Heimkehr in die Fremde - Anne Kordasch - E-Book

Heimkehr in die Fremde E-Book

Anne Kordasch

4,8

Beschreibung

Amrum, Anfang des 18. Jahrhunderts. Das Leben auf der Insel ist karg, die meisten Inselfriesen verdienen ihr Brot auf See. Auch der vierzehnjährige Hark Olufs ist schon zwei Jahre lang zur See gefahren, als das Schiff seines Onkels, mit dem er unterwegs ist, von algerischen Korsaren gekapert wird. Die gesamte Mannschaft gerät in die Sklaverei. Mut und Glück helfen Hark Olufs, die Jahre in der Fremde zu meistern. Er besteht zahlreiche Abenteuer und macht schließlich am Hof des Beys von Constantine im Osmanischen Reich Karriere. Mit 28 Jahren wird er in Ehren freigelassen und kehrt endlich nach Amrum zurück. Kann die Insel seiner Kindheit das Versprechen halten, das sie ihm in den langen Jahren der Sehnsucht zu geben schien?

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Das Buch Die historische Figur des Hark Olufs von Amrum, dessen Grabstein noch heute neben der Inselkirche steht, hat durch die Jahrhunderte nichts von ihrer Faszination verloren. Weit über das reine Abenteuer hinaus spiegelt sein Leben Themen wider, die heute aktueller sind denn je. So stehen die Begegnung mit dem Islam und die interkulturelle Migration ebenso im Brennpunkt des Buches wie Entwicklung und Grenzen einer Persönlichkeit im wechselhaften Lauf eines außergewöhnlichen Lebens.

Die Autorin Anne Kordasch studierte Übersetzen und Dolmetschen an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Das Leben brachte sie seit über zwanzig Jahren in sehr verschiedene Länder (u. A. China, Frankreich, Weißrussland, Großbritannien), anfangs allein, dann mit wachsender Familie. Die intensive Erfahrung des Lebens in einer anderen Kultur und des Zurückkommens fand eine Verarbeitung in diesem Buch. Die Berufstätigkeit fand sie schwerpunktmäßig in Russland, wo sie im Dienst des Auswärtigen Amts zunächst in Moskau und Nowosibirsk arbeitete und heute Dolmetscherin am Generalkonsulat St. Petersburg ist.

Die Malerin Mareike Seegers-Herenda studierte Bildhauerei und Malerei an der Hochschule für Künste in Bremen. Schon früh führte ihre Arbeit sie regelmäßig ins Ausland, wo sie auf internationalen Symposien wie z.B. in Österreich und Russland wesentliche Impulse gewann. Mehrere Jahre Leben und Schaffen in Bosnien-Herzegowina prägten ihren weiteren Weg entscheidend. Heute liegt der Schwerpunkt ihrer künstlerischen Tätigkeit auf der Malerei. Mareike Seegers-Herenda lebt mit ihren zwei Kindern in Bremen.

Außerdem von Anne Kordasch:

„Erdbeere und Azalee – Wie wir von Berlin nach Moskau zogen“

Die siebenjährige Isabella erzählt, wie sie und ihre Schwestern eine spannende Zeit erleben. Ein Buch zum Lesen und Vorlesen für Grundschulkinder ab Klasse 2.

ISBN 978-3738619669

Für alle jungen Menschen zwischen den Kulturen

Inhalt

Erstes Kapitel: 1713. Kindheit auf Amrum

Zweites Kapitel: 1717. Ein schlimmer Winter

Drittes Kapitel: 1721. Zur See!

Viertes Kapitel: 1724. In die Barbarei

Fünftes Kapitel: Am Hof des Bey von Constantine

Sechstes Kapitel: 1727. Islam

Siebtes Kapitel: 1732. Im Feld und am Hof

Achtes Kapitel: 1732 / 1733. Mekka

Neuntes Kapitel: 1734 / 1735. Zurück nach Amrum?

Zehntes Kapitel: 1735 / 1736. Abschied von Algerien

Elftes Kapitel: Frühjahr 1736. Die Heimkehr

Zwölftes Kapitel: Amrum

Epilog

Anhang

Danksagung

Worterklärungen

Bibliographie

Anmerkungen

ERSTES KAPITEL

Im Jahr 1713. Kindheit auf Amrum

I

…„Ob ihr’s glaubt oder nicht, drei Häuser lang war er und das stärkste Tier, das ich je gesehen habe. Wir waren in unsere Boote gesprungen und versuchten, den Wal einzukreisen. Der Kommandeur stand im Krähennest und schrie uns zu. Schon bald kam unsere Schaluppe am nächsten an das Untier heran. Mein Gott, das war ein Riesenungetüm, sag ich euch. Knud zielte schnell und genau und schleuderte mit aller Kraft seine Harpune. Er war ein erfahrener Harpunier und traf den Wal auf Anhieb hinter dem Blasloch. Der tauchte sofort tief unter und riss unsere Schaluppe mit sich. Die Harpunenleine pfiff, und unser Boot sauste übers Wasser, dass uns schwindelig wurde. Das war nun aber noch lange nicht das Ende der Jagd. Wir mussten warten, bis der Wal wieder auftauchte. Er muss ja atmen. Wir warteten frierend und voll Spannung. Manches Fangboot hat so ein Riese schon zerschmettert in seiner Todesnot. Da, auf einmal sehen wir ihn, er kommt hoch. Blitzschnell werfen wir unsere Lanzen, wir und die Männer aus noch zwei anderen Booten. Und wieder taucht er unter. So ging das noch viele Male. Ich sag euch, er hat uns vierzehn Stunden lang in Atem gehalten. Und was war uns kalt! Als wir ihn schließlich am Schiff vertäut hatten, hätten wir auf der Stelle hinfallen und schlafen können. Alle von uns. Aber so geht’s ja nun mal nicht an Bord eines Walfangschiffs. Was zu tun ist, muss auch getan werden. Und obendrein gibt’s im Sommer da oben keine Nacht. Also ran an den Speck! Wir schufteten nochmal viele Stunden, die ganze Mannschaft, bis wir das Riesentier endlich abgespeckt hatten. Und dann wurde der Speck noch kleingeschnitten und in die Fässer getan – ein Schmierkram war das. Alles glitschig, der Boden, die Klamotten, die Leute. Und wie das stank, mein Gott, wie das stank!“

„Ach Arfst, nun gib mal Ruhe mit deinem Wal und lass mich vorbei zum Ofen. Das Feuer geht noch aus von deinen Geschichten aus der Kälte! Du setzt den Jungen nur fixe Ideen in die Schädel. Der Branntwein bekommt dir nicht, also lass die Hände davon. Besser für uns alle, wenn du deine Jacke nimmst und zu deiner Alten rübergehst. Ist spät genug geworden für dich.“

Der so sprach, war Oluf Jensen, ein großer, breitschultriger Mann von Anfang vierzig. Nach dem Abendessen hatten sich ein paar Leute in seinem Haus versammelt, wie es an den langen Winterabenden üblich war. Während draußen in der Dunkelheit der Wind rau über die Insel fegte, suchten die Menschen beieinander in den Häusern Nähe, Wärme und Licht. Sie saßen auf Stühlen und Holzkisten, Männer, Frauen und Kinder. Die Älteren tranken Grog und Branntwein, die Kinder knabberten Zwieback. Manche der Frauen strickten. Wer etwas zu erzählen hatte, erzählte. Die anderen saßen schweigend dabei. Zu Oluf Jensen kamen sie gerne, sein großer Pesel bot Raum für alle, und der Ofen ging bei ihm nicht so schnell aus. Er war ein Schiffer wie viele auf Amrum. Seit er ein Junge war, fuhr er zur See. Auf einem Schiff seines Vaters hatte er als Jungmatrose begonnen wie seine Brüder und Vettern und sich hochgedient bis zum Kapitän. Seit einigen Jahren fuhr er von Trondheim aus und hatte es zu einigem Ansehen und Vermögen gebracht. Er wohnte mit seinen beiden Söhnen in einem fast stattlich zu nennenden Haus in Süddorf. Sie mussten in keinem Winter hungern oder frieren. Es reichte auch noch für die alte Trienke, die sich um den Haushalt und die Jungen kümmerte, seit die Mutter der beiden kurz nach der Geburt des jüngeren gestorben war. Das war nun fast fünf Jahre her, im Sommer würde es sich jähren. Ein harter Schlag war das gewesen für Oluf Jensen, als er im Herbst nach Hause kam. Seine Frau hatte ihn verlassen, Peter war erst drei Jahre alt und dann noch der Neugeborene. Was kann so ein Mann mit einem Säugling anfangen! Die Frau hätte er gebraucht. Na, Trienke hatte es ganz gut hingekriegt mit dem Würmchen. Hark war ordentlich gediehen und von guter Gesundheit. Behäbig legte Oluf ein paar Scheite nach und brachte dann seinen alten Nachbarn zur Tür.

„Diese Waljäger. Unerschöpflich in ihren Geschichten“, so begann nun eifrig ein etwas jüngerer Mann mit mächtigem blonden Vollbart, „Mein Vater kann auch nie aufhören, davon zu erzählen. Jahrelang ist er mit dem glücklichen Matthias von Föhr gefahren. Wenn einer wusste, was Walfang ist, dann der. Über fünfzig Jahre immer wieder auf Grönlandfahrt – und unter den anderen Walfängern immer die Nase vorn. Mit zwanzig Jahren hat er sein erstes Grönlandschiff kommandiert und mit siebzig sein letztes. So viele Jahre lang hat er Nebel, Wind und Eis getrotzt. Dreihundertdreiundsiebzig Wale hat er gefangen. Das hat ihm noch keiner nachgemacht, und es wird ihm auch keiner mehr nachmachen. Wenn ihr mich fragt, das war ein Held!“

„Ja, der Matz Peters, das war ein besonderer Mann. Ein Mensch, dem das Glück in die Wiege gelegt war. Er wär sonst nicht so davongekommen. Die Grönlandfahrt ist besonders gefährlich, das weiß jeder Schiffer. Entbehrungsreich dazu, das halbe Jahr in der Kälte da oben bei schlechter Kost und harter Arbeit. Und heute bringt das auch nicht mehr so viel ein. Nein, ich lass die Finger davon. Die Handelsschifffahrt ist für uns Seefahrer eine einträglichere Sache! Und auch nicht so gefährlich.“

„Na, na, Oluf. Hast du die ‚Nordstjernen‘ vergessen?“

Dieser Einwurf kam von Lorenz Rickmers, der als Junge mit Oluf zusammen Jungmatrose gewesen war. Ihre allererste Fahrt hatten sie zusammen gemacht. Er hatte sich aber ungeschickt angestellt, und Olufs Vater hatte ihn nicht ein zweites Mal mit auf See genommen. Auch auf anderen Schiffen hatte er nicht mehr Glück gehabt. So verdiente er sich seither mehr schlecht als recht sein Leben mit Schneidern und hie und da ein bisschen Zimmern. Strandgut sammelte er auch, wie alle Amrumer. Es zwickte ihn bisweilen, dass sein alter Gefährte so viel erfolgreicher war als er. Herausfordernd blickte er Oluf in die Augen. Mit einem Anflug von Ärger in der Stimme erwiderte dieser: „Nein, ich habe das stolze Schiff nicht vergessen, das mir meinen Bruder genommen hat. Aber es wär’ schön, wenn du mich nicht daran erinnern würdest. Du kannst froh sein, dass du deine Brüder noch alle beisammen hast.“

Die meisten, die in der Stube versammelt waren, hatten schon Verwandte auf See lassen müssen. Olufs Bruder Nickels war genau wie er ein angesehener Kapitän gewesen. Immer hatte er auch Amrumer Seeleute in seiner Mannschaft. Sie fuhren gern mit ihm, denn er war erfahren und zuverlässig. Vor bald acht Jahren war er von seiner letzten Fahrt nicht mehr zurückgekommen. Sein Schiff war unterwegs von Trondheim nach Irland, als es in einen frühen Herbststurm geriet und der Gewalt des Meeres nicht standhalten konnte. Mit Kapitän Nickels Jensen hatten noch sieben andere Amrumer den Tod in den Fluten gefunden. So war die Seefahrt immer gewesen.

„Das Meer nimmt sich, was es braucht. Da kannst du gar nichts dran ändern. Still sein und ein christliches Leben führen, das ist noch das Beste, was du tun kannst. Denk an die Leute von Rungholt“, meldete sich unvermutet die alte Trienke zu Wort. Die Gesichter wandten sich ihr zu. Die Alte pflegte nicht viel zu sagen, aber erzählen konnte sie auf unvergleichliche Art. Es dauerte nie lange, bis den Zuhörern ein leichter Schauer über den Rücken lief.

„Erzähl’ uns von Rungholt, Trienke!“, baten auch gleich mehrere. Jeder kannte die Geschichte vom sagenhaften Rungholt. Es war eine traurige, eine schreckliche Geschichte, die sich auf irgendeine Weise tatsächlich zugetragen hatte. Im Jahre 1362 hatte eine große Sturmflut die Küste zerrissen und acht Kirchspiele verschlungen.

„Von Rungholt, sagt ihr, von Rungholt soll ich erzählen? Vom schönen, vom stolzen, vom reichen Rungholt, das eine Zierde der Uthlande war mit seinen schmucken Häusern und gut gefüllten Speichern… – Ihr wisst ja, dass kein anderer Ort in der Edomsharde soviel Reichtum angehäuft hatte wie Rungholt. In seinem Hafen legten größere Schiffe an als in allen anderen Häfen der Uthlande. Wenn sie kamen, brachten sie Waren aus vieler Herren Länder, und wenn sie wieder fuhren, trugen sie Rungholts Ruhm in alle Welt hinaus. Die Menschen in Rungholt lebten ein sattes Leben. Sie aßen und tranken mehr, als gut war. Eines Abends saßen einige der Rungholter Bauern in einer Kneipe und tranken. Das Bier machte sie fröhlich und löste ihre Zungen. Und so kam es, dass sie übermütig wurden und in ihrem Übermut den Untergang von Rungholt heraufbeschworen. Denn denkt euch, was sie taten! Sie holten das Schwein des Schankwirts und machten es betrunken und verkleideten es. Dann holten sie den Pfarrer, er solle einer Sterbenden das letzte Abendmahl geben! Als der Pfarrer in der Schänke die Sau erkannte, war sein Entsetzen groß. Die Bauern brachen in ein derbes Gelächter aus und weideten sich an seiner Scham. Schließlich rief er: Ihr gottloses Volk, ich gebe hier keinen Segen! Da drohten sie ihm Prügel an, und der Pfarrer floh aus der Wirtschaft. Hinter sich hörte er das grausige Gejohle der Saufkumpanen. Es war eine dunkle Nacht, und dunkel war es auch im Herzen des Pfarrers. Schnell lief er durch die Nacht. Unterwegs zu seiner Kirche holten ihn aber zwei von den Männern unerkannt ein. Die stellten sich nun mitleidig, so dass der arme Pfarrer ihnen alles erzählte, die ganze Schmach, die ihm und dem Heiligen Sakrament eben gedroht hatte. Und wie sie ihn fragten, ob er denn die Hostien noch bei sich hätte, holte er die Büchse raus und zeigte sie ihnen. Und stellt euch vor, diese Verfluchten schütteten Bier in die Büchse, brüllten vor Lachen und sagten: Wenn diese Hostien der Leib Jesu sind, dann säuft er jetzt auch mit uns! Voller Entsetzen raste der Pfarrer zur Kirche und betete, dass dieser Frevel gerächt würde.“

Trienke hatte immer schneller und lauter gesprochen und machte nun eine bedeutungsvolle Pause. Sie schloß die Augen halb und nahm etwas ruhiger ihre Erzählung wieder auf: „In ebender Nacht hatte er einen Traum. Geh sofort weg von hier, denn Gott wird Land und Leute verderben!, rief eine mächtige Stimme. Der Pfarrer sprang aus dem Bett und verließ schnurstracks die Gegend. Hinter ihm jaulte schon der Wind. Kaum war er in Sicherheit, da kam die Sturmflut, die große Mandränke, und verschlang Rungholt, als wäre es ein Krümel. Und keiner hat überlebt, alle Rungholter hat das Meer verschlungen. Nur der Pfarrer wurde gerettet. Vorbei waren Pracht und Reichtum, vorbei das satte Leben. Wo vorher schön gekleidete Frauen und stolze Männer wohnten, war jetzt nur noch das kalte Meer, und Fische schwammen über den Häusern von Rungholt. Deshalb glaubt nicht, dass ihr gegen das Meer etwas vermöchtet! Noch nie ist jemand von uns Sterblichen so stark gewesen wie das Meer!“

Die Alte hielt in ihrer Erzählung inne und starrte fast böse vor sich hin. Doch dann hob sie den Kopf und blickte in die Runde, während sie mit leiser Stimme fortfuhr: „Rungholt ist vergangen, aber es hat keine Ruhe gefunden. Manchmal im Sommer, wenn das Wetter ruhig ist und keine Welle das Meer kräuselt, kann man die Glocken von Rungholt unter dem Wasser läuten hören. Wenn man die Stelle kennt, wo Rungholt gelegen hat. Und alle sieben Jahre, nämlich in der Johannisnacht, taucht die Stadt unversehrt aus den Fluten auf. Manche der Alten sollen sie gesehen haben. Aber nur für ein paar Stunden in dieser einzigen Nacht, danach versinkt Rungholt wieder für die nächsten sieben Jahre auf dem düsteren Meeresgrund.“

Als Trienke geendet hatte, saßen die Menschen still und versunken. Im Ofen knackte ein Holzscheit. Einer der Jungen seuzte tief. Da reckte sich Oluf Jensen und gab Trienke ein Zeichen. Sie stand auf, nahm die Jungen bei der Hand und schlurfte hinaus, um sie zu Bett zu bringen.

Neben der Stube, zur Küche hin, war der Alkoven, in dem die beiden Jungen schliefen. Als sie in ihr Bett gekrochen waren, fragte der jüngere die alte Trienke: „Was ist das, ein Held?“

„Och, ein Held, das ist einer, der mehr Mut und Kraft hat als alle anderen zusammen. Einer, der in großer Gefahr das Richtige tut und sich und die anderen rettet. Aber weißt du, das gibt’s sehr selten. Matz Peters mag wohl einer gewesen sein. Aber meistens denken sich das die Männer nur aus, um zu prahlen. Jeder schlägt sich durch’s Leben, wie er kann. Ich jedenfalls, ich bin in meinem ganzen Leben noch keinem Helden begegnet. Schlaf jetzt, Hark.“

Die beiden Jungen lagen still in ihren Betten, bis die Alte gegangen war. Dann drehte sich der Ältere zu dem kleinen Bruder und sagte: „Das sagt sie nur, weil sie eine Frau ist. Frauen können niemals Helden sein. Deshalb gibt sie’s nicht zu, wenn jemand einer ist.“

Der Kleine lauschte begierig. Das klang viel besser als das, was Trienke gesagt hatte. Ihre Worte hatten ihn herb zurückgestoßen und sein Interesse mit einer Enttäuschung erwidert. Es tat ihm wohl, von Peter den Grund hierfür zu erfahren. Und er fühlte sich schon fast als Held, allein, weil er nicht wie Trienke eine Frau war.

„Frauen fahren nicht zur See, die können keine Helden werden“, hörte er Peter sagen. Ja, das konnte er verstehen. Und es eröffnete eine Möglichkeit, die er zum ersten Mal wahrnahm.

„Glaubst du, unser Vater ist ein Held?“

„Ne. Aber von den Kapitänen, die noch zur See fahren, wird’s vielleicht mal einer. Gute Nacht.“

Peter gähnte und drehte sich zur Wand. Hark wusste, dass das Gespräch beendet war, und gab sich zufrieden.

In der Stube hingen die Menschen nun ihren Gedanken nach. Hie und da flackerte das Gespräch noch einmal auf, bis sie müde geworden waren und auseinandergingen.

II

Nachts um vier kam die Flut und mit ihr der Westwind. Er heulte vom offenen Meer her über die Insel. Die wenigen Bäume und Sträucher duckten sich, als sollten sie geprügelt werden, und knarrten manchmal leise, wenn eine Bö in sie hineinfuhr. Selbst das kurze Gras strebte zitternd am Boden entlang, als wolle es nach Föhr fliehen. An jedem Haus klapperte, was nicht fest war. Nach ein paar Stunden überzog der Morgen die Insel mit einem blauen Himmel, über den mächtige weiße Wolken Richtung Festland jagten.

Oluf Jensen zog mit einem kräftigen Ruck die Haustür hinter sich zu und trat laut ausatmend in die Küche. Seine Jungen saßen beim Morgenbrei.

„Ordentlicher Westwind heute morgen. Hat mich ganz schön durchgepustet. Ein Strandgang lohnt sich heute bestimmt. Sollte mich wundern, wenn die Flut nichts mitgebracht hätte. Ihr könnt gleich losgehen, wenn ihr fertig seid!“

Peter blickte interessiert von seinem Schälchen auf: „Muss ich dann heute nicht zum Kapitän zum Unterricht?“

Der Vater winkte ungeduldig ab: „Ach was, Unterricht, soll Hark die Karre etwa alleine ziehen? Und beeilt euch. Es wird niemand auf euch warten.“

Kurze Zeit später machten sich die beiden Jungen auf den Weg. Jeder trug ein dickes Wams und eine Wollmütze, um sich gegen die Kälte zu schützen, aber der Wind blies sie hart von der Seite an. Um etwas wärmer zu werden, lief Peter stramm drauflos. Die Aussicht auf einen unterrichtsfreien Tag gab ihm zusätzlich Antrieb. Der kleinere Hark hatte Mühe, Schritt zu halten. Dazu ging der Weg nach Nebel sanft bergan. Schließlich drehte Peter sich zu seinem Bruder und sagte gönnerhaft: „Gib mir die Karre. Ich zieh sie auf dem Hinweg alleine. Sonst ist nichts mehr da, wenn wir endlich am Strand sind.“

Gut gelaunt pfiff er vor sich hin. So ein Westwind war vielversprechend. Wer konnte wissen, was man finden würde. Allerdings musste man sich sputen. Sie würden nicht die einzigen sein. Und sie hatten ein ganzes Stück Weg vor sich. Mindestens zwei Stunden würden sie bis zum Norddorfer Strand brauchen. Peter vermutete dort die beste Ausbeute, weil die der Insel vorgelagerte Sandbank nicht bis da oben reichte. Er trieb den kleinen Bruder zur Eile an. Hark bemühte sich nach Kräften, Peter nicht zu verärgern. Er wusste, dass er jetzt mithalten musste, um nicht später ausgeschlossen zu werden. Peter wusste mehr und konnte mehr. Er war der Ältere und bestimmte. Nach einer Weile erreichten sie den höchsten Punkt vor Nebel, von dem aus man die Häuser des Dorfes schon sehen konnte. Während sie stehenblieben, um ein bisschen zu verschnaufen, bemerkten sie den abflauenden Wind. Die Ebbe hatte eingesetzt. Nun lief es sich leichter, aber der Weg in der kargen Graslandschaft nach Norddorf zog sich hin. Ab und zu sahen sie eine Kuh und freuten sich, denn das war eine Abwechslung für das Auge. Über das Wattenmeer, in dem glucksend das Wasser zurückging, konnten sie nun Föhr liegen sehen. Austernfischer hopsten im Schlick herum und suchten nach Muscheln. Hell leuchtete das Rot ihrer Schnäbel und Beine vor dem blauen Himmel, und hell schallte ihr lebenslustiges „quiewiehp“ durch die Luft. Oben sausten die Wolken dahin. Nach einer guten Stunde strammen Marsches gelangten sie zu den ärmlichen Häusern von Norddorf. Wie vergessen lagen sie hingestreut zwischen Watt und Dünen. Die Jungen durchquerten mit einem Anflug von Stolz das kleine Dorf. Süddorf war reicher, verglichen mit diesen Hütten war ihr Haus ein Anwesen. Vor der Dünenkette, die sie vom Meer trennte, setzten sich die Jungen auf die Karre und stärkten sich für das letzte schwierige Wegstück mit dem Brot und dem Wasser, das Trienke ihnen mitgegeben hatte. Die Dünen zu überqueren war mit der Karre kein Vergnügen, einer zog, der andere schob, beide keuchten. Immer wieder blieb der Wagen im Sand stecken. Schließlich hatten sie die letzte Düne erreicht und bremsten vorsichtig zum Meer hinunter.

Sie wurden nicht enttäuscht. Als sie nach einer Stunde den Rückweg antraten, hatten sie ihre Karre mit einigen ansehnlichen Fundstücken beladen. Neben einigen kleineren Hölzern und einem Holzschuh beförderten sie ein langes kräftiges Tau, eine Grünglasflasche und einen Wasserkessel. Ihr Prunkstück aber war eine ansehnliche Planke, mit der sie sich nun abmühten. Es hatte eine gute halbe Stunde gedauert, die volle Karre über die Dünen zu bringen. Zwei Norddorfer Jungen hatten ihnen geholfen. Peter hatte sie mit einem fast unverbeulten Blechnapf entlohnt. Jetzt klapperte der Wagen auf dem unebenen Weg wieder nach Süddorf zurück. Die Jungen pfiffen nun beide. Trotz der Anstrengung waren sie zufrieden. Der Vater würde sich freuen. Und der kleine Hark freute sich auf das Schiff, das er sich aus dem Holzschuh bauen würde.

„Guter Wind! Mein Schiff kommt schnell voran! Gleich läuft es in den Hafen ein! Achtung! Hier kommt die Bark von Hark Olufs, dem berühmten Kapitän!“

Eine rotgefrorene Jungenhand lenkte das Holzschiffchen an den Rand der Pfütze. Auf dem kurzen braunen Gras lagen Steinchen und kleine Muscheln aufgeschichtet, die der Junge nun in seine Bark lud.

„Alle Mann an Deck, der Kapitän will euch was sagen. Der König hat mir gesagt, wir müssen diese Teerfässer nach Amsterdam bringen. Also tut es! Und passt auf, wenn Sturm ist! Anker lichten!“

Das Holzschiffchen legte wieder ab. Da kam von der anderen Seite der Pfütze ein grober Holzklotz geschwommen.

„Hahaha! Pech gehabt! Wir sind Piraten und kommen euch holen. Ihr werdet gar kein einziges Teerfass nach Amsterdam bringen. Alle Mann bereit zum Entern!“

Der Holzklotz stieß mit dem Schiff zusammen, einmal, zweimal, bis es kenterte und alle Steinchen und Muscheln in die Pfütze rieselten. Peter stieß einen wüsten Triumphschrei aus: „Joho! Die haben wir! Wir haben die Bark von Hark Olufs, dem berühmten Kapitän. Alle seine Männer haben wir erwischt. Jetzt werden wir mit ihnen wegsegeln in die Türkei! Johoo!“

„He, das ist gemein! Wieso denn in die Türkei? Was willst du denn mit meiner Mannschaft in der Türkei?“

„Na, so starke, rüstige Matrosen, die verkauf ich, und dann werden die Sklaven und müssen schuften, den ganzen Tag lang bei fremden Leuten, immerzu, und kommen vielleicht nie mehr nach Hause zurück.“

„In ihrem ganzen Leben nicht?“, fragte der kleinere Junge beklommen.

„Ne, in ihrem ganzen Leben nicht. Die Türken sind dunkel und böse und geben ihnen nichts richtiges zu essen. Dafür müssen sie aber immer arbeiten, auch am Sonntag, Sonntag gibt’s bei denen nämlich nicht, und müssen immer das tun, was ihnen der Sklavenbesitzer sagt. Da nützt alles nichts. Aus ist’s dann mit dem berühmten Kapitän!“

Peter schaute mit grimmigem Blick auf seinen verängstigten Bruder. Die alte Trienke hatte seit einiger Zeit in der Nähe gestanden und dem Treiben der Jungen zugesehen. Nun starrte sie Hark entsetzt an und wendete ihren Blick nicht von ihm ab, während sie Peter zurechtwies: „Sag das nicht, sag das nicht. Du darfst das Unheil nicht herbeirufen. Sag das nicht. Komm schnell weg hier, Hark!“

Der Junge wollte noch weiterspielen und wehrte sich, aber die Hand der Alten ließ ihn nicht los.

„Ach lass ihn doch, Trienke, das ist ja man bloß ein Spiel. Lass ihn doch spielen!“

Eine junge Frau war stehengeblieben und hatte die Szene beobachtet. Nun sprang sie dem Kleinen bei. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zur Pfütze zurück. Trienke entfernte sich grummelnd. In diesem Moment trat Oluf Jensen vor die Tür seines Hauses. Er prüfte kurz mit der Nase den Wind, sah sich um und ging dann auf die Pfütze zu, bei der er seine Kinder entdeckt hatte.

„Na, Jungs, ihr habt ja ganz gut was mitgebracht vom Strand. Habt ihr denn auch ordentlich was gegessen? Ich will nochmal mit euch los, ich will euch was zeigen.“

Peter war den Streit mit seinem Bruder längst leid geworden und strebte willig von der Pfütze fort. Hark warf noch einen bedauernden Blick auf seinen dahindümpelnden Holzschuh und rannte dann hinter den beiden her.

Der Vater ging nach Süden, immer am Rand der Heide entlang. Die Dünenkette im Westen hielt den Wind ein wenig ab, der mit der Flut wieder zugenommen hatte. Die Jungen trabten nicht ganz forsch hinter dem Vater her. Der Strandgutmarsch am Vormittag hatte sie müde gemacht. Nach einer guten halben Stunde bog Oluf Jensen in das Dünengebiet ein. Die Jungen fingen an zu maulen. Schon wieder das beschwerliche Waten im Dünensand. Schnell wuchs der Abstand zwischen dem Vater und den nachfolgenden Kindern. So hörte er auch nicht, wie sie sich beklagten. Der Wind trug das Jammern in die andere Richtung. Bald stieg der Vater auf eine hohe Düne. Als die Jungen endlich bei ihm angelangt waren, legte er jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter.

„Das ist meine Düne“, sagte er, „Hier habe ich schon oft gestanden und auf das Meer geschaut. Man sieht hier mehr als von jedem anderen Punkt der Insel. Seht euch um. Alle anderen Dünen sind niedriger. Und der Wind pustet einem den Kopf frei. Immer, wenn ich was Ernstes zu bedenken habe, komme ich hierher. So, nun kennt ihr den Ort.“

Die beiden Kinder staunten, wie weit man sehen konnte. Ganz deutlich konnte man die Sandbank erkennen bis hoch nach Norddorf, wo sie endete. Dort waren sie heute schon gewesen. Hark schluckte schlecht gelaunt, weil ihm das Holzschiffchen wieder einfiel.

„Was wollte eigentlich Marret vorhin von euch?“

Oluf Jensen schob sich die Mütze aus der Stirn.

„Welche Marret?“, fragte Peter.

„Marret Jürgens. Als ich aus dem Haus kam, stand sie mit euch draußen herum.“

„Ach die, die kam nur so vorbei und hat beim Spielen zugesehen.“

Peter wollte nicht auf dieses Thema eingehen. Anders Hark, der nun die Gelegenheit gekommen sah, seinen Unmut beim Vater loszuwerden.

„Marret hat mich von Trienke weggeholt. Die wollte, dass ich nicht mehr spiele. Das war nämlich so. Peter hat mein Schiff gekapert, und da ist es umgekippt, und die ganze Ladung ist in die Pfütze gerutscht. Die war eiskalt. Und dann hat er noch gesagt, er fährt meine Matrosen in die Türkei zu den Sklaven, und da müssen sie ihr Leben lang bleiben und dürfen nie mehr nach Hause zurück. Und dann wär ich gar kein stolzer Kapitän mehr. Und darüber ist Trienke ganz erschrocken und hat gesagt, er soll nicht das Unheil rufen, und wollte mich von der Pfütze wegziehen.“

„Ach, so war das.“

Oluf Jensen betrachtete nachdenklich seine beiden Söhne. Und er dachte, dass es Zeit sei, wieder zu heiraten und den Jungen eine Mutter ins Haus zu bringen. Eine junge Frau, denn es tat ihnen nicht gut, dass sie die ganze Zeit nur mit der alten Spökenkiekerin waren.

III

Marret Jürgens war nicht das, was man eine Schönheit nennen würde. Aber sie war eine gut gewachsene, gesunde Frau, und aus ihrem von blonden Zöpfen umrahmten Gesicht leuchtete noch die Jugend. Unter den unverheirateten Inselfrauen hatte sie eine gute Stellung, denn sie kam aus einer der wohlhabenderen Amrumer Familien. Auch war sie weder dumm noch ungeschickt und täuschte sich nicht über die Natur des Blicks, mit dem der Süddorfer Kapitän sie kürzlich angesehen hatte. Er war natürlich nicht mehr richtig jung, aber doch rüstig. Ein erfahrener, angesehener Mann, der seine beiden Söhne mit Stolz heranwachsen sah. Er würde ein guter Ehemann sein. Und so willigte sie ein, als er sie gegen Ende des Winters fragte, ob sie seine Frau werden wolle. Oluf Jensen hatte Marret mit auf die Düne genommen, auf die er bei ernsten Entscheidungen zu gehen pflegte. Für beide war es ein guter Augenblick. Die Abreise der Männer rückte näher, die über den Sommer zur See fuhren. Die Aussicht auf die Heirat im Herbst machte, dass Oluf Jensen schon jetzt die Rückkehr zur Insel freudiger erwartete als seit Jahren. Der nächste Winter würde endlich wieder mehr Wärme für ihn bereithalten. Marret Jürgens aber würde in den langen Monaten bis zur Heimkehr der Männer Zeit genug finden, ihre Aussteuer zu vollenden und sich auf ihr Leben als Ehefrau vorzubereiten. Sie sollte auch ein wenig nach Olufs Söhnen sehen. So besprachen sie es auf der Düne.

Zwei Tage später standen sie gemeinsam beim Redenhuuch. Alle Süddorfer waren zum Biaken zu dem alten Grabhügel gekommen. Die Kinder des Dorfes tobten ausgelassen herum, jagten einander und blieben manchmal lachend und japsend bei ihren Eltern stehen. Auf dem höchsten Punkt war die Tonne auf einer Stange aufgerichtet, mit Teer und Stroh gefüllt. Bei Anbruch der Dämmerung wurde das Feuer entzündet. Und nun tanzten und johlten nicht nur die Kinder. Alle, die auf den Beinen waren, bewegten sich singend oder wenigstens brummend um das Feuer herum. Bis die Flammen vollkommen erloschen waren, wurde getanzt.

Die Erwachsenen sahen mit einer Mischung aus Freude und Wehmut auf die vergnügten Kinder. Auch sie hatten das Biaken als Kinder so geliebt, dieses große Fest, das jedes Jahr vor Beginn der Fastenzeit gefeiert wurde. Es markierte für die Kinder das Ende des Winters, die wohlige Hoffnung auf den baldigen Frühling. Mit dem Größerwerden trat der Abschied vom Winter hinter dem Abschied von den Lieben zurück. Sobald das Wetter milder wurde, machten die Seeleute sich zur Fahrt bereit. Bald würden die Häfen eisfrei sein, und dann würden die meisten Männer ihre lange und weite Reise antreten. Die Frauen würden mit den Kindern und Alten auf der vereinsamten Insel zurückbleiben und monatelang ein arbeitsames Dasein ohne ihre Männer führen. Das Leben auf See war entbehrungsreich und auch gefährlich. Jedes Jahr konnte es ein Abschied auf immer sein. Wie viele von den Amrumer Seeleuten waren in irgendeinem Herbst nicht zurückgekehrt! Aber gerade darum wollten sie ihre Gemeinsamkeit spüren und feiern. Dies war ihr Fest, heute waren sie fröhlich, sie schickten den Winter zum Teufel und leuchteten den Männern auf ihren Weg.

ZWEITES KAPITEL

1717. Ein schlimmer Winter

I

„Wieviel Grad beträgt der Erdumfang?“

„Na, 360 Grad!“

„Wieviel Bogenminuten hat ein Grad?“

„Sechzig.“

„Ja. Und wieviel Bogenminuten beträgt der Erdumfang am Äquator?“

„…em…“

„Hark, überleg’ doch mal! Der Erdumfang beträgt 360 Grad. Und ein Grad hat sechzig Bogenminuten! Also?“

„Ach! Vielleicht… vielleicht 360 mal 60?“

„Genau. Also?“

Hark seufzte. Peter war streng mit ihm. Er wollte ja, aber es war nicht einfach, das alles zu behalten. Wie immer war Peter ihm weit voraus.

„Hark, der Erdumfang am Äquator beträgt 21.600 Bogenminuten. Das mußt du dir endlich mal merken.“

„Mensch, du kannst das alles so flott. Der Kapitän hat gesagt, du bist schon jetzt ein halber Steuermann. Warum kann ich nur zweimal in der Woche zum Navigationsunterricht. Ich will das schneller lernen. Du hast’s gut. Nächstes Jahr darfst du anfangen. Im Februar gehst du als Matrose auf’s Schiff, zusammen mit Hark Nickelsen, und ich muss hierbleiben.“

Hark seufzte und stierte verdrossen aus dem Fenster. Die Dunkelheit des frühen Herbstabends wurde durch einen dicken Nebel noch undurchdringlicher. Marret schaute vom Spinnrad auf und versuchte, Harks Blick aufzufangen: „Du, Hark, was soll ich denn tun, wenn ihr alle auf einmal geht? Es ist gut, wenn ein Mann im Haus bleibt.“

Gerade das Begütigende in Marrets Worten reizte Hark. Er empfand bitter, wie wenig sein Erwachsensein ernst genommen wurde. Trotzig schlug er sich mit der Faust auf’s Knie, ohne den Blick seiner Stiefmutter zu erwidern.

„Das wird ein langweiliger Sommer! Nur mit Frauen und Kindern hier auf der Insel!“

Eine andere, viel kleinere Faust landete auf Harks Knie. Die kleine Schwester hatte den Ausbruch des Bruders interessiert beobachtet und probierte nun dessen Bewegung aus. Peter lachte vom Ofen herüber. Das war das Signal für die Kleine, die nun vergnügt zu dem anderen Bruder hopste.

„Ssiff! Ssiff!“ rief sie eifrig und zeigte auf ein Bild an der Wand. Oluf Jensen hatte vor ein paar Jahren aus Amsterdam schöne holländische Wandfliesen für seinen Pesel mitgebracht.

„Schiff heißt es, Schiff! Sag mal Schiff, Marret!“

„Ssiff!“ Klein-Marret patschte vergnügt glucksend mit beiden Händen auf die blauweißen Kacheln. Der große Bruder hockte sich zu der Kleinen, nahm ihre Hände in seine, klatschte sie gegeneinander und sagte im Rhythmus: „Schiff, Schiff, Schiff!“ Marret lachte, rannte zu ihrer Mutter und machte ihr mit unsicheren Händchen das eben Erlernte vor: „Ssiff! Ssiff! Ssiff!“

„Schiff, Schiff, Schiff! Schön wär’s!“, knurrte Hark finster vor sich hin.

Oluf Jensen betrat seinen Pesel mit dem schweren Schritt eines Müden, der sich den Feierabend verdient hat. Seit er zum zweitenmal geheiratet hatte, konnte er auch den Herbst wieder lieben. Er kehrte wie in früheren Zeiten nach Hause zurück, wenn er von der See auf die Insel kam. Seine Frau hatte in seiner Abwesenheit den Haushalt versorgt, hatte sich um alles gekümmert, und auch vor seinem Haus hatten im Sommer wieder die Stockrosen geblüht. Er sah seine Familie, sah seine Söhne in der Führung von Marrets guten Händen, sah nun die Tochter herumwuseln und empfand wieder Glück und Geborgenheit. Schon einmal hatte er so empfunden, bevor ihm nach kurzer Zeit beides entrissen worden war. Diesmal vergaß er nicht mehr, dass sein Glück ihm nur geliehen war. So stimmte er kurz darauf mit fester Stimme das Lied zur Hausandacht an:

„In allen meinen Taten lass ich den Höchsten raten,

der alles kann und hat;

er muss zu allen Dingen, soll’s anders wohl gelingen,

mir selber geben Rat und Tat.

Ich traue seiner Gnaden, die mich vor allem Schaden,

vor allem Übel schützt.

Leb ich nach seinen Sätzen, so wird mich nichts verletzen,

nichts fehlen, was mir ewig nützt.

Ich zieh in ferne Lande, zu nützen einem Stande,

an den er mich bestellt.

Sein Segen wird mich lassen, was gut und recht ist, fassen,

zu dienen treulich seiner Welt.

Bin ich in wilder Wüste, so bin ich doch bei Christe,

und Christus ist bei mir.

Der Helfer in Gefahren, der kann mich doch bewahren,

wie dorten ebenso auch hier.“

Nach dem Abendsegen und dem Vaterunser krabbelte Klein-Marret zwischen Vater und Mutter hin und her, während Peter sich am Ofen zu schaffen machte. Hark stand düster am Fenster. Es konnte ihm nicht gefallen, dass er diesen Sommer zum ersten Mal ohne Peter auf der Insel würde bleiben müssen. Noch dazu, wenn der Bruder mit dem Vetter sein Erwachsenenleben als Seemann beginnen durfte. Immer hatte Peter die Nase vorn gehabt. Warum musste er selbst drei Jahre jünger sein.

„Hark, was stehst du denn da so herum? Wie kannst du nach der Andacht so grimmig sein?“

Dem Vater war Harks Verstimmung nicht verborgen geblieben.

„Gilt denn das alles auch für mich? Ich zieh ja gar nicht in ferne Lande wie du und Peter und Hark Nickelsen. Wenn ich das dürfte, würde ich nach der Andacht auch fröhlich sein wie ihr.“

Oluf Jensen hob erstaunt die Augenbrauen über den freien Ton, den der Junge angeschlagen hatte.

„Hark, du bist doch erst neun Jahre alt. Das ist für einen Seemann noch zu jung. Peter ist zwölf und Hark Nickelsen ist elf. Da kann man anfangen an Bord. Schließlich ist unser Beruf anstrengend und auch nicht ungefährlich. Du musst abwarten, bis deine Zeit gekommen ist. Peter musste das auch.“

„Aber er musste nicht allein auf der Insel bleiben, als er so alt war wie ich!“

„Du bist nicht allein. Zwei von unserer Familie sind auf See, drei von uns sind zu Hause, da kannst du dir ausrechnen, wie allein du bist. Wenn du dich aber langweilst, werden wir schon Arbeit für dich finden. Und jetzt hör’ auf mit dem Gerede. Ich will sowas nicht mehr von dir hören, sonst könnte ich am Ende denken, dass du undankbar bist. Sag’ allen eine gute Nacht und geh schlafen!“

II