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Shortlist Costa First Novel Award 2018 Tina und Anders hatten früher große Träume. Doch das Leben zog vorbei, und der eine Moment, sich diese zu erfüllen, kam nie. Jetzt haben beide jemanden verloren, der ihnen sehr nahesteht und der eine Lücke hinterlässt, die zu füllen ihnen unmöglich scheint. Tina und Anders sind sich noch nie begegnet. Zufällig beginnen sie einen Briefwechsel und teilen ihre Trauer miteinander, aber auch ihre Lust am Leben. Durch ihre Freundschaft entwickeln sie einen Hunger nach Veränderung. Mit Anfang sechzig stehen sie beide vor einer Frage, die viele Menschen umtreibt: Haben wir das Leben geführt, das wir führen wollten? »eine Liebesgeschichte, die jedoch keinen Kitsch braucht, um anrührend zu sein. Das Debüt (…) entfaltet in einem Briefwechsel eine emotionale Wucht, die an Glattauers ‚Gut gegen Nordwind‘ erinnert.« Brigitte Woman »Ergreifend.« bella »Das Versprechen, dich zu finden ist ein berührendes Debüt von Anne Youngson, die sich getraut hat, sich einen Traum zu erfüllen.« Leserin »Der Engländerin Youngson ist ein berührendes Werk gelungen, das große Fragen aufgreift und zum Aufbruch ermutigt.« Coopzeitung »Mit 70 Jahren hat die Britin Anne Youngson ein einfühlsames Debüt über Selbsterkenntnis und die Kraft von neuen Anfängen geschrieben (…).« Generation 55+ »Purer Lesegenuss!« belletristik-couch.de »Einfühlsam, sehr ergreifend und faszinierend.« Daily Express »Positiv-nachdenklich stimmend auch durch die bildreiche Sprache ein Genuss. Dringende Empfehlung für die Generation Plus und Jüngere, die sich an ganz besondere Brieffreundschaften erinnern.« ekz Bibliotheksservice
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Seitenzahl: 329
HarperCollins®
Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2018 by Anne Youngson Originaltitel: »Meet Me at the Museum« Erschienen bei: Doubleday, London
Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: www.buerosued.de Lektorat: Heide Kloth E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959677943
www.harpercollins.de
Für Frank, Cormac und Holly, meine lieben jungen Menschen.
Einmal werd ich nach Aarhus fahren,
seinen torfbraunen Kopf zu sehen,
Die sanften Schoten seiner Lider,
Seine spitze Lederkappe.
Seamus Heaney, Der Mann von Tollund
(aus: Ausgewählte Gedichte, übersetzt von Giovanni Bandini und Ditte König, Hanser, München 1995)
Ein Auszug aus dem Vorwort zu der englischen Ausgabe von P. V. Globs Die Schläfer im Moor (The Bog People, Faber & Faber 1969)
Professor Glob antwortet darin einer Gruppe von Schulmädchen, die ihn wegen jüngster archäologischer Entdeckungen angeschrieben haben. Sein Buch ist den Schulmädchen gewidmet, die ihn als Erste angeschrieben haben.
Liebe Mädchen,
gerade bin ich von den Wüsten und Oasen der Scheiche zurückgekehrt, da finde ich eure enthusiastischen Briefe auf meinem Schreibtisch. Sie haben in mir den Wunsch geweckt, euch und vielen anderen, die sich für unsere Vorfahren interessieren, von diesen seltsamen Entdeckungen in den dänischen Mooren zu berichten.
Also habe ich auf den folgenden Seiten einen langen Brief geschrieben, für euch, für meine Tochter Elsebeth, die ebenfalls in eurem Alter ist, und für alle, die gerne mehr über die alten Zeiten lernen würden, als sie den gelehrten Abhandlungen, die es zu diesem Thema gibt, entnehmen könnten.
Leider habe ich immer schrecklich wenig Zeit, und so hat es sehr lang gedauert, bis mein Brief fertig war. Aber hier ist er. Ihr alle seid seitdem älter geworden und daher jetzt vielleicht noch besser in der Lage, zu verstehen, was ich über diese Menschen aus dem Moor geschrieben habe, die hier vor 2000 Jahren gelebt haben.
Mit freundlichen Grüßen
P.V. Glob (Professor)
13. August 1964
22. November
Lieber Professor Glob,
wir sind uns zwar nie begegnet, aber Sie haben mir einmal ein Buch gewidmet: mir, dreizehn von meinen Klassenkameradinnen und Ihrer Tochter. Das war vor über fünfzig Jahren, als ich jung war. Und jetzt bin ich es nicht mehr. Dieser Gedanke, nicht mehr jung zu sein, beschäftigt mich dieser Tage sehr stark, und ich schreibe Ihnen, weil ich gerne wissen wollte, ob Sie mir helfen können, ein paar von meinen Gedanken irgendwie einzuordnen und zu erklären. Oder vielleicht hoffe ich auch, dass sie sich allein durchs Schreiben irgendwie einordnen und erklären lassen, denn ich mache mir keine großen Hoffnungen, dass Sie zurückschreiben werden. Sie könnten ja auch schon tot sein, ich weiß es nicht.
Einer von diesen Gedanken dreht sich um Vorhaben, die man nie umgesetzt hat. Sie wissen, was ich meine – wenn Sie noch leben, müssen Sie jetzt ein sehr alter Mann sein, und Sie müssen auch gemerkt haben, dass die Dinge nie eingetreten sind, von denen Sie in jüngeren Jahren dachten, dass sie passieren würden. Zum Beispiel könnte es sein, dass Sie sich geschworen haben, einen Sport oder ein Hobby oder eine Kunsttechnik oder ein Handwerk auszuprobieren. Und jetzt merken Sie, dass Sie entweder die dazu nötige körperliche Geschicklichkeit oder die Ausdauer verloren haben. Es wird seine Gründe gehabt haben, warum Sie nie damit angefangen haben, aber keiner davon ist gut genug. Keiner davon war wirklich der eine entscheidende Grund. Sie können nicht sagen: Ich wollte mit der Ölmalerei anfangen, aber ich konnte nicht, weil sich herausgestellt hat, dass ich auf irgendeine Chemikalie in der Farbe allergisch bin. Das Leben zieht einfach so vorbei, und dieser eine Moment kommt nie. Ich hatte immer den festen Vorsatz, nach Dänemark zu fahren und mir den Tollund-Mann anzusehen. Und ich habe es nie getan. Aus dem Buch, das Sie mir gewidmet haben, weiß ich, dass nur sein Kopf erhalten ist, seine schönen Hände und Füße nicht. Aber sein Gesicht reicht schon. Sein Gesicht, wie es auf dem Cover Ihres Buches abgebildet ist, habe ich mir an die Wand gehängt, wo ich es jeden Tag sehe. Jeden Tag werde ich an seine Heiterkeit, seine Würde, seinen weisen, resignierten Blick erinnert. Es sieht aus wie das Gesicht meiner Großmutter, die mir sehr nahestand. Ich lebe immer noch in East Anglia, und wie weit ist es bis zum Silkeborg-Museum? Tausend Kilometer Luftlinie? So weit wie einmal nach Edinburgh und zurück. Ich bin schon in Edinburgh und zurück gewesen.
All das ist nicht der wahre Grund, aber erstaunlich ist es schon. Was ist los mit mir, dass ich nie diese geringe Anstrengung unternehmen konnte, wo doch das Gesicht des Tollund-Mannes so einen zentralen Platz in meinen Gedanken einnimmt?
Es ist kalt in East Anglia, kalt und windig, und ich habe mir eine Skihaube gestrickt, um meinen Hals und meine Ohren und meinen Kopf warm zu halten, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe. Wenn ich auf dem Weg aus der Tür am Flurspiegel vorbeigehe, sehe ich mich im Profil und denke mir, wie ähnlich ich meiner Großmutter geworden bin. Und da ich meiner Großmutter ähnlich bin, ist mein Gesicht das Gesicht des Tollund-Mannes geworden. Dieselben hohlen Wangen, dieselbe Hakennase. Als wäre ich zweitausend Jahre konserviert worden und wäre es immer noch. Halten Sie es für möglich, dass ich durch irgendwelche entfernten Verwandtschaftszweige mit der Familie des Tollund-Mannes verwandt bin? Seien Sie versichert, dass ich in keinster Weise besonders sein will. Es muss ja noch andere Mitglieder dieser Familie geben, Tausende sogar. Ich sehe sie in den Gesichtern anderer Leute in meinem Alter, im Bus oder wenn sie ihre Hunde Gassi führen oder darauf warten, dass ihre Enkel sich ein Eis vom Eiswagen aussuchen, dieselbe Mischung aus Friedlichkeit, Menschlichkeit und Schmerz. Es gibt jedoch wesentlich mehr Leute, die nichts dergleichen aufweisen. Deren Gesichter rücksichtslos oder ausdruckslos oder verkniffen oder dumm sind.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben – ich will besonders sein. Ich will, dass irgendeine Bedeutung darin liegt, dass 1964 diese Verbindung zwischen Ihnen und mir entstanden ist und dass es eine Verbindung zu dem Mann gibt, der vor zweitausend Jahren im Moor begraben wurde. Ich schreibe nicht sehr zusammenhängend. Bitte machen Sie sich nicht die Mühe zu antworten, wenn Sie meinen, dass ich Ihre Zeit verschwende.
Hochachtungsvoll
T. Hopgood (Mrs.)
Dänemark
10. Dezember
Liebe Mrs. Hopgood,
ich beziehe mich auf Ihren Brief an Professor Glob. Professor Glob ist 1985 verstorben. Wenn er noch leben würde, wäre er heute 104 Jahre alt, was nicht unmöglich ist, aber doch unwahrscheinlich.
Ich glaube, Sie stellen in Ihrem Brief zwei Fragen:
I. Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie das Museum nicht besuchen sollten?
II. Besteht die Möglichkeit, dass Sie mit dem Tollund-Mann entfernt verwandt sind?
Um auf Ihre erste Frage zu antworten: Ich möchte Sie ermutigen, sich die Mühe eines Besuchs zu machen. Es gehen regelmäßig Flüge von Stansted – oder von Heathrow oder Gatwick, wenn Ihnen das lieber ist – nach Aarhus, von wo aus Sie am bequemsten nach Silkeborg kommen. Das Museum ist jeden Tag von 10 bis 17 Uhr geöffnet, außer im Winter, da ist es nur von 12 bis 16 Uhr auf. Sie können hier sowohl die Elling-Frau als auch den Tollund-Mann sehen, und eine Ausstellung zeigt alles Wissenswerte über die Menschen, die in der Eisenzeit gelebt haben, z. B. woran sie glaubten, wie sie lebten, wie sie das Mineral abbauten und bearbeiteten, das dieser Epoche ihren Namen gibt. Außerdem muss ich etwas korrigieren, was Sie in Ihrem Brief gesagt haben. Zwar ist nur der Kopf des Tollund-Mannes erhalten, doch der restliche Körper ist nachgebildet worden, so dass die Figur bei Ihrem Besuch hier genauso aussehen wird wie damals, als sie aus dem Moor geborgen wurde, inklusive der Hände und Füße.
Um Ihre zweite Frage zu beantworten: Das Zentrum für Geogenetik in unserem Naturhistorisk Museum versucht derzeit, DNA aus dem Gewebe des Tollund-Mannes zu isolieren, was uns helfen würde, seine genetische Verbindung zur heutigen Bevölkerung Dänemarks zu verstehen. In Professor Globs Buch haben Sie sicher gelesen, dass der Zeigefingerabdruck der rechten Hand des Tollund-Mannes eine ulnare Schleife aufweist, wie sie 68 Prozent des dänischen Volkes gemein ist. Deswegen sind wir zuversichtlich, dass diese Studie Verbindungen zutage fördern wird. Durch die Wikinger, die später nach Dänemark kamen, sich aber sicher mit der ansässigen Bevölkerung vermischt haben, gibt es höchstwahrscheinlich gewisse genetische Gemeinsamkeiten mit der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs. Ich würde also sagen, dass eine Verwandtschaft zwischen Ihnen und dem Tollund-Mann gut möglich ist, und sei sie auch noch so entfernt.
Ich hoffe, dass diese Informationen Ihnen weiterhelfen, und freue mich, Sie kennenzulernen, wenn Sie uns hier besuchen.
Mit freundlichem Gruß
Der Kurator
6. Januar
Lieber Herr Kurator,
es war sehr großzügig von Ihnen, meinen Brief an Professor Glob zu erwidern und zu versuchen, das zu beantworten, was Sie für meine Fragen hielten. Aber es waren gar keine Fragen. Der Grund, warum ich nie gekommen bin, hat nichts mit irgendwelchen Reiseproblemen zu tun. Ich bin jetzt über sechzig, bin aber trotzdem noch ziemlich fit. Ich könnte morgen losfahren. Es gab nur selten Phasen in meinem Leben, in denen das nicht so war. Wenn ich Geburten und gebrochene Beine außer Acht lasse, war ich körperlich immer in der Lage, ein Flugzeug oder sogar eine Fähre nach Dänemark zu besteigen.
Angesichts dieser Tatsache muss ich mich gezwungenermaßen fragen, was die wahren Gründe sind, denn Ihre Antwort auf eine ungestellte Frage hat in mir den Wunsch geweckt, ehrlich mit mir zu sein. Bitte machen Sie sich bewusst, dass ich Ihnen schreibe, um mich selbst unter die Lupe zu nehmen und besser zu verstehen. Sie müssen sich nicht mit dem befassen, was ich schreibe. Ich erwarte nicht, dass Sie mir antworten.
Meine beste Freundin in der Schule hieß Bella. Das war nicht ihr Taufname, und es ist auch nicht der Name, der in Professor Globs Widmung steht: Es ist vielmehr ein Spitzname, der darauf zurückgeht, dass sie italienische Wörter so gut aussprechen konnte. Sie war schrecklich schlecht in Sprachen, wenn es darum ging, sich die Fähigkeiten für eine sinnvolle Kommunikation anzueignen. Aber Aussprache und Melodie konnte sie hervorragend nachmachen. Ihr Lieblingswort war bellissima. Sie konnte so viel Bedeutung in jede einzelne dieser Silben legen, je nach Zusammenhang, dass das Wort, wenn sie es sagte, mehr zu bedeuten schien, als es eigentlich bedeutete. In der Tat hatte alles, was sie sagte, größere Bedeutung, größere Intensität als dieselben Wörter, wenn sie von jemand anderem benutzt wurden.
Wir waren unser Leben lang Freundinnen, vom ersten Tag unserer Bekanntschaft an, unserem ersten Schultag. Sie war viel schillernder als ich, abenteuerlustig, sie lebte ganz im Hier und Jetzt. Sie schenkte mir Energie und Selbstvertrauen, und dafür liebte ich sie. Ich glaube, sie liebte an mir meine Zuverlässigkeit. Ich war immer da, ich hatte immer eine Hand, die ihre halten konnte. Wir waren unser Leben lang Freundinnen. Ihr Leben lang, denn ich lebe noch, wie Sie wissen, und sie nicht mehr. Und unser Leben lang haben wir immer darüber geredet, wann wir den Tollund-Mann anschauen wollten. Wissen Sie, wir standen immer kurz davor, zu fahren, bald. Doch zunächst einmal wollten wir uns diesen Leckerbissen aufsparen, bis wir die Vorfreude hinreichend ausgekostet hatten. Wir hofften, dass es irgendwie bedeutsam sein würde – in welcher Hinsicht, hätten wir Ihnen nicht sagen können –, und es bestand ein gewisses Risiko, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllen würde. Unsere Schulfreundinnen fuhren hin, Hals über Kopf. Sowie die Übersetzung von Die Schläfer im Moor erschien, wenn nicht sogar schon vorher. Sie kamen zurück und hatten ein noch stärkeres Gefühl, dass der Tollund-Mann und Professor Glob und alles Dänische ihnen gehörte. Bella und ich fanden sie oberflächlich und unwürdig, ihr Erlebnis konnte nur trivial gewesen sein neben dem, das wir einmal haben würden. Eines Tages.
Und dann, bevor der richtige Zeitpunkt gekommen war, machten wir beide den Fehler, zu jung zu heiraten. Ich heiratete den Vater des Kindes, mit dem ich schwanger war, und versank fast buchstäblich im Morast eines Bäuerinnenlebens. Ich hatte genug Gelegenheiten, über die Jahrhunderte nachzudenken, die der Tollund-Mann im Torf verbracht hat, wenn ich den Rändern des verschiedenfarbigen Lehms an der Schnittkante eines Bewässerungsgrabens folgte und überlegte, welche Schicht ich mir als Matratze und Decke für einen langen, langen Schlaf ausgesucht hätte. Mein Leben war ein begrabenes. Bellas Fehler war ein ganz anderer. Sie heiratete einen Italiener. Manchmal glaube ich, sie hätte ihn nicht geheiratet, wenn wir ihr nicht diesen Spitznamen gegeben hätten. Er war ein schlauer, manipulativer Mann. Wenn ich in seiner Gesellschaft gewesen war, fühlte ich mich hinterher, als hätte ich gleichzeitig Sahnetorten gegessen und wäre Schlittschuh gefahren. Er überwältigte Bella. Er mergelte sie aus, und als sie leer und dünn war wie ein Blatt Papier, ging er mit ihrem Kind nach Italien zurück. Man möchte meinen, dass es so schwer nicht sein dürfte, dass eine Frau sich ihre Tochter zurückholt, die nicht weiter weggebracht wurde als bis Mailand, oder? War es aber. So viele Leute mischten sich ein, zerrten in verschiedene Richtungen, jeder war entschlossen, zu gewinnen, so oder so. Jede dieser Stellen – die katholische Kirche, die Gerichte, die Sozialämter – war überzeugt, dass ihre Sichtweise die richtige war. Ich selbst bin nie von irgendetwas so überzeugt gewesen. Nach einem Jahr errang die italienische Seite den finalen Sieg, und Bella zog auch nach Italien, um in der Nähe ihrer Tochter sein zu können.
In den dunkelsten Zeiten der zehn Jahre, bevor sie ging, schlug ab und zu eine von uns vor, nach Dänemark zu fahren, und dann widersprach die andere. Ich sagte vielleicht: »Wenn wir nur einmal das Gesicht des Tollund-Mannes sehen würden, könnten wir uns vielleicht etwas von seiner Ruhe aneignen.«
Und dann antwortete sie: »Der Haken am Tollund-Mann ist die langfristige Perspektive. Die vorüberziehenden Jahrhunderte. Ich kann keine langfristige Perspektive einnehmen.«
Oder sie sagte: »Ich halt das nicht mehr aus. Komm, wir fahren nach Dänemark. Vielleicht fühlen wir uns dann wieder so hoffnungsvoll wie damals als Mädchen.«
Und dann sagte ich: »Wir sind aber keine Mädchen mehr. Und wir müssen diese Sache hier zu Ende bringen, bevor wir uns erlauben, uns auf bessere Zeiten zu freuen.«
Als alles vorbei war, blieb ich zu Hause, mit dem Vieh und den Feldern und meinen eigenen Kindern. Wir trafen uns natürlich, reisten hin und her, aber die Probleme der mittleren Lebensjahre machten uns zu gewöhnlichen Frauen. Wir überlegten und machten uns Sorgen und redeten über alle möglichen Dinge, die einem eben wichtig vorkommen, wenn die Zeit, die vor einem liegt, und die Zeit, die hinter einem liegt, mehr oder weniger gleich lang scheint. Geld, Gesundheit, Aussehen, Partner, Kinder. In diesen Jahren erwähnten wir den Tollund-Mann kaum, obwohl ich glaube, wir wussten beide, dass wir immer noch damit rechneten, ihn einmal zu sehen, und dass wir beide wissen würden, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Als Bella aus Italien zurückkam, wurde sie krank. Sie war ständig im Krankenhaus, mal wegen dieser Behandlung, mal wegen jener, und immer, immer redete sie davon, wie es sein würde, wenn es ihr wieder besser ging. Diesmal machten wir Pläne. Wir schauten nach, wie man hinreisen konnte, rechneten uns aus, wie viel es kosten würde, arbeiteten eine Route aus. Es fühlte sich an, als würde sich der Kreis schließen, als würden wir am Ende unseres Lebens nach dem Tollund-Mann greifen wie zu Beginn. Als würden wir die Hand nach dieser konservierten Hand aus der Vergangenheit ausstrecken, in der Hoffnung, Teil einer Kette zu sein, die uns in irgendeiner Form für die Zukunft konservieren würde.
Sie starb, bevor wir zu Ihnen kommen konnten. Ich weiß nicht, ob ich diese Reise ohne sie machen kann. Das war nie der Plan.
Mit freundlichem Gruß
Tina Hopgood
20. Januar
Liebe Mrs. Hopgood,
danke für Ihren Brief. Natürlich war mir klar, dass meine Antworten nicht die Antworten sind, nach denen Sie suchten. Ich bin ein Mensch, der sich mit Fakten beschäftigt. Ich sammle und katalogisiere Fakten und Artefakte, aus denen man Fakten ableiten kann, die sich auf Leben und Zeiten der Eisenzeitbewohner beziehen. Das größte Vergnügen bei meiner Arbeit ist die Spekulation über die Fakten, die wir nicht kennen, weil die Zeit alle Indizien ausgelöscht hat. Aber das gehört streng genommen gar nicht zu meinem Job.
Ich bin sicher, Sie werden verzeihen, wenn ich Ihnen die Passagen in Ihrem Brief nenne, die nicht ganz mit den uns bekannten Fakten übereinstimmen. Erstens sprechen Sie davon, sich Erdschichten in Suffolk auszusuchen (Sie benutzen ein umwerfendes Bild für Ihre Beschreibung, auf das ich selbst niemals gekommen wäre), um einen letzten Ruheplatz zu finden wie das Grab des Tollund-Mannes. Ich habe mir die Erdzusammensetzung in Ihrem Teil von East Anglia angesehen und habe festgestellt, dass es hauptsächlich kalkhaltiger Lehm ist, den die letzte Eiszeit hinterlassen hat, und dazwischen leichtere, sandige Ablagerungen, die an Flusstäler denken lassen. Ihr Land hat zwar noch Torfmoore, aber ich glaube, keines davon liegt in der Nähe Ihres Wohnorts. Der Tollund-Mann wurde zwischen zwei Schichten aus Torf gefunden, und es ist unwahrscheinlich, dass Sie so ein Bett auf dem Bauernhof Ihres Mannes finden würden.
Natürlich hat es in Ihrer Gegend von England auch Eisenzeitsiedlungen gegeben. Vielleicht möchten Sie sich einmal Warham Camp anschauen, eine gut erhaltene Wallanlage, oder Grimes Graves.
Ich möchte Ihnen keinesfalls Kummer bereiten, denn wie ich sehe, war der Tod Ihrer Freundin sehr schwer für Sie, aber ich muss auch Ihre Annahme korrigieren, dass der Tollund-Mann sich »ausgesucht« hat, wo sein Körper abblieb und später gefunden wurde. Damals, in der frühen Eisenzeit, um 600 bis 300 v. Chr., war die gängige Praxis die der Kremierung. Das war mit einem gewissen Maß an Zeremonien verbunden, und wir gehen davon aus, dass man damit den Toten Ehre erweisen und einen sicheren Übergang in die nächste Welt ermöglichen wollte. Sobald der Körper verbrannt war, wurden die Knochen aus der Asche gesammelt und in Urnen gelegt oder in Stoff gewickelt und dann begraben, oft mit kleinen Metallgegenständen – einer Brosche oder einem anderen Schmuckstück –, und diese Überreste in den Grabhügeln gestatten es uns, halbwegs sichere Aussagen darüber zu treffen, wie sie ihre Toten behandelt haben.
Der Tollund-Mann ist keines natürlichen Todes gestorben und wurde, wie wir wissen, nicht kremiert. Er wurde an einem Ort begraben, der weit von jeder Siedlung entfernt war, mitten in einem Gebiet, auf dem man sich gerade mit Heizmaterial eingedeckt hatte, das den Menschen, unter denen er lebte, definitiv sehr wichtig war. Die Durchschnittstemperatur lag 2 bis 3 °C unter der heutigen, und noch heute können wir in Dänemark in manchen Nächten – 10 °C haben. Brennstoff wird auch nötig gewesen sein, um die Getreidekörner zu Porridge zu verkochen – vom Mageninhalt der Moorleichen und anderen Indizien wissen wir nämlich, dass das die gängige Ernährung der Zeit war. Die Menschen dieser Zeit hatten Ehrfurcht vor dem Moor. Die Moore waren geheimnisvolle Orte, weder Land noch Wasser, sondern ein Zwischending, und der Tollund-Mann hätte das Moor auch nicht als friedlichen Ort betrachtet, an dem er sich zu seiner letzten Ruhe hinlegen würde. Das ist sicher alles sehr trocken und langweilig für Sie, und ich wünschte, ich hätte die Fähigkeit, rasch und mit größerer Eleganz auf den eigentlichen Punkt zu kommen. Ich glaube, der Tollund-Mann war ein Opfer, mit dem man den Mächten gefallen wollte, die den Menschen das Torfmoor geschenkt hatten.
Nun zum Thema Ihres so lang aufgeschobenen Besuchs. Sie erwähnen Ihren Mann und Kinder. Wenn Sie die Reise nicht allein machen wollen, könnten Sie dann nicht mit einem Familienmitglied kommen? Ich habe selbst Kinder – meine Frau ist leider nicht mehr bei mir –, und wenn ich etwas ungern allein machen will, machen es meine Kinder mit mir. Sie halten mich bei Laune, sozusagen. Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen das Museum zu zeigen, wenn Sie eine Möglichkeit fänden, die Reise zu machen.
Mit freundlichem Gruß
Anders Larsen, Kurator
9. Februar
Lieber Mr. Larsen,
es ist so nett von Ihnen, dass Sie mir weiter schreiben. Ich habe festgestellt, dass das zu den Annehmlichkeiten des Älterwerdens gehört – die Leute sind eher mal nett zu einem: Sie heben Sachen auf, die mir runtergefallen sind, oder bleiben in der Warteschlange geduldig, wenn ich die Handschuhe nicht schnell genug ausziehen kann, um mein Portemonnaie aufzumachen und meine Einkäufe zu bezahlen. Aber Sie können mich ja nicht sehen, Sie sind freundlich zu einer unbekannten Briefeschreiberin. Deswegen sage ich Danke schön. Sie haben mir auch manches erzählt, was ich nicht weiß, und ich schäme mich. Ich habe mein ganzes Leben in dieser Landschaft verbracht und ihre Natur nie groß verstanden, abgesehen von oberflächlichen Aspekten wie Klebrigkeit, Ödnis, der Fähigkeit, Himbeersträuche gedeihen zu lassen, der Unfähigkeit, Rhododendron gedeihen zu lassen. Die Anlagen aus der Eisenzeit habe ich nie besucht, aber ich werde hinfahren. Ganz im Ernst. Ich habe mir einen Tag im Kalender angestrichen, an dem man mich hier entbehren kann, und an dem Tag werde ich hinfahren, komme, was da wolle.
Sie wissen so viel über die Menschen, die lange vor unserer Zeit unter unvorstellbar anderen Umständen gelebt haben und die so wenig hinterlassen haben, wenngleich dieses Wenige so bedeutsam ist – wo Sie nun all das wissen, stören Sie sich da nicht an Ihrer eigenen Unwichtigkeit? Ich wünschte, die englische Sprache hätte ein unpersönliches Pronomen wie das deutsche »man«, denn der letzte Satz klingt, als würde ich diesen Mangel an Wichtigkeit nur bei Ihnen sehen. Bei Ihnen, Anders Larsen, dem Kurator des Silkeborg-Museums – dabei will ich eigentlich sagen: Würde nicht jeder spüren, wie belanglos das eigene Leben ist, wenn er wüsste, was Sie (und an dieser Stelle meine ich nun tatsächlich genau Sie) wissen?
Sie haben erwähnt, dass ich den Tod von Bella schwergenommen habe. Das ist wahr. Ich vermisse sie immer noch und trauere um sie, aber wissen Sie, sie ist so komplett weg – kremiert wie nach Ihren Angaben auch die Zeitgenossen des Tollund-Mannes –, und ihre Asche wurde verstreut, ohne eine Spur zu hinterlassen. Im Gegensatz zu Bella scheinen die Moorleichen erst kürzlich gestorben zu sein, als wären sie überhaupt kaum tot, sondern würden nur ruhen, sichtbar für alle, so dass sie zeigen, dass sie hier waren, gelebt haben.
Ich rede Unsinn, ich werde aufhören zu schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Tina Hopgood
21. Februar
Liebe Mrs. Hopgood,
Sie brauchen nicht zu meinen, dass Sie aufhören müssen zu schreiben. Ihre Briefe bringen mich zum Nachdenken, und dieses Nachdenken gefällt mir, deswegen, hören Sie nicht auf zu schreiben. Insbesondere habe ich darüber nachgedacht, was es eigentlich ist, was Geschichte macht. Die Art von Geschichte, die mein Spezialgebiet ist. Was bleibt? Wer oder was bestimmt darüber, was bleibt?
Erst habe ich an Gewalt gedacht. Der Tollund-Mann und die anderen Moorleichen sind eines gewaltsamen Todes gestorben. Hätte es keine Gewalt gegeben, wären ihre Leichen verbrannt worden wie die Leichen all der anderen Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben. Und wenn ich mir die Artefakte ansehe, die aus ihrer Zeit erhalten sind, sehe ich, wie viele von ihnen mit dem Töten zu tun haben. Vielleicht fühlen wir uns deswegen so unwichtig (tatsächlich fühle ich mich so, wie Sie meinten). Denn wir leben nicht gewaltsam, und wir werden höchstwahrscheinlich auch nicht gewaltsam ums Leben kommen. Das muss etwas Gutes sein. Gerne akzeptiere ich Bedeutungslosigkeit im Austausch für ein friedliches Leben.
Mein zweiter Gedanke ist Schönheit. Einige von den anderen erhaltenen Objekten sind alltäglich und gewöhnlich und nur per Zufall bewahrt worden. Aber die meisten von ihnen sind schön. Sie wurden in die Gräber gelegt, weil sie die besten waren. Oder sie haben überdauert, weil sie Objekte von religiöser Bedeutung waren, und als solche wurden sie mit größter Sorgfalt und einem Augenmerk auf Schönheit angefertigt, als Tribut für die Götter.
In der Bewahrung eines schönen Gegenstandes liegt Bedeutung. Das geht über die bloße äußere Erscheinung hinaus, für die, die die Objekte anschauen und benutzen, nachdem diejenigen, die sie angefertigt und besessen haben, schon tot sind. Das glaube ich nicht nur aufgrund dessen, was ich fühle – und was auch die Besucher fühlen, wie ich beobachten kann –, wenn ich einen Wendelhalsring oder ein Fruchtbarkeitsamulett betrachte. Als meine Frau starb, hinterließ sie mir ein Armband, das wir während unserer Flitterwochen in Venedig gekauft hatten, ein schlichter, silberner Ring mit einem zarten eingravierten Muster – ein Stück, das man in die Hand nehmen und berühren und genau anschauen muss, damit man seine Schönheit erfassen kann. Ich schaue es jetzt an, wo sie weg ist, denn ich habe keinen Ort, wo ich sie besuchen könnte oder glauben könnte, ihr nah zu sein. Kein Grab, keine Urne, kein Ort, an dem die Asche verstreut wurde. Also betrachte ich diesen Reif als Verbindung zwischen uns, obwohl wir für immer getrennt sind. Ich erwähne das nur, um meine Schönheitstheorie zu untermauern. Es gibt keinen Grund, warum ich nicht eine Haarbürste oder einen Handschuh oder einen Schlüsselring ausgesucht habe, etwas anderes, was sie in ihrem Leben Tausende von Malen berührt hat, als Amulett, um sie nah bei mir zu wissen. Aber das Armband ist schön, und diese anderen Dinge sind es nicht.
Bitte entschuldigen Sie, dass sich meine persönlichen Angelegenheiten in unsere Korrespondenz gedrängt haben.
Mit freundlichem Gruß
Anders Larsen
6. März
Lieber Mr. Larsen,
es gibt nichts zu entschuldigen, ich bin schließlich auch schon persönlich geworden. Ich genieße das Nachdenken auch, deswegen werde ich weiterhin schreiben, in der Hoffnung, dass Sie mir antworten. Ich wäre aber nicht gekränkt, wenn Sie es nicht täten.
Was die Gewalt angeht, stimme ich Ihnen nicht zu. Ich lebe mit Gewalt, und sie macht einen klein. Natürlich geht es beim Verstümmeln und Töten, das ein ganz normaler Teil meines Lebens ist, um Tiere, nicht um Menschen. Trotzdem ist es Gewalt.
Als ich jung verheiratet war, wurden die Schweine auf dem Bauernhof geschlachtet. Bei uns war der Schlachter der Mann der Wirtin des Dorfgasthauses, und er sah aus wie eine Spinne: kleiner, runder Körper, lange Arme und Beine. Er ging leicht gebückt, weil er jahrelang Fässer über Kellertreppen geschleppt und lebendige und tote Tierkörper herumgewuchtet hatte. Er hatte keine Zähne und roch nach Blut und Schweinefutter und Schweiß. Wenn irgendjemand jemals ein gewaltsames Leben geführt hat, dann er. Aber mittlerweile ist er tot, und wenn ich seinen Namen im Dorfladen erwähne, würde man sich erst nach kurzem Nachdenken an ihn erinnern, wenn überhaupt.
Die Schweine, die geschlachtet werden sollten, wurden in einen Verschlag vor einer Scheune auf dem Hof getrieben. Ich nehme an, Sie hatten nie viel mit lebenden Schweinen zu tun – Schweine sind intelligente Tiere, aber körperlich eingeschränkt. Man kann sie lächerlich einfach dirigieren – man muss ihnen nur ein Brett seitlich an den Kopf drücken, dann gehen sie schon in die gewünschte Richtung. Ihre Fähigkeit, irgendwoanders hinzuschauen als geradeaus, ist sehr begrenzt, als würde die Welt für sie aufhören zu existieren, wo sie sie nicht sehen. Es gibt ja diesen Ausdruck »ein Lamm zur Schlachtbank führen«, um einen Unschuldigen zu beschreiben, der nichtsahnend seinem Untergang entgegengeführt wird. Ich habe immer gedacht, dass man da eher von einem Schwein sprechen sollte, denn Lämmer lassen sich tatsächlich nicht so leicht in den Tod führen wie Schweine.
Ich frage mich, ob der Tollund-Mann seinem Tod wohl auch so entgegengegangen ist. Ich schaue mir sein Gesicht an (auf Fotos natürlich) und stelle mir vor, dass er, genau wie ein Schwein, zugelassen hat, dass man ihn ins Moor und zum Strick führte, und dabei an nichts anderes dachte als daran, immer schön geradeaus zu gehen. Meinen Sie, dass es im Moor einen Henker gab? Einen Mann, den man ausgewählt oder der sich freiwillig gemeldet hatte, damit er einen Mann opferte, der als Opfer für die Götter ausgewählt worden war oder sich freiwillig gemeldet hatte? Ich weiß, ich weiß, Sie beschäftigen sich mit Fakten, die Sie von Objekten und greifbaren Indizien ableiten. Sie waren nicht dabei, niemand, der dabei war, hat einen Bericht hinterlassen, woher sollten wir es also wissen?
Ich glaube, nicht die Gewalt ist der Schlüssel, sondern das Opfer. Schauen Sie sich die ganzen Heiligen an. Die haben sich für ihren Glauben geopfert und gehören deswegen noch Jahrhunderte später zum Lauf unseres Lebens: im Kirchenkalender, in den Gemälden und Skulpturen jeder Galerie, auf Postkarten, man gedenkt ihrer in den Namen von Kirchen, Straßen, Plätzen und Gebäuden. Natürlich muss das Opfer die Sache wert sein, so wie bei den Heiligen und dem Tollund-Mann, im Zusammenhang der Zeit, in der sie lebten. Es war ein Opfer für etwas, was größer war als sie.
Ich habe auch das Gefühl, mein Leben geopfert zu haben, aber für nichts. Erstens habe ich mich den gesellschaftlichen Standards meiner Eltern und ihresgleichen geopfert, denn die verboten mir, abzutreiben oder allein ein Baby zu bekommen. Zweitens habe ich mich für den Hof geopfert. Mein Mann – er heißt Edward – ist zufrieden, solange er sein Land und die Felder hat, das Vieh und die Arbeiten, die zu jeder Jahreszeit anfallen. Ich bin es nicht, denn für mein Empfinden folgen die Jahreszeiten so dicht und unbarmherzig aufeinander, und es gibt immer so viel Arbeit, ich komme einfach nie raus. Es ist so lange her, dass ich dieses Opfer gebracht habe, ich war damals so jung, es hat so viele Jahre gedauert, bis ich mir dessen bewusst wurde, dass ich heute gar nicht mehr richtig sagen kann, was ich eigentlich geopfert habe. Was es eigentlich gewesen wäre, was mir die Befriedigung verschafft hätte, die Edward jeden Tag empfindet. Vielleicht war es die Reise nach Dänemark – das hätte schon reichen können. Andererseits fühlt sich die Leerstelle in meinem Leben zu groß an, als dass man sie mit so einer kleinen Unternehmung hätte füllen können.
Ich möchte nicht selbstmitleidig klingen. Das bin ich nicht. Ich hatte meine freudigen Momente, und Edward und ich hatten auch Spaß miteinander, und wir bewegen uns langsam auf ein Alter in Harmonie zu. Ich habe Kinder und Enkel, und sie haben mir viel Glück geschenkt. Doch von Anfang bis nicht ganz zum Ende betrachtet – was habe ich verpasst, indem ich mir so viele Wahlmöglichkeiten schon in jungen Jahren versperrt habe?
Ich habe gerade von diesem Blatt aufgeschaut und durchs Fenster meine jüngste Enkelin entdeckt, ein kleines Mädchen von nicht ganz drei Jahren, wie sie über den Hof läuft und stehen bleibt, um ihren Handschuh durch die Abdeckung eines Abflusses zu stopfen. Sie ist in dem Alter, in dem man genauso leicht in die Hocke geht, wie man sich auf einen Stuhl setzt (für mich zu lange her, als dass ich mich noch daran erinnern könnte), und sie hat den Handschuh schon fast durchs Gitter gequetscht, als ihr Vater, mein Sohn Tam, auftaucht und sie auf den Arm nimmt. Er wischt ihre Hände an seinem Overall ab und trägt sie davon. Sie quiekt, wie das Schwein gequiekt hat. Ich musste lächeln, das hat mich für einen Augenblick glücklich gemacht.
Aber erzählen Sie mir doch mehr von Ihrer Frau. Ich möchte wissen, warum Sie kein Grab, keine Urne und keine Asche haben.
Mit freundlichen Grüßen
Tina Hopgood
21. März
Liebe Mrs. Hopgood,
es fällt mir nicht leicht, die Geschichte zu erzählen, warum ich kein Grab und keine Urne und keine Asche habe, deswegen werde ich sie mir für einen späteren Brief aufheben. Vielleicht, wenn Sie mir weiterhin schreiben, was ich hoffe, oder eventuell, wenn Sie das Museum hier in Silkeborg besuchen und wir uns persönlich treffen. Ich kann den Tollund-Mann jeden Tag sehen, wenn ich möchte, und genau wie Sie berührt es mich jedes Mal, wie ruhig er aussieht. Sie sollten vorbeikommen.
Als ich Ihren letzten Brief las, wurde mir klar, wie unterschiedlich unsere Leben verlaufen sind. Das erfordert einige Erklärung, denn eigentlich müssten unsere Erfahrungen sich ziemlich ähnlich sein: Wir wurden beide in eine Nachkriegswelt geboren und haben keine Konflikte miterlebt, wir haben beide geheiratet und Kinder bekommen, wir haben keine körperlichen Härten erdulden müssen. Aber mein Leben war immer der Vergangenheit gewidmet, kleinen und unveränderlichen, von Menschen angefertigten Objekten. Wenn ich nachts aufwache und mich frage, ob ich am Ende meine Chancen vertan habe und etwas anderes mit meiner Zeit und meinen Talenten hätte anfangen sollen, erschreckt es mich oft, wie klein die Dinge sind, die ich studiere, und wie groß und jenseits allen Verständnisses alles ist, wofür sie stehen.
Sie hingegen haben in der Weite der Natur gelebt, wo sich alles verändert. Ich meine die Jahreszeiten, den Boden, das ganze Aussäen, Anbauen und Ernten, die Fruchtbarkeit der Tiere und ihre Auswirkungen. Ich habe mich gefragt, ob Sie nachts auch manchmal aufwachen und erschrecken, wie groß die Dinge sind, mit denen Sie Tag für Tag zu tun haben? Oder ist das für Sie so gewöhnlich, dass Sie keine Furcht empfinden?
Schrecken Sie aus dem Schlaf auf? Ich nehme an, das passiert jedem ab und zu. Meiner Frau ist es oft passiert, als sie noch lebte, und dann bin ich aufgewacht und habe sie getröstet. Meine Frau war nie langweilig, nie gewöhnlich. Wenn wir über unsere Ängste und Träume redeten, gab sie mir das Gefühl, etwas berühren zu können, was sonst gerade eben außerhalb meiner Reichweite gelegen hätte. Jetzt ist sie weg, und ich habe sonst niemand, mit dem ich über solche Dinge reden kann.
Wie immer schließe ich mit einer Entschuldigung. Sie haben diesen Briefwechsel nicht begonnen, um meine Ansichten zu Dingen zu lesen, die viel zu groß sind, als dass ich sie so ausdrücken könnte, wie ich gerne würde. Selbst wenn mein Englisch – so wie Ihres – perfekt wäre.
Mit freundlichen Grüßen
Anders Larsen
2. April
Lieber Mr. Larsen,
Sie täuschen sich. Ich habe diesen Briefwechsel begonnen, weil mich dieselben Gedanken quälen, die Sie so prägnant und überdies in exzellentem Englisch ausgedrückt haben. Aber so wie die Geschichte Ihrer Frau muss meine Antwort zu diesem Thema warten bis zu einem anderen Brief, weil ich Ihnen zuerst eine andere Geschichte erzählen muss. Ich habe eine kleine Reise gemacht. Ich hatte ja gesagt, dass ich eine Anlage aus der Eisenzeit in East Anglia besuchen würde, und das habe ich getan. An dem Tag, den ich mir im Kalender markiert hatte. Das klingt jetzt vielleicht nicht unbedingt nach etwas, womit man groß prahlen könnte – ich habe mir eben den Tag ausgesucht, an dem ich fahren wollte, und an diesem Tag bin ich auch gefahren. Doch für mich ist das eine größere Errungenschaft, als man meinen könnte. Ich habe das Gefühl, dass andere Leute ihr Leben organisieren wie ein Set aus ineinandergreifenden Kisten, bei dem jedes Stück glatt ans andere passt (wie Ihr dänisches Lego, merke ich, als ich dies schreibe, obwohl ich gerade etwas Handwerklicheres, weniger Industrielles und Buntes im Sinn hatte), und sie können sich von einer Kiste zur anderen bewegen, wie sie wollen, und darauf vertrauen, dass sie den richtigen Zeitpunkt gewählt haben, um eine Kiste zu verlassen und in eine andere zu steigen. Mein Leben ist eher wie ein Holzstapel. Chaotisch.
Kurz und gut, ich bin also zur eisenzeitlichen Wallanlage Warham Camp gefahren. Die ist ungefähr achtzig Kilometer entfernt, und ich bin mit dem Auto hingefahren. Ich habe erst nach Bussen geschaut, weil ich es lieber habe, wenn sich eine Reise anfühlt wie eine Reise und nicht wie eine Einkaufsfahrt, aber es wäre unmöglich gewesen, das mit dem schwankenden Bretterstapel zu vereinbaren, den ich erst managen musste, bevor ich so lange aus dem Haus gehen konnte. Da ich vorher Frühstück machen, die Hühner füttern, mich um die Eier kümmern und ein Mittagessen vorkochen musste, hätte ich den Bus gar nicht mehr schaffen können. Also nahm ich das Auto. Ich wollte eigentlich gleich meine Eindrücke von Warham Camp schildern, die sich in meinem Kopf immer noch zu setzen versuchen. Aber ich werde mich beherrschen, damit Sie es so sehen können, wie ich es gesehen habe.
Es war ein schöner Tag: genug Wind und leichter Frost, dass einen die Kälte ein bisschen biss, aber auch blauer Himmel und genug Sonnenschein, dass es funkelte. Auf der Hinfahrt hatte ich mit der Sonne zu kämpfen, weil ich direkt ins Gegenlicht fuhr. Ständig musste ich mit der Sonnenblende hantieren, um nicht geblendet zu werden. Ich bin nicht die Art Frau (wahrscheinlich hätten Sie das auch gewusst, ohne dass ich es erwähne), die eine Sonnenbrille besitzt. Ich besitze auch kein Navi, aber ich hatte mir die Namen der Orte gemerkt, durch die ich fahren musste, um nach Warham zu gelangen – Thetford, Swaffham, Little Walsingham –, und kam problemlos an.
Ich parkte im Dorf. Hinweisschilder gab es keine, aber aus dem Haus an dem Grasstreifen, an dem ich geparkt hatte, kam eine Frau heraus, und ich dachte sofort, dass sie mich zurechtweisen wollte, weil ich mein Auto dort abgestellt hatte. Edward und Tam, mein Mann und mein ältester Sohn, halten mit Adleraugen nach Leuten Ausschau, die auch nur einen Quadratzentimeter unserer 160 Hektar so behandeln, als hätten sie ein Anrecht darauf. Die Fußwege, die über unser Grundstück führen, sind ihnen ein ewiger Dorn im Auge, und die Bestimmungen, was man auf einem Fußweg tun darf und was nicht, kennen sie bis zum letzten Paragraphen, Absatz, Satz und Ziffer mitsamt Randnotiz. Also dachte ich, dass die Frau herausgekommen war, um mir mitzuteilen, dass sie ein Recht hatte, ihren Garten ohne mein Auto im Hintergrund zu bewundern.
»Ist es in Ordnung, wenn ich mein Auto hier abstelle?«, fragte ich.
»Natürlich«, sagte sie. »Hier gibt es keine Parkverbote.« Und sie fing an, ihre Rosen zu schneiden, was ganz offensichtlich auch der Grund gewesen war, warum sie aus dem Haus gekommen war. Ich fragte sie nach dem Weg nach Warham Camp, und sie kam zu mir und winkte mit ihrer Gartenschere in die Richtung, die ich einschlagen sollte. Sie meinte, wenn ich mich für alte Wallanlagen interessierte, sollte ich auch zu Fiddler’s Hill Barrow gehen.
»An beiden Orten ist nichts zu sehen außer grasbewachsenen Erdhügeln«, sagte sie. »Aber beide Orte sind sehr hübsch, und heute ist der perfekte Tag für so einen Ausflug.«
Ich zog los. Alles, was ich brauchte, hatte ich in einem kleinen Rucksack, den eines meiner Kinder einmal als Schultasche benutzt hatte, und ich fand, dass ich mich damit aufrechter hinstellte, als ich es normalerweise tun würde. Und dadurch nahm ich dann gleich eine noch aufrechtere Haltung ein und hob den Kopf, und dadurch schaute ich alles um mich herum so genau an, als müsste ich später eine Prüfung über das Gesehene ablegen. Ist ja gewissermaßen auch so. Bitte nehmen Sie diesen Brief als meinen Prüfungstext. Korrigieren Sie mit roter Tinte und geben Sie mir eine Note zwischen 0 und 10.
Es war eine schmale Straße, und es kam kein Auto vorbei, nur eine Schwadron von Radfahrern in Lycra, die sich unterhielten. Ich begann mir auszumalen, was ich sehen würde, wenn ich am Ziel war, und da merkte ich, dass ich trotz meiner Internetrecherche keine Ahnung hatte, was ich zu erwarten hatte. Ich begann zu fürchten, dass meine Erwartungen zu hoch waren und ich unweigerlich auf eine Enttäuschung zusteuerte.
Ich kam an eine kleine Brücke, blieb stehen und beobachtete, wie das Wasser darunter hindurchfloss. Drei Frauen gingen an mir vorbei, sie waren in dieselbe Richtung unterwegs wie ich. Sie trugen Wanderstiefel und Stöcke und die Art Jacke, die für Outdoor-Sport gedacht ist und mehr kostet, als ein vernünftiger Mensch für so was ausgeben würde. Dieser letzte Satz stammt von meinem Mann und kam mir in den Sinn, nicht weil ich fand, dass ich über diese Frauen urteilen sollte, sondern weil ich mich nicht unterlegen fühlen wollte mit meinen Reißverschlussstiefeln, die ich immer zum Hühnerfüttern anziehe, dem Kinderrucksack und dem alten Steppanorak, aus dem das Futter an den Stellen herausquillt, wo ich mal am Stacheldraht hängen geblieben bin. Eine von den Frauen hatte auch einen Rucksack, mit ganz vielen Taschen, manche davon aus Netzstoff. Sie war groß und stämmig. Die zweite Frau war klein und hübsch. Die dritte war dürr und hässlich und trug eine unvorteilhafte Hose, die ihr zu weit und zu kurz war.