Havva und das Reich von Atlantica - Ergin Focali - E-Book

Havva und das Reich von Atlantica E-Book

Ergin Focali

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Beschreibung

Worum geht es? Um Meer und Land. Mensch und Natur. Abenteuer und Freundschaft. Magie und Prophezeiungen. Um Havva, das Meermädchen, die an Land aufwächst und doch ins Meer gehört. Also noch eine Meermädchengeschichte? Nicht „noch eine“. DIE Meermädchengeschichte! Wieso das? Andersens Meerjungfrau. Arielle. Was soll da noch kommen? Die Geschichte von Havva, die nicht den Prinzen anschmachtet, sondern die Welt rettet. Ganz allein? Nein! Sie hat Freunde im Meer. Rory, das flinke Meermädchen. Phoenix, der Sohn Neptuns. Sami, ein lustiger Junge. Und die Begleittiere: Nick, der Delfin. Bato, der Rochen. Shigo, das Seepferdchen. Sakura, die Garnele. Warum ist die Meereswelt in Gefahr? Wegen der Schleppnetze. Wegen der Menschen des Landes. Wegen eines Streits zweier Brüder um Macht und Anerkennung. Wegen Cesarius dem verbannten Bruder von Neptun. Also wie in der wirklichen Welt? Das ist die wirkliche Welt! Für wen ist das Buch? Für alle Kinder ab ca. 9 Jahren und deren Eltern. Für alle, die Fantasy mögen.

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Inhaltsverzeichnis

Havva in Not

Havva und Sean

Einschulung

Der erste Unterricht

Talentunterricht

Bipediekunde

Tatsunootoshigo

Neptun und Phoenix

Sportstunde

Sakura

Sami und Bato

Alma

Cortez‘ Angebot

Cesarius

Alanas Tochter

Meereswelt

Algenwald

Samis Eltern

Rory und Ursula

Rausschwimmen

Begegnung

Wasserschlacht

Muschelkette

Verwandlung

Atlantica

Flucht

Talente I

Talente II

Talente III

Versprochen

Sakuras Bericht

Die Prophezeiung des Königs

Übernachtung

Neptun und Pangäa

Entscheidung

Im Netz

Auf dem Schiff

Gefangenschaft

Seans Beichte

Delfinarium

Neue Freunde

Verrat

Cesarius und Rory

Havvas Plan

Befreiung

Cesarius Plan

Shigo ist verschwunden

Havva bei Cesarius

Noch einmal zu Neptun

Gefangen bei Cesarius

Neptuns Bericht

Havvas Flucht

Bei Ursula

Viserion Island

Gemeinsam

Das letzte Meereseinhorn

Meeresdrache

Epilog

Kapitelübersicht

Ergin Focali

Havva und das Reich von Atlantica

Band 1:Wie alles begann

Impressum

Text und Inhalt:

© 2022 Copyright: E. Focali – Berlin

[email protected]

Covergestaltung:

© 2023 Copyright: S. Focali – Berlin

Kontakt: [email protected]

ISBN: 9783757946401

Ergin Focali

Havva

und das

Reich von Atlantica

Wie alles begann

Roman

Ergin Focali ist promovierter Erziehungswissenschaftler und arbeitet seit vielen Jahren in der sozialpädagogischen Ausbildung. Er hat zahlreiche Fachbücher veröffentlicht, bevor er mit ‚Havva und das Reich von Atlantica‘ sein erstes Jugendbuch vorgelegt hat. Ergin lebt in Berlin und reist so oft es geht mit seiner Familie ans Meer.

Als Fachbücher von Ergin Focali sind u. a.

erschienen:

Aggression und Gewalt begegnen –

Konfliktbewältigung in der Kita

ISBN: 978-3-86723-639-3

Zukunft.Erziehen.

Grundlagen, Perspektiven, Kontroversen der

sozialpädagogischen Ausbildung

ISBN: 978-3-938620-27-4

Prolog

Die Tiefen und Weiten des Meeres sind nahezu unendlich. Doch während Menschen des Landes das Weltall erfor­schen und zum Mond und anderen Himmelsgestirnen rei­sen, wissen sie über die Welt der Tiefsee und ihrer Bewoh­ner so gut wie nichts. Vielleicht liegt es daran, dass man von Land aus nur nach oben schauen muss. Dort regen der Himmel und die Sterne die Fantasie an. Die Träume und Geschichten von außerirdischen, exotischen Wesen, von der Suche nach Leben ‚da draußen‘ im Universum. Aber da ist niemand. Nur ein luftleeres, totes Nichts. Das wirkliche Leben sieht man, wenn man nach unten guckt. In den Oze­anen, dem größten bewohnten Teil der Erde, tobt das Le­ben, die Vielfalt, die Schönheit. Von hier entstammt alles Leben. Die Pflanzen. Die Tiere. Die Menschen. Die Luft zum Atmen. Das Wetter mit Regen, Sturm, Gewittern und Blitzen, die Feuer hervorbringen. Alles entspringt dem Meer.

Woher ich das weiß?

Ich kenne beide Welten. Die Welt des Landes und die Welt des Meeres. In beiden bin ich zu Hause und habe viel über das Leben, die Tiere, die unsere Freunde sind, die Men­schen und über mich selbst gelernt. Ich lebe an Land und bin dort aufgewachsen. Meine wirkliche Heimat aber ist das Meer. Und weil alles Leben im Meer seinen Ursprung hat, gab meine Mutter mir einen Namen, der in den ver­schiedenen Sprachen der Menschen der ersten Frau zusteht und ‚Kraft‘, ‚Atem‘ oder einfach ‚Leben‘ bedeutet. Ei­nige nennen mich Meermädchen, andere die kleine Meer­jungfrau.

Mein Name aber ist Havva, das Leben.

Dies ist meine Geschichte.

Havva in Not

»Hilfe!« Sie wusste, dass sie niemand hören konnte. Nicht hier drau­ßen auf dem Meer. Dennoch presste sie die Worte verzwei­felt heraus.

»Ich kann nicht mehr!«

Durch die Anstrengung waren ihre Muskeln kraftlos. Sie bekam kaum noch Luft, so außer Atem war sie. Das Salz­wasser brannte in ihren Augen und auf ihrer Haut. Wie durch einen Schleier versuchte sie das Land zu erblicken. Aber die Strömung der Ebbe zog sie mit jeder Welle ins offene Meer, egal, wie viele Schwimmzüge sie machte. Auf eine ihrer Schwimmbewegung kamen zwei rückwärtige Bewegungen des Wassers. So sehr sie sich auch bemühte, sie entfernte sich zunehmend vom rettenden Ufer.

»Hilfe!«

Noch einmal versuchte sie sich selbst Mut zu machen. So, als wäre sie nicht völlig allein hier draußen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst vor dem Meer.

Alles hatte an einem angenehm lauen Sommertag begon­nen. Die Sonnenstrahlen des späten Nachmittags und die leichte Brise, die vom Ozean Richtung Land wehte, erzeug­ten gemeinsam eine prickelnde Wärme auf der Haut. Havva, ein für ihr Alter von elf Jahren groß gewachsenes, schlaksiges, aber sportliches Mädchen, saß auf ihrer Lieb­lingsstelle an der Klippe. Ihre rötlichen, langen Haare hin­gen ihr verfilzt und strähnig im Gesicht. So, wie Haare aus­sehen, wenn man oft im Meer schwimmt und sie dann in der Sonne und im Wind trocknen lässt. Havva blickte in die Ferne. Solange sie sich erinnerte, hatte der Anblick dieser unendlichen Weite in ihr Gefühle ausgelöst, die sie sich nicht erklären konnte.

Sie lebte mit Sean, einem alten Fischer am Rand des klei­nen Dorfes Puerto Áspero. Der herzensgute Mann hatte Havva im frühsten Alter bei sich aufgenommen. Ihre leib­lichen Eltern kannte Havva nicht. Daher war Sean wie ein Vater für sie.

»Du und das Meer, ihr seid alles, was ich habe«, sagte er oft und lachte.

»Und mein Boot ‚Ursula‘ natürlich.« Dann lachte er noch mehr. Das Mädchen liebte dieses Lachen, das aus ganzem Herzen kam, und sie liebte Sean, den sie, obwohl er nicht ihr leiblicher Vater war, genauso nannte:

»Vater!«

Havva und Sean waren ein Herz und eine Seele!

Schon früh hatte er ihr alles über das Meer beigebracht.

»Da! Schau! Zwischen den Klippen, wo die Felsspalten sind. Die lila leuchtenden Flecken. Das sind Seeigel. Sie sind friedlich. Aber tritt nicht auf ihre Stacheln. Es tut sehr weh … Dir und dem Seeigel. Und dort! Siehst du sie im Sand? Die Seegurken? Sie sind mit den Seeigeln verwandt. Manche Menschen essen sie.«

»Die Seeigel oder die Seegurke?«

»Beide!«

Sean hatte Havva alles gezeigt und erklärt, was er über den Ozean und seine Bewohner wusste. Vielleicht war das der Grund, dass sie sich zum Meer hingezogen fühlte. Ihr ganzes Leben hatte sie in der Nähe des Meeres eine innere Unruhe gespürt. Wehmut. Sehnsucht. Manchmal waren diese Gefühle so stark, dass es ihr alle Kraft raubte. Als wenn sie den Boden unter den Füßen verlieren würde. Sie fühlte sich in solchen Momenten, als würden alle auf sie starren und etwas Besonderes von ihr erwarten. Ihr zuru­fen:

»Zeig dich!«

So als würde das Meer rufen:

»Komm nach Hause. Komm zu uns!«

Mit jedem Wellenschlag, jeder Prise salzigem Wassers, die die Gischt vom Meer an Land trieb, war es, als könne sie diese Stimmen hören. Oft saß sie stundenlang auf der Klippe und betrachtete die Wellenbewegungen, so wie an diesem Tag.

Sean war wieder einmal unterwegs. Manchmal kam er erst nach Tagen zurück. Wahrscheinlich schipperte er da draußen herum in der Hoffnung, einige Fische für das Abendessen zu angeln. Ab und zu erzählte er Havva von der alten Zeit, als er von seinem Boot das Netz aus­warf und von dem Fang genug hatte, um gut leben zu kön­nen.

»Damals«, sagte er dann und blickte sehnsüchtig ins Leere, »wimmelte es in Ufernähe nur so vor Fischen. Es war bunt wie in einem Aquarium. Oktopusse gab es hier und Riff­haie. Heutzutage finde ich, wenn ich Glück habe, weit draußen ab und zu noch einen Kabeljau.«

Seit Langem waren die Zeiten vorbei, in denen Sean als Fischer ausreichend für ihren Lebensunterhalt sorgen konnte. Zum Glück für sie beide liebte Havva es, am Strand herumzulaufen und Steine und Muscheln zu sammeln, aus denen sie Ketten, Anhänger und Armbänder herstellte. Einige der älteren Frauen im Dorf unterstützten sie, indem sie ihr den schönen Schmuck abnahmen und ihr hierfür etwas Geld zusteckten. Sonst hätten Havva und Sean es oft nicht geschafft, genug Essen zusammenzubekommen.

Havva schwamm für ihr Leben gerne im Meer. Das konnte sie sehr gut. Sie wagte sich weit hinaus, bis sie die Ebbe spürte, die das Wasser in den Ozean zieht. Dann nahm sie alle Kraft zusammen, die sie hatte und schwamm so schnell sie konnte zurück an Land. Sie kannte das Meer so gut wie andere Kinder ihr Spielzimmer. Sie wusste im­mer, wann Ebbe und Flut einsetzen. Aber Havva hatte auch Respekt und Ehrfurcht vor der Kraft der Gezeiten, dem Rhythmus des Meeres, der eigentlich der Rhythmus des Mondes ist.

An diesem Tag war alles anders. Etwas hatte sie abgelenkt und sie war unvorsichtig geworden. Havva hatte einen Schwarm Delfine beobachtet und sich nichts sehnlicher ge­wünscht, als mit diesen edlen Tieren zu schwimmen. Sie hatte das Gefühl, dass auch die Delfine sie beobachteten und in ihrer lustigen Sprache in ihre Richtung schnat­terten. Es wirkte so, als würden die Tiere sie zu sich rufen und auf sie warten.

»Komm und spiel mit uns! Wir kennen dich! Wir passen auf dich auf!«

Das war es, was sie im Schnattern der Delfine hörte.

Sie sprang ins Wasser und begann sich mit großen Schwimmbewegungen dem Delfinschwarm zu nähern. Sie lachte und freute sich wie auf dem Weg zu guten Freunden.

»Wartet, ich bin gleich bei euch!«, rief sie und schwamm so schnell sie konnte mit großen Zügen weiter hinaus als je­mals zuvor. Plötzlich waren die Delfine verschwunden. Ha­v­­va spürte, wie die Kraft des Meeres stärker wurde. Die Ebbe hatte eingesetzt. Es war längst an der Zeit zurückzu­schwimmen. Aber sie war schon zu weit draußen auf dem Meer. Als sie sich umdrehte, war das Land kaum noch zu sehen. Angst stieg in ihr hoch. Sie begann zu schwimmen, so schnell sie konnte. Ein Kraulzug folgte dem anderen. Sie hob kaum noch den Kopf aus dem Wasser, um Luft zu holen. Nur ab und zu blickte sie nach oben, um zu sehen, wie weit weg sie vom Land war. Nach einer Weile merkte sie, dass es diesmal nicht reichen würde. Obwohl sie auf den ersten Blick zart erschien, war sie durch das regelmäßige Schwimmen für ihr Alter kräftig und musku­lös. Aber die Kraft der Gezeiten ist stärker. Die Ebbe, die mit unbändiger Energie das Wasser vom Ufer wegzieht, den Strand größer werden lässt und gleichzeitig alles mit sich reißen kann, was eigentlich an Land gehört wie die Menschen. Und die Flut, die mit gleicher Gewalt das Was­ser zurückspült und manchmal mit riesigen Wellen den Strand verschwinden lässt. Havva spürte, dass sie diesmal dem Ruf des Meeres erliegen würde. Auch wenn sie den Ozean liebte, sie war ein Mensch, der sich nicht ewig über Wasser halten kann. Meter für Meter zog sie die Strömung nach draußen. Weg vom Land. Hin zum offenen Meer. Panik stieg in ihr auf und gleichzeitig das Gefühl, dass sie dort war, wo sie hingehörte.

»Ich kann nicht mehr«, sagte sie noch einmal mit letzter Kraft. Dann hörte sie auf zu kämpfen, ließ los und glitt tiefer und tiefer hinab ins Meer, das sie wie ein dunkler Mantel umhüllte.

Plötzlich spürte sie etwas. Wie eine Hand, die sie aufnahm und scheinbar mühelos an die Oberfläche hob. Als sie auf­tauchte, schob es sie nach vorne. Trotz Ebbe und Erschöp­fung schwebte sie auf dem Wasser Richtung Land.

»Juhu«, schrie sie und lachte das lauteste, fröhlichste Lachen ihres Lebens, als sie merkte, dass sie sich auf dem Rücken eines Delfins befand, der sie ohne große Anstrengung zum Strand beförderte. In diesem Moment war sie glücklich. Nicht allein deshalb, weil der Delfin ihr Leben gerettet hatte, sondern weil sie sich eins mit dem Meer und den Meeresbewohnern fühlte. Der Delfin drehte mit ihr einige schwungvolle Kurven. Havva hatte ihre Hände um seinen Körper gelegt, um sich festzuhalten. Er fühlte sich glatt, seidig und weich an.

»Hey! Langsam, sonst rutsche ich ab«, rief sie ihm zu und der Delfin schnatterte aufgeregt zurück. Nach kurzer Zeit hatte er sie in seichte Gewässer getragen und gab ihr einen Stoß, sodass sie den Boden unter den Füßen spürte. Sie drehte sich um. Das Gesicht des Delfins ragte aus dem Wasser und er schnatterte ihr zu, als würde er zu ihr spre­chen. Havva hatte das Gefühl, sie würde den Delfin verste­hen.

»Lieber Delfin, was sagst du mir? Das ich besser aufpassen soll? Du hast recht. Danke, dass du mich gerettet hast. Ohne dich hätte ich es diesmal nicht geschafft. Du bist ein lieber Freund. Wie heißt du? Was kann ich für dich tun?«

Er schnatterte abermals so, als würde er lachen.

Als Havva auf ihn zuging, um ihn in den Arm zu nehmen, tauchte er ab und verschwand im Meer.

Das Mädchen blickte ihm dankbar nach und wusste, dass sie sich irgendwann wieder begegnen würden.

Die Sonne fing an unterzugehen. Havva spürte jetzt die Er­schöpfung. Sean war noch nicht vom Meer zurück­gekehrt. Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg nach Hause, zurück in ihre kleine Hütte auf der Klippe am Meer. Sehnsucht und Wehmut blieben ihr erhalten, während sie auf dem Rückweg davon träumte, auf dem Rücken eines Delfins durch das Meer zu schweben.

Sie war ein Stück gelaufen, als sie plötzlich eine Stimme aus ihren Gedanken aufschreckte.

»Hey, da ist ja unsere Meereshexe. Na, mal wieder allein unterwegs, wie dein alter Herr? Einzelgänger sein liegt bei euch wohl in der Familie!«

Havva schaute auf und blickte in die Gesichter dreier Jungs aus ihrer Schulklasse, die es aus irgendeinem Grund seit einiger Zeit auf sie abgesehen hatten.

Da standen sie: Diego Cortez, der Anführer der Clique mit der größten Klappe, der gerade nach ihr gerufen hatte. Sein bester Freund Fabio Santos und Morton Lee, ein schüch­terner Junge, der eigentlich ganz nett war, aber trotzdem immer mit diesen Blödmännern rumhing.

»Wohin des Weges?« Diego hatte sich mitten auf dem Weg aufgebaut und versperrte Havva dadurch die Möglichkeit weiterzugehen. Er war groß und kräftig von der Arbeit, die er für seinen Vater von klein auf leisten musste. Eigentlich fand Havva, dass er mit seinen braunen Haaren und Augen gut aussah, aber sein gemeines Grinsen ließ sie dennoch je­des Mal erschauern. Fabio stand breitbeinig neben ihm. Äußerlich war er das Gegenteil von Diego. Etwas dicklich, rote Haare, fieser Blick. Er tat, was Diego ihm sagte. Und Morton, der verschämt und schüchtern hinter den beiden hervorguckte. Er sah aus wie die kleine Version von Diego.

»Was wollt ihr? Lasst mich durch. Ich bin auf dem Weg nach Hause.«

Havva versuchte sich an Diego und Fabio vorbei­zudrän­geln. Diese ließen sie nicht durch.

»Weißt du was?«, tönte Diego mit drohender Stimme. »Das ist uns völlig egal. Es juckt uns gar nicht!«

Sie kicherten wie Kleinkinder. Havva wurde stutzig. Sie musste an das Juckpulver denken, dass ihr die Jungs letz­tens in ihr Shirt gestreut hatten. Es hatte wie wahnsinnig auf dem Rücken gebrannt. Havva hatte sich dennoch nichts anmerken lassen. Wie auch sonst nicht, wenn diese Flegel sie beleidigten oder ihr ein Bein stellten. Sie reagierte nicht darauf, in der Hoffnung, dass sie dann den Spaß daran ver­lieren würden, sie zu ärgern. Wahrscheinlich sahen die Jungs sie sowieso nur als Konkurrenz an und waren neidisch, dass sie schneller rennen und schwimmen konnte.

Havva war klar, dass die drei ihr aufgelauert hatten, um sie wieder zu schikanieren. Auf Juckpulver hatte sie jedenfalls keine Lust.

Plötzlich zeigte Havva entgeistert auf einen Punkt hinter Morton Lee.

»Verdammt, was ist das?«, schrie sie.

Die drei drehten sich reflexhaft um. Havva schlug einen Haken und lief so schnell sie konnte davon. Als die Jungs merkten, dass sie hereingelegt worden waren, stürmten sie hinterher.

»Bleib stehen du Meereshexe.« Das war ihre Lieblingsbe­leidigung für Havva. Ihr war es egal. Sie rannte so schnell sie konnte. Rennen war für sie fast genauso schön wie schwimmen. Über Gräser, Sträucher, Steine zu hüpfen wie ein Reh, das verband sie mit der Natur. Sie war sehr schnell. In der Schule gab es niemanden, der sie einholen konnte. Diego, Fabio und Morton sowieso nicht. Trotzdem wusste sie, dass das nur ein kurzer Erfolg war. Die drei würden etwas Neues aushecken, um ihr das Leben schwer zu machen. Ihr graute es schon vor dem morgigen Tag in der Schule.

Havva und Sean

Havva schreckte aus dem leichten Schlaf auf, in den sie kurz nach der Rückkehr in ihre kleine Hütte gefallen war. Die Anstrengung im Meer, das unablässige Rauschen des nahen Ozeans und das Tosen der Brandung in immer glei­chem Rhythmus hatten sie müde und schläfrig gemacht. Nun war sie mit einem Schlag wieder wach.

»Hallo Vater!«

Sean kam zur Tür herein. Er sah müde und nieder­geschla­gen aus. Seine einst vollen, langen Haare, die längst ausge­dünnt und ergraut waren, hingen ihm feucht im Gesicht. Dieses war von tiefen Falten und Furchen durchzogen wie Straßen und Wege, die das Leben gezeichnet hat.

Sean war ein Mann des Meeres, der die meiste Zeit seines Lebens auf hoher See verbracht hatte, wo Sturm, Wind, Sonne und Regen den Menschen alles abverlangen. Er an­gelte so viel, wie er zum Leben brauchte. Den Rest der Zeit werkelte er an seinem Boot herum oder reparierte die Netze. Manchmal saß er genau wie Havva gerne auf der Klippe und betrachtete das Meer.

»Wie geht es dir? Wie war dein Tag?«, begrüßte sie ihn.

»Wenn ich dich sehe, geht es mir immer gut, mein Schatz.« Er stellte seinen Eimer ab, in dem er normalerweise die Fische, die er geangelt hatte, transportierte. Havva konnte sehen, dass sich nichts darin befand. Sean tat ihr leid, ob­wohl sie um jeden Fisch froh war, der nicht gefangen wurde.

Havva selbst aß weder Fisch noch Fleisch.

Zum Glück hatte sie nach der Schule Brot, Gemüse und Obst auf dem Markt gekauft und ein Abendessen vorberei­tet. Sean zog seine Fischerkleidung – das ‚Ölzeug‘ – aus und wusch sich ausgiebig die Hände. Dann setzten sie sich ge­meinsam zum Abendbrot an den gedeckten Tisch.

»Danke Havva, dass du dir solche Mühe gegeben hast. Was würde ich nur ohne dich anfangen?« Schelmisch, wie sein Blick oft war, lächelte er sie dankbar an.

»Sean, wollen wir nach dem Essen eine Runde Karten spie­len?«

»Gerne. Und erzählst du mir vorher, wie dein Tag war?«

»Ich habe Delfine gesehen«, platzte es aus ihr heraus.

Sie grinste Sean fröhlich an, während sie an ihre wunder­same Rettung dachte. Aber sie wollte ihm diese Geschichte nicht erzählen. Er würde sich nur Sorgen machen, dass sie so weit nach draußen geschwommen war. Dann fielen ihr die drei Angebertypen ein, die ihr aufgelauert hatten. Ihr Gesicht verfinsterte sich.

Sean bemerkte die Veränderung in Havvas Gesichts­aus­druck.

»Was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung?«

Havva war in ihren Gedanken. Sie dachte an die Schule und die anderen Kinder. Sie mochte den Unterricht, aber sie hatte kaum Freunde. Sie litt sehr darunter, dass viele Kinder sie nicht mochten und ablehnten.

Vielleicht konnten sie es nicht ertragen, dass jemand anders war und anders lebte als sie selbst? Dass Havva nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwuchs, sondern beim alten Sean? Vielleicht weil sie arm waren? Havva hatte meist das gleiche T-Shirt und eine zerschlis­sene Hose an. Neue Kleidung konnten sie sich nicht leisten. Die Kinder in ihrer Schule machten sich darüber lustig.

Möglicherweise kam die Ablehnung aber auch daher, dass sie wenig mit den Spielen der anderen Kinder anfangen konnte. Rennen, schwimmen, tauchen, das mochte sie. Ein­mal war sie so lange ins Meer hinabgetaucht, dass die Kin­der dachten, sie wäre ertrunken. Sie schrien, als Havva auf­tauchte und erzählten es ihren Eltern. Es hatte riesigen Är­ger gegeben. Dabei hatte sie gar nichts gemacht. Sie war nur tief getaucht und hatte dort Muscheln gesammelt.

Die Kinder beschimpften sie.

»Du Meereshexe, du Seeungeheuer«, riefen sie. Das machte Havva traurig. Mit all dem wollte sie Sean nicht belasten.

»Ist etwas vorgefallen?«, fragte ihr Vater noch einmal be­sorgt nach.

»Nein. Es ist alles gut«, sagte sie und guckte dabei zu Bo­den.

Sean kannte Havva und wusste, dass etwas nicht stimmte. »Na komm, erzähl schon!«

»Was denn? Es ist alles wie immer«, rief Havva in genervten Ton. Dann sprang sie auf, lief in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.

Sean blickte ihr hinterher. Manchmal fühlte er sich überfor­dert. Dann ließ er sie in Ruhe.

»Es tut mir so leid«, flüsterte er zu sich selbst.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Sean kannte den eigent­lichen Grund, warum sie im Dorf so unbeliebt waren. Es war seine Schuld. Damals hatte es ange­fangen. Sean hatte es als einziger Fischer im Dorf abge­lehnt, für den örtlichen Fischereigroßkonzern zu ar­beiten. Die ‚New Ocean Wave Company‘, kurz ‚NOW‘, hatte vor einigen Jahren alle Fischer aufgefordert, ihre Selbstständigkeit aufzugeben, ihre Boote zu verkaufen und auf den großen Schiffen des Konzerns anzuheuern. Nach einigem Zögern hatten sich alle im Dorf gebeugt. Was soll­ten sie auch machen? Durch die gewaltigen Schleppnetze, die bis tausendfünfhundert Meter in die Tiefe des Meeres­bodens reichten und dort alles mit sich rissen, war die ‚NOW-Company‘ in der Lage, unvorstellbare Mengen an Fisch mit einem Mal aus dem Meer zu holen. Dadurch wa­ren die Preise, die man für Fische auf dem Markt erzielen konnte, ins Bodenlose gesunken. Die Arbeit für den Groß­konzern war für viele die einzige Möglichkeit, überhaupt noch zu überleben. Fast alle Fischer im Dorf nahmen den Lohn an, den die Company ihnen anbot. Auch wenn es nicht allzu viel war. Es reichte für einen gewissen Wohlstand. Den wollte keiner riskieren. Außer Sean.

»Fischer sein heißt, dass man eins wird mit dem Meer. Wir brauchen die Fische, um uns zu ernähren. Aber wir müssen auch genug von ihnen leben lassen, sonst zerstören wir das Meer und damit auch uns selbst«, hatte Sean damals erklärt und sich geweigert, für die New Ocean Wave zu arbeiten.

So hatte es angefangen. Seitdem guckten alle misstrauisch auf Havvas Vater. Seither lief es schlecht für sie beide.

Sean stand mühsam auf. Jeder Knochen tat ihm weh, nach dem langen, erfolglosen Tag auf dem Meer. Müde, mit hän­genden Schultern und traurigem Blick schlurfte er durch das Zimmer und klopfte an Havvas Tür, ehe er eintrat. Sie lag auf dem Bett und drehte sich zu ihm.

»Entschuldige, ich wollte die Tür nicht so zuknallen.« Havva schien sich beruhigt zu haben.

»Hör zu mein Kind! Es geht so nicht weiter!« Sean Stimme hörte sich schwermütig an.

»Du und ich. Hier in Armut. Die Bewohner im Dorf lehnen uns ab. Ich sollte das alles beenden und bei der Firma an­fangen. Dann würden uns die Leute in Ruhe lassen und du hättest nicht mehr diesen Ärger mit den anderen Kindern. Es ist alles meine Schuld.«

Einen Moment war Havva wie erstarrt. Dann schrie sie auf.

»Nein. Das darfst du nicht tun. Niemals!« Havva holte tief Luft und sprach dann mit ruhiger Stimme zu Sean.

»Du hast es mir doch beigebracht. Weißt du noch? ‚Es reicht, wenn wir es so machen wie die kleinen Tauchervö­gel‘. Das waren deine Worte. ‚Sie fliegen auf der Stelle schwebend über den Wellen, beobachten die Wasserober­fläche und wenn sie einen Fisch sehen, tauchen sie im Sturzflug senkrecht ab, um dann mit einem Fisch im Schna­bel wieder aufzutauchen und davonzufliegen. Davon leben sie und ihre Nachkommen im Nest an Land. So müssen wir es auch machen und das Meer bleibt intakt.‘ Das ist es, was ich von dir gelernt habe.«

Havva guckte ihren Vater jetzt ernst an.

»Sean, ich bewundere dich dafür, dass du so geblieben bist und nicht wie die anderen bei der Firma arbeitest. Der Är­ger mit den Kindern ist mir egal.«

Havva erhob sich aus ihrem Bett, ging auf Sean zu und nahm ihn fest in den Arm.

»Wir werden es schaffen. Ich habe dich, ich habe das Meer und ich habe meine Freunde.«

Dabei musste sie an die Delfine denken und ihr wurde warm ums Herz.

Einschulung

Die Weiten und Tiefen des Meeres sind nahezu unendlich. Kaum einer hat die großen Entfernungen der Ozeane berei­sen können, die alles verbinden und umschließen. Nur die Bartenwale erzählen von ihren langen Reisen. Von den Polkappen des Nordens über die warmen Strö­mungen der Tropen bis in den südlichsten Teil des Meeres, wo sie Nahrung suchen. Sie erzählen von der unendlichen Vielfalt des Lebens, der bunten Märchenwelt, die sich in unterschiedlichsten Farben und Formen im Meer findet und doch überall verschieden aussieht. Da sind die Pflanzen, die Unterwassergärten, die in leuchtenden Farben schim­mern und flirren. Rote Blumen mit gelbumrandeten, dün­nen Blättern, die aussehen wie Sonnen des Meeres, wach­sen zu Tausenden am Riff. Daneben grüne Seegräser, aus denen pink-gräuliche Korallen hervorgucken. Ein Schwarm bläulich-rosafarbener Fische durchstreift den Garten. Davor eine Sandfläche. Wer einfach vorbei­schwimmt, ohne genau hinzugucken, könnte denken, sie sei unbelebt. Mitnichten. Gerade hier tummeln sich tau­sende von verschiedenen Wesen. Manche sehen lustig aus. Die Bodenwürmer, die sich durch den Sand schlängeln, wenn sie unbeobachtet sind. Sie lassen für kurze Zeit feine Linien wie Straßen oder Gräben zurück, bis diese von der leichten Bewegung des Wassers am Grund in wellenartige Formen zurückverwandelt werden. Dann sieht der Meeres­boden wieder unberührt aus. Bunte Quallen schweben wie Wolken durch das Wasser. Manche von ihnen sind durch­sichtig wie Geister. Bei anderen überwiegen glühende Far­ben, die Gefahr ausstrahlen. Vorsicht vor den langen roten Tentakeln, die so stark brennen, wenn man sie berührt.

In dieser Welt lebt Rory, ein hübsches und sehr quirliges Meermädchen. Tochter von Ursula. Sie schläft und träumt von dieser Welt. Sie schwimmt mit ihrem besten Freund Sami umher. Ein fröhlicher Meeresjunge, der immer einen Spaß auf Lager hat. Plötzlich stimmt etwas nicht.

»Los! Mach schon! Hier entlang!«

Rory schwimmt so schnell sie kann. Sami ist einige Meter vor ihr in eine Höhle abgebogen.

»Warte! Ich komme nicht hinterher!«

Sie spürt, dass eine Gefahr dicht hinter ihr ist und wagt es nicht, sich umzudrehen. Sie muss diesen Höhlen­eingang erreichen. Vielleicht ist er die Rettung. Die Panik in ihr gibt ihr zusätzliche Kraft. Plötzlich bemerkt sie, dass sich der Höhleneingang wieder entfernt. So schnell sie auch ihre Schwanzflosse bewegt, sie kommt nicht mehr vo­ran. Im Gegenteil. Ein starker Sog reißt sie nach hinten, wie einer der Unterwasserstrudel, vor denen sie ihre Mutter immer gewarnt hat. Aber es ist keiner. Es ist ein riesiges Schleppnetz, das alles einfängt, was das Meer hergibt. Fische, Seesterne, Garnelen, Pflanzen, Meermen­schen. Einfach alles. Sami blickt aus der Höhle zu Rory und versucht ihre Hand zu greifen.

»Komm doch endlich. Hier sind wir in Sicherheit. Nimm meine Hand. Ich helfe dir!«

Sami ist ihr bester Freund und wird es immer bleiben. Aber es ist zu spät. Um sie herum wird alles dunkel. Rory schreit.

»Ich kann nicht! Ich schaffe es nicht! Hilfe!«

Plötzlich wurde es hell um Rory.

»Wach endlich auf! Wie oft soll ich dich noch rufen? Es ist schon spät. Wir haben verschlafen und das an deinem ers­ten Tag in der neuen Schule.«

Es war der Tag der Einschulung in die ‚Erweiterte Lebens­kundeschule‘ von Atlantica. Die Schule für Meereskinder ab zehn Jahren. Hier wird alles für das Leben in der Tiefsee Wichtige unterrichtet. Einfache, weniger wichtige Dinge wie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen die Kinder des Meeres bereits in der Vorschule im Alter von fünf bis zehn Jahren.

Rory machte die Augen auf und blickte ihre Mutter an, die aufgeregt vor ihrem Seealgenbett herumschwamm. Schlagartig war sie wach.

»Hattest du wieder diesen Traum?« Ursula betrachtete sie besorgt.

Seit längerer Zeit plagte sie der immer gleiche Albtraum. Sie konnte sich nicht erklären, woher er kam. Sie lebten im geschützten Teil des Meeres, in Atlantica. Schon von klein auf lernten sie, dass ihnen innerhalb dieses Bereiches nichts passieren konnte. Neptun, ihr König, hatte Atlantica mit seiner Magie für die Menschen des Landes, ihre Feinde mit den Schleppnetzen, die man Bipedie, die Zweibeiner nannte, unsichtbar und unzugänglich ge­macht.

»Nun mach schon, oder willst du an deinem ersten Tag ohne Frühstück zur Schule?«, drängelte sie ihre Mutter.

So schnell sie konnte, war sie hochgeschossen und hatte sich mit einer einzigen eleganten Bewegung ihrer Schwanzflosse zum Frühstückstisch begeben. Auf dem al­ten Familienerbstück aus Schieferstein stand ihr Korallenmüsli, das sie zügig in sich hineinschüttete.

»Nicht so hastig. Ein bisschen Zeit haben wir noch. Außerdem muss ich deine Haare machen.«

Ihrer Mutter war es immer sehr wichtig, dass ihre Haare nicht voller Meerestang und Algen waren.

»Autsch, das hat geziept.«

Sie guckte empört zu ihrer Mutter. Diese ließ sich nicht be­irren und kämmte weiter durch die langen, hellblonden Haare.

»Hab‘ dich nicht immer so, sonst musst du dir deine Haare selbst machen«, sagte sie lachend. Dann gab sie ihr einen Klaps auf den türkisfarbenen Fischschwanz, der manchmal smaragdgrün leuchtete. Jetzt konnte sie sich auf den Weg machen.

»Ich wünsche dir viel Spaß«, sagte Ursula.

Ein »Danke Mama«, war noch zu hören. Dann schwamm sie mit kräftigen Schlägen ihrer Schwanzflosse zur Schule. Meereskinder schwimmen sehr schnell und sind mit zehn Jahren schon äußerst selbstständig.

Etwas abseits von der Schule, einem altehrwürdigen Gra­nitfels-Gebäude, befand sich Sakura, eine rötlich schim­mernde Garnele hinter einem Felsvorsprung. Von dort be­obachtete sie, wie sich die zahlreichen Meereskinder vor dem Schulgebäude versammelten. Jedes Jahr am gleichen Tag fand hier dieses bedeutende Ereignis im Leben eines Meereskindes statt. Neben Sakura hatte sich eine Rotwan­genschildkröte niedergelassen. Sie war neu hier. »Was geht dort vor?«, fragte sie mit leicht näselnder Stimme.

Sakura kannte sich aus. Sie wusste, wie es weiterging. Je­des Jahr saß sie am Einschulungstag hier und wohnte der Zeremonie bei.

»Einschulung«, antwortete sie der Wasserschildkröte. »Gleich werden den Kindern ihre Begleittiere zugeteilt.«

»Begleittiere? Was meinst du damit?« Die Schildkröte run­zelte ihre sowieso schon recht faltige Stirn. Ihre Wangen leuchteten.

»Na Begleittiere. Du scheinst nicht viel Ahnung von Kin­dern zu haben. Am Tag ihrer Einschulung bekommen sie ein Begleittier zugeteilt, dass sie bis zum Schulende, dem Beginn des Erwachsenenlebens begleitet.« Sakura wirkte ungeduldig. Sie wollte sich auf die Szenerie konzent­rieren. Aber ihre unwissende Nachbarin ließ nicht locker.

»Und warum? Sollen die Kinder auf das Tier aufpassen?«

Nun drehte sich die Garnele mit ihrem ganzen Körper, der sehr klein war, zur Schildkröte und schaute sie mit ihren stecknadelgroßen Augen an.

»Umgekehrt meine Liebe. Umgekehrt. Die Tiere sind Be­gleiter und Beschützer der Kinder. Sag mal, kommst du aus Atlantica?«

»Na ja, ich bin zu Besuch bei meiner Tante.« Die Rotwan­genschildkröte guckte verlegen.

»Das erklärt so einiges.« Sakura guckte freundlich. Sie wusste, dass viele Meerestiere den Schutzraum von Atlan­tica aufsuchten, wenn sie draußen Gefahr verspürten. »Unseren Meereskindern ist bis zu ihrem zehnten Lebensjahr streng verboten, den Schutzraum von Atlantica zu verlassen. Dort draußen wären die Meereskinder für Bips sichtbar.«

»Bips?«

»Ja, Bips! Kurzform von Bipedie. Landmenschen, Zweibeiner, unsere Feinde!«

»Und nach ihrem zehnten Lebensjahr?«

»Danach gewähren ihnen ihre Begleittiere besonderen Schutz. In Anwesenheit ihrer Begleittiere sind sie für Bips nur in der Gestalt der Begleittiere zu se­hen.«

»Das heißt, wenn ich Begleittier eines Meereskindes wäre und wir aus Atlantica rausschwimmen, wären wir dort für die Landbewohner zwei Schildkröten?«

»Hey, du bist eine schlaue Schildkröte. Du hast es. Darf ich mir jetzt den Rest der Einschulung angucken?« Sakura drehte sich demonstrativ wieder zur Schule hin.

»Ich wünschte, ich wäre ein Begleittier«, hörte sie ihre Nachbarin wehmütig seufzen.

Sakura kannte das Gefühl. Auch sie beobachtete melancho­lisch das Geschehen. Seit Jahren wünschte sie sich nichts sehnlichster, als Begleittier eines Meereskindes zu sein. Was könnte sie den Kindern nicht alles vermitteln? Wer kannte den Ozean so gut wie sie? Was hatte sie nicht alles erlebt, wovon sie den Kindern hätte berichten können? Aber wer fragt schon eine Zwerggarnele?

Die Zeremonie begann. Die Schulleiterin, Frau Valledoria, eine zeitweise streng anmutende ältere Oktopusdame mit leicht ergrauter Haut, rief ein Kind nach dem anderen auf. Diese schwammen zu ihr, einige aufgeregt und fröhlich, an­dere zögerlich und schüchtern.

»Sami! Bitte zu mir!«

Ein Junge mit rundlicher Figur schwamm einige Schwanz­flossenzüge nach vorne. Er trug eine braune Weste mit ver­schnörkelten Muster. Seine Haare waren blond und lockig. Er lächelte.

»Guten Morgen Frau Direktorin.«

»Guten Morgen mein Junge.« Die sonst so strenge Direk­torin blickte ihn freundlich, fast mütterlich an.

Was für ein höflicher Junge, dachte sich Sakura, die nun gespannt war, welches Begleittier ihm wohl zugeteilt wer­den würde. Diese warteten geduldig auf einem Felsvor­sprung, der sich wie ein großes Podest vor dem Schulge­bäude befand. Da waren sie: Delfin, Seepferdchen, Clown­fisch, Zitteraal, Hering und …

»Ein Stachelrochen!«

Sami hatte diesen freudigen Aufschrei nicht unterdrücken können. Stachelrochen waren hoch angesehen. Auch Sak­ura hatte riesigen Respekt vor der vorausschauenden Intel­ligenz eines Stachelrochens. Majestätisch glitt das Tier mit ruhigen, schwungvoll fließenden Bewegungen auf Sami zu und warf dabei einen großen Schatten auf den Meeresbo­den. Sein langer Stachel ließ alle ehrfurchtsvoll aufblicken. Sami und der Rochen würden nun die nächsten Jahre mit­einander verbringen. Nachdem das imposante Tier den Jun­gen erreicht hatte, blickten sie sich einen Moment an. Dem sonst so fröhlichen Sami schien es die Sprache verschlagen zu haben. Auch der Rochen sagte nichts, sodass sie schließlich gemeinsam schweigend zur Seite glitten. Die Zeremonie ging weiter. Das nächste Kind, das aufgerufen wurde, war Phoenix.

Alle blickten gespannt auf den Jungen, der sich aus einem großen Pulk löste. Ja, das war er. Phoenix, der Sohn Nep­tuns. Seine schwarzen Haare und das goldfarbene Schim­mern seiner kräftigen Schwanzflosse verliehen ihm ein ed­les, geheimnisvolles Aussehen. Er war außer seinem Vater der Einzige im Meeresreich mit dieser seltenen Farbge­bung. Unterstrichen wurde seine außergewöhnliche Er­scheinung durch eine aus goldener Meeresseide bestickten Weste, von der jeder Anwesende wusste, wie wertvoll sie war. Nur die reichsten unter den Meeresbewohnern konn­ten sich so etwas leisten. Zu diesen gehörte Phoenix. Aus seiner Familie waren etliche Meereskönige hervorgegan­gen. Auch Phoenix würde wohl eines Tages Thronfolger werden. Nun aber musste er wie alle Kinder des Meeres, egal aus welcher Familie und unabhängig davon, wie wohlhabend sie waren, die nächsten Jahre zur Schule gehen.

Welches Tier würde ihm wohl zugeteilt werden? Sakura konnte aus der Entfernung nicht genau verstehen, was ge­sagt wurde. Es war eine gewisse Unruhe entstanden, seit Phoenix nach vorne geschwommen war. Nun aber sah sie, wie sich ein recht kleines Tier elegant vom Felsvorsprung löste. Es war so klein, dass Sakura genau hinschauen musste. Phoe­nix schien enttäuscht zu sein. Sein zukünftiges Be­gleittier war: Ein Seepferdchen!

Ein Meereskind nach dem anderen wurde aufgerufen, schwamm nach vorne und erhielt sein Begleittier. Jedes Mal freute sich Sakura für die Kinder und war gleichzeitig tieftraurig, dass sie nicht Teil des Geschehens war. Einige der Tiere hatten diese Aufgabe schon seit Generationen inne. Andere wie der Delfin, waren neu dabei. Er schien noch sehr aufgeregt und verspielt. Vielleicht passte er des­halb so gut zu dem Mädchen, dass alle Rory nannten. Sie schien spaßig und flink zu sein. Sie schoss mit einem blitz­schnellen Satz nach vorne, als ihr Name aufgerufen wurde. Dort schwamm sie unruhig auf der Stelle und grinste auf­geregt in die Runde.

Als der Delfin auf sie zu schwamm, konnte sie einen freu­digen Aufschrei nicht unterdrücken.

»Ich bin Rory. Wie heißt du? Du kannst bestimmt schnell schwimmen? Ich kann auch schnell schwimmen. Schwim­men wir nachher um die Wette?« Aufgeregt umkreiste sie den Delfin, während die Fragen nur so aus ihr herausspru­delten. Dem Delfin schien es zu gefallen.

»Ich bin Nick«, schnatterte er ebenfalls aufgeregt und ver­suchte Rorys Drehbewegungen nachzuschwimmen, bis ein lautes Räuspern zu hören war.

»Vielleicht hebt ihr euch das für später auf, damit wir wei­termachen können.« Die Direktorin versuchte einen stren­gen Blick aufzulegen. Aber an einem leichten Zucken ihres Mundwinkels merkte man, dass sie die Situation belustigt hatte.

Schließlich waren alle Begleittiere den Kindern zugeteilt worden. Traurig schaute Sakura der fröhlichen Schar Mee­resbewohner hinterher, wie sie im Schulgebäude ver­schwanden. Der Schulalltag begann. In der ersten Schul­stunde würden sich alle einander vorstellen und die wich­tigsten Regeln der Schule und Informationen zu ihren Un­terrichtsfächern mitgeteilt bekommen.

»Machs gut«, wollte die Garnele zur Rotwangen­schild­kröte sagen. Sie war aber schon verschwunden. Sakura machte sich nun ebenfalls auf den Weg. Wohin es sie ver­schlagen würde, wusste sie in diesem Moment noch nicht.

Der erste Unterricht

»Hey, das ist mein Platz!«

Rory zwängte sich neben Sami, mit dem sie seit frühster Kindheit befreundet war und drängte dabei Phoenix zur Seite. Dieser guckte sie empört an. Das war er nicht ge­wohnt. Als Sohn des Königs und zukünftiger Thronerbe hatte er die meisten Jahre seiner bisherigen Kindheit im Schloss verbracht, wo sich Bedienstete um ihn kümmerten und ihm seine Amme, eine strenge, rundliche See­kuhdame, königliche Manieren beigebracht hatte. Mit an­deren Kindern hatte er bisher wenig Kontakt. Entsprechend reagierte er unbeholfen auf Rorys Stupser.

»Entschuldigt bitte diese Unannehmlichkeiten. Ich hatte keinesfalls vor, im Wege zu stehen!«

»Warum denn so förmlich? Ich wollte einfach zwischen Sami und dir sitzen, falls du nichts dagegen hast. Mein Name ist Rory.« Sie streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Ohne ihr die Hand zu geben, musterte Phoenix Rory vom Kopf bis zum Ende der Schwanzflosse. Dann er­widerte er mit leicht hochgereckter Nase: »Mein Name ist Phoenix. Ich bin der Königssohn. Ich werde noch entschei­den, wer neben mir sitzen darf.«

Rory guckte ihn entgeistert an. Bevor sie reagieren konnte, räusperte sich die Direktorin laut und begann mit der ersten Unterrichtsstunde.

»Zuerst einmal das Wichtigste.« Die Stimme von Frau Va­lledoria klang nur im ersten Moment streng. Beim zweiten Hinhören bemerkte man einen gutmütigen, liebevollen Nachklang, der ein beruhigendes, warmes Gefühl von Si­cherheit hinterließ. »Ihr seid jetzt hier in unserer Schule eine Gemeinschaft. Jeder von euch muss sich auf die anderen verlassen können. Ihr müsst einander helfen und euch vor den Gefahren beschützen, die da draußen lauern. Egal aus welchem Haus, aus welcher Familie ihr stammt. Für die nächsten Jahre gehört ihr zusammen. So wie auch die Be­gleittiere zu euch gehören.« Rory blickte verstohlen zu Phoenix. Er entstammte der mächtigsten und wahrschein­lich reichsten Familie des Meeresreiches. Mit ihm sollte sie jetzt zusammengehören? Phoenix schien ihren Blick nicht zu bemerken. Er starrte geradeaus.

Vielleicht war er in Gedanken versunken und dachte sich, »was geht mich das hier alles an?« Rory fand, dass er arro­gant wirkte.

»Er ist bestimmt ein Angeber. Ich glaube kaum, dass ich mit dem irgendetwas anfangen kann, geschweige denn, dass wir eine Gemeinschaft sind. Und beschützen braucht mich dieser Angeber sowieso nicht«, dachte sie sich, eh die Stimme von Frau Valledoria sie wieder aufmerksam wer­den ließ.

»Eure Begleittiere werden euch da draußen, wenn ihr eines Tages auf mein Geheiß aus dem geschützten Bereich von Atlantica ins offene Meer hinausschwimmen dürft, Schutz und Beistand gewähren. Ihr werdet immer auf eure Tiere hören und in ihrer Nähe bleiben. Und ihr schwimmt nicht ohne meine Erlaubnis oder die eurer Lehrer hinaus. Habt ihr das verstanden?« Die Kinder ließen ein einvernehmli­ches »Ja«, begleitet von einem Kopfnicken verlauten. Frau Valledoria war zufrieden. Sie hatte schon viel erlebt. Dafür, dass sich in dieser Schulklasse sehr unterschiedliche Kinder befanden, schien es recht gut zu laufen, dachte sie sich. Im Vorfeld hatte es Aufregung gegeben. Wie würde es sein, den Sohn des Königs und andere Kinder aus sehr wohlha­benden Familien mit Kindern aus gewöhnlichen Familien zusammen in einer Klasse zu haben? Dort saß zum Beispiel Julius. Seine Eltern besaßen eine riesige Perlenaufzuchts­tation und waren sehr einflussreich. Oder Titus und Cecilia. Diese stammten ebenfalls aus sehr reichen und früher sehr mächtigen Familien, die bei Neptun in Ungnade gefallen waren. Ihr Reichtum stand dem von Neptun in nichts nach. Und dann die anderen Kinder, die nicht im Überfluss auf­gewachsen waren wie der kleine Sami. Die Schulleiterin mochte diesen höflichen, frechen, lustigen Kerl. Er erin­nerte sie daran, wie ihr eigener Junge als Kind gewesen war. Und zwischen all diesen Kindern Rory, die Tochter Ursulas. Fast jeder in Atlantica kannte sie. Für manche war sie eine Meereshexe. Frau Valledoria hielt Ursula für eine weise Frau und Heilerin. Was für eine ungewöhnliche Klasse. Ein Räuspern ließ die Direktorin aus ihren Gedan­ken aufschrecken.

»Ach ja, ich will euch nun eure beiden anderen Lehrer vor­stellen. Als erstes deutete sie auf einen finster blickenden Mann mit tiefschwarzen Augen und einem ebenso tief­schwarzen Fischschwanz.

»Doktor Galenus. Er wird euch in Bipediekunde unter­richten.«

Doktor Galenus zog eine Augenbraue hoch und blickte sich streng in der Klasse um. Einen Schüler nach dem anderen musterte er eingehend.

»So so«, sagte er dann. »Die neue Klasse. Sieh an, sieh an.«

»Ja danke.« Die Direktorin schien verwirrt. Dann zeigte sie auf eine junge Lehrerin, die schüchtern und freundlich in die Runde blickte.

»Frau Rossa. Isola Rossa, eure Klassenlehrerin. Bei ihr habt ihr Parcoursschwimmen und Talentunterricht. Dort werdet ihr eure Talente kennenlernen und lernen, diese zu nutzen. Bei mir habt ihr Meereskunde.« Dabei strahlte Frau Valle­doria, als wäre es die schönste Nachricht der Welt, dass sie Meereskunde unterrichten würde. Wer weiß schon mehr über die Ozeane als ein Oktopus?

Eine Weile noch erklärten die Lehrer ihre Themen und ei­nige Schulregeln. Rory schaute sich ihre neuen Lehrer an. Frau Rossa sah sportlich aus. Sie war gespannt, was sie von ihr lernen würde. Schwimmen konnte sie jedenfalls schnel­ler als die meisten Meereskinder. Und Talentunterricht? Was es wohl damit auf sich haben würde? Frau Valledoria war nett. Rory freute sich auf Meereskunde. Von ihrer Mut­ter Ursula hatte sie schon viel über die Tiere und Pflanzen des Meeres gelernt. Nur vor Doktor Galenus gruselte sie sich. Insgesamt aber freute sich Rory auf die Schule. Vor allem darauf, mit anderen Kindern zusammen zu sein, in den Pausen zu spielen und mit dem Delfin herumzutol­len.

Sie guckte sich um. Vor dem breiten Eingang ihres Klas­senraumes, einer großen, mit Korallen bewachsenen Höh­lenaussparung, sah sie die Begleittiere geduldig warten. Ei­nige schwammen auf der Stelle wie das Seepferdchen. An­dere wie der Delfin bewegten sich unruhig auf kurzem Raum hin und her. Rory wurde ebenfalls ungeduldig. Der erste Unterrichtstag hatte schon lange gedauert. Wann war Unterrichtsschluss, damit sie sich wieder bewegen konnte? Sie war es nicht gewohnt, lange zu sitzen oder auf einer Stelle zu schwimmen. Immer brauchte sie Bewegung. Sie war froh, als Frau Valledoria den ersten Unterrichtstag mit einem fröhlichen »machts gut Kinder, bis morgen!«, beendete.

Sami war als einer der ersten nach draußen geschwommen. Er war noch ganz aufgeregt und konnte es nach wie vor kaum fassen, dass ihm der majestätische Rochen zugeteilt worden war. Warum hatte ausgerechnet er, den immer alle außer Rory ärgerten und auslachten, diesmal so ein Glück gehabt? Als er auf den Rochen zu schwamm, hatte er großen Respekt und musste all seinen Mut zusam­mennehmen, um ihn anzusprechen.

»Hey! … Hallo! … Wie heißt du? … Wie alt bist du? … Wie viele Kinder hast du vor mir schon begleitet?« Er hatte sich die Fragen zurechtgelegt, um den Rochen nicht wieder an­zuschweigen. Das mächtige Tier bewegte sich weiterhin in ruhigen, fließenden Bewegungen, fast auf der Stelle und guckte ihn aus seinem beiden großen Augen an, die sich auf der Oberseite seines Körpers leicht hochgewölbt befanden.

»Bato … Siebzig … Fünf.«

Der Rochen schwebte zum Grund und ließ sich dort auf dem Boden des Meeres sanft nieder. Der aufgewirbelte Sandboden legte sich auf ihn wie eine Decke, sodass nach wenigen Sekunden nur noch seine Augen zu erahnen wa­ren.

Sami wiederholte, was er gehört hatte, ohne dass er offen­bar den Sinn verstand.

»Batosiebzigfünf? … Batosiebzigfünf? …«

»Guckt euch den an. Der führt Selbstgespräche.« Erst jetzt bemerkte Sami, dass einige Kinder aus seiner neuen Klasse hinter ihm hergeschwommen waren. Ein kräftiger Junge mit braunem Seitenscheitel und bronzefarbenem Fisch­schwanz, der von einem Clownfisch begleitet wurde, äffte ihn nach:

»Bartofünfundsiebzig, Bartofünfundsiebzig. Was soll das heißen? Bist du ein blöder Spinner, so wie alle sagen?« Die anderen lachten.

»Ja, Julius, du hast recht. Das ist ein Spinner. Merkt man gleich.« Titus, ein bleicher Junge mit Sommersprossen war dazu gekommen und blickte Sami abfällig an. Er hatte ei­nen Zitteraal bei sich. Nun wurden andere Kinder auf die Situation aufmerksam. Auch Phoenix hatte sich zu ihnen gesellt. Sein Seepferdchen schwamm elegant wie er selbst an seiner Seite.

»Hey Phoenix, was sagst du zu diesem kleinen Spinner? Führt Selbstgespräche und kriegt kein vernünftiges Wort raus. Und mit diesem Zwergenschwimmer sollen wir eine Gemeinschaft bilden?« Der Junge, den die anderen Julius nannten, blickte herausfordernd zu Phoenix. Dieser blieb ruhig und schwamm auf der Stelle, als wenn ihn das alles nichts angehen würde.

»Komm schon, Phoenix.« Julius ließ nicht locker, gegen Sami Stimmung zu machen.

»Du und ich, wir sind aus der gleichen Koralle geschnitzt. Mit diesen armseligen Höhlenbewohnern brauchen wir uns wohl nicht abgeben.«

Mittlerweile war auch Rory in Begleitung ihres Delfins zu der Gruppe geschwommen. Die Superlaune, die sie bis eben noch gehabt hatte, war wie weggeblasen. Stattdessen merkte sie eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Immer, wenn sie dieses Gefühl verspürte, passierte etwas Schlim­mes. Dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Schrie, fluchte oder schmiss mit Dingen um sich. Ihre Mutter hatte ihr immer wieder erklärt, dass sie diese Energie zügeln müsse. Aber sie wusste nicht wie. Gerade als sie vor Ärger über die Gemeinheiten gegenüber Sami losschreien wollte, hörte sie Phoenix Stimme. Er sprach völlig ruhig und be­stimmt.

»Dieser ‚Höhlenbewohner‘ gehört zu mir und wer noch einmal meinen Freund hier ärgert, kriegt es mit mir zu tun.« Dann drehte er sich um und schwamm davon.

Rory und Sami waren sichtlich beeindruckt von Phoenix Reaktion. Julius und seine Clique drehten ab und ließen Sami in Ruhe. Mit Phoenix wollte sich keiner anlegen.

»Hey Sami, ärgere dich nicht über die Angeber. Die sind nur neidisch auf Bato«, sagte Rory, um ihren Freund aufzu­muntern, der immer noch verwirrt und traurig guckte.

»Ja, du hast recht. Machs gut. Ich muss nach Hause.« Sami winkte ihr zu und machte sich auf den Weg. Unmerklich erhob sich Bato aus dem Sand und folgte ihm. Er hatte die ganze Szene schweigend beobachtet.

Auch Rory wollte nach Hause und Ursula von ihrem ersten Schultag erzählen.

»Wir sehen uns morgen«, rief sie Sami noch zu.

Dann blickte sie zu ihrem Begleittier.

»Wettschwimmen?«

»Wettschwimmen!«

Pfeilschnell schoss sie los. Nick immer dicht neben sich.

Selten hatte sie eine solche Strecke in so kurzer Zeit zu­rückgelegt. Als sie zu Hause ankamen, war das Meermäd­chen ziemlich außer Atem. Nick hingegen wirkte ausge­ruht.

Ursula bereitete gerade Algen-Smoothies zu, als die beiden in die Wohnhöhle hereinkamen.

»Hallo Rory! Schon zurück? Wie war dein Tag? Wen hast du denn da mitgebracht?« Sie guckte die beiden erfreut an.

»Hallo Mama. Es war super. Das ist Nick.« Sie zeigte auf ihren Begleiter, der ein fröhliches »guten Tag«, schnatterte. »Hallo Nick«, begrüßte ihn Ursula. »Bleibst du zum Es­sen?«

»Danke.« Immer wenn Nick schnatterte, musste Rory in­nerlich grinsen. »Aber ich muss jetzt los. Ein andermal gerne.«

Rory guckte enttäuscht und wollte gerade ansetzten, Nick zu überreden, dass er bleibt, als Ursula sich an ihn wandte.

»Danke, dass du dich um meine Tochter kümmerst. Das ist eine große Verantwortung. Ihr seht euch morgen früh.« Sie winkte Nick freundlich zu. Dieser blinzelte noch einmal zu dem Mädchen, um dann mit einem Schlag seiner Flosse zu verschwinden. Rory und Ursula waren allein.

»So und jetzt erzähl mir alles.«

Rory plapperte drauf los. Von Frau Valledoria, von Sami und dem Rochen, von Nick, von Julius und seinen Freun­den. Und von Phoenix. Ursula hörte aufmerksam zu. Sie hatte sich mittlerweile auf ihre Schaukel aus Meereslianen gesetzt und wippte hin und her. Es sah aus, als würde sie nachdenken. An etwas von früher. Oft saß sie so da.

Als Rory von Phoenix gesprochen hatte, blickte sie auf.

»Und, wie verstehst du dich mit dem Jungen? Mit Neptuns Sohn?«

»Ich weiß nicht genau, was ich von ihm halten soll.« Einen Moment schwiegen sie sich an. Dann blickte Rory Ursula fragend an. »Wie war es bei dir früher? Hattest du auch ei­nen Delfin als Begleittier?« Ursula musste lachen.

»Nein. So ein schnittiges, schnelles Tier passt zu dir. Ich war nicht so sportlich und schnell unterwegs.«

»Sondern? Nun sag schon, was für ein Tier hattest du frü­her?«

»Mich hat jahrelang ein Oktopus begleitet. Von ihm habe ich viel über das Meer gelernt. Und so habe ich schließlich auch mein Talent entdeckt. Das Wissen über die Wunder und Heilkräfte des Meeres.«

Talentunterricht

»Du scheinst ja doch ganz okay zu sein!« Rory setzte sich am Morgen des nächsten Schultags zwischen Sami und Phoenix. Der Talentunterricht bei Frau Rossa fing gerade an.

»Warum auch nicht?« Phoenix guckte ausdruckslos zu Rory. Dann zeigte er den Anflug eines Lächelns. »Wollt ihr nachher noch bei mir vorbeikommen? Ich wohne gleich um die Ecke, in dem großen …«

»Wir wissen, wo du wohnst. Jeder hier kennt den Kö­nigspalast.« Rory guckte zu Sami, bevor sie antwortete. »Einverstanden, warum nicht? Wir könnten auch …«

»Ich wäre euch dankbar, wenn ihr eure Aufmerksamkeit nach vorne richten könntet.« Die ruhige Stimme von Frau Rossa passte zu dieser anmutigen Meeresfrau, die für eine Lehrerin sehr jung war. Sie schaute sich in der Klasse um und guckte dabei jedes der Kinder einmal freundlich an. Dann begann sie mit sanfter Stimme zu spre­chen.

»Jedes Kind des Meeres hat von Natur aus eine eigene, be­sondere Gabe. Wir nennen es Talent. Allerdings zeigt sich dieses Talent nicht sofort. Oft werdet ihr eure besondere Fähigkeit erst sehr spät, vielleicht nach vielen Jahren der Schule oder kurz vor dem Erwachsenwerden kennenlernen. Ich will euch helfen, eure Begabung zu entdecken und wenn ihr sie entdeckt habt, weiterzuentwickeln. Auch eure Begleittiere werden euch dabei unterstützen. Sie erleben euch tagtäglich. Sie kennen sich im Meer aus. Keines die­ser Tiere ist durch Zufall bei euch. Jedes der Begleittiere hat ebenfalls besondere Fähigkeiten. Manchmal, meist so­gar sind es diese Eigenschaften, die euch unterstützen, euch ergänzen. Durch sie lernt ihr eure Talente kennen.«

Frau Rossa guckte sich in der Klasse um. Keiner sagte et­was. Alle starrten gebannt auf ihre Lehrerin. Natürlich hatte jedes der Kinder schon von den Talenten gehört und sie wussten von den Erwachsenen, dass diese spezielle Fähig­keiten hatten. Aber die eigenen Talente entdeckt zu haben, das war den wenigsten Kindern beschieden.

»Wer von euch hätte denn Lust, uns etwas über sich zu er­zählen? Vielleicht habt ihr schon besondere Fähigkeiten oder Eigenschaften an euch entdeckt und eine Ahnung da­von, was euer Talent sein könnte?« Frau Rossa blickte fra­gend in die Runde. Immer noch wagte kein Kind etwas zu sagen.

»Was ist mit dir? Willst du dich vielleicht vorstellen? Was möchtest du uns über dich erzählen?« Sie blickte direkt zu Phoenix. Der hatte keine große Lust, über sich zu sprechen. Aber still bleiben und nichts sagen, das ziemte sich nicht. Also fing er an zu reden.

»Mein Name ist Phoenix und ich bin zehn Jahre alt.«

Während Phoenix erzählte, hing Rory ihren Gedanken nach. Sie dachte an die Tiere und Pflanzen im Meer. An den Wolfsfallenanglerfisch, den man nur in großer Tiefe findet und der so intensiv leuchten kann, dass alle Tiere, die sich in seiner Nähe befinden, neugierig angelockt werden. Wenn ihm jemand zu nah kommt, schnappt er mit seinen Zähnen zu, die aussehen wie kleine Anglerwiderhaken. Rory dachte an den gruselig aussehenden schwarzen Dra­chenfisch, der Suchscheinwerfer einschalten kann, um da­mit Licht zu erzeugen, das blau-grün schimmert und von anderen nicht gesehen werden kann. Genau wie der Later­nenfisch, der ebenfalls in eigenen Farben durch die Meere streift. Die Seegurke. Sie frisst den Schlick am Boden und hinterlässt mit ihren Füßen Spuren. Und die stachlige Tief­seekrabbe. Die hübschen Oktopusse. Vor allem der lila Zwerg-Tintenfisch mit seinen großen Kulleraugen. Der Igelfisch, den man nicht anfassen sollte. Der Fetzenfisch, der so aussieht, wie er heißt. Wie ein Stück von einer Pflanze, dass vor Jahren abgerissen wurde und seitdem durchs Meer irrt. Plankton und Kaltwasserkorallen. See­sterne und Seepferdchen … Seepferdchen … Seepferdchen …?

»Hallo Rory, hörst du überhaupt noch zu?« Rory schaute erschrocken auf. Frau Rossa schwamm vor ihr herum und guckte sie fragend an.

»Na meine Liebe, wo warst du mit deinen Gedanken? Ich hoffe bei unserem Unterrichtsstoff. Phoenix hat uns gerade etwas über sein Seepferdchen erzählt.«

»Ja, Seepferdchen. Ich weiß«, stammelte Rory verlegen. Immer wieder hatte sie diese Tagträume. Schade, dass der von eben vorbei war. Es war so schön, in Gedanken durch das bunte Meer zu gleiten. Seepferdchen. Sie guckte fra­gend zu Phoenix, der die Augenbrauen hochzog, als wollte er fragen: »Muss ich das jetzt alles noch einmal erzählen?«

»Also wie ich schon sagte«, Phoenix schaute bei diesen Worten Rory an, als würde er den Satz ausschließlich für sie wiederholen. »Seepferdchen sind eigentlich Fische, auch wenn sie nicht so aussehen, weil sie keine Flossen ha­ben. Seepferdchen können sich elegant durch schaukelnde Bewegungen im Wasser bewegen. Sie halten sich beson­ders gerne im Seegras auf. Dort können sie sich mit ihrem Schwanz festhalten und ausruhen.«

»Und warum glaubst du, dass du als Begleittier ein See­pferdchen bekommen hast? Welche Begabungen hast du vielleicht schon bei dir festgestellt und wie passen die zu dem, was du von einem Seepferdchen weißt?«

Frau Rossa blickte erst zu Phoenix und dann in die Runde. Phoenix räusperte sich, bevor er antwortete. Es schien ihm unangenehm zu sein, über sich selbst zu sprechen. Er ver­suchte es sich nicht anmerken zu lassen, nahm eine auf­rechte Haltung an, blickte geradeaus zu seiner Klassenleh­rerin und dann, während er sprach, in alle Richtungen. So als würde er einen Vortrag vor der Klasse halten. Rory war sich nicht sicher, was sie von Phoenix halten sollte. War er ein arroganter Angeber oder vielleicht doch ganz nett? Sie spürte in sich das Gefühl, dass sie ihn mögen könnte.

»Seepferdchen sind elegante Tiere. Sie schwimmen auf­recht und sehen gut aus.« Als er das sagte, fingen einige der Kinder an zu lachen. Unter ihnen Julius. Der reckte seinen Kopf nach vorne, so als würde er etwas sagen wollen. Frau Rossa blickte ihn fragend an. Julius verstand dies als Auf­forderung, sich zu äußern.

»Außerdem werden bei den Seepferdchen die Männchen schwanger«, schwappte es mit sich überschlagender Stimme aus ihm heraus. Die anderen Jungs grölten vor La­chen. Phoenix‘ Gesicht fing an, rot zu leuchten. Für einen Moment sah er gar nicht mehr wie der erhabene Königs­sohn aus.

»Ich weiß nicht, warum ich ein Seepferdchen als Begleittier bekommen habe«, stammelte er leise.

»Wir alle wissen es nicht und werden es erst mit der Zeit erfahren. Alles hat seinen Grund«, sagte Frau Rossa in ei­nem strengen Ton. Sie guckte ernst in die Runde, um schließlich mit ihrem Blick bei Julius zu verharren. Dieser stellte augenblicklich das Lachen ein.

»Erzähl uns von dir und deinem Begleittier«, forderte Frau Rossa Julius auf. Dieser war nun weniger vorlaut.

»Also warum ich einen Clownfisch als Begleittier bekom­men habe, weiß ich nicht so genau.«

»Auch du wirst dies noch erfahren.« Frau Rossa beließ es dabei.

Nacheinander stellten die Kinder sich und ihre Begleittiere vor. Schließlich, gerade als Rory an der Reihe war, tönte der Trompetenfisch die Pause ein.

»Schade«, sagte die Lehrerin und guckte Rory an. »Aber nicht so schlimm, dann bist du in der nächsten Stunde dran. Viel Spaß euch allen in der Pause.« Noch bevor sie Ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, schwammen die Kinder wie entfesselt aus der Klassenhöhle hinaus in den Schulgarten.

Bipediekunde

Nach der Pause hatten sie den ersten Unterricht bei Doktor Ga­lenus. Dieser guckte streng in die Runde. Alle waren mucksmäuschenstill. Sie wirkten wie Zackenbarsche, die vor einem Tigerhai erstarrt sind. Keiner wagte, die Schwanzflosse zu bewegen.

»Bipediekunde!« Das schwarze Haar von Doktor Gale­nus bewegte sich leicht schwirrend im Rhythmus des Oze­ans. Seine Schwanzflosse glänzte in einem tiefen Schwarz, dass es einen förmlich in sich hineinzog. So schwarz wie das schwärzeste Schwarz der tiefsten Stelle des Ozeans, wo nie ein Licht hinfindet.

»Bipediekunde!« Er betonte das Wort, als wäre es ihm eine widerliche Last. Als wäre er gezwungen, etwas Unsag­bares auszusprechen. Dabei blickte er immer wieder mit seinen schwarzen Augen, die noch dunkler wirkten als seine Schwanzflosse von einem Kind auf das nächste. Rory spürte seinen Blick und musste sich abwenden. Sie hatte das Gefühl, seine Augen würden sie ansaugen wie ein Riesenstrudel, vor denen ihre Mutter sie immer warnte.

»Wer einmal in den Sog eines Riesenstrudels gerät, kommt meist nicht mehr heraus und wird bis in die tiefsten Schich­ten des Sediments gezogen«, hatte Ursula gesagt. Rory wusste bis heute nicht, ob das stimmte.

»Wer von euch weiß etwas über die Bips?« Das Wort ‚Bips‘ betonte Doktor Galenus mit Tonfall, als würde etwas besonders Ekeliges aus seiner Kehle herauswürgen. Rory vermutete, dass kein Kind aus ihrer Klasse wagen würde, sich zu mel­den. Umso verwunderter war sie, dass gleich zwei Arme hochgestreckt wurden. Der Lehrer blickte von Phoenix zu Julius und wieder zurück.

»So so! Ihr beiden! Ausgerechnet. …! Na dann mal los, du zuerst.« Bei diesen Worten zeigte er auf Julius.

»Bipedie, die man der Einfachheit halber Bips nennt, sind hässliche Halbwesen, denen die Schwanz­flosse fehlt. Deshalb müssen sie ihr ganzes Leben in der brütenden Sonne an Land sitzen, wo ihr Gehirn austrock­net, weshalb sie so dumm sind.« Während Julius dies sagte, begann sein Gesicht zu strahlen. Er guckte in die Runde in der Hoffnung, die anderen Kinder würden über seinen coo­len Spruch lachen. Aber keiner wagte das Gesicht zu ver­ziehen. Alle hatten Angst vor Doktor Galenus oder davor, drangenommen zu werden. Dieser nickte anerkennend.

»Ja.« Seine Stimme klang auf einmal ruhiger und blickte wohlwollend auf Julius. »Du hast recht. Sie sind hässlich und dumm.«

»Nun du.« Ruckartig hatte sich Doktor Galenus zu Phoenix gedreht. Streng blickte er ihn an.

Phoenix fing mit leiser, fast ängstlicher Stimme an zu spre­chen. Es wirkte, als würde er es bereuen, sich gemeldet zu haben.

»Na ja, das kann schon sein, dass die Bips hässlich sind. Genau weiß ich es nicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie sehr dumm sind, weil …« Noch bevor Phoenix sei­nen Satz zu Ende sprechen konnte, fing Doktor Galenus an zu brüllen.

»Was fällt dir ein? Wage es nicht, solche Lügen zu verbrei­ten! Die Bips sind das dümmste, hässlichste, schlimmste Grauen, das die Meereswelt je gesehen hat. Sie sind unsere Feinde, seit eh und je. Niemals hat es auf der Welt auch nur einen Bip gegeben, der et­was anderes gewesen wäre als hässlich, dumm und böse. Hütet euch vor allem, was mit ihnen zu tun hat. Wagt es nicht, mit Bips Kontakt aufzunehmen oder irgendetwas, was sie geschaffen haben, auch nur anzusehen. Es sei denn, einer von uns Erwachsenen erlaubt es euch ausdrücklich. Wir werden uns im Unterricht die furchtbar hässlichen, dummen und bösen Dinge angucken, die Bips herstellen und in ihrer Dummheit in das Meer werfen.«

Doktor Galenus hatte so laut geschrien, dass es sich jetzt, wo er aufhörte zu brüllen anfühlte, als wäre ein Seebeben über sie hinweggefegt. Vorsichtig traute sich Rory wieder nach oben zu schauen. Doktor Galenus sah genauso streng und schwarz aus wie vorher. Phoenix hingegen wirkte klein und seine Wangen leuchteten wieder rot. Langsam tat Phoenix Rory leid. Es hätte sie interessiert, was er noch sa­gen wollte. Waren die Menschen des Landes alle hässlich, dumm und böse? Davon hatte ihr Ursula nichts erzählt.

»Holt eure Schiefertafeln raus und schreibt mit! Ich werde es euch diktieren.« Doktor Galenus sprach nun wieder in Normallautstärke, wobei er jedes Wort einzeln betonte, so als hätte er nicht eine Gruppe von Meereskindern vor sich, sondern dumme, hässliche Bipkinder. Er begann zu diktieren:

»Die Menschen des Landes nennen wir ‚Bipedie‘. Das bedeutet ‚Zweibeiner‘. Abgekürzt: Bips. Sie sind die schlimmsten Feinde der Meeresbewohner und haben von jeher Unglück über das Meeresvolk gebracht. Sie haben al­les gejagt und getötet, was in den Ozeanen glücklich schwamm. Das Schlimmste aber ist, Bips jagen und töten die Meereseinhörner. Das heiligste und wichtigste Wesen der Welt, welches durch diese Jagd als ausgestorben gilt. Seit vielen Jahren hat niemand mehr ein Meereseinhorn gesehen. Die einst mächtigsten Wesen des Meeres mit ihren magischen Begabungen, die es uns er­möglicht haben, im Meer mit den anderen Tieren zu spre­chen und die Meereswelt zu bevölkern, dieses heilige We­sen ist für alle Zeiten verschwunden. Einige sagen, es würde irgendwo noch ein letztes Meereseinhorn existieren. Wir alle wünschen dies zutiefst. Aber der Bip würde keine Ruhe geben, bis er auch dieses letzte Mee­reseinhorn gefunden und getötet hat. Deshalb hütet euch vor den Bips. Lehnt alles ab, was mit ihnen zu tun hat. Es ist jedem Meereswesen verboten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.«

Nun guckte Doktor Galenus freundlicher in die Runde.

»Habt ihr das alles verstanden? Es ist wichtig für euch«, sagte er in väterlichem Ton.

Dann wandte er sich direkt an Phoenix.

»Du solltest besser auf deinen Vater hören, sonst muss ich mit ihm sprechen. Sein Dreizack wurde aus dem Horn eines Meereseinhorns gefertigt und ist der mächtigste Gegen­stand der Welt. Nur durch ihn, durch den Dreizack und dei­nen Vater leben wir hier geschützt in Atlantica. Wenn wir den Dreizack nicht hätten, wären auch wir schon längst Op­fer der Bips geworden. Merk dir das! Und nun schreibt den Text, den ich euch diktiert habe, hundert Mal ab, auf dass ihr ihn auf ewig in euren Köpfen habt!«

Mit diesen Worten drehte sich Doktor Galenus um und ent­schwand mit nur einem Schlag seiner Schwanzflosse aus der Klassenhöhle.

Tatsunootoshigo

Auf dem Rückweg von der Schule nach Hause fühlte sich Phoenix unbehaglich.

»Was war heute nur los?«, murmelte er zu sich selbst.