot – wenn überhaupt – nur das Nötigste befunden hatte, sahen sie am nächsten Tag, als sie die weiteren Schritte planten, dass etliche volle Müllsäcke zur nächsten Mülltonne gebracht werden mussten. Für Anastasia war das Wichtigste, den anderen beiden das Boot zu erklären.

»Es heißt Number One, weil man früher diejenigen Bootbesitzer so bezeichnete, die entlang der Kanalufer Handel trieben. Mit anderen Worten: Profis, Berufsschiffer. Die hatten Vorfahrt. Ich erwarte, dass ihr euch das zu Herzen nehmt. Ihr mögt Amateure sein, aber ihr müsst das Bootfahren so ernst nehmen, als wärt ihr keine.«

Zuerst gingen sie zum Heck, wo sich der Motor befand. Lektion eins: Wartung. Eve hatte gedacht, diesen Teil der Einweisung könne sie vernachlässigen, weil sie mit den beweglichen Teilen wesentlich komplexerer Maschinen als diesem alten Perkins-Diesel vertraut war. Anastasia jedoch ging so sehr ins Detail, forderte so viel Aufmerksamkeit und fürchtete so sehr, die beiden würden ihr Schande machen, dass Eve den Treidelpfad entlang zu einer Tankstelle an der Hauptstraße laufen musste, um ein Notizbuch zu kaufen, in dem diese und alle weiteren Lektionen niedergeschrieben werden sollten.

Nach der Wartung ging es um das Bootfahren an sich. Sie fuhren eine Meile nach Norden, durch eine Schleuse, drehten um und fuhren denselben Weg zurück. Das Wetter hatte sich beruhigt, es war trocken, sonnig und kaum windig. Eve brauchte eine halbe Stunde, bis sie über das Schneckentempo des Boots nicht mehr empört war, sondern voller Verachtung auf die von ihrer eigenen Geschwindigkeit besessenen Autofahrer auf der Brücke schaute, unter der die Number One hindurchfuhr.